Wirtschaftsethik und Dritter Sektor KARL GABRIEL* Economic Ethics and the Third Sector This article starts with a clarification of the origins and the specificities of the Third Sector and its organizations. In line with actual research interests it analyzes organizations of the Third Sector as actors of the civil society. In the second part it addresses two leading approaches that were developed in Germany as comprehensive conceptions of economic and business ethics. The question is: What can the approaches of Karl Homann on the one side and of Peter Ulrich on the other side contribute to an ethical reflection on the Third Sector and its organizations? Keywords: Dritter Sektor, Zivilgesellschaft, Ökonomische Theorie der Ethik (Homann), Integrative Wirtschaftsethik (Ulrich) 1. Einleitung Die Forschung zum Dritten Sektor zeichnet sich durch eine hohe Multidisziplinarität aus (vgl. Zimmer 2007: 186). Seit Amitai Etzioni (1973) vom „Third Sector“ sprach, haben viele Soziologen, Politikwissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftler sich mit der Thematik eines Raumes bzw. von Organisationen jenseits von Markt und Staat beschäftigt. Die Wirtschaftsethik findet man unter den Disziplinen, die sich durch die Welt jenseits staatlicher Bürokratie und gewinnorientierten Unternehmen herausgefordert fühlten, so gut wie nicht vertreten. Einerseits gibt es in den Sozialwissenschaften eine gewisse Zurückhaltung und Skepsis gegenüber der Wirtschaftsethik. So hatte Niklas Luhmann auch nur Ironie und Spott für das Projekt einer Wirtschaftsethik übrig: „Ich muß es gleich am Anfang sagen:“ – so eröffnete er ein Referat zur Wirtschaftsethik in Münster – „es ist mir nicht gelungen herauszubekommen, worüber ich eigentlich reden soll. Die Sache hat einen Namen: Wirtschaftsethik. Und ein Geheimnis, nämlich ihre Regeln. Aber meine Vermutung ist, dass sie zu der Sorte von Erscheinungen gehört wie auch die Staatsräson oder die englische Küche, die in der Form eines Geheimnisses auftreten, weil sie geheimhalten müssen, dass sie gar nicht existieren.“ (Luhmann 1993: 134) Dem Charakter der Wirtschaftsethik als Geheimlehre widerspricht, dass spätestens seit Beginn der 1990er Jahre Publikationen über Wirtschaftsethik „im konjunkturellen Aufwind“ (Hengsbach 1993: 9) liegen. Bis in die Gegenwart hinein lässt sich von einem gewissen Boom der Wirtschaftsethik sprechen, der aus der Wirtschaft selbst ge* Prof. Dr. Dr. Karl Gabriel, Institut für Christliche Sozialwissenschaften, Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Münster, Hüfferstr. 27, D-48149 Münster, Tel.: +49-(0)251-8332640, Fax: +49-(0)251-30041, E-Mail: [email protected], Forschungsschwerpunkte: Sozialethik, Wohlfahrtsverbändeforschung, Religionssoziologie, Religion und Sozialstaatsentwicklung. zfwu 9/3 (2008), 315-330 315 speist wird. Die Wirtschaftsethik zeigt aber eine hohe Konzentration auf die wachsenden Legitimationsprobleme der marktlich organisierten Wirtschaft und gewinnorientierter Unternehmen. So ist es nicht verwunderlich, dass die „hybriden Einrichtungen“ (vgl. Evers/Laville 2004) des Dritten Sektors wirtschafts- und unternehmensethisch unterbelichtet geblieben sind. Der folgende Beitrag setzt bei einer Klärung von Herkunft und Spezifika des Dritten Sektors und seiner Organisationen ein. Dem neueren Forschungsinteresse folgend geht er auf Dritte-Sektor-Organisationen als zivilgesellschaftliche Akteure ein. Im zweiten Teil wendet sich der Beitrag den zwei führenden Ansätzen zu, die im deutschsprachigen Raum umfassende Konzeptionen von Wirtschafts- und Unternehmensethik entwickelt haben: Welchen Beitrag können die Ansätze von Karl Homann einerseits und Peter Ulrich andererseits – so wird gefragt – zu einer ethischen Reflexion des Dritten Sektors und seiner Organisationen leisten? 2. Dritter Sektor Im Begriff Dritter Sektor kommt ein breiter Komplex von Entwicklungen zur Sprache, die auf erschwerte Handlungsbedingungen und neue Grenzen politischer Macht und staatlicher Administration hinweisen (vgl. Gabriel 2001; Birkhölzer et al. 2005; Zimmer/Priller 2005; Zimmer 2007). Die groben Etikettierungen des Wandels als Individualisierung auf der einen und Globalisierung auf der anderen Seite zeigen lediglich die Stoßrichtungen an, aus denen heute die Herausforderungen und Bewährungsproben für den territorial begrenzten Massenstaat kommen. Auf der Rückseite der vielfältigen Prozesse schmerzlicher Fremd- wie auch Selbstbegrenzung des Staates schiebt sich ein sozialer Raum bzw. Sektor in den Vordergrund, der aus der ihm zugedachten Rolle als passives und strukturloses Objekt staatlichen Handelns heraus drängt und auf einen wie immer gearteten Subjektstatus rekurriert. Als problemanzeigender Begriff verweist die Rede vom Dritten Sektor nicht nur auf Phänomene der Entzauberung des modernen Staates, sondern hat gewissermaßen auch eine zweite Erfahrung von Enttäuschung und Ernüchterung zum Bezugspunkt. Die vom Ende des Staatssozialismus her nahe liegende Erwartung, befreie man die Gesellschaft nur von den Fesseln eines hypertroph gewordenen Staates und überlasse man den Bedarf an Koordination und Kooperation allein dem freien Wettbewerb und Tausch von Marktanbietern sowie -nachfragern, so werde sich die jeweils bestmögliche Lösung von Problemen der Handlungskoordination und des Interessenausgleichs wie von selbst herstellen, hat sich ebenfalls nicht erfüllt. Die theoretisch wie empirisch radikalisierte und erweiterte Systemintegration über den Markt hat der Frage nach den Kräften der Sozialintegration eine neue Dringlichkeit gegeben. Der von den Finanzmärkten ausgehende Druck auf Wirtschaftsunternehmen, dem Profitmotiv verschärft Relevanz zu geben, hat der Bedeutung von Organisationen jenseits der Profitorientierung Nachdruck verliehen. Der bis in die Gegenwart hinein im gesellschaftlichen Test befindliche Versuch, der Marktsteuerung in den Feldern von Kultur, Bildung, Wissenschaft, sozialen Diensten und des Gesundheitswesens mehr Raum zu geben, hat auch den Grenzen einer Vermarktlichung gesellschaftlichen Lebens wieder schärfere Konturen gegeben. 316 Neben der horizontalen Blickverschiebung über die Sphären von Wirtschaft und Politik hinaus steht hinter der Artikulation eines ‚Dritten Sektors’ auch eine neue Aufmerksamkeit für verschärfte gesellschaftliche Probleme in der vertikalen Dimension. Die Gleise, auf denen sich Gesellschaft und Individuum bewegen, streben wie nie zuvor auseinander. Auf der einen Seite verschärft sich die Eigensinnigkeit der tragenden gesellschaftlichen Institutionen, so dass deren innere Logik offenbar nur noch vom distanzierten Beobachter mittels einer hoch abstrakten Systemtheorie einigermaßen begreifbar und einholbar erscheint. Auf der anderen Seite wachsen die Ansprüche der Individuen, die Welt der Institutionen den eigenen Interessen unmittelbar dienstbar zu machen und sich deren Sinnvorgaben nur dort zu Eigen zu machen, wo eine Verschränkung mit eigenen Sinnbezügen glaubwürdig nachvollziehbar erscheint. Entscheidende Bedeutung für die Möglichkeiten gesellschaftlicher Integration einerseits wie der Sinnhaftigkeit individueller Lebensführung andererseits erhält damit die Sphäre zwischen der Welt der Individuen, ihres persönlich-individuellen und familiären Lebens und der Welt der anonymisierten gesellschaftlichen Großinstitutionen. Intermediäre institutionelle Strukturen mit der Fähigkeit zur Vermittlung und zum Spannungsausgleich zwischen Individuum und Gesellschaft lassen sich damit als Engpass gegenwärtiger gesellschaftlicher Entwicklung identifizieren. Mit der Rede vom ‚Dritten Sektor’ werden auch eine neue Aufmerksamkeit und die Suche nach einem angemessenen konzeptionellen und begrifflichen Zugang zur Sphäre eines ‚Zwischen’ in der vertikalen Dimension gesellschaftlichen Lebens angesprochen. 3. Dritte-Sektor-Organisationen Für den Dritten Sektor sind Organisationen charakteristisch, die vier Merkmale gemeinsam haben (vgl. Priller/Zimmer 2004; Zimmer/Priller 2005; Zimmer 2007: 179193). Sie besitzen ein Mindestmaß an formeller Struktur, was sie von rein informellen Aktionsformen wie Stammtischrunden etc. unterscheidet. Die Rechtsform als eingetragener Verein, private Stiftung, gemeinnützige GmbH oder gemeinnützige Genossenschaft – so in der Rechtsstruktur Deutschlands – ist das entscheidende Moment. Ihre Zugehörigkeit zum Dritten Sektor impliziert, dass sie eine gewisse Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gegenüber dem Staat besitzen. Von Wirtschaftsunternehmen unterscheiden sie sich durch ihre Nichtgewinnorientierung, die zwar die Erzielung von Gewinnen prinzipiell zulässt, nicht aber ihre Ausschüttung an Eigner oder Mitglieder. Gewinne müssen der Reinvestition zugeführt werden. Als viertes konstitutives Merkmal gilt, dass die Mitgliedschaft keine Zwangsmitgliedschaft darstellt, sondern freiwillig zustande kommt. Darüber hinaus können Dritte-Sektor-Organisationen bei ihrer Aufgabenerfüllung auch auf freiwillige Beiträge bei Geldmitteln oder Arbeitsleistung zurückgreifen. Die Organisationen des Dritten Sektors lassen sich einem dritten Typus von Organisationen zurechnen, die weder öffentliche Ämter noch gewerbliche Unternehmungen darstellen (vgl. Pankoke 2000; Ebertz 2001). Ihre Identität ist gebunden an einen eigenen Stil des Handelns mit eigener Motivation und Rationalität, der sich sowohl vom staatlich-hoheitlichen Machthandeln als auch vom Nutzenkalkül kommerziellen Handelns unterscheidet. Sie agieren als sogenannte Non-Profit-Organisationen mit besonderer Gemeinwohlverpflichtung im Dritten Sektor – neben dem Staat auf der einen zfwu 9/3 (2008), 315-330 317 Seite und dem privatwirtschaftlich organisiertem Markt auf der anderen Seite. Gleichzeitig bilden sie eine Brücke zu den auf wechselseitiger Hilfe beruhenden privatfamiliären Gemeinschaften und deren Logik solidarischen Handelns. In Deutschland lässt sich zum Beispiel an der Entwicklung der Wohlfahrtsverbände in den letzten Jahrzehnten der Bedeutungszuwachs des Dritten Sektors ablesen. In ihrer spezifischen Organisationsform stehen Akteure des Dritten Sektors vor der Aufgabe, verschiedene Handlungslogiken, Motive und Rationalitäten so miteinander zu verbinden, dass sie eine produktive Einheit bilden. Die Bedeutung der Organisationen des Dritten Sektors lässt sich mit Problemen eines Staats- und Marktversagens einerseits, wie auch mit den engen Funktions- und Leistungsgrenzen informeller Hilfeformen andererseits begründen. Die Organisationen des Dritten Sektors haben es mit einer auffälligen Multifunktionalität zu tun (vgl. Zimmer/Priller 2005: 54-56). Auf der einen Seite erbringen sie Dienstleistungen, insbesondere im sozialen Bereich. Als Dienstleistungserbringer reichen die Dritte-Sektor-Organisationen in den Markt hinein. Gleichzeitig haben sie in der Regel Funktionen einer Interessenvertretung. Als solche organisieren und bündeln sie Interessen und agieren als politische Akteure. In vertikaler Perspektive leisten die Dritte-Sektor-Organisationen in ihrem lokalen, auf den informell-privaten Bereich gerichteten Bezug einen wichtigen Beitrag zur sozial-kulturellen Integration. Dienstleister, Lobbyisten und Sozialintegratoren zugleich zu sein, bedingt für die Dritte-Sektor-Organisationen und deren Management spezifische