Terminplan Inhalt - Universität Potsdam

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Universität Potsdam
Lehrangebot SS 2005
Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
Lehrkraft
Prof. Dr. Jürgen Dittberner
Titel der Veranstaltung
Art der Veranstaltung
Einordnung
Anmerkungen zur Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland
Seminar
Politikwissenschaft /Politische Bildung
Termin
Montag 10 -12 h
Raum
3.01.215
Kommentar
Anmeldung
Literatur
Terminplan
11.4.
Es werden die anliegenden und weitere Texte behandelt:
Bei der ersten Veranstaltung
S. Text.
Inhalt:
18.4
1. Anti-Nationalsozialismus als Begründung der politischen Kultur
25.4.
2. Der Parteienstaat
a)
b)
c)
d)
Determinanten
Funktionen
Gründung
Ära Adenauer
2.5.
3. Die Kulturrevolution der 68er
9.5.
4. Sozial-liberale Hoffnungen: Mehr Demokratie wagen und Entspannung
23.5.
5. Die ausgebliebene geistig-moralische Wende in der Ära Kohl
30.5.
6. Die unerwartete Einheit: Zwei politische Kulturen?
a) Die Gründung von wissenschaftlichen Institutionen
b) Zwei politische Kulturen
6.6.
7. Gedenken
a) Die bleibende Last
b) Jahrestage
13.6.
8. Leitkultur oder Multikulti, und was wollen die Rechten?
a) Politfloskeln
b) Was wollen die Rechten?
c) Gegen rechts: Therapie oder Admi9nistration?
20.6.
9. Transatlantische Entfremdung
a) Der 11. September
b) Die deutschen Parteien nach dem 11. September
c) Der Krieg ist da: Die Amerikaner marschieren ohne Votum der UNO in den Irak ein
27.6.
10. Berlin-Brandenburg: Was tut sich in der Region?
a)
b)
c)
d)
e)
f)
4.7.
11. Sozialer Rückbau als "Reformen", und wer reformiert die "Reformer"
a)
b)
c)
d)
11.7.
Brandenburg neu erfinden
Unheilbar unschuldig?
Brüder einst – Brüder jetzt?
Neben dem Ministerpräsidenten
Träumen von West-Berlin
Theater in die Hauptstadt
Föderalismus
Globalisierung
Politikermoral
Direkte Demokratie
12. Flucht vor der Verantwortung
1
Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland
1.
Anti-Nationalsozialismus als Begründung der politischen Kultur
Es ist Jahrtausendwechsel. Die deutsche Hauptstadt ist wieder Berlin, nicht länger Bonn. Die alte „Staatspartei”
der Union mitsamt ihrem liberalen Korrektiv ist durch eine rot-grüne Koalition abgelöst worden. Aus einem
Pflastersteinrebell wurde ein Bundesaußenminister und der scheinbar ideal-typische „Homo Politicus“ an der
Spitze der SPD hat das Handtuch geworfen. Die DM geht und der Euro kommt. Ein Jahrhundert der Weltkriege,
der Massenmorde, der politischen Ideologien und Religionen geht zu Ende. Viele glauben, Deutschland sei in
der Welt internationaler Organisationen und Verflechtungen mittlerweile so organisiert, daß ein Genozid
jedenfalls von hier aus nie wieder erfolgen kann. So sei selbst ein Militäreinsatz deutscher Soldaten in Serbien
trotz der im letzten Weltkrieg dort von Deutschen verübten Gewalt zu rechtfertigen. Wird und kann daher auch
Schluß sein mit dem Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und deren Opfer?
In den letzten zehn Jahren des scheidenden Jahrhunderts gab es ein Aufleben der Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus. Der Spielberg-Streifen „Schindlers Liste” füllte die Kinopaläste und bot reichlichen
Gesprächsstoff für Podiumsdiskussionen in Akademien und Talkrunden auf allen Fernsehkanälen. Daniel
Goldhagens Buch über Hitlers „willige Vollstrecker”1 löste ein Strohfeuer der Debatten unter Historikern,
Journalisten und Betroffenheitspolitikern aus. Für das geplante Holocaust-Mahnmal in Berlin wurden elaborierte
Kolloquien, Wettbewerbe, Auswahlsitzungen und Ausstellungen veranstaltet. Ungezählte Feuilletonzeilen sind
darüber geschrieben worden. Die neu in die größer gewordene Bundesrepublik gekommenen „Nationalen Mahnund Gedenkstätten” der DDR wurden übernommen und Gegenstand von Konzeptions- und Zielplanungen der
Historiker und Architekten. Die 50. Jahrestage der Befreiung vor allem der Konzentrationslager wurden wie
Staatsakte zelebriert. Politiker hielten dabei Gedenkreden, ehemalige Häftlinge aus ganz Europa wurden zu den
Festakten eingeladen. Tage- und nächtelang lasen sich Menschen die endlosen Texte der Tagebücher Victor
Klemperers aus der Zeit von 1933 bis 1945 vor.2 Ein Holocaustgedenktag wurde vom Bundestag beschlossen.
„Gedenken” war in diesen zehn Jahren zwischen 1990 und 2 000 zum Inbegriff der politischen Korrektheit
geworden.
Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, war eine Zeitlang unangefochtene
Autorität auf diesem Gebiet. Ob aus Überzeugung, politischer Opportunität oder schlechtem Gewissen heraus:
Seines Rates, seiner Zustimmung versicherten sich die Politiker im Bund und in den Ländern. Er hatte für den
Holocaustgedenktag geworben, für die Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiungen der Konzentrationslager,
er segnete die Konzeptionen für die Entwicklungen der Gedenkstätten ab. Ausgerechnet Ignatz Bubis war es, der
1998 eine Debatte darüber auslöste, ob es nunmehr zu viel sei mit dem politischen Gedenken. Hatte Martin
Walser noch sein persönliches Mißbehagen gegen das institutionalisierte Gedenken ausgedrückt, so war der
Vorwurf von Bubis gegen den Schriftsteller als „geistigem Brandstifter” das Startsignal für grundsätzlichere
Erörterungen. Aus der moralischen Instanz Bubis war Partei geworden. Stimmen kamen auf, die sich dagegen
wandten, daß die Diskussionen um das nationale Selbstverständnis in Deutschland zu sehr rückwärtsgewandt
seien. Man müsse Rücksicht nehmen auf die Gefühle der Opfer, aber auch auf die der vielen anderen, war zu
hören. Dabei hatte es den Eindruck, daß diese Diskussionen letzten Endes aufgekommen waren, weil die
1
Goldhagen, Daniel Jonah (1996): Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin: Siedler Verlag
2
Notwendigkeit einer weniger ideellen, dafür aber um so materielleren Bewältigung der Nazivergangenheit auf
die Nation zugekommen war: Die vor allem aus den USA prasselnden Klagen kluger und frischer Anwälte
zielten auf Entschädigungen für überlebende Juden und andere Opfer, die von den Nationalsozialisten beraubt
worden waren, denen Banken ihr Vermögen vorenthalten hatten oder die als Sklaven bei heute noch
existierenden Firmen hatten arbeiten müssen. Als diese zweite Repararationswelle auf Deutschland und seine
Wirtschaft zurollte, wurde es ernst. Der neue Kanzler Gerhard Schröder machte die Reparationsfrage zur
„Chefsache” und zur gleichen Zeit war zu hören, daß es nun doch ein Ende haben müsse mit den Vorhaltungen
über die Schuld des deutschen Volkes.
