Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort

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Gruppenbezogene
Menschenfeindlichkeit vor Ort
Perspektiven auf Konflikte und Potentiale in einem
sich wandelnden Quartier
Kristina Kraft, Manuela Freiheit
1.Einleitung
Angesichts sozialer und kultureller Transformationen der europäischen Stadt
werden in aktuellen stadtpolitischen wie wissenschaftlichen Debatten nega­
tive Quartierseffekte und Segregationsprozesse diskutiert; insbesondere die
räumliche Konzentration sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen wird als
Problem wahrgenommen und benannt. Kommunale Strategien richten sich
entsprechend auf die soziale Durchmischung verschiedener Bevölkerungs­
gruppen. Kritiker verweisen jedoch auf den Verzicht gesamtstädtischer Stra­
tegien und die Ausblendung ökonomischer und gesellschaftlicher Ursachen
sozialer Ungleichheit. Eine Politik des „Social Mixing“ stilisiere die Mittelschicht
als Ideal bei gleichzeitiger Abwertung und Stigmatisierung sozial schwächerer
Bevölkerungsgruppen. Hiermit bestehe die Gefahr der Reproduktion sozialer
Ungleichheiten sowie der Stigmatisierung und Homogenisierung (Lees 2008).
Ausgehend von der Tatsache, dass in den letzten Jahren soziales und kulturel­
les Kapital durch verstärkte Abwanderung aus dem Berliner Stadtteil Neukölln
verloren ging, wird in öffentlichen Debatten angenommen, dass der aktuelle
Zuzug statushoher Gruppen eher Potential bergen müsste und dieser damit
residentieller Segregation, der „ungleichen Verteilung der Wohnstandorte
verschiedener sozialer Gruppen im städtischen Raum“ (Häußermann/Siebel
2002: 19), entgegenwirken werde. Was die einen als Revitalisierung loben, se­
hen andere als eine Verschiebung sozialer Probleme und als Verdrängung der
autochthonen Bewohnerschaft an.
Hier soll jedoch angenommen werden, dass diese Sichtweisen nicht weit
genug reichen, da sie den Beziehungen der unterschiedlichen Gruppen un­
tereinander und ihrer Konstruktion von Räumen kaum Aufmerksamkeit
schenken. Durch die Veränderung der Bewohnerstruktur, ihrer unterschiedli­
chen Lebensstile und der sozial-kulturellen Infrastruktur könnten – so unsere
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Kristina Kraft, Manuela Freiheit
Annahme – Konfliktpotentiale entstehen und bereits bestehende Konflikte
verschärft werden, die Ideologien der Ungleichwertigkeit mit entsprechen­
den Abwertungsmechanismen nach sich ziehen. Vor dem Hintergrund eines
relationalen Raumbegriffes, der von einer Beziehung zwischen Menschen
und sozialen Gütern sowie von der Existenz mehrerer Räume an einem Ort
ausgeht, die unabhängig voneinander existieren, aber auch miteinander
verwoben sind, besteht die weitere Annahme, dass der Strukturwandel im
Quartier auch Potentiale in Form von neuen Handlungsspielräumen birgt, um
Konflikten und Ideologien der Ungleichwertigkeit entgegenzuwirken. Nimmt
die Analyse ihren Ausgangspunkt bei der Konstitution von Räumen, können
auch die zwei analytischen Kategorien ‚Alteingesessene’ und ‚Zuziehende’ in­
tern differenziert und aufeinander bezogen werden – und zwar im Gegensatz
zu vielen anderen Untersuchungen, in denen die beiden Kategorien häufig
gänzlich unproblematisiert vorausgesetzt und getrennt voneinander unter­
sucht werden.
Die Ergebnisse aus dem Projekt „Gruppenbezogene Menschenfeindlich­
keit“ (GMF) zeigen soziale Spaltungen der Gesellschaft (Mansel/Heitmeyer
2004) und Krisenfolgen für unterschiedliche soziale Lagen, die als Ausdruck
sozialer Desintegration mit Facetten Gruppenbezogener Menschenfeind­
lichkeit verbunden sind. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit bedeutet
hierbei, dass Personen aufgrund gewählter oder zugewiesener Gruppenzu­
gehörigkeit als ungleichwertig markiert und feindseligen Perspektiven aus­
gesetzt sind. Sie basieren alle auf einer Ideologie der Ungleichwertigkeit und
bilden ein Syndrom (Heitmeyer 2008b). Wenngleich eine Reihe von Studien
vorliegen, die sich mit der Bedeutung des Wohnumfeldes für verschiedene
soziale Phänomene beschäftigen, so sind die Bedeutung des Quartiers und
dessen Wandel für Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit empirisch noch
nicht eingehend untersucht worden. Erkenntnisinteresse ist daher der Zusam­
menhang von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und Strukturwan­
del im Quartier. Wie werden über räumliche Strukturen und deren Wandel
soziale Ungleichheit sowie die Diskriminierung von bestimmten Gruppen
hervorgebracht und festgeschrieben? Welche Handlungsspielräume bietet
der Raumstrukturwandel, um Konflikten und GMF entgegenzuwirken? Im
vorliegenden Beitrag sollen diese Fragen am Beispiel des Untersuchungsor­
tes Neukölln-Reuterkiez theoretisch eingebettet und diskutiert werden, um