Probleme der Balance. Stets befinden sie sich in der Gefahr, ihre balancierte Identität nach einer Seite hin aufs Spiel zu setzen. Dies lässt sich eindringlich am Beispiel der kirchlichen Wohlfahrtsverbände demonstrieren (vgl. Gabriel 2007). Zur Stellung der kirchlichen Wohlfahrtsverbände gehört eine Vielfalt von Aufgaben- und Funktionsbezügen und Vermittlungsleistungen in einem Spannungsfeld, das sich nicht ohne weiteres nach einer Seite hin auflösen lässt, wollen die Verbände nicht ihren spezifischen Ort, ihre Domäne, ihre historisch gewachsene Identität aufs Spiel setzen. Dies gilt gegenüber dem Druck zur Vermarktlichung von Diakonie und Caritas als Dienstleistungsakteure auf einem mehr oder weniger regulierten Markt wie auch gegenüber dem Druck, sich den Interessen staatlichhoheitlichen Handelns zu beugen. Auch der Rückzug auf die Ebene einer charismatisch-informellen Hilfe von Mensch zu Mensch allein würde ihrer Tradition nicht entsprechen. Als kirchliche Akteure kommt für Diakonie und Caritas noch die Aufgabe hinzu, trotz ihrer engen kirchlichen Bezüge, sich auch von den kirchenamtlichen Strukturen nicht ununterscheidbar zu machen. Ein Nachgeben gegenüber dem Verkirchlichungsdruck müsste nicht nur die Handlungsfähigkeit der Verbände in ihrer Funktion als Anwalt und Dienstleister beeinträchtigen, sondern auch ihre Inkulturationsleistungen in die Gesellschaft hinein erschweren. Steuerungstheoretisch spielt innerhalb der Dritte-Sektor-Organisationen ein dritter Typus von Steuerung neben Markt und Staat eine Rolle, der sich als solidarische Steuerung bezeichnen lässt (vgl. Geller/Gabriel 2004: 17-20). Im idealtypischen Sinne operieren Markt und Staat/Hierarchie unter der Prämisse, dass die beteiligten Akteure primär ihre eigenen Interessen verfolgen und nur durch systemspezifisch generierte Informationen und Sanktionen zu einem Verhalten gebracht werden, das auch Dritten 318 nützt. Unter den Bedingungen der Solidarität dagegen gilt gerade diese primär auf eigene Interessen bezogene Disposition als aufgehoben, das Verhalten orientiert sich spontan an angenommenen gemeinsamen Interessen, Normen und Wertorientierungen der sich solidarisch Fühlenden; dementsprechend stellt sich das für Staat wie Markt prekäre Problem der Vermittlung von Zielgrößen und individuellen Bedürfnissen hier nur sehr wenig ausgeprägt (vgl. Kaufmann 2002: 173). Solidarität mildert eine mögliche Differenz zwischen gemeinschaftlichen Zielgrößen und individuellen Interessen ab. Sie gelingt vor allem dann, wenn Selbstinteressen und Gruppeninteressen zusammenfallen. Die Verfolgung individueller Interessen nützt dann gleichzeitig der Gruppe, die Vertretung von Gruppeninteressen stützt die eigenen. Wichtige Voraussetzungen für die Steuerung und Koordination von Handlungen durch Solidarität sind ein normativer Konsens der Beteiligten und eine gemeinsame Situationsdefinition. Das Informationsproblem solidarischer Verhaltenskoordination wird durch spontane Kommunikation gelöst. In diesen Kommunikationen werden Probleme definiert und Ursachen zugeschrieben. Solidarische Steuerung ist dann besonders erfolgreich, wenn die Beteiligten ein Problem so zuschreiben, dass es nicht als durch Handeln der Beteiligten verursacht erscheint, wenn sie das Problem als auferlegt erleben, es also als außen verursacht betrachten, so dass sie vor einem gemeinsamen Gegenüber stehen. Solidarische Kommunikation ist Kommunikation in direkten Interaktionen. Sie ist an Interpersonalität gebunden und setzt als solche Ich-DuBeziehungen voraus, d. h. ein Ernstnehmen des Anderen in seiner Eigenart als Person, was wiederum voraussetzt, dass man sich gegenseitig kennt. Von hier aus bestimmen sich dann auch die Kriterien, nach denen Situationen und Vorgaben zur Lösung von Problemen ausgelegt werden sollen. Während Gesetze ‚sine ira et studio’, unter Absehung von der Person, ausgelegt werden und der Markt auf Anonymität beruht, ist für die Anwendung des Steuerungsmediums Solidarität gerade das Ansehen der Person von entscheidender Bedeutung. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das in den Anderen gesetzte Vertrauen. Vertrauen wird demjenigen entgegengebracht, der zuverlässig wirkt. Der Vertrauende macht dem Anderen ein Angebot einer gemeinsamen Zukunft. Doch ist Vertrauen riskant und wird nicht blind gewährt, wenn auch die Vertrauensperson einen Kredit genießt, in dessen Rahmen auch Enttäuschungen ertragen werden. Dieser Rahmen ist aber nicht beliebig groß, sondern er legt Schwellen fest, jenseits derer Vertrauen entzogen wird (vgl. Luhmann 1968). 4. Dritte-Sektor-Organisationen als zivilgesellschaftliche Akteure In der Forschung zum Dritten Sektor spielt gegenwärtig deren Bedeutung für die infrastrukturellen Grundlagen der Zivilgesellschaft eine wachsende Rolle (vgl. Zimmer 2007: 191). Deshalb erscheint gerade in normativer Perspektive der Zusammenhang zwischen Dritte-Sektor-Organisationen und Zivilgesellschaft von Interesse. Gemeinsam sind den unterschiedlichen Konzeptionen von Zivilgesellschaft vier Elemente. Über sie gibt es zumindest die wenigsten Kontroversen (vgl. Kaelble 2004: 270): (1) Die Zivilgesellschaft ist strikt vom Staat und der zentralen politischen Macht zu unterscheiden. Sie besitzt eigene Institutionen, Organisationen, Netzwerke und Projekte. Darüber hinaus sind spezifische Werte für die Zivilgesellschaft charakteristisch: Zivilität, Gemeinwohlorientierung, Altruismus, Gewaltlosigkeit, zfwu 9/3 (2008), 315-330 319 wechselseitige gleichrangige Anerkennung, Vertrauen und Zivilcourage. Außer vom Staat grenzt sich die Zivilgesellschaft auch vom Markt und von der Privatsphäre ab. (2) Zu den zentralen Charakteristika der Zivilgesellschaft gehört ihre Autonomie. Sie kann ihre Funktionen nur in Unabhängigkeit von staatlichen Verwaltungen und privaten Interessenorganisationen erfüllen. Der Anspruch der Autonomie gilt auch gegenüber kirchlichen Entscheidungsträgern. Die Zivilgesellschaft ist sowohl in ihren Werten wie auch in ihrem Zugang zu Politik und Öffentlichkeit autonom. (3) Zivilgesellschaften sind plural strukturiert. Sie bestehen aus vielen Organisationen, Bewegungen, Netzwerken und Projekten. Sie gehorchen nicht einer zentralen Instanz und haben keine zentrale Organisationsspitze. Die Pluralität und Offenheit der Zivilgesellschaft bedingt aber auch ihre spezifische Gefährdung: sie kann ausgenutzt und für administrative Zwecke missbraucht werden. Diktatoren werden versucht sein, sich eine Zivilgesellschaft für eigene Zwecke zu schaffen. (4) Zivilgesellschaften sind immer mit Öffentlichkeit verbunden. Hartmut Kaelble (2004: 270) spricht davon, dass ohne Verbindung zur Öffentlichkeit eine Zivilgesellschaft nur Gesellschaft wäre. Der Bezug zur Öffentlichkeit ist entscheidend für den spezifischen Einfluss der Zivilgesellschaft auf die Politik. Ohne die politische Öffentlichkeit kann es deshalb auch keine Zivilgesellschaft geben. Der Öffentlichkeitsbezug gilt für lokale Versammlungsöffentlichkeiten bis hin zur Öffentlichkeit auf nationaler und transnationaler Ebene. Zivilgesellschaften haben – so könnte man zusammenfassen – zwei Brennpunkte (vgl. Adloff 2005: 7-16): Zum einen das Netzwerk von Institutionen, Organisationen, Bewegungen, Initiativen und Einzelakteuren, die nicht primär an politischer Macht oder wirtschaftlichem Gewinn, aber auch nicht ausschließlich an Familien- und Freundschaftsbeziehungen orientiert sind. Zu Akteuren der Zivilgesellschaft werden sie vornehmlich durch ihre Verpflichtung auf Ziele des allgemeinen Interesses und der Unterstützung der Machtlosen und Gefährdeten in der Gesellschaft. Den zweiten Brennpunkt bilden die Werte der Zivilgesellschaft: Zivilität, Zuwendung zum anderen ohne Macht- und Profitinteressen, Prosozialität und caritative Orientierung. Hat man die Zivilgesellschaft vornehmlich als eigenen sozialen Raum oder Sektor im Blick, dann gehören wirtschaftliche und staatliche Organisationen nicht zur Zivilgesellschaft. Orientiert man sich stärker an Zivilität als Wert, kann es zivilgesellschaftliche Elemente auch in Wirtschaftsunternehmen und staatlichen Organisationen geben. Drei Funktionen und Leistungen der Zivilgesellschaft lassen sich hervorheben (vgl. von Soosten 2001: 1847): (1) Sie stellt das Feld öffentlicher Einmischung der Bürger und ihrer Selbstorganisation dar. Ihr Raum dient der Mitsprache und Meinungsbildung in öffentlichen Angelegenheiten. (2) Man erhofft sich von ihr ein kritisches Korrektiv und eine besondere Wachsamkeit gegenüber den Machtkonzentrationen und Verselbständigungstendenzen innerhalb von Wirtschaft und Staat. 320 (3) Zu ihren Charakteristika gehört es, eine besondere Sensibilität für die Belange der Schwachen und Benachteiligten in der Gesellschaft auszubilden. Gerade darin kommt ihre Integrationsleistung zum Ausdruck. In der Regel bleibt der Staat ein vorausgesetzter Bezugspunkt und eine Stütze der Zivilgesellschaft. Sie soll – außer in einigen radikal-demokratischen Konzepten – die formellen politischen Institutionen nicht ersetzen. Sie soll kritisches Korrektiv, aber auch ziviler Treibstoff des Staates sein. Die Nähe zur Idee der Subsidiarität ist hier unverkennbar. 5. Dritte-Sektor-Organisationen und die Wirtschafts- und Unternehmensethik Karl Homanns Im deutschsprachigen Raum sind es vornehmlich zwei Ansätze, die dem wirtschaftsund unternehmensethischen Diskurs ihr Gepräge geben: der welfaristische Ansatz von Karl Homann und der diskursethische von Peter Ulrich (vgl. Gabriel 2007b: 160-182). Es handelt sich um zwei komplexe, differenziert ausgearbeitete Entwürfe, die die wirtschafts- und unternehmensethische Perspektive eng miteinander verknüpfen. Sie sollen im Folgenden auf ihren jeweiligen Beitrag für das Feld der ethischen Reflexion des Dritten Sektors und seiner Organisationen geprüft werden. Homann betont, dass die Wirtschaftsethik von der Einsicht in die Gesellschaftsstrukturen moderner Gesellschaften ausgehen müsse (vgl. Homann/Blome-Drees 1992; Homann 1993; Homann 1997; Homann 2002a). Während die philosophische Ethik entweder von vormodernen Vorstellungen von Gesellschaft ausgehe oder sich auf die Diagnose Pluralismus und die Therapie Integration über die Begründung von Normen beschränke, will Homann für seinen Ansatz, der Wirtschaftsethik als Ökonomik, von modernen Gesellschaftsstrukturen ausgehen und ihnen in der Ethik punktgenau Rechnung tragen. Als Grundstrukturen moderner Gesellschaften betrachtet er die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, die Individualisierung, die Ausbildung von Organisationen und die exorbitante Zunahme von Mobilität (vgl. Homann/Blome-Drees 1992: 1-13). Schon Adam Smith – so Homann – habe mit seinem Hauptwerk „The Wealth of Nations“ auf die Entwicklung hin zu modernen Gesellschaften reagiert. Unter den strukturellen Bedingungen moderner Gesellschaften wird für Homann die Implementierung moralischer Normen zum entscheidenden Problem. Diese könne nur auf das unmittelbar handlungsleitende Motiv individuellen Vorteilsstrebens gegründet werden. „Normen werden befolgt“, so Homann, „und nur dann befolgt, wenn ihre Befolgung dem jeweiligen Akteur größere individuelle Vorteile verheißt als ihre NichtBefolgung“ (Homann 2002a: 26). Zur Moderne gehört, dass die Menschen auch ihre Handlungsbedingungen in die Hand bekommen. Deshalb muss für Homann eine moderne Ethik zweistufig angelegt sein, nämlich als Handlungsethik und als Bedingungsethik. Insofern in den Spielregeln, in der Rahmenordnung, die Optionen und Restriktionen des Handelns geschaffen werden, hat für Homann die Ethik der Handlungsbedingungen den Vorrang. Das Handeln selbst folgt dann den Anreizen, also der ökonomischen Logik. Damit wird erkennbar, dass sich für Homann die zentralen Fragen der Moral von der Handlungs- auf die Systemebene, von den Spielzügen in die Spielregeln verlagern. zfwu 9/3 (2008), 315-330 321 „Der systematische Ort der Moral“ – so Homanns zentrale These – „in einer Markwirtschaft ist die Rahmenordnung.