Neben dem moralischen und politischen Gedenken, neben dem Bemühen um angemessene Riten und
Gedenkorte hatte es von Anfang an eine materielle Seite der Vergangenheitsbewältigung gegeben. Das Wort
„Wiedergutmachung” hallt aus der Frühzeit der Bundesrepublik her. Vor allem an Israel, auch an einzelne Opfer
und Opfergruppen hatten die verschiedenen Bundesregierungen seit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers über
100 Milliarden DM gezahlt. Demgegenüber nahm sich das Engagement von Firmen, die durch die
Naziverbrechen materielle Vorteile erzielt hatten, eher bescheiden aus: Der Weltkonzern „Siemens”
beispielsweise hatte von 1958 bis 1988 ganze sieben Millionen DM an die Jewish Claims Conference für
geleistete Zwangsarbeit gezahlt und sagte 1998 unter dem Druck der Klagen aus den USA weitere 20 Millionen
DM zu.3 Siemens hatte in Ravensbrück eine Produktionsstätte mit KZ-Häftlingen betrieben. Aber zu einem
klaren Engagement bei der dortigen Gedenkstättenarbeit konnte sich die Firma trotz vieler lauter Forderungen
und leiser Bitten nicht durchringen. Eines der Argumente, die zur Abwehr der Forderungen zu hören waren,
lautete, die Firma Siemens sei in den neunziger Jahren eine ganz andere als Siemens zwischen 1933 und 1945 so wie Deutschland auch ein anderes geworden sei. Wahrscheinlich ist, daß die relativ bescheidenen Bitten aus
Ravensbrück,
Oranienburg und Potsdam um Hilfe bei der Gedenkstättenarbeit nach internem juristischen
Ratschlag abgewehrt wurden, weil der Konzern Präjudizwirkungen befürchtete.
Doch spätestens seit die Schweizer Banken zähneknirschend 2,2 Milliarden Mark für beraubte Naziopfer
bereitstellten, um so Prozessen in der USA aus dem Wege zu gehen, kam das Thema Entschädigungen für
Zwangsarbeit und Raub mit voller Wucht nicht nur auf Siemens, sondern auf die gesamte erste Garde der
deutschen Wirtschaft - von Daimler Benz über Krupp und Degussa bis hin zu VW und BMW - zu. Der Kanzler
und die deutschen Spitzenmanager wußten seitdem, daß hohe Zahlungen fällig waren. Sie wollten sie auch
leisten, damit das Kapitel abgeschlossen würde, die Firmen wieder ihren globalen Geschäften nachgehen
könnten und das Ansehen Deutschlands in der Welt nicht beschädigt würde.
Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Debatte über den Nationalsozialismus in Deutschland seit 1995 entfernt
hatte von der politischen und moralischen Hauptsache: der Klage darüber, daß das entwickelte Staatswesen
eines zivilisierten Volkes zur Verbrecherorganisation geworden war, unter deren erbarmungsloser Willkür
Abermillionen Menschen gelitten hatten und ermordet worden waren. Die späten Entschädigungen werden nicht
geleistet um der Opfer willen, sondern weil der juristisch-politische Druck es den Managern angemessen
erscheinen läßt. Die Institutionalisierung des Gedenkens wird nicht kritisiert wegen der ihr innewohnenden
Routine und Widersprüchlichkeit, sondern wegen der vor ihr ausgehenden Zumutung für die Befindlichkeit der
Deutschen und ihres Landes. Die Vergangenheit stört die Gegenwart und verleidet die Zukunft. Bis zur
Wiedervereinigung war das gewiß nicht anders, aber zwei deutsche Staaten und die Mauer galten als die
2 Klemperer, Victor (1995): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1941 und 1942 – 1945. Berlin: Aufbau-Verlag
3 Der Spiegel 49. 30.11.1998. 37
3
unabänderliche und unübersehbare Folge der Vergangenheit. Sich gegen diese Folge aufzulehnen, galt als
ebenso sinnlos, wie es ein Aufstand gegen das Wetter gewesen wäre. In der Übergangszeit von der Bonner zur
Berliner Republik war das verstärkte Gedenken wohl Ausdruck der Unsicherheit, wie mit der unerwarteten
nationalen Einheit umzugehen sei. Die mit der Einheit beschenkte Nation war wie ein Kind, das sich zunächst
fürchtet vor einem neuen Spielzeug, bis es dann um so hemmungsloser mit ihm hantiert. Als die Phase der
Unsicherheit vorbei war, wurde die Last der Vergangenheit nicht mehr ertragen. Sie sollte abgelegt werden. Das
sagten nicht nur Schriftsteller in aller Öffentlichkeit, sondern auch - diese allerdings vorsichtig - verantwortliche
Politiker. Diejenigen, die sich dagegen wehrten, konnten jedoch den Abwurf der Vergangenheit nicht dadurch
verhindern, daß sie dagegen polemisierten.