so eine Forschungsperspektive für die Analyse des Quartiers zu formulieren.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
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2.Das Quartier und seine Bewohner
Der Untersuchungsort
Der Stadtteil Berlin-Neukölln ist geprägt von sozialer Marginalität, räumlicher
Benachteiligung und ethnisch-kultureller Vielfalt, was auf prekäre Integrati­
onssituationen und Desintegrationserfahrungen schließen lässt. Insbeson­
dere im dicht besiedelten Norden Neuköllns bezog mit 160.000 Personen im
Jahr 2006 jeder zweite Sozialleistungen, 60 % der unter 25 – Jährigen lebten
von Hartz IV und die Wahlbeteiligung ist anhaltend niedrig im berlinweiten
Vergleich (ca. 40 %). Insgesamt wohnen in Neukölln 302.000 Menschen aus
mehr als 160 verschiedenen Nationalitäten (Häußermann 2008). Diese und
andere Zustände der sozialen Desintegration finden ihren Niederschlag in
Konflikten um Ressourcen, Positionen, Werte und Normen, die entlang eth­
nischer und kultureller Grenzziehungen verlaufen und nicht selten zu Ethni­
sierungen sozialer Probleme sowohl in der Mehrheitsgesellschaft als auch bei
den Minderheiten führen. Im öffentlichen Diskurs dominieren Reizthemen
wie Parallelgesellschaften, Ehrenmorde, Zwangsheiraten, Jugendkriminali­
tät und Gewalt. Oftmals in den Hintergrund gedrängt oder durch verklären­
de Beschreibungen eines Neuköllner Multikulturalismus verschleiert werden
jedoch antisemitische und sexistische Einstellungen oder Übergriffe, homound transphobe Ausschreitungen, Pöbeleien und Schmierereien, welche im­
mer wieder das Stadtbild in Neukölln prägen (ZDK 2005). Mit dem Bielefelder
Desintegrationsansatz gehen wir davon aus,
„dass mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste
auch das Ausmaß und die Intensität der genannten Konflikte zuund ihre Regelungsfähigkeit abnimmt. (…) Der Desintegrationsan­
satz erklärt also Gewalt, Rechtsextremismus und die Abwertung
und Abwehr ethnisch Anderer oder schwacher sozialer Gruppen
mit ungenügenden Integrationsleistungen einer modernen Ge­
sellschaft“ (Heitmeyer/Anhut 2000: 53).
Hierbei besteht aber kein direkter Zusammenhang zwischen der gesellschaft­
lichen Makro- und Mikro-Ebene, sondern es sind milieuspezifische Faktoren
dazwischen geschaltet, unter anderem individuelle soziale Lagen, ökonomi­
sche Trends von Regionen, gesellschaftliches Klima, kommunale Kontexte
u.v.m. (Heitmeyer 2008b: 20; für die Dimensionen des Ansatzes vgl. Heitmey­
er/Anhut 2000: 48).
150
Kristina Kraft, Manuela Freiheit
Gleichzeitig hat ein Prozess im Reuterkiez eingesetzt, der zu Verschie­
bungen von Bevölkerungsstruktur und Nachbarschaftscharakter führt und
in Verdacht steht, gewohnte Machtkonstellationen des Quartiers verändern.
Das Quartier im Norden Neuköllns ist mit einer Einwohnerzahl von ca. 20.000
Menschen relativ groß, wird jedoch aus der Perspektive der Bewohner als
„Kiez“ bezeichnet und kann damit als
„ein kontextuell eingebetteter, durch externe und interne Hand­
lungen sozial konstruierter, jedoch unscharf kontruierter Mittel­
punkt-Ort alltäglicher Lebenswelten und individueller sozialer
Sphären [bezeichnet werden], deren Schnittmengen sich im räum­
lich-identifikatorischen Zusammenhang eines überschaubaren
Wohnumfeldes abbilden“ (Schnur 2008: 40).
Diese Definition von Quartier wird hier gleichbedeutend mit dem berlinweit
typischen Begriff des „Kiezes“ verwendet, um der emischen Perspektive ge­
recht zu werden. Dieser Veränderungsprozess des Reuterkiezes äußert sich
durch den Zuzug von jungen, vornehmlich deutschen und anderen westeu­
ropäischen Bewohnern in gehobener sozialer Lage. Es handelt sich beson­
ders um Studenten, Akademiker und Künstler, die zwar in der Regel über ein
eher geringes Einkommen verfügen, sich aber durch Kapitalien wie hohes
formales Bildungsniveau sowie ein hohes Berufsprestige auszeichnen. Dieser
Zuzug wird im Quartier sichtbar durch die Eröffnung von Läden und Cafés,
Ateliers und Galerien sowie anhand von Kulturveranstaltungen, insbesondere
begünstigt durch Standortmarketing und die Arbeit der Zwischennutzungs­
agentur (Quartiersmanagement Reuterplatz 2010). Daneben bietet das Quar­
tier Altbauwohnungen aus der Gründerzeit mit günstigen Mieten in Uferla­
ge der westlichen Innenstadt Berlins, Nutzungsmischung von Wohnen und
Gewerbe sowie die Nähe zu Kreuzberg als beliebtem Ausgehviertel. Zugleich
wird das Quartier von Häußermann als Gebiet mit „sehr niedrigem sozialem
Status“ und „Ausgrenzungstendenz“ charakterisiert, was sich insbesondere
an niedrigen Schulabschlüssen, fehlenden Ausbildungen und hoher Jugend­
arbeitslosigkeit zeigt (Häußermann 2008).
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
151
Wer ist etabliert, wer ist Außenseiter?