“ (Homann/Blome-Drees 1992: 35) Handlungs- wie Ordnungsethik müssen für Homann konsistent auf Vorteilskalkulationen aufbauen. Zwei Gründe sind dafür maßgebend: Unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen wird für Homann das ältere, an überschaubare Verhältnisse gebundene System der sozialen Kontrolle ersetzt durch ein System, das auf der „Selbstkontrolle entlang den eigenen Interessen, entlang den Anreizen“ (Homann 2002a: 30) beruht. Mit der Selbstkontrolle entlang der Kalkulation eigener Vorteile besitzen moderne, anonyme Großgesellschaften das notwendige funktionale Äquivalent, den notwendigen Ersatz für die lückenlose soziale Kontrolle von Angesicht zu Angesicht in einfachen Gesellschaften. Er fährt fort: „Weit entfernt davon, das Streben nach eigenen Vorteilen als sozial schädlich zu denunzieren, stellt die lückenlose Selbstkontrolle entlang der eigenen Interessen das einzige durchgängig wirksame Instrument der sozialen Kontrolle in modernen Gesellschaften dar. Moral folgt den ‚Anreizen’, wird ‚Anreizmoral’.“ (ebd.: 30) Die Kontrolle durch internalisierte Moral muss für Homann scheitern, weil moralische Vorleistungen im Wettbewerb von Marktwirtschaften ausbeutbar sind. Deshalb avanciert die Verfolgung von Eigeninteressen zu der auf moderne Gesellschaften präzise zugeschnittenen Form der sozialen Kontrolle. Moderne Gesellschaften – so Homann – sind keine stationären Gesellschaften, die gewissermaßen auf einem Nullsummenspiel beruhen, sondern Wachstumsgesellschaften, die auf einem Positivsummenspiel beruhen. Moderne Marktwirtschaften haben für Homann auf der Grundlage einer Verfolgung der eigenen Interessen jedes Einzelnen unter einer klug geschnittenen Rahmenordnung mit forciertem Wettbewerb einen bisher nicht erreichten Wohlstand geschaffen. „Marktwirtschaft mit Wettbewerb“ – so Homann in provokativen Formulierungen –„löst die alte Caritas, die alte Mildtätigkeit, ab, sie wird zur effizientesten Form der Caritas, die die Weltgeschichte bisher gesehen hat.“ (Homann 2002b: 16) Die Ökonomik arbeitet in ihrer Methodik mit einem sehr weiten Vorteilsbegriff. Er kann Einkommen, Vermögen, Besitz, aber auch Muße, ‚gutes Leben’ in Gemeinschaft mit anderen umfassen. Ist mit dem Vorteilsdenken der Schlüssel für die individuelle Handlungssteuerung als Ersatz für die nicht mehr funktionierende Motivmoral gefunden, so müssen für Homann die institutionellen Regelsysteme so gebaut bzw. umgebaut werden, dass sie über das Vorteilsdenken der einzelnen zu gewünschten Ergebnissen führen. Die Unternehmensethik Homanns bleibt eng auf die aufgezeigten wirtschaftsethischen Prämissen bezogen. Da der systematische Ort der Moral für Homann in der Rahmenordnung liegt, bedarf es eigentlich keiner Unternehmensethik. Sie kommt erst ins Spiel, wenn man in den Blick nimmt, dass „die Voraussetzung einer vollkommenen Rahmenordnung (…) aus pragmatischen und systematischen Gründen niemals vollständig gegeben“ (Homann/Blome-Drees 1992: 114) ist. Die Rahmenordnung komme stets in Zeitverzug, habe immer unter Kontrollproblemen zu leiden und zudem müsse mit einem wachsenden Verfall der ordnungspolitischen Kompetenz der Politik gerechnet werden. Erst wo die ordnungspolitischen Defizite auf die Hand322 lungsebene durchschlagen, fällt die im Normalfall an die Ordnungsebene abgegebene moralische Verantwortung an die Unternehmen zurück. Auch die Unternehmensethik ist für Homann deshalb primär als Institutionenethik und nicht als Individualethik bzw. als Handlungsethik des einzelnen Managers/Unternehmers zu konzipieren. „Unter den Bedingungen der modernen (Markt-)Wirtschaft lässt sich eine Unternehmensethik sinnvoll nur aus ordnungsethischer Perspektive entwickeln“ (ebd.: 121). Für die Unternehmensebene zieht Homann die Konsequenz, systematisch zwischen zwei Typen von Spielzügen zu unterscheiden: zum einen den Handlungstyp des gewinnorientierten unternehmerischen Handelns im Wettbewerb. Dieses ist von moralischen Ansprüchen durch die Rahmenordnung entlastet. Davon unterscheidet Homann die politischen Spielzüge der Unternehmen, die darauf gerichtet sind, die Rahmenordnung im Interesse aller Unternehmen zu verbessern. Homann betont, dass „neben allen Unterschieden sowohl der originär ökonomische als auch der politische Handlungstyp interessengeleitet ist“ (ebd.: 123). Was können die Akteure und Organisationen des Dritten Sektors aus der Wirtschaftsund Unternehmensethik Karl Homanns lernen? Die Individualethik – dies gilt auch für die Reflexion der Handlungsbedingungen im Dritten Sektors – bedarf des Bezugs zu einer Institutionenethik. Organisationen des Dritten Sektors haben die Neigung, ihre individuellen Akteure moralisch zu überlasten. Homanns Perspektive, die Institutionenebene aus der ethischen Reflexion nicht auszublenden, sondern ihr für die Ethik einen zentralen Stellenwert einzuräumen, besitzt deshalb gerade für die Dritte-SektorOrganisationen eine hohe Plausibilität. Gerade in dem Maße, in dem Dritte-SektorOrganisationen als Dienstleister in den Markt hineinreichen, sind sie darauf angewiesen, dass der Ordnungsrahmen stimmt, in dem sie agieren und zur wettbewerblichen Orientierung angehalten werden. So haben die politisch hoch regulierten Sozialmärkte innerhalb der ambulanten Pflege zum Beispiel ein Defizit an Moral, das nur mit großer Mühe und Tendenzen zur Selbstausbeutung durch die Akteure vor Ort kompensiert werden kann (vgl. Geller/Gabriel 2004: 293-303). Organisationen des Dritten Sektors müssen deshalb den politischen Handlungstyp im Sinne Homanns reflektiert entwickeln und gezielt zum Einsatz bringen. Ein zweiter Gedanke aus der Wirtschafts- und Unternehmensethik Homanns, der für Dritte-Sektor-Organisationen ein Anregungs- und Reflexionspotential enthält, ist die Bedeutung der Implementation für die Ethik. Ethische Maximen bedürfen der Implementation in konkreten Kontexten, um wirksam werden zu können. Es dürfte auch sinnvoll sein, bei der Implementationsproblematik die Dimension der Anreize nicht aus den Augen zu verlieren. Auch in Dritte-Sektor-Organisationen dürfen institutionelle Arrangements und moralische Anforderungen an die Individuen nicht in Widerspruch zueinander stehen und sich gegenseitig dementieren. Für die Implementation entscheidend ist die Frage, ob sie sich wechselseitig unterstützen, was eine kluge Anreizpolitik voraussetzt. Aus ethischer Perspektive lassen sich grundsätzliche Einwände gegen die Wirtschaftsund Unternehmensethik Homanns formulieren (vgl. Gabriel 2007b: 106). Vorstellungen einer guten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung reduzieren sich bei Homann faktisch auf eine Option für den Status quo. Als Maßstab gilt das subjektiv bewertete Nutzenniveau des Einzelnen. Handlungen werden ausschließlich nach ihren Folgen zfwu 9/3 (2008), 315-330 323 für das Wohlbefinden des Einzelnen bewertet. Differenzierungstheoretisch muss es befremden, dass der Imperialismus der homannschen ökonomischen Handlungstheorie die Handlungsbedingungen des Wirtschaftssystems auf alle Handlungsbereiche überträgt. Homann findet damit keinen Zugang zur Selbstzwecklichkeit des Menschen und der darin begründeten Freiheits- und Beteiligungsrechte, deren Beachtung ein Vorrang vor allen Wohlfahrtssteigerungen zukommt. „Der moral point of view wird so zweifellos verfehlt“ (Ulrich 2001: 115; vgl. Goertz 2004: 213f.). Mit Bezug auf den Dritten Sektor ist anzumerken, dass Homanns Wirtschaftsethik die Spezifika des Dritten Sektors in Differenz zu Markt und Staat nicht angemessen zu reflektieren vermag. In seiner Ordnungstheorie spielt eine Sphäre jenseits von Markt und Staat keine Rolle. Dritte-Sektor-Organisationen müssen ihm als vormoderne Phänomene erscheinen, die in die Moderne hineinragen. Den Anforderungen, die an alle Organisationen in globalisierten und individualisierten Gesellschaften gestellt werden, können Dritte-Sektor-Organisationen für Homann nicht gerecht werden. Ein systematischer Ort in der Gesellschaft ist für sie nicht vorgesehen. Das politische Handeln von Unternehmen bleibt auch dort, wo es um die politische Rahmenordnung geht, strikt an den Interessen des Unternehmens orientiert. Eine Gemeinwohlorientierung, die diesen Namen verdient, lässt der Ansatz Homanns weder auf der Ebene des unmittelbaren Veränderungshandelns noch auf der Ebene des politischen Handelns zu. Dürfte diese Perspektive schon für reine Wirtschaftsunternehmen zu problematischen Konsequenzen führen, so erweist sie sich insbesondere für Organisationen als unangemessen, zu deren Identität ein Gemeinwohlbezug gehört. Besonders problematisch erscheint, dass Homanns Ansatz für eine Pluralität von Handlungslogiken, die zum Ausgleich gebracht werden müssen, keine Sensibilität besitzt. Die universal lauernden Dilemmastrukturen lassen für Homann nur eine einzige Handlungslogik zu. Insofern sind die Folgen, die ein breites Eindringen der wirtschafts- und unternehmensethischen Perspektive Homanns in das handlungsleitende Wissen der Führungskräfte von Dritte-Sektor-Organisationen besäße, als problematisch einzuschätzen. 