Die Entwicklung ist fatal. Auf der einen Seite wird das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus allmählich
ad acta gelegt, so wie es im Alltagsleben auf Dauer die meisten nicht rührt, wenn es dem Nachbarn schlecht
geht. Auf der anderen Seite ist das Lösen von der Vergangenheit der Ausdruck einer Sicherheit, daß ähnliches in
diesem Lande nicht wieder geschehen kann. Und das ist falsch. Beim Brand eines Ausländerheimes konnte die
Fernsehnation miterleben, wie Menschen zu verbrennen drohten, derweil die Ordnungskräfte tatenlos waren und
der Mob Beifall spendete. Die Politmanager der Neuen Mitte waren stolz darauf, daß ihre Inszenierungen beim
Wahlvolk ankamen, ohne daß dies mit den vertrackten Inhalten und Problemen der Politik belästigt würde.
Warum waren sie sicher, daß nicht ganz andere eines Tages noch besser als sie inszenieren können und das Tor
aufgestoßen wird für einen Weg fort vom sozialen und liberalen Rechtsstaat? Das für diesen Weg empfängliche
Wählerpotential wurde auf 15% geschätzt, das Geld zur Mobilisierung dieser Menschen war da wie das Beispiel
der DVU zeigte: Es fehlte - glücklicherweise! - der Kommunikator, welcher diese Möglichkeiten erfaßt, interne
Streitereien in der rechtsextremen Szene schlichtet und eines Tages im Bundestag Parolen wie „Deutschland den
Deutschen” hätte erklingen lassen. Christ- wie Sozialdemokraten hatten mit ihren „Das-Boot-ist-voll”-Reden
einen dafür empfänglichen Boden vorbereitet.
Als es 2005 so weit war und die Rechtsparteien DVU und NPD Kooperationen vereinbarten, war das Gezetere
groß. Wie schon beim vermasselten Verbotsantrag gegen die NPD wirkte die „politische Klasse“ hilflos. Nicht
weil sie den Keim eines abermaligen Kulturverfalls erkannte, sondern weil sie um den Wirtschaftsstandort
Deutschland fürchtete, wurde die Politikerklasse nervös.
Es wird riskanter, wenn das Gemeinwesen seine moralische Verankerung in der bewußten Negation des
Nationalsozialismus verliert. Ganz offensichtlich ist die mittlerweile institutionalisierte Form des Gedenkens
nicht geeignet, diese Verankerung zu sichern. Was hilft der Gedenktag des 27. Januar? Welcher verstockte
Geschichtsfälscher wird durch das Verbot der Holocaustlüge auf den Pfad der Tugend zurückgeführt? Was
interessieren die Öffentlichkeit die Streitereien unter Opfergruppen über die Größe von Gedenktafeln? Ist es
hilfreich, wenn die Medien den obersten Repräsentanten der jüdischen Deutschen zum nationalen Schiedsrichter
in Fragen politischer Korrektheit stilisieren? Was bedeutet es für den liberalen Rechtsstaat, wenn die Politik
verbietet, dass vor seinen Gedenkstätten demonstriert wird? Und was schließlich ist davon zu halten, daß
„Gedenken” mittlerweile vielen zum Beruf geworden ist? Eine Debatte über diese Fragen ist notwendig!
Wir brauchen eine Reform des Gedenkens. Die Gedenkkultur in Deutschland muß vom hohen Sockel herunter.
Die Staatsakte zu diesem Metier sollten reduziert werden. Politiker sollten sich weniger in Sonntagsreden zum
Thema üben, sondern im Alltag etwas beispielsweise dafür tun, daß die KZ-Gedenkstätten nicht verfallen. Es ist
auch an der Zeit, darüber zu reden, ob diejenigen, die sich als Repräsentanten verschiedener Opfergruppen
ausgeben, überhaupt demokratisch legitimiert sind. Statt Gedenken zum Beruf zu machen, sollte man sich dieser
4
Aufgabe viel mehr in den Bildungseinrichtungen des Landes annehmen. Schulen und Universitäten gehören in
einen Verbund mit den Gedenkstätten. Die Gedenkstätten müssen ihre teilweise esoterische Isolierung aufgeben.
Es muß ein Ende haben mit der moralischen Abstrafung
derjenigen, die bei Debatten über den
Nationalsozialismus nicht genau im Zentrum der politischen Korrektheit liegen. Vor allem darf es bei diesem
Thema nicht länger jenen Dualismus geben zwischen den „Wissenden” und den zu Bekehrenden, zwischen den
Gerechten und den Ungerechten, zwischen den Guten und den Bösen. Wer weiß schon, wie sich die einen oder
die anderen unter den heutigen Akteuren im Ernstfalle verhalten würden?
So wichtig es für das Gemeinwesen ist, an den Nationalsozialismus zu erinnern, so falsch ist es, eine allgemeine
moralische Pflicht daraus zu machen. Auch diese moralische Pflicht würde wie andere in der säkularisierten
Gesellschaft früher oder später mißachtet. Doch was nicht moralische Pflicht ist, muß deswegen nicht
verschwinden. Es wird weiterhin die KZ-Gedenkstätten geben, so wie andere historische Stätten bleiben werden.
Die besonders in den authentischen Orten schlummernde Mahnung von der Zerbrechlichkeit menschlicher
Kultur und Zivilisation kann in Zukunft verstanden und aufgenommen oder ignoriert werden. Je mehr diese
Stätten - auch kontrovers - mit dem Alltagsleben verwoben sein werden, desto größer wird die Chance, daß ihre
Mahnung gehört wird. Praktisch bedeutet das, daß es gut wäre für die Gedenkstätten, wenn sie sich nicht nur mit
Schulen und Universitäten verweben, sondern auch mit Theatern, Chören und Orchestern, ebenso mit Betrieben
und Behörden.
Die Gedenkstätten sollten die Sphäre der sakralen Weihe verlassen und sich hinein begeben in den profanen
Alltag. Wenn sie das schaffen, können sie ihren Beitrag dazu leisten, daß die Menschen in diesem Lande nicht
noch einmal ihre politische Kultur verlieren.
2.