Ende der fünfziger Jahre haben Elias/Scotson (1993) in einem kleinen Ort in
den englischen Midlands die Wechselbeziehungen aus Strukturen und Ver­
haltensweisen untersucht, die durch Zuwanderung von Fremden in ein Ge­
biet von Alteingesessenen ausgelöst werden. Sie prägten die Konfiguration
„Etablierte und Außenseiter“ und machten deutlich,
„warum sich gerade die unteren Schichten der Etablierten gegen
die Zuwanderung kehren – und es ist mehr als nur Konkurrenz um
den Arbeitsplatz und die Wohnung: Es geht v.a. um die kulturelle
Hegemonie, um die Definitionsmacht über Wertestrukturen, und
es geht um die unverhohlene Erleichterung, mit den Fremden end­
lich jemanden zu haben, der als Sündenbock für die eigene ‚mißra­
tene’ Aufstiegsphantasie herhält“ (Dangschat 1998: 52).
Die Neuen wurden besonders von den Etablierten unterer sozialer Schichten
ausgegrenzt und mit einem Stigma versehen, obwohl es keine Differenz zwi­
schen ethnischer Herkunft, Nationalität, Beruf, Einkommen und Bildung gab;
lediglich die Wohndauer, das „soziale Alter“, war ausschlaggebend. Die Etab­
lierten unterer Schichten fühlten sich in ihrer Lebensweise bedroht und fürch­
teten sich vor sozialem Abstieg (Elias/Scotson 1993).
Bezogen auf die deutsche Aufnahmegesellschaft sind andere Muster sozi­
aler Schließung zwischen Alteingesessenen und/oder Migranten zu beobach­
ten, die nicht nur entlang der Wohndauer verlaufen, sondern insbesondere
geprägt sind durch Merkmale sozialer Ungleichheit. Gegenüber der bekann­
ten Konfiguration der Etablierten und Außenseiter unterscheidet sich diese
nach Dangschat durch eine stärkere Ausdifferenzierung (vgl. Dangschat 2000:
201).
In Neukölln ist diese Konstellation zu finden, jedoch in anderer Zusam­
mensetzung. Grundsätzlich ist zwischen räumlich und/oder sozial etabliert zu
unterscheiden. Wir gehen mit Dangschat davon aus, dass die auf gesamtge­
sellschaftlicher Ebene „Etablierten“ (Deutsche und EU-Bürger aufstrebender
Mittelschicht) und „freiwillige Außenseiter“ (Deutsche, Alternativ-Milieus) die
Zuziehenden in ein Gebiet sind, in dem sich die sozial „nicht-etablierten Au­
ßenseiter“ (ehemals zuziehende Nicht-Deutsche) bereits räumlich etabliert
haben und zumindest in Teilen von Neukölln die normative Definitionsmacht
gewonnen und räumlich abgesteckt haben, während die ursprünglich „eta­
blierten Außenseiter“ (alteingesessene Deutsche unterer sozialer Schichten)
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Kristina Kraft, Manuela Freiheit
zunehmend ins Abseits geraten. Eine Zuordnung zu diesen Kategorien muss
über eine Rekonstruktion der Selbstwahrnehmung der Bewohner erfolgen,
da die zeitlichen Grenzen fließend sind.
Werden ihre räumlichen Grenzen in Form von bestimmten Straßen, Wohn­
blöcken und Plätzen von den Zuziehenden nicht überschritten, so scheint ein
Koexistieren mit dem sich wandelnden Kiez Neukölln-Reuterplatz möglich,
gestützt von einem bildungsnahen Mittelstand, der sich mit den Migranten
solidarisiert, aber umfangreiche Kontakte vermeidet, da sie mitunter nicht
weniger fremdenfeindlich sind als andere Milieus.
„Die Art der Fremdenfeindlichkeit ist lediglich subtiler und zeigt
sich in Handlungsweisen, die nicht als kriminell eingeordnet wer­
den“ (Dangschat 1998: 57).
Zugleich verlassen die „neu Etablierten“ (ehemals zuziehende Nicht-Deutsche
der Mittelschicht) und die „sich etablierenden Außenseiter“ (ehemals zuzie­
hende Nicht-Deutsche und/oder aufstrebende Mittelschicht) das Quartier
und ziehen in weniger problembeladene Stadtteile Berlins.
Wird mit Dangschat weiterhin angenommen, dass von Seiten der „Etab­
lierten“ die „Gruppenschande“ den unteren sozialen Schichten der Deutschen
zukommt, aber auch unvermeidliche Kontakte zwischen ihnen und den zuzie­
henden „Etablierten“ bestehen (z. B. in Form einer Beziehungen zwischen Ver­
mieter/Hausverwalter und Mieter/Geschäftsbetreiber), liegt die Vermutung
nahe, dass es nicht nur zu Konflikten zwischen beiden deutschen sozialen
Schichten kommen könnte, sondern darüber hinaus diese Konflikte zu Lasten
der Migranten und schwacher Gruppen ausgetragen werden (für die Muster
sozialer Schließung in Deutschland vgl. Dangschat 1998: 56) (etwa über Woh­
nungsanzeigen, in denen „keine Ausländer“ als Kriterium formuliert ist).