6. Der Dritte Sektor und die Wirtschaftsethik Peter Ulrichs Die integrative Wirtschaftethik Peter Ulrichs ist der zweite Ansatz, auf den ich mich beziehen möchte (vgl. Ulrich 2001; Ulrich 2000: 553-567). Ulrich will dem diskursethisch begründeten Moralprinzip im Handlungsbereich der Wirtschaft zur Geltung verhelfen. Er zielt – auf eine Kurzformel gebracht – an, die „ökonomische Ratio ‚zur (praktischen) Vernunft‘ [zu] bringen“ (Ulrich 2000: 555). Wo davon ausgegangen wird, dass die ökonomische Vernunft – der nutzenmaximierende Einsatz knapper Mittel – schon die ganze Vernunft ausmacht, erhält die Ökonomik die Funktion einer Weltanschauung, wird zum Ökonomismus. Den Ökonomismus hält Ulrich für die Großideologie der Gegenwart. Entsprechend versteht er die Ökonomismuskritik als die „systematisch erste und vordringliche Aufgabe“ (ebd.: 556) seiner Wirtschaftsethik. Die Wirtschaftsethik umfasst für Ulrich vier systematische Grundaufgaben (vgl. Ulrich 2001: 16; Ulrich 2000: 556): 324 (1) Entwicklung eines Ansatzes einer Vernunftethik des Wirtschaftens aus einer tragfähigen philosophischen Vernunftethik. (2) Kritik der reinen ökonomischen Vernunft und ihrer normativen Überhöhung zum ,Ökonomismus’. (3) Beschreibung der normativen Grundorientierungen eines lebensdienlichen – und das heißt eines sinnvollen und legitimen Wirtschaftens. (4) Konzeptionelle Verortung der Moral des Wirtschaftens in einer modernen Gesellschaft (wirtschaftsethische Topologie). Ulrich bezieht sich auf die spezifisch humane Moralität des Menschen. In der Tradition der philosophischen Anthropologie spricht er vom Menschen als das „sich selbst feststellende Wesen“ (Ulrich 2000: 556), das nach Gründen zu entscheiden vermag. Moralische Gründe kommen immer dann ins Spiel, wenn es um die grundlegenden, normativen Leitideen und Bedingungen des Menschseins, um seinen Status als selbstbestimmtes Subjekt und die wechselseitige Achtung und Anerkennung der Individuen in diesem Anspruch geht. Den moralischen Standpunkt einzunehmen heißt dann für Ulrich, dass die gegenseitige Anerkennung der Menschen als Wesen gleicher Würde für das eigene Handeln als verbindliches Kriterium gilt und dass die gegenseitige Anerkennung auch das entscheidende Kriterium für die Gestaltung der Regeln des Zusammenlebens bildet. Chance und Aufgabe einer humanistischen Vernunftethik sieht Ulrich darin, die universale normative Logik der Zwischenmenschlichkeit zu explizieren. Sie wurzelt in einem kognitiven Moment als Grundlage aller Moralität: nämlich in der Fähigkeit des Menschen zum gedanklichen Rollentausch. Im gedanklichen Rollentausch, also dass ich mich aus den Augen der Anderen zu sehen vermag und umgekehrt, wird die kritische Reflexion des eigenen und fremden Handelns möglich. Wenn ich – so die Argumentation Ulrichs – dem anderen das moralische Recht auf Achtung der Voraussetzungen seiner Würde und seines Subjektseins bestreite, so widerrufe ich auch meinen eigenen Anspruch. Die Suche nach einem Verfahren zur unparteilichen Begründung zwischenmenschlicher Verbindlichkeiten von Rechten und Pflichten prägt die Vernunftethik seit ihrem Beginn – bis zur heutigen Diskursethik. In der Diskursethik erhält der Vernunftstandpunkt der Moral die Form einer verständigungsorientierten Einstellung, die einen Vorrang vor der Orientierung am strategischen Erfolg besitzt, und die Ausprägung eines öffentlichen Diskurses als dem ideellen Ort der Moral in der modernen Gesellschaft. Für Ulrich dürfen Diskursethik und das diskursethische Verfahren aber nicht mit einer Konsensethik verwechselt werden (vgl. Ulrich 2001: 78-94). Auf eine Vernunftethik des Wirtschaftens bezogen heißt das für Ulrich: Es geht einer solchen Wirtschaftsethik um „die Legitimitätsbedingungen wirtschaftlichen Nutzens-, Vorteils- oder Erfolgstrebens im Lichte der moralischen Rechte (d. h. berechtigte Ansprüche) aller Betroffenen“ (Ulrich 2000: 557). Nicht das Erfolgsstreben als solches wird ethisch problematisiert, sondern ob es gegenüber jedermann vertretbar ist. Insofern ist die Orientierung an einem ethisch integrierten Erfolgsstreben gemeint. Für die Lösung von Anspruchskonflikten auf dem Feld der Wirtschaft gelten dann zwei Regeln: zfwu 9/3 (2008), 315-330 325 (1) (2) Das Wirtschaften muss gegenüber den Betroffenen verantwortbar sein; die Ansprüche der Betroffenen auf Selbstbegrenzung des wirtschaftlichen Akteurs müssen für ihn zumutbar sein angesichts seiner legitimen Ansprüche auf existentielle Selbstbehauptung. Der Vorrang des moralischen Gesichtspunkts vor dem Aspekt des Erfolgs und der Effizienz des Handelns steht bei Ulrich für den Primat der Ethik als ethische Integration ökonomischer Rationalität. Als ökonomisch vernünftig im Sinne Ulrichs kann damit jede Handlung oder Institution gelten, „die freie und mündige Personen in der vernunftgeleiteten Verständigung unter allen Betroffenen als legitime Form der Wertschöpfung bestimmt haben könnten“ (ebd.: 558). Diese sozial-ökonomische Rationalitätsidee formuliert für Ulrich den ‚moral point of view’ einer Vernunftethik des Wirtschaftens. Ulrich möchte sich mit diesem Standpunkt abgrenzen von dem in der Ökonomie vorherrschenden ethischen Skeptizismus oder ‚Non-Kognitivismus’, der davon ausgeht, dass für alle Menschen gültige, universale Gesichtspunkte ethischer Vernunft nicht begründbar sind. In die Reihe der ethischen Skeptizisten rechnet Ulrich auch Karl Homann, der mit seiner normativen Ökonomik bei einer Moralbegründung aus Interessen lande. Mit Blick auf Homann spricht Ulrich von einer funktionalistischen Wirtschaftsethik, da sie dazu neige, die systemischen Funktionsbedingungen der modernen Wirtschaft normativ aufzuladen. Ulrich möchte in seiner Wirtschaftsethik nach den Legitimitätsbedingungen des Wirtschaftssystems selbst fragen, während es Homann lediglich um die Implementierung von Moral unter den fraglos vorausgesetzten Funktionsbedingungen eines idealisierten marktwirtschaftlichen Systems gehe. Die moderne Wirtschaftsethik erhält bei Ulrich die Aufgabe, den Normenkonflikt zwischen dem vernunftethischen und dem (normativ-)ökonomischen Rationalitätsanspruch zu bearbeiten. In den beiden Rationalitätstypen spiegeln sich für Ulrich gleichzeitig reale geschichtliche Rationalisierungsprozesse wider. Den Ansatz seiner Vernunftethik des Wirtschaftens fasst Ulrich folgendermaßen zusammen: „Es geht um zukunftsweisendes Orientierungswissen für die Einbindung der institutionell entfesselten und normativ enthemmten, eigensinnig gewordenen ökonomischen Rationalisierungsdynamik in Grundsätze und Leitideen einer lebensdienlichen (d. h. legitimen und sinnvollen) Gestaltung des gesellschaftlichen ,Wirtschaftslebens’.“ (ebd.: 558) Für Ulrich bedarf es einer kulturellen Reorientierung an einem noch zu entwickelnden ‚integrativen’ Wirtschaftsstil. Das sinngebende Formalziel des sozio-ökonomischen Fortschritts bestehe in der Indienstnahme hoher Produktivität für die Erweiterung der Vielfalt freier und kultivierter Entfaltungsmöglichkeiten. Dies setzt für Ulrich eine „Kultur des Genug-haben-Könnens, der Selbstbegrenzung des eigenen Nutzen-, Erfolgs- oder Vorteilsstrebens aus Gründen einer kultivierten Lebensform“ (ebd.: 563) voraus. Wie der ‚Geist des Kapitalismus’ erst die ökonomische Modernisierung möglich gemacht habe, so bedarf es für Ulrich heute eines ,neuen Geistes’, eines neuen motivbildenden Wirtschaftsethos. Der Wandel des Wirtschaftsethos braucht für Ulrich die Unterstützung durch eine „Sachzwangsbegrenzungspolitik“ (ebd.: 563). Nicht überall muss Wettbewerb herrschen und allein der Markterfolg zählen. Es be326 steht die Möglichkeit, durch einen normativen Rahmen allgemeinverbindlicher Spielregeln Wettbewerb und Markt zu begrenzen: z. B. die Bereiche, in denen Wettbewerb herrschen soll, zu beschränken und die Einzelnen mit subjektiven Rechten auszustatten und damit die Tauschvertragsvoraussetzungen zu verändern. Heute – darüber ist sich Ulrich im Klaren – sei dies erfolgreich nur noch auf supranationaler Ebene zu institutionalisieren. Der mögliche Ausbruch aus der Ökonomie der Lebensnot werde sich nicht einfach als Resultat von Wirtschaftswachstum und Produktivitätsfortschritt einstellen, „sondern erst auf der Basis einer wirtschaftsethisch aufgeklärten Ordnungspolitik, die sich an den Gesichtspunkten eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens freier Bürger orientiert“ (ebd.: 564). Für eine wohlgeordnete Gesellschaft freier und gleicher Bürger – so Ulrich im Anschluss an Rawls – ist der Vorrang der Gerechtigkeit im Sinne der gleichen Grundrechte und Grundfreiheiten für alle konstitutiv. Gleichzeitig geht es auch um die sozio-ökonomischen und sozio-kulturellen Voraussetzungen dieser allgemeinen Freiheit. Für Ulrich darf das Rawls‘sche Differerenzprinzip nicht auf Gerechtigkeit, im Sinne der Pareto-Effizienz, reduziert werden, weil sonst der jeweilige ‚Status quo’ voll auf die Ergebnisse durchschlage. Deshalb bedarf der freie Markt der Einbindung in rechtsstaatlich gewährleistete und real lebbare Bürgerrechte als Sicherung des Status als vollwertige Bürger für alle. Die Bürgerrechte – so Ulrich im Anschluss an Dahrendorf – sind unbedingte, an den Bürgerstatus gebundene Anrechte, „die die Kräfte des Marktes zugleich überschreiten und in ihre Schranken verweisen“ (ebd.: 564). Eine voll entwickelte Bürgergesellschaft besteht für Ulrich noch nicht. In ihr existieren Wirtschaftsbürgerrechte im Sinne sozio-ökonomischer Rechte, die den Bürger vor entwürdigender existenzieller Not und sozialer Benachteiligung schützen und ihm eine angemessene Teilhabe am volkswirtschaftlichen Kapital, Produktionsprozess und -ergebnis sichern. Eine kompensatorische Sozialpolitik könne solche Bürgerrechte nicht ersetzen. Dabei sei die Ausgestaltung der Bürgerrechte im Sinne der Wirtschaftsbürgerrechte Sache der Bürger selbst. Ulrichs Wirtschaftsethik – so lässt sich zusammenfassen – geht von einer Kritik der normativen Implikationen des wirtschaftlichen Handlungsbereichs aus. Ulrich verschafft sich mit der Aufdeckung der impliziten Normativität der neoklassischen Ökonomik und der Kritik des herrschenden ökonomischen Determinismus und Reduktionismus im Handlungsbereich Wirtschaft die Voraussetzungen für seinen Entwurf lebensdienlichen Wirtschaftens. In Ulrichs Perspektive muss eine Ethik des einzelnen Wirtschaftsbürgers Hand in Hand mit einer Ordnungsethik gehen, die auch eine Begrenzung und Lenkung des Marktes im Interesse der Lebensdienlichkeit vorsieht. Ulrich gibt in seiner integrativen Unternehmensethik der Legitimität und Verantwortbarkeit unternehmerischen Handelns gegenüber allen potentiell Betroffenen den Vorrang vor der Regel der Gewinnmaximierung. Die großen Unternehmen will Ulrich als quasi-öffentliche Institutionen betrachtet wissen, die zu einem Stakeholder-Dialog und zu einer deliberativen Unternehmenspolitik verpflichtet seien. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass es für Dritte-Sektor-Organisationen eine Reihe von naheliegenden Anknüpfungspunkte in Bezug auf die integrative Wirtschafts- und Unternehmensethik Peter Ulrichs gibt. Ulrich betrachtet den öffentlichen Diskurs als den ideellen Ort der Moral in modernen Gesellschaften. Dritte-Sektorzfwu 9/3 (2008), 315-330 327 Organisationen verstehen sich in einem ihrer Funktionsbezüge als organisatorisches Substrat des öffentlichen Diskurses. Die Wirtschaftsethik Ulrichs sieht insofern für die Dritte-Sektor-Organisationen als Akteure zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit einen unverzichtbaren Ort in modernen Gesellschaften vor. Sie gehören zu dem Raum, in dem auf vernunftethischer Basis die Anspruchskonflikte unternehmerischen Handelns ausgetragen werden können. Wo in einem Diskursverfahren um die Verantwortbarkeit und Legitimität der Wertschöpfung vor dem Forum aller Betroffenen gerungen wird und mit der Zumutbarkeit für die Unternehmenseigner zum Ausgleich gebracht werden muss, reicht das Wirtschaftsunternehmen in die Sphäre des zivilgesellschaftlich geprägten Dritten Sektors hinein. Ulrichs scharfe Kritik des Ökonomismus, seine ethische Begründung für die Begrenzung und Unterordnung des Gewinnprinzips unter das Prinzip des gerechten Ausgleichs der Ansprüche aller, legt die Grundlagen für eine Sphäre jenseits des Marktes und seiner Logik. Dazu bedarf es in der Perspektive Ulrichs einer ‚Sachzwangbegrenzungspolitik’, die einen Primat der politischen Ethik vor der Logik des Marktes voraussetzt. Die Gewährung von Wirtschaftsbürgerrechten, die auch den marktlogischen Ausgrenzungsprozessen gegenüber den am Markt Erfolglosen standzuhalten vermögen, dürfte zu den Voraussetzungen der Entwicklung des Drittens Sektors gehören. Ohne Grenzen der Markvergesellschaftung und der Kommodifizierung der Arbeit bleiben die sozialen Voraussetzungen eines Dritten Sektors prekär. Ulrichs