Der Parteienstaat
Ob man sie mag oder nicht: Die politischen Parteien haben sich zum institutionellen Kern des Staatswesens
Bundesrepublik Deutschland entwickelt. Ohne die Betrachtung ihrer politischen Parteien würde man diese
Republik nicht verstehen. Parteien entsenden die Mitglieder der Parlamente und der Regierungen. Sie bestimmen
die Besetzung von Spitzenpositionen in der öffentlichen Verwaltung; sie haben Einfluß auf die Berufung der
Richter des Bundesverfassungsgerichtes, der Mitglieder des Zentralbankrates der Bundesbank, der deutschen
Kommissare in der Europäischen Union. Über die Rundfunk- und Fernsehräte der öffentlich-rechtlichen
Anstalten wirken sie auf die „Vierte Gewalt“, die Medien, ein. Die Politik des Staates wird über die und durch
die Parteien definiert. Gegen diese Omnipotenz der politischen Parteien werden - verstärkt seit den achtziger
Jahren - Bedenken vorgetragen.4
Mit ihrem Einfluß überzögen die politischen Parteien die ihnen vom Grundgesetz zugedachte Rolle, bei der
politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, nicht jedoch, diese zu bestimmen. Kritisiert wird, daß sich
die Parteien den „Staat als Beute“ nähmen,5 daß sie die im Zuge der Globalisierung notwendigen
Deregulierungen für Deutschland nicht schafften, daß sie über immer weniger Mitglieder verfügten und ihnen
Wähler davonliefen. Das alte Bonner Parteiensystem sei nach 1989 einfach auf die Neuen Länder übergeklappt
worden, wodurch sich die Entfremdung der Parteien vom Volke noch verstärkt habe.
Jürgen Dittberner; „Sind die Parteien noch zu retten?“. Die deutschen Parteien: Entwicklungen, Defizite und
Reformmodelle, Berlin 2004
5
Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993
4
5
Doch in der Berliner Republik bleiben die Parteien Kern des politischen Systems. Nur hat dieser Kern an
Festigkeit verloren. Diese könnte wiederhergestellt werden, wenn die Beutepolitik der Parteien gegenüber dem
Staat beendet und sichergestellt werden könnte, daß die politischen Parteien zuvörderst eine dienende
Einstellung annehmen. Weiterhin müßten die Parteien einiges für ihre Akzeptanz tun, damit sie für Mitglieder
attraktiver werden. Das könnte geschehen, wenn die untersten Gliederungen in die Lage kämen, den Menschen
Ratschläge zu geben bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme mit Arbeitsplätzen oder Wohnungen. Große Politik
ist auf der untersten Ebene nicht mehr gefragt: Was soll der Abgeordnete Meier schon noch Interessantes über
den Irak berichten, wenn am Abend zuvor der US-Präsident sich hierzu im Fernsehen ausgelassen hat? Wenn
andererseits die Zahl der Parlamentssitze an die Wahlbeteiligung gekoppelt und bei einer Wahlbeteiligung von
70% nur 70% der möglichen Parlamentsmandate verteilt würden, müßten alle Parteien sich anstrengen, die
„Partei der Nichtwähler“ so klein wie möglich zu halten. Schließlich müssen alle politischen Parteien bei ihrer
Arbeit immer berücksichtigen, daß die Bürger im Osten Deutschlands eine andere politische Sozialisation
erfahren haben als die im Westen. Steht beispielsweise auf der westlichen Seite der Wert „Leistung“ hoch im
Kurs, so ist auf der östlichen Seite „Sicherheit“ wichtiger.
a) Determinanten
Das Bonner Parteiensystem war geprägt durch die bösen Erfahrungen der deutschen Vergangenheit. Um die
Strukturschwächen der Weimarer Demokratie zu vermeiden, wurden die Parteien nach 1945 durch den Art. 21
GG in den Mittelpunkt gerückt. Der Wille des Volkes sollte sich im Parlament und in der von diesem
abhängigen Regierung über die politischen Parteien artikulieren. Die Parteien sollten daher offen sein für
Mitglieder und sich in allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen stets aufs Neue legitimieren. 6
Um den Willen des Volkes möglichst angemessen im Parlament widerspiegeln zu können, entschied man sich
für das Verhältniswahlsystem, bei dem Abgeordnete über Listen entsprechend den Anteilen bei den
Wahlergebnissen in die Parlamente delegiert werden. Gleichwohl wollte man auch regionale Anbindungen der
Abgeordneten bewahren. So ist es zu erklären, daß das Verhältniswahlsystem mit dem Mehrheitswahlsystem
kombiniert wurde. Die Hälfte der Abgeordneten wird über Wahlkreise ermittelt, die andere Hälfte über Listen,
die allerdings maßgebend sind für die Gesamtverteilung der Mandate im Parlament auf die Parteien. Bei den
Bundestags-, auch bei den meisten Landtagswahlen haben die Wähler somit eine „Erststimme“ für den
Wahlkreis und eine „Zweitstimme“ für die Landesliste, die allein ausschlaggebend ist für die Zusammensetzung
des Parlamentes. In der Regel haben nur die großen Parteien CDU/CSU und SPD die Chance, Abgeordnete mit
Hilfe der Erststimme zu gewinnen.
Das lange politische Überleben der FDP7 läßt sich damit erklären, daß sie es bisher noch bei jeder
Bundestagswahl geschafft hat, genügend Zweitstimmen für den Einzug in den Bundestag zu erzielen. Meist
Im „Parteiengesetz“ sind die Einzelheiten der inneren Ordnung der Parteien geregelt. Es ist vorgeschrieben,
dass die Delegiertenversammlungen und die Vorstände von unten nach oben gewählt werden müssen. So sind
alle politischen Parteien in Deutschland ähnlich aufgebaut mit Mitgliedergruppen an der Basis, Kreis-, Landesund Bundesparteitagen mit den dazugehörigen Vorständen. Innerparteilich von Gewicht sind zusätzlich die
Fraktionen - in den kommunalen Vertretungskörperschaften, den Kreistagen, Landtagen und dem Bundestag
sowie - falls vorhanden - die Dezernenten oder Mitglieder der Regierungen. Dieses Parteiengesetz wurde
übrigens erst 1967, also 18 Jahre nach dem Auftrag durch die Verfassung, geschaffen. Das
Bundesverfassungsgericht hatte es vom Erlass dieses Gesetzes abhängig gemacht, dass die Parteien weiterhin
staatliche Mittel für ihre Arbeit erhalten könnten.