Gleichzeitig findet jedoch keine einfache Solidarität ‚der Deutschen’ statt,
sondern neben den Schichtunterschieden kommen neue Lebensstile in den
Kiez, die als fremd wahrgenommen werden und daher Gefühle von Verunsi­
cherung und Bedrohung der eigenen sozialen Position auslösen können.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
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3.Räume und soziale Ungleichheit
Der relationale Raum
Indem wir von zwei analytischen Kategorien, Alteingesessene und Zuziehen­
de, ausgehen, die sich in unterschiedlichen Relationen zu sozialen Gütern am
Ort (hier: Neukölln) stehen, sich intern differenzieren und damit den Raum
unterschiedlich konstituieren, müssen mehrere Räume an einem Ort denk­
bar sein (zum relationalen Raumbegriff in Abgrenzung zum absoluten vgl.
Löw 2001: 264; Läpple 1991). Diese Räume können nebeneinander, aber auch
konkurrierend zueinander bestehen. Dies äußert sich zum einen im Errichten,
Bauen und Positionieren („Spacing“), zum anderen werden über Wahrneh­
mungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse soziale Güter und Menschen
zu Räumen zusammengefasst („Synthese“) (Löw 2001: 265, 158f.).
Sind diese zwei Prozesse in Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen
abgesichert, dann ist die Konstitution von Räumen rekursiv in Institutionen
eingelagert:
„Räumliche Strukturen sind wie zeitliche Strukturen auch Formen
gesellschaftlicher Strukturen, die gemeinsam die gesellschaftliche
Struktur bilden. Handeln und Strukturen sind von den Struktur­
prinzipien Geschlecht und Klasse durchzogen“ (Löw 2001: 272).
Räumliche Ungleichheit
Soziale Ungleichheit und räumliche Ungleichheit sind somit verbunden. Die
Zugangschancen zu materiellen und sozialen Gütern sind ungleich verteilt
und damit auch die Möglichkeiten, Räume zu gestalten. Darüber hinaus ist ein
Wissen um den Umgang mit materiellen Ressourcen für die Raumgestaltung
notwendig, welches leichter zugänglich ist als das Wissen um symbolische
Zuordnungen, da diese Interpretationsprozesse über den Habitus (Bourdieu
1997) und geschlechtsspezifische Wissensreservate gesteuert werden. Exem­
plarisch soll diese Verbindung auf Alteingesessene und Zuziehende im Unter­
suchungsquartier bezogen und in theoretischer Hinsicht diskutiert werden.
Die Zuziehenden sind häufig prekär beschäftigt und verfügen damit eher
über ein geringes ökonomisches Kapital, womit sie sich kaum von der Mehr­
heit der Alteingesessenen unterscheiden. Da es sich jedoch zu einem großen
Teil um Studenten oder Akademiker handelt, kann mit Bourdieu und seiner
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Kristina Kraft, Manuela Freiheit
Theorie der Kapitalsorten davon ausgegangen werden, dass die Zuziehenden
über soziales Kapital verfügen, was sich in ökonomisches Kapital übersetzen
lässt. Dies bedeutet, dass sie für Existenzgründungen beispielsweise kleine
private Darlehen von Freunden, Bekannten oder Familie akquirieren können.
Gleichzeitig verfügen sie über die Qualifikationen und das Wissen, sich Zu­
gang zu wichtigen Informationen und Institutionen vor Ort zu verschaffen.
Mangelndes ökonomisches Kapital kann darüber hinaus durch vorhandenes
kulturelles Kapital, besonders in Form von hohem Bildungsstand und Berufs­
prestige sowie Kunst- und Kulturgeschmack kompensiert werden und zur He­
rausbildung neuer Lebensstile im Quartier führen. Der ‚Hype’ in den Medien
über Nord-Neukölln als Berlins Lower East Side oder „NoHo“ zeigt dies an.
Von Bedeutung und Interesse sind diese Lebensstile als Ressource im loka­
len Raum einzig für den, der die notwendige kulturelle Kompetenz und den
angemessenen Code besitzt. Dies würde bedeuten, dass die ‚Aufwertung’ im
Reuterkiez in Form eines Zuzugs von sozialem und kulturellem Kapital für gro­
ße Teile der Alteingesessenen kaum oder gar nicht zugänglich ist (Bourdieu
1982). Werden Räume als Relationen zwischen Gütern, Menschen sowie zwi­
schen Gütern und Menschen begriffen, ist demnach ausgeschlossen, wer oder
was nicht relational miteinbezogen wird. In der Syntheseleistung können so­
ziale Positionen und das Gefühl von Zugehörigkeit reproduziert werden, wo­
mit nicht nur das Institutionalisierte entscheidend für Ein- oder Ausschluss ist,
sondern auch Inszenierungsarbeit, Sozialprestige und Atmosphäre. Nicht nur
Verbot und Gewalt führen zu Ausschluss, sondern auch der Selbstausschluss
durch geschlechts- und klassenspezifische Habituspräferenzen (Löw 2001).
Dies soll aus verschiedenen Perspektiven der Zuziehenden wie der Alteinge­
sessenen betrachtet werden, um einer Differenzierung der analytischen Kate­
gorien Zuziehende und Alteingesessene gerecht zu werden. Dennoch stellt
sich die Frage, wie diese Differenzierungen aufeinander bezogen sind und ob
sich Muster der sozialen Schließung beobachten lassen.