Unternehmensethik ist in der Lage, der ethischen Reflexion und Orientierung von Dritte-Sektor-Organisationen wichtige Impulse zu geben. Das unternehmerische Handeln von Dritte-Sektor-Organisationen bezieht seine Legitimation aus der Verantwortbarkeit gegenüber allen Betroffenen. Dies gilt auch dort, wo die Gewinne nicht an Eigner ausgeschüttet werden, sondern zur Reinvestition vorgesehen werden. Im Sinne Ulrichs muss sich die Unternehmenspolitik am Stakeholder-Dialog unter Einbezug aller Betroffenen orientieren. Eine deliberative Unternehmenspolitik gehört deshalb zu den grundlegenden Maximen einer Unternehmensethik von Dritte-Sektor-Organisationen. Ulrich erhebt den Anspruch, eine Vernunftethik des Wirtschaftens zu entwickeln (vgl. Gabriel 2007b: 179). In seiner Kritik an den normativen Implikationen des Handlungsbereichs Wirtschaft und im grundlagentheoretischen Rückgriff auf die Diskursethik löst Ulrich diesen Anspruch auch ein. Ethisch betrachtet sind seine Vorstellungen eines lebensdienlichen Wirtschaftens aber eindeutig einer Ethik guten Lebens zuzuordnen und können deshalb nur einen partikularen und keine universalen Geltungsanspruch erheben (vgl. Emunds 2005: 216). Hinsichtlich der Sicht des Handlungsbereichs Wirtschaft hat Ulrich die Tendenz, die Vorteile der Entkoppelung der Koordination wirtschaftlichen Handelns über monetäre Folgen vom kommunikativen Handeln nicht angemessen in den Blick zu bekommen. Es hat den Anschein, als ziele er gewissermaßen eine neue Verkoppelung beider an. So gerät er in Gefahr, unreflektierte ethische Forderungen an die Wirtschaftsakteure zu richten, die nicht als moralische Pflichten zum wirtschaftlichen Handeln, sondern als Pflichten zum politischen Handeln betrachtet werden sollten. Für das Verhältnis von Ethik und Dritter Sektor bzw. Dritte-Sektor-Organisationen ergibt sich daraus, dass sich die Problematik im Verhältnis zum Ansatz Karl Homanns gewissermaßen umkehrt. Hatte sich oben gezeigt, dass Homann letztendlich das wirt328 schaftliche und unternehmerische Handeln eindimensional nur als strategisches Interessenhandeln konzipiert, so besitzt Ulrich die Neigung, die Systemlogik wirtschaftlichen Handelns der vernunftethischen Rationalität so stark unterzuordnen, dass der Konflikt zwischen beiden nach der anderen Seite hin aufgelöst erscheint. Die Perspektive Ulrichs – so lässt sich resümieren – eröffnet für die Sphäre des Dritten Sektors und seiner Organisationen eine breite Grundlage, ihren Ort in der modernen Gesellschaft ethisch zu reflektieren und legitimierbare Handlungsoptionen zu gewinnen. Gleichzeitig sollte sich die ethische Reflexion stärker als dies bei Ulrich erkennbar ist, am gleichberechtigten Ausgleich und an der Vermittlung der differenten Logiken strategischen und kommunikativen Handelns orientieren. Literaturverzeichnis Adloff, F. (2005): Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis, Frankfurt a. M./New York: Campus. 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Als „problemanzeigender Begriff“ (Gabriel, Abschn. 2) erinnert der Terminus des Dritten Sektors daran, dass die alte ideologische Systemdebatte (Markt vs. Staat) selbst noch Symptom einer überkommenen Bewusstseinslage ist, nämlich der mangelnden Unterscheidung zwischen (Markt-)Wirtschaft und (Bürger-)Gesellschaft. Mit ihr ging auch in der wirtschaftsethischen Debatte eine tendenzielle Überschätzung systemischer Funktionsrationalität und eine Unterschätzung oder sogar Missachtung von „Kräften der Sozialintegration“ (316) und ihrer unverzichtbaren Rolle in der modernen Gesellschaft einher. Statt die Spannung zwischen lebensweltlichen Ansprüchen und systemischen Erfordernissen in einem adäquaten dualistischen Grundkonzept gesellschaftlicher Modernisierung und Rationalisierung zu erhellen, etwa auf der Linie von Habermas (1981) und – bemerkenswerterweise schon zuvor – Gabriel (1979), bildeten die meisten wirtschafts- und gesellschaftstheoretischen, ja sogar manche wirtschaftsethischen Ansätze die tendenzielle Verselbständigung eigensinniger Funktionszwänge des Wirtschaftssystems in monistischen Theoriekonzepten in idealtypisch radikalisierter Form bloß ab (neoklassische Wirtschaftstheorie, Luhmann’sche Systemtheorie der Gesellschaft), ohne sie auf dieser Basis kritisch-normativ ausleuchten zu können. So blieb auch die akademische Problemwahrnehmung großenteils hinter der realen lebensweltlichen Dynamik der durchaus aktiven, sich sogar zunehmend weltweit vernetzenden Zivilgesellschaft und ihrer Bedeutung für die ethisch-politische Zivilisierung der (Welt-)Wirtschaft ebenso wie der (Welt-)Politik zurück. ________________________ * Prof. Dr. Peter Ulrich, Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, Guisanstraße 11, CH-9010 St. Gallen, Tel.: +41-(0)71-224-2644, Fax: +41-(0)71-224-2881, E-Mail: peter.ulrich @unisg.ch, Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensethik, politische Philosophie. zfwu 9/3 (2008), 331-336 331 Von da her erweist sich der (neoklassisch ins „Reine“ gedachte) Idealtypus einer totalen Marktgesellschaft (vgl. Polanyi 1978: 106; Ulrich 2008: 213) als fast ebenso obsoleter Weltentwurf wie ein geschichtsmetaphysisch verbrämter Marxismus; beide Doktrinen entspringend gleichermaßen einer voraufklärerisch harmonistischen Metaphysik (vgl. Ulrich 1993: 180ff., 351ff.). Nicht die Systemfrage der Nachkriegszeit, sondern das gesellschaftsdienliche Maß an Teilautonomie des marktwirtschaftlichen Systems bildet den realen Gegenstand zeitgemäßer Wirtschaftsethik. Ihre kritisch-normative Orientierungsaufgabe bezieht sich zentral auf die erforderlichen ethisch-politischen Vorgaben und Rahmenbedingungen, unter denen sozioökonomische Koordinationsprobleme in legitimer und sinnvoller Weise den „Marktlösungen“ überlassen werden sollen. Dann allerdings geht es nicht nur um einen – ergänzenden – „Dritten Sektor“, sondern um einen – Markt und Staat als unverzichtbare Organisationsprinzipien einschließenden, also umfassenden – „Dritten Weg“ (vgl. Röpke 1942: 43, 278ff.; Rüstow 2001: 282f.) der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Ganzen. Der Blick richtet sich damit weniger auf eine begrifflich trennscharf von Markt und Staat abzugrenzende „Zivilgesellschaft“ (vgl. die Definition von Gabriel, Abschn. 4) als vielmehr auf das Leitbild einer (real noch nirgends existierenden) voll entfalteten Bürgergesellschaft oder civil society und eine in sie eingebettete, nach ihren Prinzipien buchstäblich „zivilisierte“ Marktwirtschaft (vgl. Ulrich 2005). Genau dies ist der Ansatzpunkt und Leitgedanke der integrativen Wirtschaftsethik. 2. Die Rolle der civil society in der Integrativen Wirtschaftsethik Karl Gabriel hat im 6. Abschnitt seines Beitrags den integrativen Ansatz der Wirtschaftsethik sowohl bezüglich seiner Intentionen als auch der systematischen Architektonik treffend charakterisiert (mit gewissen Einschränkungen, wie noch zu zeigen ist). Sein phänomenologisch und wissenssoziologisch geschulter Blick auf die Zivilgesellschaft ist wohl der Grund, weshalb ihm dies deutlich besser gelingt als manchen zu kurz greifenden Interpretationen. Integrative Wirtschaftsethik versteht sich wesentlich als ein Stück politische Philosophie – mit dem spezifischen Fokus, die angemessene Rolle der Marktwirtschaft in der Bürgergesellschaft zu erörtern. Angesichts realpolitisch und ideologisch wirkungsmächtiger ökonomistischer Tendenzen der normativen Überhöhung des „Marktprinzips“ zum restlosen Substitut des vernunftethischen Moralprinzips geht es dabei um ein Stück nachholende Aufklärung, nämlich um die Entzauberung einer alt- oder neoliberalen Metaphysik des Marktes. Gewiss kommt der Marktwirtschaft eine unverzichtbare Rolle in einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger zu; doch diese Rolle ist instrumentell und mit ihr die „Marktfreiheit“ (Wirtschaftsfreiheit) eine bedingte, während die größtmögliche verallgemeinerbare Bürgerfreiheit das Ziel und das Ordnungsprinzip der civil society im Sinne des politischen Liberalismus von John Rawls (1998) darstellt. Konstitutiv für eine so verstandene liberale Ordnung ist ihre systematische Zweistufigkeit: Die Gerechtigkeit im Sinne der gleichen Grundrechte und Grundfreiheiten aller Bürger wird als konstitutive Voraussetzung für einen „vernünftigen Pluralismus“ (Rawls 1998: 91f.) der Weltanschauungen und Lebensformen in einer freiheitlichen Gesellschaft begriffen. Diese politisch-philosophische Grundstruktur auch wirtschaftsethisch zur Geltung zu bringen, ist ein Kernanliegen des integrativen Ansatzes. 332 Zutreffend betont Gabriel daher zunächst die Rolle universaler Wirtschaftsbürgerrechte im integrativen Ansatz. Später widerspricht er dem jedoch mit seiner rätselhaften These im drittletzten Absatz, der Ansatz sei „eindeutig einer Ethik guten Lebens zuzuordnen“ (328). Das Gegenteil trifft zu: Es geht der integrativen Wirtschaftsethik primär um die Gleichberechtigung verschiedener Vorstellungen vom guten Leben und von der jeweiligen Rolle des Wirtschaftens in frei gewählten Lebensentwürfen aller Bürger. Genau deshalb wird ein Problem herausgearbeitet, das Rawls aus methodischen und konzeptionellen Gründen übersehen hat: die strukturelle Parteilichkeit der „Sachlogik“ des Marktes (vgl. Ulrich 2008: 159ff.) für systemkonforme, im weitesten Sinn des Wortes unternehmerische Lebensformen und (in Verbindung mit kapitalistischen Eigentumsrechten) für Kapitalverwertungsinteressen. Die Sachlogik des „freien“ Marktes verletzt also das politisch-liberale Prinzip der Neutralität der gesellschaftlichen Grundordnung gegenüber den verschiedenen Lebensentwürfen der Bürger und damit deren Chancengleichheit (vgl. ebd.: 276f.). Gerade im Interesse der gleichen realen Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger tut eine „Zivilisierung“ der Sachzwänge des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs Not! Diese kann erfolgen mittels der rechtsstaatlichen Gewährleistung starker Bürgerrechte für alle (als gesellschaftspolitischem Ansatzpunkt) sowie einer Wirtschaftspolitik, die nicht einseitig die Sachzwänge des Wettbewerbs entfesselt, sondern diese nach übergeordneten gesellschaftspolitischen – oder mit Rüstow (1955: 74) formuliert: „vitalpolitischen“ – Gesichtspunkten überall dort, wo die Marktlogik gesellschaftlich nicht das dominante Koordinationsprinzip sein soll, einer differenzierten Sachzwangbegrenzungspolitik unterstellt. Diese Konsequenz scheint Gabriel am Ende seines Beitrags jedoch zu weit zu gehen. Er stellt sich stattdessen einen „gleichberechtigten Ausgleich (…) der differenten Logiken strategischen und kommunikativen Handelns“ (329) vor. Nur: Wie soll denn dieser Ausgleich ordnungspolitisch erfolgen? Wie weit die Sachzwanglogik des Wettbewerbs in welchen Lebensbereichen (zwecks erwünschten Effizienzdrucks und erhoffter Wohlstandseffekte) entfesselt oder aber (zugunsten vorrangiger vitalpolitischer Kriterien) eingebunden werden soll, dies zu entscheiden ist ja gerade Sache deliberativer Ordnungspolitik. Aus dieser Perspektive ist die Unterordnung des Wirtschaftssystems unter die regulative Idee des „öffentlichen Vernunftgebrauchs“ (Kant) einfach die Konsequenz eines zu Ende gedachten Bürgerliberalismus. Auch für ein einigermaßen chancengleiches Neben- und Miteinander der verschiedenen gesellschaftlichen Sektoren ist die Zweistufigkeit einer wohlgeordneten Bürgergesellschaft, auf der ja gerade deren Gerechtigkeitsanspruch beruht, konstitutiv (Primat der gleichen realen Bürgerfreiheit aller vor den Sachzwängen des „freien“ Marktes). Dies haben schon die Begründer der Sozialen Marktwirtschaft verkannt, indem sie den Primat der (bürgerliberalen) Vitalpolitik vor der (marktliberalen) Wettbewerbspolitik zwar angedacht, aber die zweistufige Grundstruktur letztlich auf „widergelagerte Gesellschaftspolitik“ (Röpke 1944: 83, 85) eingeebnet haben. Diese innere Inkonsistenz hat dazu geführt, dass die Soziale Marktwirtschaft die herkömmliche Sichtweise eines polaren Gegensatzes von Marktfreiheit und Sozialstaatlichkeit, der vermeintlich nur kompromisshaft einzuschränken ist, nie überwunden hat. Die Konsequenz war eine bloß kompensatorische Sozialpolitik, welche die Folgen der Wirtschaftsdynamik nur mit nachträglicher Symptombekämpfung eingrenzt, statt sich am bürgerliberalen zfwu 9/3 (2008), 331-336 333 Leitbild einer emanzipatorischen Gesellschaftspolitik zu orientieren und auf die reale Freiheit aller Bürger zu zielen, um schon die Entstehung sozialstaatlichen Unterstützungsbedarfs ursächlich wo immer möglich zu vermeiden (vgl. dazu Ulrich 2009). 