7
Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden
2005
6
6
verhalf ihr dabei eine direkte oder indirekte „Zweitstimmenkampagne“, die sie als Juniorpartner einer der beiden
Hauptparteien anpries. So war es 1961, als die mit der CDU 8 im bürgerlichen Lager verbundene FDP den
allgemeinen Unmut über die lange Herrschaft Konrad Adenauers aufnahm und mit dem Slogan „Mit der CDU
aber ohne Adenauer“ 12,8% der Wählerstimmen - ihr bislang bestes Bundestagswahlergebnis - errang. Adenauer
selber hingegen wußte natürlich vom Gewicht der Zweistimmen, und zögerlichen Wählern soll er bei
Wahlversammlungen geraten haben: „Wenn Se nich` janz so zufrieden sind mit der CDU, meine Damen und
Herren, dann geben Sie ihr eben nur die Zweitstimme!“ Das mit dem Mehrheitswahlrecht kombinierte
Verhältniswahlrecht ist eine wesentliche Determinante des deutschen Parteiensystems, weil es das Überleben der
„Partei der zweiten Wahl“,9 der FDP ermöglicht hatte, aber auch das Aufkommen der „Grünen“ 10, die bei einem
reinen Mehrheitswahlsystem ebenso wie die FDP wohl keine Chance gehabt hätten. Eine Sonderrolle seit
Bestehen der Bundesrepublik spielt die bayerische CSU. Sie ist halb ein Landesverband der CDU, halb eine
eigenständige Regionalpartei.11
Ein Novum war der Erfolg der PDS12 bei der Bundestagswahl 1995, als sie mittels mehr als drei Direktmandaten
im Osten Berlins in den Bundestag kam, obwohl sie bundesweit weniger als fünf Prozent der Wählerstimmen
bekommen hatte. 1998 dann kam sie bundesweit über die 5-%-Grenze, und 2002 erreichte sie nur zwei
Direktmandate, so daß außer diesen beiden keine weiteren PDS-Vertreter mehr dem Bundestag angehören.
Prägend für das deutsche Parteiensystem ist die Fünfprozentklausel. Sie wurde eingeführt nach den Erfahrungen
in der Weimarer Republik, daß eine große Zahl von Splitterparteien die parlamentarische Willensbildung
erschwert und klare parlamentarische Mehrheiten verhindert hatte. Die Fünfprozentklausel, die übrigens kein
Verfassungsgebot ist und erst 1957 in der heutigen Form in Kraft trat, hat dazu beigetragen, daß viele kleinere
Parteien wie der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), die „Bayernpartei“ (BP), die
„Deutsche Partei“ (DP) oder die „Zentrumspartei“ (ZP), die im ersten oder zweiten Deutschen Bundestag noch
vertreten waren, aus dem Parteiensystem ausgeschieden sind.
Seit den neunziger Jahren ist eine Diskussion über Sinn und Ungerechtigkeit der Fünfprozentklausel entbrannt.
Das abschreckende Beispiel Weimars verblaßt. Vor allem bei den kommunalen Vertretungskörperschaften,
wackelt die Sperre. In Berlin beispielsweise hat das Landesverfassungsgericht entschieden, daß bei den Wahlen
zu den regionalen „Bezirksverordnetenversammlungen“ (BVV`s) die Fünfprozentgrenze nicht gelten dürfe.
Bei der staatlichen Parteienfinanzierung wird die semistaatliche Stellung der politischen Parteien deutlich. Schon
in den fünfziger Jahren sahen sich die politischen Parteien nicht in der Lage, ihre Arbeit aus eigenen Mitteln Mitgliederbeiträge, Spenden oder Einkünfte aus Vermögen
- zu finanzieren. Zudem hatte das
Bundesverfassungsgericht 1958 in seinem „Spendenurteil“ die bis dahin gängige Praxis abgeschafft, bei der über
Fördervereine („Staatsbürgerliche Vereinigungen“) eingesammelte Parteienspenden für staatsbürgerliche
Zwecke steuerbegünstigt waren. Das Gericht wollte die in dieser Regelung befindlichen Vorteile für die
bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP abschaffen und verwies in einer Nebenbemerkung auf die
Möglichkeit der direkten staatlichen Parteienfinanzierung. Damit hatte es die Schleusen geöffnet: Der Staat
wurde fortan immer stärker zur direkten und indirekten Mitfinanzierung der Parteien herangezogen.
8
Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002
Jürgen Dittberner, FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer
Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987
10
Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993
11
Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer, Passau 1998
12
Eva Sturm, „Und der Zukunft zugewandt“. Eine Untersuchung zur „Politikfähigkeit“ der PDS, Opladen 200
9
7
Anfänglich wollte man den Kuchen am liebsten unter den Bundestagsparteien aufteilen und die im Parlament
nicht repräsentierten „Kellerkinder“ unberücksichtigt lassen. Doch das Verfassungsgericht verbot die
Sperrklausel bei der Parteienfinanzierung. Die Folge war, daß auch kleinere Parteien öffentliche Mittel erhielten,
wenn sie sich an Wahlen beteiligten. Dadurch wurde es beispielsweise den „Grünen“ finanziell möglich, sich
nacheinander an mehreren Wahlen zu beteiligen, und das ist einer der Gründe dafür, daß sie es schafften, in das
etablierte Parteiensystem einzudringen.
Tabelle 1: Parteienhaushalte 1990 (Einnahmen in Millionen DM) 13
CDU
CSU
Grüne
FDP
PDS
SPD
Beiträge
87
16
10
11
30
129
Spenden
72
36
10
23
1,2
36
ChAgl.*
8,1
2
0
1
11
9
WKE+
142
33
20
45
28
128
* = Chancenausgleich / + = Wahlkampferstattung
Die Griffe der etablierten Parteien in die Staatskasse waren häufig dreist und direkt. In einer Art Krieg um die
Parteienfinanzierung schritt hiergegen immer wieder das Bundesverfassungsgericht ein. Bis 1992 kam es zu 17
Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichtes in dieser Sache. Der Entscheid von 1992 wollte der
staatlichen Finanzierung der allgemeinen Tätigkeit der politischen Parteien Grenzen setzen und annullierte ein
System der Finanzierung, das sich bis dahin durchgesetzt hatte mit den Eckpfeilern „Wahlkampferstattung“ und
„Chancenausgleich“ - wobei der Chancenausgleich als Kompensation für Parteien mit geringem
Spendenaufkommen gedacht war, jedoch in diesem Sinne nicht funktionierte. Nach diesem System hatten die
Parteien 1990 neben ihren Beiträgen und Spenden, wie in Tabelle 1 gezeigt, staatliche Zuschüsse erhalten.