Weiterhin wird für die zuziehenden „Etablierten“ angenommen, dass mit
zunehmender Arbeitslosigkeit und einem erhöhten Anteil von Beziehern von
Existenzsicherungsleistungen (‚Hartz IV’) unter bildungsstarken Menschen
die Sicherung der eigenen Position in den Vordergrund rückt, weil Ängste
bestehen, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden oder in das in­
zwischen eher grobmaschige soziale Netz zu fallen. Gleichzeitig verlieren im
Zuge von Prozessen der „Individualisierung“ strukturelle Bindungen an Ver­
bindlichkeit, und Wertvorstellungen differenzieren sich aus. Nach Elias (1976)
treten Lebensstile an die Stelle von festen Strukturen, die an Verbindlichkeiten
und Tiefe verloren haben und von einer Suche nach Verortung begleitet sind.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
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„Da die Bindungskräfte geringer sind, sind Wechsel und ‚Bastele­
xistenzen’ möglich und notwendig, allerdings um den Preis höchs­
ter Verunsicherung über die eigene gesellschaftliche Position, die
jeden Tag neu erarbeitet und bestätigt werden muß.“ (Dangschat
1998: 85)
Dies kann zu einer stärkeren Abgrenzung gegenüber den unteren sozialen
Schichten oder einer Ethnisierung sozialer Probleme führen. Gleichzeitig sind
die Zuziehenden räumlich nicht etabliert, was Verunsicherung hervorrufen
und eine Abgrenzung verstärken kann. Abgrenzung kann jedoch auch als un­
beabsichtigte Folge des Handelns stattfinden: Bastelexistenzen bedingen an­
dere Netzwerke auch durch gestiegene Mobilität und neue Informations- und
Kommunikationsmedien, womit Milieus zwar nicht verschwinden, aber ihre
„Bodenhaftung“ weitgehend verlieren (Schulze, zitiert nach Frey 2009: 103).
Die Zuziehenden können für Alteingesessene als wenig greifbar erschei­
nen, weil sie nicht als feste Gruppen vor Ort sichtbar sind, sondern sich „no­
madenhaft“ bewegen.
„Wie StadtnomadInnen schwirren die Kreativen in der Stadt umher,
suchen und finden neue Orte, die temporär bespielt werden. Die
Bindungskraft von bestimmten Orten nimmt ab, zu anderen Orten
entstehen flexible, nicht starre Beziehungsmuster“ (Frey 2009: 107).
Zugleich unterscheiden sich Netzwerke in Größe und Umfang, in verschie­
denen Lebensphasen und in Abhängigkeit der sozialen Position. „Struktur,
Intensität und Nutzen sozialer Netze bezeichnen eine neue Dimension sozi­
aler Ungleichheit“ (Häußermann/Siebel 2004: 113), da sie sich in sozial oder
ökonomisch nützliche Informationen umsetzen lassen. Dies ist besonders bei
überregionalen Netzwerken der Fall, die über Nachbarschaft und Verwandt­
schaft hinausgehen.
Im Unterschied zu den Zuziehenden zeichnen sich die Netzwerke der Alt­
eingesessenen neben transnationalen Netzen durch eine höhere Homogeni­
tät und überdurchschnittlich viele Verwandte aus. Für die alteingesessenen
Bewohner stellt das Quartier bzw. das unmittelbare Umfeld des Wohnhauses
den Lebensmittelpunkt dar, insbesondere wenn sie von der Erwerbsarbeit
ausgegrenzt sind und die Mobilität eingeschränkt ist. Daraus entsteht eine
Situation, in der das ‚Quartier als Quartier’ mit seinen sozialen Netzen eine
wichtige Ressource ist, die über die Lebenschancen wesentlich mit entschei­
det. Das Maß an sozioökonomischer und politisch-rechtlicher Integration (Zu­
156
Kristina Kraft, Manuela Freiheit
gang zu Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt, Bildungssystem, politische Teilhabe
etc.) bestimmt, ob ich mich erwünschten Personen und Sachen nähern bzw.
sie mir aneignen kann oder eben nicht. Zugleich kettet das Maß an Desinteg­
ration an einen Ort und verstärkt die (räumliche) Erfahrung der Begrenztheit,
womit die Vermutung nahe liegt, dass neben der ethnisch-kulturellen Identi­
tät, die sich aus Gruppenzugehörigkeit ableitet, auch eine Identifikation mit
dem Quartier und die Integration vor Ort zunimmt. Wenngleich gesamtge­
sellschaftlich desintegriert, können alteingesessene Bewohner an einem Ort
unterschiedlich räumlich etabliert und somit integriert sein.
Um eine mögliche Bedrohung des lokalen Raumes und/oder der sozialen
Position im Quartier durch fremde Symbole, Lebensstile und physische Ver­
änderungen abzuwehren, können Ersatzobjekte gesucht und als Ventilfunk­
tion missbraucht werden, um Verlusterfahrungen zu kompensieren. Im Falle
unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit kommt es dabei nicht selten zu
wechselseitigen negativen Klassifikationen und zu einer Ethnisierung sozialer
Konflikte, die zu Lasten schwacher Gruppen ausgetragen werden.
„Ethnisch-kulturelle und rassistische Konflikte entstehen also dort,
wo das gewünschte Maß einer Integration in die Gesellschaft von
der Majorität verweigert oder zumindest nicht gewollt und wo die
Möglichkeit zur Identifikation mit dem Wohnquartier beschnitten
oder verhindert wird“ (Dangschat 1998: 22).
