Prof. Dr. Helmut Nolte, Emeritus I. II. III. Wissenschaftlicher Werdegang Lehr- und Forschungsprofil Publikationen I. Wissenschaftlicher Werdegang Geb. 1941 in Mülheim an der Ruhr Studium der Soziologie, Psychologie und Geschichte in Münster, Tübingen und Wien 1967 Promotion zum Dr. phil. an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster 1968 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin 1971 Assistenzprofessor am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin 1974 Habilitation für das Fach Soziologie am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin 1975 Berufung auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum Seit 1.8.2006 Prof. emeritus II. Lehr- und Forschungsprofil 1. Sozialpsychologie im Kontext der Sozialwissenschaft Seit meiner Berufung auf den Lehrstuhl für Sozialpsychologie im Jahre 1975 habe ich mich den besonderen Aufgaben und Möglichkeiten gewidmet, die sich der Sozialpsychologie im Kontext der Sozialwissenschaften bzw. im Rahmen einer Fakultät für Sozialwissenschaft stellen. Dabei habe ich die Sozialpsychologie als eine wissenschaftliche Perspektive bzw. Problemstellung verstanden, die zur fakultätsübergreifenden Integration zwischen Psychologie und Sozialwissenschaften und zur interdisziplinären Integration der sozialwissenschaftlichen Fächer beitragen kann. „Persönlichkeit, Kultur und Gesellschaft“ als Leitthema einer sozialwissenschaftlichen Sozialpsychologie. Den Bezugsrahmen einer sozialwissenschaftlichen Sozialpsychologie suchte ich zunächst – in Orientierung an der marxistischen Theorie sowie an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule – im Schnittfeld von Psychologie (Psychoanalyse), Geschichte und Politik. Später habe ich ihn um zwei Traditionslinien erweitert: zum einen um die Phänomenologie von Husserl über Schütz bis Merleau-Ponty und Waldenfels, zum anderen um jene Traditionslinie, die von Max Weber über Parsons bis zu Habermas führt; mit Parsons und Habermas selbst kann man die zuletzt genannte Traditionslinie unter das Leitthema „Persönlichkeit, Kultur und Gesellschaft“ stellen. An diesem Leitthema ist auch das Studienfach Sozialpsychologie und Sozialanthropologie insgesamt orientiert. Strukturelle Kopplung organismischer, neuronaler, psychischer und sozialkultureller Systeme. Weitere Anstöße zu einer sozialwissenschaftlichen Sozialpsychologie ergaben sich für mich aus dem Kritischen Rationalismus Poppers (Verhältnis zwischen physischer, subjektiver und objektiver Welt) aus der neueren Entwicklung des Symbolischen Interaktionismus (Verhältnis zwischen Selbst, Interaktion und Gesellschaft) und aus dem evolutionstheoretisch-biologischen Modell Kognitiver Systeme, auf das sich auch Luhmann stützt (strukturelle Kopplung organismischer, neuronaler, psychischer und sozial-kultureller Systeme). In jüngerer Zeit kann sich das Bemühen um eine integrierende Sozialpsychologie auch wieder auf entsprechende Angebote und Anstöße aus der psychologischen Sozialpsychologie stützen. Innerhalb dieses weit gesteckten Bezugsrahmens umfasst meine Lehr- und Forschungstätigkeit die Schwerpunkte Wissenschaftsgeschichte, Sozialtheorie und Allgemeine Anthropologie. 