Nach 1992 bestanden drei Bedingungen für die staatliche Parteienfinanzierung:
1. Vorrang der Eigenfinanzierung vor staatlicher Finanzierung.
2. „Relative Obergrenze“: Öffentliche Mittel dürfen die Summe der von der Partei selber erwirtschafteten Mittel
nicht überschreiten.
3. „Absolute Obergrenze“: Die öffentlichen Mittel sollen die Durchschnittswerte der Jahre 1989 bis 1992 nicht
überschreiten.
1994 wurde das Parteiengesetz wegen des Entscheids von 1992 novelliert. Danach erhielten die Parteien bei
Bundestags-, Europa- und Landtagswahlen 1 DM für jede Wählerstimme erstattet - bei den ersten 5 Millionen
Wählern 1,30 DM. Außerdem wurden Beiträge und Spenden, die die Parteien einnahmen, zusätzlich aus
öffentlichen Kassen bezuschußt.
Begründet wurde die direkte staatliche Parteienfinanzierung damit, daß die Parteien im Wahlkampf mit der
Wählermobilisierung eine öffentliche Aufgabe leisteten und daß sie generell Träger der politischen Bildung
seien. Auch sollten die Parteien durch die öffentlichen Zuschüsse immunisiert werden gegen Abhängigkeiten
von privaten Spendern.
Tabelle 2: Direkte und indirekte Parteienfinanzierung 1992 14
13
Ulrich von Alemann, Parteien, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 35
8
Direkte Staatsfinanzierung
230.000.000 DM
“Parteisteuer” (Mandatsträgerbeiträge)
60.000.000 DM
Steuerbegünstigungen ( bei Beiträgen und Spenden)
180.000.000 DM
Zahlungen an Fraktionen( Bundestag und Landtage)
231.000.000 DM
Zahlungen an Parteistiftungen
670.000.000 DM
ZUSAMMEN
1.371.000.000 DM
Es scheint, als ob die staatliche Parteienfinanzierung in Deutschland zu üppig ist. Neben der direkten
Unterstützung gibt es die indirekte Finanzierung der Parteiarbeit durch den Umweg über Abgeordneten- und
Mandatsträgerabgaben, Leistungen an die Fraktionen sowie über die parteinahen Stiftungen. Alle Transfers aus
öffentlichen Kassen zugunsten der politischen Parteien zusammen ergaben 1992 nach Hans Herbert von Arnim
eine Summe von 1.371.000.000 DM. Tatsächlich ist die Summe noch höher, denn von Arnim hat beispielsweise
übersehen, daß auch die Jugendorganisationen der politischen Parteien ebenfalls staatlich alimentiert werden. In
Berlin sind diese Organisationen im „Ring politischer Jugend“ zusammengeschlossen und erhielten jahrelang
aus dem Topf der Jugendförderung öffentliche Zuwendungen.
Die staatliche Parteienfinanzierung in Deutschland ist unüberschaubar und - auch im Vergleich mit anderen
Ländern15 - stark ausgeprägt. Gegen zudringliche Spenden sind die Parteien dennoch nicht immunisiert, wie die
Skandale in der CDU und in der SPD nach 1998 sowie bei der FDP nach 2002 gezeigt haben. Über die Höhe und
die Form der Finanzierung wird es stets Streit geben. Wichtig ist, daß die Entscheidungen, die Abgeordnete als
Parteienvertreter hierbei in eigener Sache treffen, transparent und überprüfbar sind. Es ist gut, daß das
Bundesverfassungsgericht sich immer wieder mit dieser Thematik befaßt und die Parteien korrigiert und daß sich
die Öffentlichkeit einschließlich der Wissenschaft nach langem Desinteresse seit einiger Zeit bei diesem Thema
engagiert. Unstrittig ist, daß die Parteien finanziell in der Lage sein müssen, ihren Verfassungsauftrag zu
erfüllen, bei der politischen Willensbildung mitzuwirken. Aber in einer Zeit allgemeiner Deregulierung müssen
sie hierbei zu äußerster Sparsamkeit bei ihren Ausgaben gezwungen werden. Sie dürfen durch die öffentlichen
Zuschüsse nicht faul werden.
Zu den Determinanten des deutschen Parteiensystems gehört auch die Wirtschaftsordnung der alten
Bundesrepublik, die soziale Marktwirtschaft. Bei seiner klassischen Ausformung als ZweieinhalbParteiensystem zu Beginn der sechziger Jahre war die soziale Marktwirtschaft geradezu das Pendant der Politik.
Die zwei „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD 16 beiderseits der Mitte mit dem „liberalen Korrektiv“ der FDP
waren erfolgreich und dominierend, weil sie als Garanten des „Wirtschaftswunders“, des materiellen
Wohlstands, galten. Die SPD war hierbei eingeschlossen seit 1959, als sie sich in Bad Godesberg auf Betreiben
Herbert Wehners, Willy Brandts und Fritz Erlers nach dem Vorbild der erfolgreicheren Union zur alle Schichten
und Gruppen der Bevölkerung ansprechenden Volkspartei („catch-all-party“) reformiert hatte. Die Parteien
waren wie die Firmenmarken, deren Namen mit dem Wirtschaftswunder verbunden waren: „Persil“, „VW“,
„BMW“, „Mercedes“, „Kloeckner“, „Hoechst“ oder „Deutsche Bank“. Andere Marken wie „Borgward“ etwa
hatten sich in der Wirtschaft ebenso wenig halten können wie die „Deutsche Partei“ oder das „Zentrum“ in der
14
Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993,
S. 284
15
S. Rolf Ebbighausen u.a., Die Kosten der Parteiendemokratie. Studien und Materialien zu einer Bilanz
staatlicher Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996
9
Politik. CDU/CSU, SPD und FDP waren eingeführte Marken der Politik. Die Sache kam ins Schwanken, als
nach 1961 die nachgewachsene Generation sich mit der alleinigen Wohlstandsgarantie nicht mehr begnügen
wollte, eine Demokratisierung der Gesellschaft forderte und in den Vietnamprotesten vom allgegenwärtigen
Vorbild der USA abrückte. Mit der ersten wirtschaftlichen Baisse wurde die politische Rechte in Gestalt der
„NPD” stärker und rüttelte - schließlich doch erfolglos - am Monopol des Zweieinhalb-Parteiensystems. Der von
der jungen Generation ausgehende Wertewandel jedoch schuf mit den „Grünen“ einen neuen Mitspieler am
politischen Markt.