Mit Dangschat und in Bezug auf Elias/Scotson wird ferner vermutet, dass auf
Seiten der alteingesessenen „etablierten Außenseiter“ das Gefühl, wo man
wohnt, nicht mehr zu Hause zu sein, mit der Wahrnehmung einer vermeintli­
chen ‚Überfremdung’ einhergeht und eine Zunahme an ausländerfeindlichen
Einstellungen, Übergriffen und Verhaltensweisen motiviert. Minderheiten
nicht-deutscher Herkunft werden so zum Anlass genommen, um an ihnen
die eigene Integrationsproblematik abzuarbeiten – gesamtgesellschaftliche
Verwerfungen wie sozialer Abstieg, Arbeitslosigkeit und Verarmung werden
mit ihrer Anwesenheit in Verbindung gebracht, obwohl diese genauso davon
betroffen sind. Analog zu den „Etablierten“ kommt es gleichzeitig zu Differen­
zierungen, Hierarchisierungen und negativen Klassifikationen zwischen und
innerhalb von Migrantengruppen.
Wir nehmen jedoch an, dass durch die Raumkonstitutionen der Zuziehen­
den der Handlungsspielraum alteingesessener Bewohner eingeschränkt wird.
Diese räumlichen Einschränkungen können sich verstetigen, soziale Positio­
nen systematisch schwächen und sich hierdurch langfristig in Einstellungen
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
157
und Meinungen verfestigen, die andere Gruppen abwerten und diskriminie­
ren. Weiter wird angenommen, dass hinter konfliktträchtigen Einstellungen
Desintegrationserfahrungen/-ängste liegen, die Abwertungsmechanismen
befördern können wie ethnische Schuldzuschreibungen als auch Schuldzu­
schreibungen an soziale Gruppen.
Räumliche und soziale Konflikte
Konflikte, die durch verschiedene Raumkonstitutionen an einem Ort ent­
stehen, können zum einen durch die Untersuchung der Frage beantwortet
werden, wie andere Gruppen in ihren Raumkonstitutionen wahrgenommen
werden. Darüber hinaus versprechen wir uns durch die wechselseitige Be­
zugnahme der beiden übergeordneten Perspektiven Alteingesessene und
Zuziehende, neben den beabsichtigten auch die unbeabsichtigten Folgen
des Handelns zu erfassen. Die Frage, welche Einschlüsse und Ausgrenzungen
produziert werden, welche Formen sozialer Ungleichheit und welche Macht­
verhältnisse damit hergestellt werden, kann erst dann ertragreich untersucht
werden, wenn die unterschiedlichen Motivationen, Regeln und Ressourcen
der Raumkonstitution systematisch miteinander in Beziehung gesetzt wer­
den. Hierbei müssen sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten heraus­
gearbeitet werden, um auch Aussagen darüber treffen zu können, wie und wo
die unterschiedlichen Räume ineinandergreifen.
Sollte der Zuzug als latentes Konfliktpotential erhebungsfähig sein (wie wir
annehmen), wäre er für eine emotionsgeladene Mobilisierung anfällig. Dies
ist besonders dann der Fall, wenn eine Ethnisierung sozialer Konflikte statt­
findet als Konfrontation zwischen sozialen Gruppen, die nach ethnisch defi­
nierten Kriterien ihre Anhängerschaft mobilisieren. Hierbei muss mit folgen­
den Konfliktformen gerechnet werden: Rangordnungskonflikte als Konflikte
um soziale Positionen, Verteilungskonflikte um knappe Güter, Arbeitsplätze,
Wohnungen, Steuermittel usw. sowie Regelkonflikte, bei denen die Gültigkeit
von Normen und Werten zur Debatte steht. In der Realität ist jedoch häufig
mit Mischformen zu rechnen. Wir nehmen an, dass die verschiedenen Dimen­
sionen von Desintegration spezifische Konflikte erzeugen, die wiederum be­
stimmte gruppenbezogene Abwertungsmechanismen wie Antisemitismus,
Homophobie, Abwertung von Behinderten, Obdachlosen und Arbeitslosen,
Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, Etabliertenvorrechte und Islamphobie als
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Gang setzen. Konflikte sollen
verstanden werden als Interaktionsprozesse bzw. wechselseitige Wahrneh­
mungen von Individuen und Gruppen. Diese stellen latente Konfliktpotentia­
158
Kristina Kraft, Manuela Freiheit
le dar, wenn bisher keine offene Konfliktaustragung erfolgt, es aber bereits zu
Spannungen und Identifikationen von Gegnern gekommen ist. Als manifest
wären soziale Konflikte zu bezeichnen, wenn die Interessengegensätze be­
reits im öffentlichen Bewusstsein angelangt sind. Mit sozialen Konflikten sind
Interessengegensätze zwischen verschiedenen sozialen Gruppierungen ge­
meint. Abgrenzungskriterien für soziale Konflikte sind hierbei der Einsatz von
„Macht- und Einflussmitteln“ als auch die Ausdehnung von Inter-GruppenKonflikten in die gesellschaftliche Makroebene wie in die soziale Mikroebene
(Heitmeyer/Anhut 2000).