2. Wissenschaftsgeschichte: Die frühe Sozialpsychologie und ihr Einfluss auf die Anfänge der Human- und Sozialwissenschaften Sozialpsychologie als interdisziplinäre und fakultätsübergreifende Problemstellung. Die Hervorhebung der interdisziplinären und fakultätsübergreifenden Perspektive der Sozialpsychologie stützt sich auf die wissenschaftsgeschichtliche Beschäftigung mit den Anfängen der Sozialpsychologie. Sie zeigt, dass die Rede von Sozialpsychologie zunächst weniger auf ein eigenes wissenschaftliches Fach als auf eine alle betroffenen Fächer verbindende, gemeinsame Problemstellung zielte. Der Einfluss der frühen Sozialpsychologie auf die Anfänge der Human- und Sozialwissenschaften. Aufgrund dieser integrierenden Problemstellung hat die frühe Sozialpsychologie in den sich entwickelnden Human- und Sozialwissenschaften vielfältige Resonanz gefunden, nicht nur in der Psychologie und Soziologie, sondern auch in der Geschichtswissenschaft und Ethnologie sowie in der Geisteswissenschaft Diltheys. Ihr verdankt es sich auch, dass die Sozialpsychologie bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts der Kooperation der Fächer und der Gründung fächerübergreifender Forschungsinstitute wichtige Impulse verliehen hat. Später, als die Sozialpsychologie sich selber in getrennte Disziplinen spaltete, ist die Intention von Sozialpsychologie als einer integrierenden Problemstellung verloren gegangen. Erst in jüngerer Zeit, im Zuge einer Neuorientierung des Fachs, suchen zunehmend mehr Sozialpsychologen, vor allem Sozialwissenschaftler, wieder an diese Intention anzuknüpfen. Der begrifflich-theoretische Bezugsrahmen der frühen Sozialpsychologie. Aus den Beiträgen der frühen Sozialpsychologie lassen sich die Umrisse eines begrifflichtheoretischen Bezugsrahmens gewinnen, der auch heute wieder aktuell ist. Er überwindet das dualistische Individuum-Gesellschaft-Schema, indem zwischen die Ebenen von Individuum und Gesellschaft die Ebene der interpersonalen Wechselwirkungen, also der Interaktion im heutigen Sprachgebrauch, eingezogen wird. Fern von den späteren individualistischen, interaktionistischen und strukturalistischen Verkürzungen würdigen die frühen Sozialpsychologen mit der gleichen Emphase die Kompetenzen des Individuums wie das kontingente, schöpferische Potential der Interaktion und die überindividuelle – faktische oder ideale - Geltung der geistigkulturellen Objektivationen. 2. Sozialtheorie Sozialtheorie als integrierender Bezugsrahmen sozialwissenschaftlicher Theoriebildung. Die sozialpsychologische Integrationsperspektive verbindet sich mit dem Interesse an einer integrierenden sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in der die soziale Mikro-, Meso- und Makro-Ebene verbunden werden. In seinen „Grundlagen der Sozialtheorie“ hat James Coleman ein Modell vorgelegt, das – unabhängig davon, wie weit man dem paradigmatischen Ansatz und der inhaltlichen Ausführung folgt – als Bezugsrahmen für die Arbeit an einer sozialwissenschaftlichen Theorie dienen kann. In theoretisch-methodologischer Hinsicht ist es undogmatisch, weil es den eigenen paradigmatischen Ansatz, die Rational Choice-Theorie, bis an seine Grenzen auslotet und diese Grenzen auch benennt; in praktischer Hinsicht hält es an dem Aufklärungsanspruch der Sozialwissenschaft fest und leitet aus der Theorie konkrete gesellschaftspolitische Konsequenzen ab. Derzeit sind die sozialwissenschaftlichen Fächer in theoretischer Hinsicht noch stark segmentiert. Dies hat dazu geführt, dass die gleichen Problemstellungen, vor allem die Frage nach dem Mikro-Makro-Link und nach den psychologischen, handlungs- und kommunikationstheoretischen Prämissen, an verschiedenen Orten gleichzeitig und unabhängig voneinander bearbeitet werden. Theorienvergleich. Inzwischen gibt es in allen Fächern, in der Sozialökonomie, in der Soziologie, in der Politikwissenschaft und neuerdings auch in der sozialwissenschaftlichen Sozialpsychologie, mehr oder minder weit entwickelte Ansätze einer Mikro-Meso-Makro-Analyse. Ein sozialtheoretischer Bezugsrahmen könnte dazu beitragen, die