Noch immer ist die Wirtschaft das Pendant der politischen Parteien. Aber bei über vier, später sogar fünf
Millionen Arbeitslosen seit den neunziger Jahren ist das Eis dünner geworden, auf dem sich die Parteien
bewegen. Im Osten ist eine offensichtlich temporäre Regionalpartei entstanden, die Mitgliederbasis der Parteien
hat abgenommen, die Parteibindungen der Bürger sind gelockert, die Zahl der Nichtwähler ist gestiegen. Noch
halten sich die einzelnen Parteien aus Tradition, aufgrund ihrer gewachsenen institutionellen Verflechtung mit
dem politischen System und das Parteiensystem insgesamt aufgrund des Mangels an Alternativen.
Parteien werden aber mehr und mehr als lästige Beigabe einzelner beliebter Politiker gesehen, und das
Wählervotum richtet sich an Personen aus. Die Chancen eines Machtwechsels im Bund hängen in den Augen der
Öffentlichkeit davon ab, wie sich jeweilige Spitzenkandidaten präsentieren und welche Inszenierung sie den
Wählern bieten.
Darstellung 1: Determinanten des westdeutschen Parteiensystems
Verfassungsrang: Artikel 21
Wahlsystem: Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl
Sperrklausel (5%)
Staatliche Parteienfinanzierung (Mitfinanzierung)
(Soziale) Marktwirtschaft
Die Personalisierung der Politik ist die Folge des geschwundenen Glaubens an die Problemlösungskompetenz
der Parteien. Sie entspricht einer personalisierten Betrachtungsweise aller Bereiche des Lebens, wie sie von den
Massenmedien herbeigeführt wurde. Interessant sind die Stars, die „Promis“ im Sport, in der Kultur und
Unterhaltungsszene und auch in der Wirtschaft. Gerhard Schröder steht so in einer Reihe mit Franz
Beckenbauer, Thomas Gottschalk oder Johannes B. Kerner. Zwar ist die Marktwirtschaft offiziell noch immer
das Hauptziel aller politischen Bemühungen der Politik, aber das Etikett „sozial“ hat an Wert verloren, und die
Parteien müssen auf der Hut sein, daß es nicht eines Tages ein neuer Promi der Politik schafft, mit
rechtsradikalen Parolen das gesamte Parteiensystem aufzurollen. Es scheint, daß die etablierten Parteien
versuchen, dem vorzubeugen, indem sie selber am rechten Rand fischen. Die Unterschriftenaktion der
hessischen CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft, die „Möllemann-Friedmann-Affäre“ und der „deutsche
Weg“ der SPD im Bundestagswahlkampf 2002 haben das deutlich gemacht. Doch ist das nicht ein Spiel mit dem
Feuer?
b) Funktionen
16
Franz Walter, Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002
10
Über die vom Grundgesetz postulierte Funktion der „Mitwirkung an der politischen Willensbildung“ des Volkes
hinaus erfüllen die politischen Parteien tatsächlich weitere politische Funktionen, die sich entweder aus ihrem
Verfassungsauftrag oder ihrem Organisationscharakter ableiten.
Für viele ihrer Mitglieder sind die Parteien soziale Bezugsgruppen. Sie bieten Lebensinhalt, Geselligkeit,
Statusfestigkeit und eröffnen einigen von ihnen Karrierechancen. In ihrer Eigenschaft als soziale Bezugsgruppe
unterscheiden sich die Parteien nicht von anderen Organisationen, in denen Menschen zusammenwirken, handele es sich um Betriebe, Behörden, Vereine oder Verbände. Für die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind die
sozialen Rollen in den Parteien allerdings weniger prägend als Berufsrollen - für die dünne Schicht der
Funktionäre und Berufspolitiker hingegen nehmen ihre politischen Parteirollen häufig ihr gesamtes soziales
Leben in Anspruch.
Es wird oft davon gesprochen, daß die Parteien für die Bevölkerung die Funktion der politischen Bildung
ausüben würden. Hierbei handelt es sich um sehr vage Zusammenhänge, denn da die Parteien Hauptakteure im
politischen Prozeß sind, wird das Interesse an politischen Vorgängen im Gemeinwesen mit politischer Bildung
gleichgesetzt. Der Hinweis auf die politische Bildung ist auch deswegen problematisch, weil die Parteien hieraus
sogleich den Anspruch der staatlichen Alimentierung ableiten.
Die ihr Wesen wohl am zentralsten treffende Funktion ist die der Partizipation der Bürger am politischen Prozeß.
Durch Parteien wird der politische Willensbildungsprozeß geöffnet für alle und bleibt nicht geschlossen - auf
bestimmte Personen und Institutionen beschränkt - wie in einer Monarchie oder einer Diktatur. Daß nur sehr
wenige Bürger die Chance der Partizipation aktiv nutzen, ändert an der Bedeutung dieser Funktion nichts.
Mit ihren Forderungen und Programmen wirken die politischen Parteien daran mit, daß in der Gesellschaft
allgemeine, auch konträre politische Zielvorstellungen entwickelt werden. Insofern können Parteien politische
Ziel- und Sinngeber sein. An den stets um die Gruppe der unentschiedenen Wechselwähler bemühten politischen
Parteien der Bundesrepublik wird kritisiert, daß sie alle mehr oder weniger den Wünschen dieser
Bevölkerungsschicht hinterherlaufen, deren - ihnen aus Umfragen bekannten - Wünsche artikulieren und somit
als politische Ziel- und Sinngeber versagen.
Zweifellos sind die politischen Parteien die zentralen Agenturen bei der Rekrutierung des politischen Personals
in der Bundesrepublik. Es ist kaum möglich, eine politische Aufgabe wahrzunehmen, ohne Mitglied einer
politischen Partei zu sein. In den Versammlungen der politischen Parteien, von ihren Vorständen und Parteitagen
sowie in den Fraktionen werden die politischen Repräsentanten ausgesucht. Praktisch haben die politischen
Parteien ein Monopol bei der Rekrutierung des politischen Personals in der Bundesrepublik. Anders als beim
öffentlichen Dienst wird dabei nicht nach formalen Kriterien wie Ausbildungsabschluß ausgewählt, sondern in
erster Linie nach politischer Akzeptanz und Durchsetzungsfähigkeit. Noch niemand hat den Nachweis erbracht,
daß die politisch über die „Ochsentour“ Aufgestiegenen besser oder schlechter wären als die formal
qualifizierten Beamten über die „Hühnerleiter“. Bei den Politikerkarrieren gibt es schnelle Aufstiege und jähe
Abstürze, bei den Beamten ein allmähliches Schweben nach oben.