Wahrnehmung und Bewertung von Räumen
Der Zuzug statushoher Gruppen in einzelne Stadtviertel hat in der Öffentlich­
keit wie in der Sozialforschung kritische Aufmerksamkeit und Kritik auf sich
gezogen. Verstärkt hat dann auch die regionale und überregionale Presse in
den Jahren 2007 – 2010 das Thema ‚Gentrification und Nordneukölln’ wahr­
genommen und veränderte die öffentliche Wahrnehmung des Quartiers
dabei leicht zum Positiven – obwohl das Klischee „Neukölln-Ghetto“ anhal­
tend virulent ist. Als Ergebnis der neueren Entwicklung befürchten Teile der
Bewohnerschaft des Reuterquartiers dagegen bereits die Gentrifizierung des
Gebietes und damit die Verdrängung der Ärmeren. Mit Gentrification (oder
im Deutschen Gentrifizierung) wurde bisher meistens der Zuzug statushoher
Gruppen verbunden, die sich nicht nur durch hohes formales Bildungsniveau
und Berufsprestige auszeichnen, sondern besonders auch durch hohes öko­
nomisches Kapital und die auf diese Weise die Mieten in die Höhe treiben und
damit mitunter die ärmere Bevölkerung verdrängen. Als kleinster gemein­
samer Nenner in der Gentrificationforschung findet sich die Definition von
Gentrification als Austausch einer statusniedrigen Bevölkerung durch eine
statushöhere Bevölkerung in einem Wohngebiet (Friedrichs 1996). Ein Defizit
ist insbesondere die Schwierigkeit, die Prozesshaftigkeit und damit auch die
Vorhersehbarkeit von Gentrification zu erfassen, da kaum Längsschnitt oder
Panelanalysen existieren (Holm 2006: 63ff.). Bei der Mehrzahl der empirischen
Studien stehen ökonomische, soziale, politische und kulturelle Faktoren der
Gentrifizierung im Mittelpunkt der Untersuchung. Bislang wenig Aufmerk­
samkeit wurde hingegen Wahrnehmungs- und Bewertungsmustern sowie
ihren Ausprägungen in unterschiedlichen Gruppen geschenkt, die sich im
gesellschaftlichen Sozialraum konstituieren. Im Zentrum des Interesses ver­
einzelter Studien stehen vorrangig die autochthone Bevölkerung, die von
Verdrängung bedroht oder betroffen ist, sowie die Verschiebung sozialer Pro­
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
159
blemlagen in angrenzende Randbezirke (Alisch/zum Felde 1990: 277 – 300).
Eine Betrachtung der Wechselseitigkeit der Wahrnehmung von alteingeses­
senen Bewohnern und zugezogenen ‚Gentrifiern’ bleibt jedoch aus, obwohl
„[n]icht das Ausmaß der Mieterhöhungen, die Zahl der betroffenen
Haushalte oder der umgewandelten Wohnungen die entscheiden­
den Kriterien für eine Verunsicherung [sind], sondern die Wahr­
nehmung und Bewertung der Aufwertungsprozesse.“ (Alisch/zum
Felde 1990: 298).
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im lokalen Raum
Durch die Synthese der beiden übergeordneten Perspektiven Alteingesesse­
ne und Zuziehende zwecks systematischer Betrachtung der wechselseitigen
Wahrnehmung und Bewertung soll diesem Defizit in der sogenannten „Gen­
trifizierungsforschung“ Rechnung getragen werden. Hier besteht jedoch das
explizite Anliegen, Ideologien der Ungleichwertigkeit und Ab- und Ausgren­
zungsmechanismen in Form von Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit
(GMF) innerhalb und zwischen verschiedenen Gruppen zu analysieren. Inner­
halb bedeutet hierbei, GMF bei einzelnen Gruppen in den Blick zu nehmen,
aber auch gruppenübergreifende Tendenzen zwischen den Gruppen einer
übergeordneten Perspektive (der Zuziehenden bzw. der Alteingesessenen)
zu betrachten, um dann über eine Synthese Tendenzen von GMF zwischen
einzelnen Gruppen beider Perspektiven sowie zwischen den übergeordneten
Perspektiven erforschen zu können. Gleichzeitig können durch die Synthese
die unbeabsichtigten Folgen des Handelns sichtbar werden, weshalb GMF
sich nicht auf konkretes Verhalten oder konkrete Einstellungen innerhalb und
zwischen Gruppen zurückführen lässt, sondern auf das Zusammenspiel einer
Vielzahl von Akteuren, die für sich durchaus eine gegenteilige Motivation ver­
folgen können (zum Beispiel, wenn Vermieter vorrangig statushohe Bewerber
bei der Wohnungsvergabe berücksichtigen, obwohl die Zuziehenden diese
Auswahl nicht intendieren).
Mit diesem Beispiel soll deutlich werden, dass sich Formen von Ab- und
Ausgrenzung schwacher Gruppen strukturell in einen Stadtteil oder in ein
Wohnquartier einschreiben können, ohne dass es den einzelnen Akteuren be­
wusst wird. Werden diese strukturellen Veränderungen nach einer gewissen
Zeit wahrnehmbar, besteht die Gefahr, die Ursachen bei einzelnen Akteuren
oder Institutionen zu suchen anstatt im Zusammenspiel vieler und damit das
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Kristina Kraft, Manuela Freiheit
soziale Klima mitunter noch weiter zu verschlechtern. Daher ist bei der Analy­
se zu berücksichtigen, dass sich individuelles kollektives Verhalten kaum von
der strukturellen Makro- und Mesoebene trennen lässt.
4.Stadtpolitische Hintergründe
Eine Förderung von sozialer Integration steht meist im Schatten einer Stadt­
entwicklungspolitik, die vor allem eine Stärkung von Wirtschaftskraft und
Wirtschaftsstandort fokussiert (Dangschat 1998: 69). Für die Entwicklung
in Neukölln ist daher auf struktureller Ebene zu fragen, inwiefern eine Wirt­
schafts- und Standortförderung im Vordergrund steht und welche normati­
ven ‚Vorbildfunktionen’ (siehe Programm „Soziale Stadt“) die Zuziehenden
erfüllen sollen, respektive wie diese ‚Vorbildfunktionen’ sich mit Selbst- und
Fremdwahrnehmungen der Gruppen der Zuziehenden bzw. der Alteingeses­
senen überschneiden. Der Zuzug in Neukölln wird vorrangig vom Programm
„Soziale Stadt“ gefördert und im Quartier „Neukölln-Reuterplatz“ durch das
Quartiersmanagement und die neu geschaffene Zwischennutzungsagentur
umgesetzt – leerstehende Ladenlokale sollen dabei befristet vermietet wer­
den, jedoch möglichst mit einer Nutzung über begrenzte Zeiträume hinaus.