3. Bürgersinn: nicht nur sektorieller, sondern genereller Nährboden eines zivilisierten Wirtschaftslebens Eine vitalpolitische Rahmenordnung des Marktes kann, wie auch Gabriel (Abschn. 5) in seiner Kritik an Karl Homanns Ansatz betont, weder allein aus der ökonomischen Rationalitäts- und Effizienzperspektive begründet werden, noch lässt sie sich demokratisch errichten mit Bürgern, die wie Homines oeconomici die Politik nur als Fortsetzung ihres je privaten Vorteilsstrebens mit andern Mitteln verstehen. Eine Rahmenordnung, die im Hinblick auf das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und Weltanschauungen neutral und damit aus politisch-liberaler Sicht tragfähig ist, lässt sich nur mit Bürgern etablieren, die eine solche öffentliche Ordnung wollen, weil sie ihrem Selbstverständnis und der Gesellschaft, in der sie als freie Bürger unter freien Bürgern in wechselseitigem Respekt leben möchten, entspricht. Ohne ein entsprechendes republikanisches Bürgerethos (civic virtue) sind eine wohlgeordnete Gesellschaft freier Bürger und die zugehörige „zivilisierte“ Marktwirtschaft schlicht nicht zu haben. Der so verstandene, wenn auch hier der Kürze halber nur angedeutete republikanische Liberalismus (vgl. Ulrich 2008: 319ff.) ist ein häufig übersehenes, jedoch unverzichtbares Moment in der Topologie der integrativen Wirtschaftsethik. Derselbe republikanische Bürgersinn ist offenkundig das motivbildende Selbstverständnis von Personen, die sich – jenseits der puren Verfolgung ihrer eigenen Interessen – im Geiste der Mitverantwortung für ein faires und solidarisches Zusammenleben der Menschen, sei es als Bürger auf nationaler oder als Weltbürger auf globaler Ebene – im Dritten Sektor engagieren. Woraus sonst sollte sich das bürgerschaftliche Engagement nähren? Von da aus eröffnet sich eine wirtschaftsethisch interessante Perspektive: Was im Dritten Sektor leidlich funktioniert, also nicht als idealistisch überschießende Utopie abgetan werden kann, und in jüngerer Zeit sogar weltweit an zivilisatorischer Bedeutung gewinnt, war immer schon der unverzichtbare kulturelle Nährboden einer republikanischen Kultur. Wenn die reale Dynamik des Dritten Sektors das pessimistische Menschenbild des Homo oeconomicus so greifbar widerlegt, so bietet er sich doch geradezu als kultureller Kristallisationskern für seine allmählich Kultivierung im gesamten Wirtschaftsleben an! Mit hinreichend kultivierten Wirtschaftsbürgern ließen sich dann über kurz oder lang auch realpolitisch demokratische Mehrheiten für eine entsprechende vitalpolitische Zivilisierung der ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einer lebens- und gesellschaftsdienlichen Marktwirtschaft gewinnen. Dies mag ein langsamer Transformationsweg sein, weil er einen kulturellen Lernprozess voraussetzt – doch es wäre zugleich ein nachhaltiger Weg. Abkürzungen für zielführende ordnungspolitische Reformen sind innerhalb freiheitlich-demokratischer Rechtsordnungen keine bekannt … Es ist deshalb wichtig, dass zivilgesellschaftliche Initiativen und NGOs sich zumindest in Teilen selbst als Akteure verstehen, die sich nicht nur neben der (kaum je wirklich 334 privaten) Privatwirtschaft für die Erfüllung vitaler menschlicher oder gesellschaftlicher Bedürfnisse engagieren, sondern auch mit aufgeschlossenen Unternehmen und Behörden als kritisch-loyale Partner bei der wechselseitigen Erweiterung der Sichtweisen und Kompetenzen kooperieren (vgl. Baur 2009; Maak/Ulrich 2007: 139ff.; Ulrich/Wettstein 2005). 4. Corporate Citizenship oder: Unterwegs zu gesellschaftsdienlichen Standards guter Unternehmensführung Die heuristische und wegbahnende Rolle des Dritten Sektors für einen Dritten Weg des politisch-ökonomischen Fortschritts lässt sich auch auf der Ebene der Unternehmensethik demonstrieren. Während andere unternehmensethische Ansätze das dem positiven Gesellschaftsrecht (der Kapitalgesellschaften, insbes. Aktiengesellschaften) zugrunde liegende normative Vorverständnis von der marktwirtschaftlichen Legitimation und Funktion der Unternehmen fraglos hinnehmen und z. T. selbst noch dem „Gewinnprinzip“ huldigen, geht die integrative Unternehmensethik vom Zwittercharakter moderner Unternehmen aus (vgl. Ulrich 2004): Einerseits sind sie Subsysteme des marktwirtschaftlichen Systems und müssen sich gemäß dessen ordnungspolitisch gewollter Funktionslogik im Wettbewerb behaupten; andererseits aber sind sie multifunktionale Wertschöpfungsinstitutionen, die mitten im Spannungsfeld einer Vielzahl je für sich legitimer, aber untereinander konfligierender und daher nach FairnessPrinzipien zu berücksichtigender gesellschaftlicher (Stakeholder-)Ansprüche stehen. Gute Unternehmensführung kann daher niemals auf die monistische Maximierung eines einzigen Anspruchskriteriums reduziert werden, sondern besteht darin, das Unternehmen erfolgreich im Markt zu positionieren und dabei allen involvierten legitimen Interessen gleichermaßen gerecht zu werden. Damit ein solches professionelles Managementethos zumutbar wird, gilt es auf der ordnungspolitischen Ebene die Anreize richtigzustellen, so dass der Markt nicht mehr das moral free-riding rücksichtslos agierender Firmen und so erzielte unlautere Kostenvorteile belohnt, sondern die verantwortungsvoll agierenden Unternehmen. Letztere erkennt man zuverlässig daran, dass sie aus ihrem wirtschaftsethisch aufgeklärten Selbstverständnis heraus ihrerseits ordnungspolitische Mitverantwortung für die Etablierung human-, sozial- und umweltverträglicher Rahmenbedingungen des Wettbewerbs übernehmen. So verstandene „Corporate Citizenship“ könnte dazu beitragen, den Graben zwischen ideell motiviertem Drittem Sektor und rein kommerziell motiviertem, sich von allen „Moralzumutungen“ entlastet wähnendem the-business-of-business-is-business-Denken im Marktsektor zu überwinden und beide Ansprüche, den der lebensweltlichen Verantwortlichkeit wie den der systemischen Selbstbehauptung und Erfolgsträchtigkeit, im ganz normalen Wirtschaftsleben zu integrieren – auf der Ebene der Geschäftsethik (Geschäftsintegrität) ebenso wie auf der institutionellen Ebene von Standards guter Unternehmensführung. Etablierten Standards oder Kodizes guter Unternehmensführung mangelt es noch fast durchweg an einer solchen integrativen Orientierungsbasis, weshalb sie bei genauerem Hinsehen oft eher ein ursächlicher Teil unserer heutigen sozioökonomischen Probleme als schon ein Beitrag zu deren Lösung sind (vgl. die Studie von Thielemann/Ulrich 2009). zfwu 9/3 (2008), 331-336 335 Mit dem unternehmensethischen Umdenken hin zu einer zu Ende gedachten „Corporate Citizenship“ reicht in der Tat „das Wirtschaftsunternehmen in die Sphäre des zivilgesellschaftlich geprägten Dritten Sektors hinein“ (328), wie Gabriel es formuliert. Vor allem aber geht es darum, die konstitutiven Grundsätze einer modernen Bürgergesellschaft endlich auch als Voraussetzung eines zeitgemäßen Unternehmertums zu begreifen und ordnungspolitisch zur Geltung zu bringen. Literaturverzeichnis Baur, D. (2009): NGOs as Legitimate Partners of Corporations: A Political Conceptualization, Diss. Nr. 3540 der Universität St. Gallen. Gabriel, K. (1979): Analysen der Organisationsgesellschaft. Ein kritischer Vergleich der Gesellschaftstheorien Max Webers, Niklas Luhmanns und der phänomenologischen Soziologie, Frankfurt a. M.: Campus. Habermas, J. (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Maak, Th./ Ulrich, P. (2007): Integre Unternehmensführung. Ethisches Orientierungswissen für die Wirtschaftspraxis, Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Polanyi, K. (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (engl. 1944). Rawls, J. (1998): Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Röpke, W. (1942): Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich: Rentsch. Röpke, W. (1944): Civitas humana. Grundfragen der Gesellschafts- und Wirtschaftsreform, Erlenbach-Zürich: Rentsch. Rüstow, A. (1955): Wirtschaftsethische Probleme der sozialen Marktwirtschaft, in: Boarman, P. M. 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Diese wird in vier Schritten entwickelt. Erstens skizzieren wir den Ansatz einer ökonomischen Theorie der Moral. Zweitens zeigen wir, dass man aus diesem Ansatz heraus nicht nur eine leistungsfähige Unternehmensethik, sondern auch – allgemeiner – eine leistungsfähige Organisationsethik entwickeln kann, mit der sich zudem interessante Thesen zum „Dritten Sektor“ generieren lassen. Drittens identifizieren wir einige Missverständnisse – und viertens: mögliche Quellen für Missverständnisse –, die einer interdisziplinären Verständigung über Fragen wirtschaftsethischer Theoriebildung offenbar im Wege stehen. 1. Ökonomische Theorie der Moral I: Wirtschafts- und Unternehmensethik Beim Ansatz einer ökonomischen Theorie der Moral geht es zentral um die Frage, inwiefern moralische Anliegen unter den Bedingungen einer modernen Gesellschaft bereits zur Geltung gebracht sind bzw. zur Geltung gebracht werden können (vgl. Homann/Pies 1994a; Homann/Pies 1994b; Pies 2000 und ferner Suchanek 2001/ 2007).1 Das Besondere dieser Bedingungen – und mithin ein wichtiges Kennzeichen der spezifisch modernen Gesellschaft – besteht darin, dass die gesellschaftlichen Funktionssysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft usw.) wettbewerblich strukturiert sind. Im Wettbewerb kann es zu Anreizkonstellationen kommen, in denen das Eigeninteresse eines Akteurs mit den legitimen Fremdinteressen anderer Akteure in Konflikt gerät, die zu berücksichtigen ein moralisches Anliegen darstellt. Auf einem Markt beispielsweise entsteht dann ein Widerspruch zwischen dem Gewinnstreben eines Unternehmens einerseits und einem moralisch artikulierten Bedürfnis andererseits, ________________________ * Prof. Dr. Ingo Pies, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Große Steinstraße 73, D-06108 Halle (Saale), Tel.: +49-(0)345-5523421, Fax: +49-(0)345-5527385, E-Mail: [email protected], Forschungsschwerpunkte: Normative Institutionenökonomik, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Wissenschaftliche Politikberatung, New Governance und Corporate Citizenship; Dipl.