verschiedenen Ansätze zusammenzuführen und auf dem Wege des Theorienvergleichs dem Fernziel einer sozialwissenschaftlichen Theorie bzw. einer Theorie des Sozialen näher zu kommen. Integration handlungszentrierter, kommunikationszentrierter und strukturzentrierter Theorieansätze. Die von mir angestrebte sozialtheoretische Integration betrifft auch bislang eher konkurrierende theoretische Paradigmen. Beispielsweise ist es meines Erachtens durchaus sinnvoll, die spezifischen Stärken bzw. „Wahrheiten“ der handlungszentrierten, interaktions- bzw. kommunikationszentrierten und struktur- bzw. systemzentrierten Paradigmen in ein Ergänzungsverhältnis zu bringen. Auf diesem Prinzip ist auch das Modul Sozialtheorie aufgebaut, das ich seit mehreren Jahren im BA-Studienfach Sozialpsychologie und Sozialanthropologie anbiete. 3. Allgemeine Anthropologie Aufgaben einer kritischen Anthropologie: Zwischen Naturalismus und Kulturalismus. Meine sozialwissenschaftliche Lehr- und Forschungstätigkeit korrespondiert mit meinen anthropologischen Überlegungen. Meine anthropologische Forschung hat in den siebziger Jahren begonnen, als Wolf Lepenies und ich als Wissenschaftliche Mitarbeiter an der von unserem Lehrer Dieter Claessens konzipierten „Soziologischen Anthropologie“ beteiligt waren. Die Soziologische Anthropologie verstand sich als eine kritische Anthropologie, die sich mit der ideologischen und politischen Vereinnahmung der Anthropologie auseinandersetzte. Dabei nahm sie eine Zwischenposition zwischen Naturalismus und Kulturalismus ein. Die Notwendigkeit einer allgemeinen Anthropologie. Eine kritische Anthropologie dieser Art hat an Aktualität nichts verloren, wie sich beispielsweise an den Extrempositionen der gegenwärtigen Gehirnforschung oder an einigen radikalfeministischen Positionen, aber auch an den Gefahren eines kulturellen Relativismus, aufzeigen lässt. Allerdings ist eine solche anthropologische Reflexion nicht mehr unter dem fachbezogenen Titel einer Soziologischen Anthropologie unterzubringen. Die Ausdifferenzierung der Wissenschaftslandschaft hat dazu geführt, dass es inzwischen in fast jedem Fach, das sich in irgendeiner Weise mit dem Menschen befasst, eine spezielle Anthropologie gibt. Wir finden eine historische, ethnologischkulturwissenschaftliche, politikwissenschaftliche, ökonomische und soziologische Anthropologie neben einer biologischen, medizinischen, psychologischen und pädagogischen Anthropologie sowie einer theologischen und philosophischen Anthropologie. Allgemeine Anthropologie und Menschenrechte. Mit der Ausdifferenzierung spezieller Anthropologien und Menschenbilder wächst die Notwendigkeit einer allgemeinen Anthropologie, die einem anthropologischen Relativismus entgegenwirkt. Dies gilt insbesondere angesichts der Globalisierung und weltweiten Migration, die – nach dem Muster der Menschenrechte - minimale, aber verbindliche Regeln für das Zusammenleben der Kulturen erfordern. Anthropologie als Erforschung der Möglichkeiten und Kompetenzen des Menschen. Eine allgemeine Anthropologie beansprucht keine essentialistischen Aussagen über ein vermeintliches „Wesen“ des Menschen; vielmehr erforscht sie – im kritischen Dialog mit den fachspezifischen Anthropologien – die universalen Kompetenzen und Möglichkeiten des Menschen. Sie kann damit eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse begründen, soweit diese die Entwicklung der natürlichen Kompetenzen behindern. Gleichzeitig vermeidet sie aber jeden Normativismus, der den Einzelnen zur Verwirklichung seiner Möglichkeiten zwingt. (Vgl. Christian Thies, 2004: Einführung in die philosophische Anthropologie. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft). III. Publikationen 1) Helmut Nolte (2003). Die Segmentierung human- und sozialwissenschaftlichen Wissens und der transdisziplinäre Beitrag der Sozialpsychologie. Diskussionspapiere der Fakultät für Sozialwissenschaft 03 - 2. Ru hr-Universität Bochum. 2) Helmut Nolte (1999). Annäherungen zwischen Handlungstheorien und Systemtheorien. Ein Review über einige Integrationstrends. Zeitschrift für Soziologie 28, 93-113. 3) Helmut Nolte (1998). Handlung – Struktur – System. Die Konvergenz handlungsund systemorientierter Perspektiven. Diskussionspapiere der Fakultät für Sozialwissenschaft 98 - 8. Ruhr-Universität Bochum. 4) Helmut Nolte (1997). Psyche als öffentliche Angelegenheit – Über Zumutungen und Funktionen nationaler „Vergangenheitsbewältigung“. In: Bernd Faulenbach et al. (Hg.), Bochumer Beiträge zur Nationalismusdebatte. S.91-101. 5) Helmut Nolte, Christoph Weischer, Uwe Wilkesmann, Jakob Maetzel, Hans Georg Tegethoff (1997). Kontrolleinstellungen zum Leben und zur Zukunft. Auswertung eines neuen sozialpsychologischen Itemblocks im Sozio- Ökonomischen Panel. Diskussionspapiere der Fakultät für Sozialwissenschaft 97 – 06. Ruhr-Universität Bochum. 6) Helmut Nolte (1994). Sozialpsychologie als integrierende Perspektive. Versuch einer Ortsbestimmung. Zeitschrift für Sozialpsychologie 25, 272-289. 7) Helmut Nolte(1993). Anthropozentrische Produktionssysteme als Leitbild gesellschaftlicher Veränderung. Ein Anstoß für die Humanwissenschaften. Schriftenreihe des Instituts für Arbeit und Technik. Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen. 8) Helmut Nolte (1993). „Anthropozentrik“ als Kriterium der industriellen Produktion und als gesellschaftliches Leitbild In: Stephan von Bandemer u. a. (Hg.), Anthropozentrische Produktionssysteme. Die Neuorganisation der Fabrik zwischen „Lean Production“ und „Sozialverträglichkeit“. Opladen: Leske + Budrich. S.167-182. 9) Helmut Nolte (1992). Das Trauma des Genozids und die Institutionalisierung der Erinnerung. Bios. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History 5, 83-93. 10) Helmut Nolte (1989). Die sozialpsychologische Fragestellung. Sociologia Internationalis 27, 173-193. 11) Helmut Nolte (1988). Das Trauma der armenischen Katastrophe aus sozialpsychologischer Sicht. Sociologia Internationalis 26, 71-84. Abgedruckt in Cahiers Arméniens 5, 1988, 59-65. 12) Helmut Nolte (1984). Kommunikative Kompetenz und Leibapriori. Zur philosophischen Anthropologie von Jürgen Habermas und Karl-Otto Apel. Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie LXX, 518-539. 13) Helmut Nolte/Irmingard Staeuble (1972). Zur Kritik der Sozialpsychologie. München: Carl Hanser Verlag. 14) Wolf Lepenies und Helmut Nolte (1972). Experimental Anthropology and Emancipatory Practice. (Reflections on Marx and Freud.) International Journal of Sociology vol. II, 4 – 72. 15) Wolf Lepenies/Helmut Nolte (1971). Kritik der Anthropologie. Marx und Freud. Gehlen und Habermas. Über Aggression. München: Carl Hanser Verlag. Italienische Übersetzung Milano 1971: Feltrinelli. 16) Helmut Nolte (1971). Über gesellschaftstheoretische Implikationen des Aggressionsbegriffs. In: Wolf Lepenies/Helmut Nolte, Kritik der Anthropologie. München: Carl Hanser Verlag. S. 103-140. 17) Helmut Nolte (1970). Psychoanalyse und Soziologie. Die Systemtheorien Sigmund Freuds und Talcott Parsons’. Bern-Stuttgart-Wien: Verlag Hans Huber 18) Helmut Nolte (1965). Bestimmungsfaktoren menschlichen Verhaltens aus der Sicht einer soziologischen Anthropologie. Protokolle der Evangelischen Akademie Rheinland-Westfalen. S. 42-65.