Günstige Konditionen und eine kostenlose Vermittlung zwischen Eigentümer
und Mietern sollen die Besetzung des Leerstandes vorantreiben.
„Die Attraktivität des Gebietes für Zuzügler vorwiegend aus dem
Bereich der „creative industries“ und hier speziell aus den Branchen
Mode und Design hat sich in [sic!] 2009 fortgesetzt. Hier sind zahl­
reiche Arbeitsplätze – überwiegend als Existenzgründungen – ent­
standen“ (Quartiersmanagement Reuterplatz 2010).
Trotz dieser Entwicklung nimmt die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen und Be­
wohnern mit Migrationshintergrund laut Häußermann (Häußermann 2008) zu
– völlig unabhängig von dieser Entwicklung. Vor diesem Hintergrund gewinnt
die Frage an Relevanz, welche Entwicklungen Institutionen anstoßen wollen, in
welchem Verhältnis sie zueinander stehen und wie ihre Vorstellungen mit den
jetzigen Veränderungen übereinstimmen. Wer macht die Stadt für wen? Wie
werden die Ortswahl und Handlungsspielräume („Spacing“) durch Institutionen
und institutionelle Räume beeinflusst und eingeschränkt? Welche institutionali­
sierten Netzwerke werden sichtbar und welche führen zu Inklusion und Exklusi­
on? Wie sind die Regeln und Ressourcen (räumliche Strukturen) der Alteingeses­
senen/Zuziehenden rekursiv in Institutionen eingelagert? (Löw 2001: 271)
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit vor Ort
161
5.Fazit und Ausblick
Ethnisch-kulturelle Vielfalt und damit eine kulturelle Mischung bilden nicht
per se Konflikte ab, vielmehr werden gesamtgesellschaftliche Verwerfungen
im Sozialraum gespiegelt, treffen auf spezifische Kontexte vor Ort und suchen
sich über die Ethnisierung sozialer Probleme eine Ventilfunktion. Liegt dar­
über hinaus ein feindseliges Klima in Form von sozialer und ethnischer Dis­
kriminierung vor, kann dies als Nährboden für die Verschärfung bestehender
Konflikte dienen. Die räumliche Identifikation hat insofern eine ambivalente
Funktion, als sie zum einen Halt im sozialen Nahraum bietet und damit zur
Stabilität in einem Klima der Verunsicherung beiträgt. Zum anderen kann eine
empfundene Bedrohung dazu führen, bestehende Konflikte zu intensivieren
oder weitere Konfliktformen verursachen. Daher scheint es sinnvoll, beste­
hende Sozialräume zu schützen, um weitere Desintegrationserfahrungen ab­
zuwehren. Desintegration abzumildern und aufzulösen ist nicht nur über sozi­
alräumliche Strategien möglich, sondern muss mit gesamtgesellschaftlichen
Veränderungen einhergehen, kann aber durch ein tolerantes Klima vor Ort
gefördert werden. Dies hängt entscheidend davon ab, wie Solidaritätsstra­
tegien entwickelt werden, die auch fremde Ethnien und schwache Gruppen
umfassen, um subtile und feindselige Einstellungen zu überwinden. Hierfür
scheint die Reflexion der eigenen Position sowie das Einhalten räumlich ge­
wachsener Grenzen und bestehender sozialer Netzwerke von entscheidender
Bedeutung. Vor dem Hintergrund, dass bereits die Wohndauer, das „soziale
Alter“, zu Konflikten führt, kann eine Lösung nur schrittweise und in langsa­
mer Annäherung erfolgen. Ein ‚Gießkannenprinzip‚ scheint eher geeignet,
soziale Probleme zu entschärfen, als die systematische Anwerbung von Mit­
telschichten in zusammenhängenden Straßenzügen. Dieses Prinzip kollidiert
jedoch mit der Kurzfristigkeit kommunaler Stadtentwicklungsprogramme.
Darüber hinaus ist die Diskussion um interkulturelle Kontakte und „Social Mi­
xing“ normativ überformt.
„Erst wenn die soziale Funktion des Fremdseins nachvollzogen
wird, könnten unterschiedliche kulturelle Praktiken und Wertsyste­
me verstanden und eingeordnet werden“ (Dangschat 1998: 50).
Wissenschaftliche Analyse kann einen Beitrag zur Aufklärung der Zusammen­
hänge leisten, indem sie die Gruppen intern differenziert und wechselseitig
aufeinander bezieht, da nicht nur materielle Faktoren Ursache für die Verun­
sicherung bei Aufwertungsprozessen von Stadtteilen sind, sondern deren
Wahrnehmung und Bewertung. Vor dem Hintergrund struktureller Faktoren
162
Kristina Kraft, Manuela Freiheit
können durch diese Wechselseitigkeit auch unbeabsichtigte Folgen in den
Blick geraten. Erst wenn verschiedene Untersuchungen vorliegen, können
auch Vergleiche angestellt und von situativen Analysen auf Muster geschlos­
sen werden.
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