-Kaufmann Stefan Hielscher, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Große Steinstraße 73, D-06108 Halle (Saale), Tel.: +49-(0)345-5523387, Fax: +49-(0)345-5527385, E-Mail: stefan. [email protected], Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts- und Unternehmensethik, New Governance, Corporate Citizenship, Entwicklung und Globale Ethik. 1 In neueren Veröffentlichungen wird der methodische Ansatz einer Wirtschaftsethik sozialer Dilemmata auch als ‚Ordonomik’ ausgewiesen: als eine rational-choice-basierte Analyse von (Interdependenzen zwischen) Sozialstruktur und Semantik. Vgl. hierzu Pies (2007) sowie Pies (2008). zfwu 9/3 (2008), 337-344 337 etwa dem Bedürfnis nach höheren Sicherheitsstandards, oder nach mehr Arbeitsplätzen, oder dem Bedürfnis nach weniger Korruption oder weniger Umweltverschmutzung. Zugleich sorgt der Wettbewerb dafür, dass der einzelne Akteur dem moralischen Anliegen oft nicht umstandslos nachkommen kann, weil dies mit Wettbewerbsnachteilen verbunden wäre, die existenzgefährdend sein können. Folglich kann die Aufgabe der Ethik nicht darin bestehen, sich im Konflikt zwischen dem moralischen Anliegen einerseits und dem Eigeninteresse der handelnden Akteure andererseits einfach auf die Seite der Moral zu schlagen. Dies wäre (a) mit strittigen Werturteilen verbunden, (b) wenig praktikabel, weil einer Verwirklichung moralischer Anliegen kaum zuträglich, und (c) dem Einwand ausgesetzt, dass nicht nur die legitimen Fremdinteressen, sondern prinzipiell auch das Eigeninteresse des handelnden Akteurs als moralisch schutzwürdig anzusehen ist, zumal die schützenswerten Fremdinteressen nichts anderes sind als das gebündelte Eigeninteresse anderer Akteure. Vor diesem Hintergrund entwickelt eine ökonomische Theorie der Moral ihr Forschungsprogramm zum einen als Wirtschaftsethik, zum anderen als Unternehmensethik. Die Wirtschaftsethik blickt auf das System der Marktwirtschaft, die Unternehmensethik blickt auf die Unternehmen als Akteure im System. In ihrer wirtschaftsethischen Stoßrichtung folgt eine ökonomische Theorie der Moral der Fragestellung, wie das eigeninteressierte Gewinnstreben der Unternehmen für moralische Anliegen in Dienst genommen werden kann. Hier spielen die Anreize im Wettbewerb eine zentrale Rolle. Von ihnen hängt es ab, ob der marktliche Konkurrenzprozess in eine gesellschaftliche Aufwärtsspirale („race to the top“) oder ob er in eine gesellschaftliche Abwärtsspirale („race to the bottom“) mündet. Insofern ist die moralische Qualität einer Marktwirtschaft nach dem Kriterium zu beurteilen, wie gut es ihr gelingt, moralisch unerwünschte Abwärtsspiralen zu vermeiden und stattdessen moralisch erwünschte Aufwärtsspiralen in Gang zu setzen und auf Dauer zu stellen. Aus diesem Grund argumentiert eine ökonomische Theorie der Moral: „Unter Wettbewerbsbedingungen avanciert die institutionelle Rahmenordnung zum systematischen Ort der Moral“ (Homann/Pies 2000: 336, H. i. O.). In ihrer unternehmensethischen Stoßrichtung folgt eine ökonomische Theorie der Moral der Fragestellung, ob und inwiefern Unternehmen ein moralisches Engagement für ihr eigeninteressiertes Gewinnstreben in Dienst nehmen können. Dahinter stecken folgende Überlegungen: Unternehmen sind Wertschöpfungsagenten im gesellschaftlichen Auftrag. Sie übernehmen die Funktion, gesellschaftliche Bedürfnisse zu befriedigen. Auf Konkurrenzmärkten können sie aber nur in dem Maße Gewinne erwirtschaften, in dem es ihnen gelingt, bei ihren Kunden eine freiwillige Zahlungsbereitschaft zu mobilisieren, die die Kosten zur Herstellung der Güter und Dienstleistungen übersteigt. Im Leistungswettbewerb sind Gewinne ein Signal – und eine Belohnung! – dafür, dass es dem Unternehmen gelungen ist, zusammen mit seinen Interaktionspartnern (Kunden, Lieferanten, Mitarbeitern usw.) eine wechselseitig vorteilhafte Wertschöpfung zu organisieren. Wertschöpfungsaktivitäten haben stets mit dem Problem zu kämpfen, dass Verfassungen und Verträge nur eingeschränkt justiziabel sind. In einem solchen Umfeld können Unternehmen mittels moralischer Bindungen – formaler oder informaler Art – sich selbst als moralische Akteure konstituieren und sich glaubwürdig auf integre Verhaltensweisen verpflichten. So lösen sie bei ihren Interaktions338 partnern Gegenreaktionen aus, die sich für eine gemeinsame Wertschöpfung als sehr produktiv (und profitabel) erweisen. Aus diesem Grund argumentiert eine ökonomische Theorie der Moral, dass „Unternehmen Moral als Produktionsfaktor einsetzen können, um mit ihrer Hilfe Wertschöpfung zu organisieren“ (Pies 2008: 33, im Original nicht hervorgehoben). 2. Ökonomische Theorie der Moral II: Organisationsethik Wie passen nun zivilgesellschaftliche Organisationen in dieses Bild, also der sog. „Dritte Sektor“, der von Vereinen, Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Bürgerinitiativen und sonstigen organisierten Interessengruppen bevölkert wird? Wir entwickeln im Folgenden die Grundzüge einer allgemeinen Organisationsethik durch Analogiebildung zur Unternehmensethik. Unternehmen sind Agenten gesellschaftlicher Wertschöpfung. Sie organisieren die marktliche Fremdversorgung der Bürger mit Gütern und Dienstleistungen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind ebenfalls Agenten gesellschaftlicher Wertschöpfung. Sie organisieren – ähnlich wie der Staat – eine Selbstversorgung der Bürger. Auch wenn zivilgesellschaftliche Organisationen von ihrer Konstitution her nicht primär auf Gewinnerzielung angelegt sind, so besteht doch eine wichtige Gemeinsamkeit darin, dass sie ebenso wie Unternehmen letztlich der Bedürfnisbefriedigung dienen. Aus ökonomischer Sicht handelt es sich um Clubs zur Organisation kollektiven Handelns, die für ihre Mitglieder – und manchmal auch darüber hinaus für andere Bürger – (öffentliche) Güter bereitstellen. Die Gemeinsamkeiten gehen noch weiter: Auch zivilgesellschaftliche Organisationen stehen – ähnlich wie Unternehmen – in vielfältigen Wettbewerbsbeziehungen. Sie konkurrieren um knappe Ressourcen, die sie für ihre jeweiligen Zwecke einsetzen wollen, angefangen von Spendengeldern über engagierte Mitarbeiter bis hin zur Reputation, eine besonders effektive Interessenvertretung zu sein. Folglich unterliegen auch zivilgesellschaftliche Organisationen einem enormen Rationalitätsdruck. Auch sie müssen mit den ihnen verfügbaren Mitteln sparsam umgehen, wenn sie ihre Ziele bestmöglich erreichen wollen. Viele Vereine leben von ihren Mitgliedern, die Beiträge zahlen und sich ehrenamtlich engagieren. Größere Organisationen der Zivilgesellschaft kommen aber oft nicht umhin, professionelle Mitarbeiter anzustellen. Folglich benötigt man ein Management, das die Personalführung übernimmt sowie die operativen und strategischen Entscheidungen trifft, die dann freilich gegenüber den Mitgliedern verantwortet werden müssen. Man sieht: Hier kommt es zu ähnlichen Problemen – und zu ähnlichen Strukturen der Problembearbeitung – wie in Unternehmen. Letztlich können zivilgesellschaftliche Organisationen ebenso wie Unternehmen ihr jeweiliges Ziel nur durch eine Wertschöpfung erreichen, die als sozialer Prozess der Zusammenarbeit zum wechselseitigen Vorteil angelegt sein muss. Hierbei können alle korporativen Akteure den Vorteil zur Geltung bringen, dass sie im Vergleich zu natürlichen Personen über eine größere (Selbst-)Bindungsfähigkeit verfügen, weil sie ihren „Charakter“ institutionell – und damit: für andere transparent – formieren und reformieren können. Insofern gilt nicht nur für Unternehmen, sondern auch für zivilgesellschaftliche Organisationen, dass sie Moral als Produktionsfaktor einzusetzen vermögen. zfwu 9/3 (2008), 337-344 339 Zivilgesellschaftliche Organisationen können sich – ebenso wie Unternehmen – auf drei unterschiedlichen Ebenen für Bindungen engagieren, um Moral als Produktionsfaktor einzusetzen: Die erste Ebene betrifft die Organisationsverfassung und das Verhältnis der Organisation zu ihren Mitarbeitern. Hier können nicht nur Unternehmen, sondern auch zivilgesellschaftliche Organisationen z. B. einen „code of ethics“ einsetzen, mit dem bestimmte Verhaltensstandards festgelegt, kommuniziert und sanktioniert werden. Dies ist nötig, weil weder Unternehmen noch zivilgesellschaftliche Organisationen auf einer Insel der Seligen leben: Kirchen müssen sexuellem Missbrauch vorbeugend entgegentreten; Spendenorganisationen haben mit Untreue zu kämpfen; auch in gemeinnützigen Pflegewohnheimen muss man Missständen prophylaktisch begegnen; und selbst innerhalb einer Gewerkschaft muss man verhindern, dass die Angestellten unter Mobbing oder Diskriminierung leiden. Die zweite Ebene betrifft die Prozesse gesellschaftlicher Regelsetzung. Hier kann man im Rahmen unisektoraler, bisektoraler oder trisektoraler Partnerschaften Bindungen eingehen, durch die Moral als Produktionsfaktor zur Wertschöpfung eingesetzt wird: Ähnlich wie Unternehmen sich mittels einer Branchenvereinbarung zu kollektivem Handeln organisieren und beispielsweise Standards verabreden, die für alle Wettbewerber gleichermaßen gelten, können auch zivilgesellschaftliche Organisationen sich auf freiwilliger Basis zusammenschließen und Regeln verabreden, an denen sie ihr Verhalten orientieren. Beispiel: Zertifizierung zur Spendenakquise. Zudem können zivilgesellschaftliche Organisationen gemeinsam mit Unternehmen bisektorale Partnerschaften eingehen. Beispiele hierfür sind die Integritätspakte, die Transparency International zum Zweck der Korruptionsprävention anregt, oder die Überwachung unternehmerischer Selbstverpflichtungen durch Bürgerinitiativen, etwa im Umweltbereich. Ähnlich wie Unternehmen können auch zivilgesellschaftliche Organisationen sich aktiv an Prozessen staatlicher Regelsetzung beteiligen. Besonders anschaulich sieht man das bei internationalen Verhandlungen zum Klimaschutz. Die dritte Ebene betrifft die Diskurse gesellschaftlicher Regelfindung. Ähnlich wie Unternehmen, können auch zivilgesellschaftliche Organisationen an der politischen Willensbildung konstruktiv teilnehmen. Sie können durch Skandalisierung auf Missstände aufmerksam machen. Sie können ihre Sicht der Dinge zur Diagnose der Missstände kommunizieren, und sie können in der Öffentlichkeit Vorschläge unterbreiten, mit welchen Therapiemaßnahmen man den Missständen begegnen sollte. Zivilgesellschaftliche Organisationen übernehmen damit die gesellschaftliche Funktion, moralischen Unmut zu sammeln, zu bündeln und so dazu beizutragen, dass auch bislang vernachlässigte Stimmen Gehör finden sowie alle Bürger eine Chance erhalten, im Sinne Kants von ihrer „Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen“ (Kant 1784/1977: 55, H. i. O.). Zusammenfassend kann man festhalten: Ähnlich wie Unternehmen, können sich auch zivilgesellschaftliche Organisationen als „Corporate Citizens“ engagieren und an Prozessen gesellschaftlicher Regelsetzung ebenso wie an Diskursen gesellschaftlicher Regelfindung aktiv teilnehmen (vgl. Beckmann/Pies 2008). Auf diese Weise können sie sehr konstruktive Beiträge zur (Selbst-)Steuerung und (Selbst-)Aufklärung der modernen Gesellschaft leisten. Folglich lässt sich der systematische Ort der Zivilgesellschaft wie folgt bestimmen: Aus der Perspektive einer ökonomischen Theorie der Moral partizi340 pieren zivilgesellschaftliche Organisationen durch genuine Eigenbeiträge im Rahmen einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit auf verschiedenen Ebenen an dem Wertschöpfungs-Projekt, (a) die Bevölkerung bestmöglich mit Gütern zu versorgen und (b) die institutionellen Bedingungen hierfür kontinuierlich zu verbessern und (c) das für eine nötige (Re-)Formierung institutioneller Anreize erforderliche Problembewusstsein zu schärfen. Zivilgesellschaftliche Organisationen können hier ihre spezifischen Spezialisierungsvorteile arbeitsteilig zur Geltung bringen, vor allem das große Engagement ihrer Mitglieder und die daraus resultierende Sachkunde und Glaubwürdigkeit, um gesellschaftliche Lernprozesse anzustoßen, sie für bislang vernachlässigte Bedürfnisse zu sensibilisieren und argumentativ voranzutreiben. Man gebe sich hier aber bitte keinen Illusionen hin: Nicht nur Unternehmen, sondern auch zivilgesellschaftliche Organisationen kämpfen für ihre Interessen gelegentlich mit harten Bandagen sowie verzerrten Informationen und betreiben Lobbying. Üblicherweise haben die Unternehmen und ihre Verbände das Wirtschaftsministerium fest im Griff, die Umweltverbände das Umweltministerium, die Sozialverbände das Sozialministerium und die Sportverbände das Innenministerium. Deshalb ist nicht nur für Unternehmen, sondern auch für zivilgesellschaftliche Organisationen – also für ausnahmslos alle „Corporate Citizens“ – institutionell sicherzustellen, dass sie sich durch Leistung legitimieren und ihr spezifisch politisches Engagement – sei es in Regelsetzungsprozessen, sei es in Regelfindungsdiskursen – an den Prinzipien der Wahrhaftigkeit, der Fairness und Transparenz ausrichten. 3. Missverständnisse Wir wollen nun auf offenkundige Missverständnisse eingehen. Wiederum beschränken wir uns auf vier Punkte. Erstens: Die Einschätzung bei Gabriel, dass eine ökonomische Theorie der Moral „die Spezifika des Dritten Sektors in Differenz zu Markt und Staat nicht angemessen zu reflektieren vermag“ (324), halten wir für eine Fehleinschätzung. Jedenfalls ist es nicht so, wie Gabriel vermutet, dass aus dieser Theorieperspektive „Dritte-SektorOrganisationen (…) als vormoderne Phänomene erscheinen, die in die Moderne hineinragen“ (ebd.). Das Gegenteil ist der Fall: Zivilgesellschaftliche Organisationen erfüllen – neben Staat und Unternehmen – wichtige Funktionen für die moderne Gesellschaft, die eben beides ist: Wettbewerbsgesellschaft und Organisationsgesellschaft.2 Zweitens: Wir halten es für verfehlt, sich das Gemeinwohl von einer vermeintlichen Gemeinwohlorientierung zivilgesellschaftlicher Organisationen zu erhoffen. Zum einen sind alle Funktionssysteme der modernen Gesellschaft durchsetzt von nichtintendierten Konsequenzen intentionalen Handelns, so dass – im Hinblick auf die Systemergebnisse von Wirtschaft, Politik usw. – kein direkter Weg von der Handlungsmotivation zur aggregierten Handlungsfolge führt. Beispiel: Die Förderung erneuerbarer Energien kann unbeabsichtigt Hungersnöte verschärfen. Zum anderen ist ________________________ 2 Die Äußerungen zum ökonomischen „Imperialismus“ bei Gabriel (324) verkennen den methodologischen Sachverhalt, dass der ursprünglich als Wirtschafts- und Unternehmensethik entstandene Denkansatz ordonomisch als eine allgemeine Gesellschafts- und Organisationsethik entfaltet wird. zfwu 9/3 (2008), 337-344 341 davon auszugehen, dass es in einer modernen – und folglich: pluralistischen! – Gesellschaft keinen Akteur geben kann, der ernsthaft von sich zu behaupten vermag, dass er das Gemeinwohl vertrete. Vielmehr muss das Gemeinwohl im institutionalisierten Streit partikularer Interessen allererst gestiftet werden. Hier verorten wir die Zivilgesellschaft nicht über, sondern neben den anderen gesellschaftlichen Akteuren. Aus unserer Perspektive setzen sich auch Organisationen der Zivilgesellschaft stets nur für partikulare (weil umstrittene) Interessen ein. Wir würden ihnen das freilich nicht zum Vorwurf machen, sondern sehen es als richtig und wichtig an, weil so gesellschaftliche Fehlentwicklungen leichter identifiziert und korrigiert werden können. Kurz gesagt: Für die Gemeinwohlorientierung als moralisches Desiderat kommt es nicht so sehr auf die individuell handlungsleitenden Gesinnungen gesellschaftlicher Akteure an, sondern vielmehr auf die handlungsleitenden Bedingungen institutionell voraussetzungsreicher Prozesse sozialer Kooperation. Institutions matter! Drittens: Die ökonomische Theorie der Moral rekonstruiert gesellschaftliche Missstände als soziale Dilemmata und weist so darauf hin, dass es gemeinsame Regelinteressen gibt, um moralische Anliegen zu verwirklichen. Insofern handelt es sich um ein Fehlurteil, wenn Gabriel über diese Theorieperspektive schreibt: „Vorstellungen einer guten Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung reduzieren sich (…) faktisch auf eine Option für den Status quo“ (323). Das genaue Gegenteil ist der Fall. Die ökonomische Theorie der Moral offeriert Normativität als Heuristik für Reformen des Status quo. Viertens erhebt Gabriel schwere Vorwürfe gegen den Ansatz einer ökonomischen Theorie der Moral: Sie verfehle den „moral point of view“; sie führe „schon für reine Wirtschaftsunternehmen zu problematischen Konsequenzen“, sei aber im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Organisationen geradezu gefährlich. Aus Gabriels Sicht „sind die Folgen, die ein breites Eindringen [dieser Theorieperspektive] (…) in das handlungsleitende Wissen der Führungskräfte von Dritte-Sektor-Organisationen besäße, als problematisch einzuschätzen“ (324). Wir teilen diese Einschätzungen nicht und vertreten ausdrücklich die Gegenthese, dass nicht nur Manager, sondern auch Führungskräfte der Zivilgesellschaft davon profitieren, wenn man ihnen die Funktionsweise der modernen Gesellschaft – und die verfügbaren Optionen, Moral nicht gegen, sondern durch die Funktionssysteme zur Geltung zu bringen – mit Modellen sozialer Dilemmata dechiffriert (vgl. Pies et al. 2008). 4. Gründe für mögliche Missverständnisse Aus unserer Sicht beruhen Gabriels Vorbehalte auf Missverständnissen. Das aber macht die Frage besonders virulent, worauf diese Missverständnisse zurückgeführt werden können. Wir wollen zwei Punkte benennen, von denen wir vermuten, dass sie einer interdisziplinären Verständigung bislang im Wege stehen. Damit wird zugleich weiterer Forschungsbedarf indiziert. Erstens gibt es ein latentes Unbehagen gegenüber einer ökonomischen Theorie der Moral, das sich offenbar aus der Befürchtung speist, eine Funktionalitätsbetrachtung könne zur Erosion des moralischen Bewusstseins führen. Wir halten dagegen: Es ist konstitutiv für die moderne Wissenschaft, dass man unterschiedliche Perspektiven auf den gleichen Gegenstand einnehmen kann, ohne der Dignität des Gegenstandes damit Abbruch zu tun. Beispiel: Wir haben gelernt, dass das Sezieren von Leichen nicht 342 gegen die Menschenwürde verstößt, sondern dass es Wissen generiert, welches der Menschenwürde sogar ausgesprochen förderlich sein kann. Wir wollen diese Analogie in Anspruch nehmen: Zu unterscheiden ist eine Binnenperspektive von einer Außenperspektive auf Moral. Erstere thematisiert die Selbstinterpretation moralischer Subjekte (Individualethik), letztere stellt hierzu Funktionalitätsbetrachtungen an (Institutionenethik). Wir halten beide Perspektiven für informativ und legitim – und sehen sie in einem komplementären Verhältnis: Warum sollte es dem moralischen Engagement abträglich sein, wenn einem die Theorie vor Augen führt, dass man mit einem Einsatz für Menschenrechte oder Umweltschutz zugleich auch wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllt? Zweitens wird einer ökonomischen Theorie der Moral oft mit Positionen begegnet, die sich – explizit oder implizit – auf die einflussreichen Arbeiten von Jürgen Habermas stützen. Wir wollen hier nur kurz auf einen blinden Fleck dieses Paradigmas hinweisen, auf eine Einbuße an gesellschaftstheoretischer Substanz, die auf dem Weg von Kant und Hegel über Marx zu Habermas verloren gegangen ist: Habermas sieht die Lebenswelt von Systemimperativen bedroht. Seinen älteren Arbeiten zufolge verdrängen die Medien Geld und Macht die Solidarität. In seinen jüngeren Arbeiten konzediert Habermas, dass auch der Staat Solidaritätsfunktionen übernehmen kann. Nun diagnostiziert er eine postnationale Konstellation, in der er Staat und Lebenswelt durch den Systemimperativ der Wirtschaft bedroht sieht (vgl. Pies 2007). Aber dass auch die Wirtschaft im Modus institutionalisierter Solidarität operiert – schon allein deshalb, weil Märkte auf einen z. B. katastrophenbedingten Nachfrageanstieg mit steigenden Preisen reagieren und dadurch Anbieter veranlassen, den zusätzlichen Bedarf zu decken und so die Not zu lindern –, diesen Gedanken kann man im Paradigma von Habermas nicht einmal denken. Die entsprechenden Theorien sind blind für diese Option. Insofern verwundert es nicht, dass dem Ansatz einer ökonomischen Theorie der Moral mit großem Unverständnis begegnet wird, argumentiert diese doch, dass die moralische Qualität der Marktwirtschaft ganz wesentlich davon abhängt, inwiefern es – durch Institutionalisierung – gelingt, wirtschaftliches Verhalten im Wettbewerb sozial auszurichten. Wir fragen: Ist es wirklich zweckmäßig, die Theoriebildung so zuzuschneiden, dass man die Option gar nicht mehr in Erwägung ziehen kann, moralische Anliegen durch eine (Re-)Formierung marktlicher Arrangements verwirklichen zu helfen? Ist man klug beraten, wenn man auf der Suche nach Strategien und Akteuren für eine gelingende „Global Governance“ den Problemen die Konzeptualisierung zugrunde legt, moralischer Fortschritt lasse sich nur gegen die Wirtschaft und nicht auch mit der Wirtschaft und sogar durch die Wirtschaft verwirklichen? Warum soll man die Möglichkeit ausblenden, dass sich die Unternehmen als „Corporate Citizens“ für moralische Anliegen ebenso gewinnen lassen wie zivilgesellschaftliche Organisationen? Wie hilfreich ist es, angesichts einer solchen Problemstellung einfach darauf zu beharren, Fortschritt sei nur dann möglich, wenn sich alle Akteure motivational stärker am Gemeinwohl orientieren? Wenn man die Aufgabe der Theoriebildung dahingehend bestimmt, Orientierung zu geben, sind solche Theorien, die mit primären Evidenzen arbeiten, dann wirklich die Lösung, oder sind sie eher Teil des Problems? Kurz: Warum sollte man individualethisch fordern, was sich institutionenethisch fördern ließe? zfwu 9/3 (2008), 337-344 343 Literaturverzeichnis Beckmann, M./ Pies, I. (2008): Ordnungs-, Steuerungs- und Aufklärungsverantwortung – Konzeptionelle Überlegungen zugunsten einer semantischen Innovation, in: Heidbrink, L./ Hirsch, A. (Hrsg.): Verantwortung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt a. M./New York: Campus, 31-67. Homann, K./ Pies, I. (1994a): Wie ist Wirtschaftsethik als Wissenschaft möglich? Zur Theoriestrategie einer modernen Wirtschaftsethik, in: Ethik und Sozialwissenschaften. Streitforum für Erwägungskultur, 5(1), 94-108. Homann, K./ Pies, I. 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