Die Politiker auf allen Ebenen und damit die Parteien erfüllen schließlich die Aufgabe der
Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung für alle wichtigen Fragen des Gemeinwesens. Zwar haben
die politischen Parteien und ihre Repräsentanten hierbei nicht das Monopol - die Medien, die Lobbyisten, die
Wissenschaft, die Verwaltung, ausländische Interventionen und viele andere wirken bei den Entscheidungen mit.
Verantworten müssen die Entscheidungen jedoch am Ende die Parteienvertreter bei den Abstimmungen in den
Parlamenten oder in den Regierungen.
11
Darstellung 2: Funktionen der politischen Parteien
Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes
Soziale Bezugsgruppe für die Parteimitglieder
Politische Bildung
Entwickeln politischer Zielvorstellungen
Rekrutierung politischen Personals
Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung in der Politik
Die Entscheidungsfindung, die Rekrutierung des politischen Personals und die Partizipation der Bürger sind die
zentralen Funktionen, welche die politischen Parteien erfüllen. Sie geraten in Rechtfertigungs- und
Legitimationskrisen, wenn sie - wie im Falle der Großen Steuerreform Mitte 1997 - keine Entscheidungen
treffen, wenn das von ihnen ausgewählte Personal zu wünschen übrig läßt oder wenn - wie in Deutschland schon
lange - zu wenige Bürger sich über die Parteien am politischen Prozeß beteiligen. Die Parteien müssen aufpaßen,
daß sie ihre politischen Funktionen erfüllen. Andernfalls verlieren sie ihre Existenzberechtigung.
c) Gründung
Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 einigten sich die Siegermächte darauf, „in ganz Deutschland alle
demokratischen Parteien zu erlauben und zu fördern“. 17 Tatsächlich jedoch verhielten sich die vier Mächte in
dieser Angelegenheit sehr unterschiedlich. Die Sowjets hatten bereits am 10. Juni 1945 in ihrem „Befehl Nr. 2“
für ihre Besatzungszone „die Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien“ erlaubt. Die amerikanische
Militärregierung ließ politische Parteien im September des gleichen Jahres zu, allerdings zunächst nur für die
Kreisebene. Die Briten erlaubten die Parteigründungen im September sogleich auf Zonenebene, während sich die
Franzosen zögerlich verhielten und im Dezember zwar Parteien grundsätzlich zuließen, sich mit der praktischen
Umsetzung aber Monate Zeit ließen.18
Die Sowjets verfolgten das Ziel, mit Hilfe der politischen Parteien von Berlin aus Einfluß auf das gesamte
Deutschland zu gewinnen. Die KPD, die SPD, die CDU und die LDP („Liberal-Demokratische Partei“)
gründeten in der Hauptstadt Parteizentralen („Zentralausschüsse“), die einen Führungsanspruch auch für die
Westzonen erhoben. Dieser gesamtdeutsche Anspruch aus Berlin wurde im Westen abgelehnt und teilweise
heftig abgewehrt. Bei der SPD war es Kurt Schumacher, der von Hannover aus eine Gegenposition zu Berlin und
dem von den Sowjets abhängigen Zentralausschuß unter Otto Grotewohl, Max Fechner und Gustav Dahrendorf
aufbaute. Schumacher setzte die Neugründung der westdeutschen SPD, deren erster Vorsitzender er wurde,
durch.
Bei den bürgerlichen Parteien herrschten ohnehin dezentrale Tendenzen, die den Berliner Zentralen keine
Chance ließen. Verstärkt kam auch hier bei der Ablehnung der Berliner Ansprüche die Furcht vor der
Abhängigkeit von den Kommunisten hinzu. In der CDU hatte somit der Berliner Gründerkreis um Jakob Kaiser
und Ernst Lemmer wenig Chancen. Im Westen bildete sich in der britischen Zone über die Landesverbände
Rheinland und Westfalen hinaus die „Zonen-CDU“ als das stärkste Kraftfeld der Union insgesamt, das Konrad
17
Günter Olzog / Hans-J. Liese, Die politischen Parteien in Deutschland. Geschichte. Programmatik.
Organisation. Personen. Finanzierung. 24., überarbeitete Auflage, München / Landsberg a.L. 1966
18
ebenda
12
Adenauer19 von Köln aus beherrschte. Adenauer wurde schließlich - das allerdings erst 1950, als er schon
Bundeskanzler war und die CDU in Goslar als Bundespartei gegründet wurde - Bundesvorsitzender dieser neuen
Partei. Zu stellvertretenden Bundesvorsitzenden wählte der Bundesparteitag Friedrich Holzapfel und Jakob
Kaiser.
Bei der LDP gab es zwar vielfältige Kontakte zu den sehr unterschiedlichen Parteigründungen im Westen, am
Ende aber gingen auch die Liberalen in Ost und West unterschiedliche Wege. Mit der Gründung der FDP unter
ihrem ersten Vorsitzenden Theodor Heuss im Dezember 1948 in Heppenheim an der Bergstraße war auch bei
den Liberalen aus Furcht vor dem Einfluß der Sowjets eine reine Westpartei entstanden. Immerhin hatte es mit
der “Demokratischen Partei Deutschlands” (DDP) eine gesamtdeutsche Parteiorganisation vor 1949 gegeben.
Diese im März von Vertretern der FDP und LDP gegründete Partei hatte mit Theodor Heuss und Wilhelm Külz
gleichberechtigte Vorsitzende. Weil er Külz Einbindung in die sowjetische Blockpolitik vorwarf, zerschnitt
Heuss 1948 das Tuch: Die FDP entwickelte sich im Westen zur einflußreichen dritten Partei, während die LDP
nach dem baldigen Tode von Külz unterdrückt, gesäubert und zum Satelliten der SED degradiert wurde.
Die KPD schließlich hatte im Westen Deutschlands ohnehin keine besondere Resonanz, so daß der
gesamtdeutsche Anspruch der Berliner Genossen um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck von Anfang an
illusorisch war.
In den Anfangsjahren fand das Parteileben überall unter Aufsicht der Siegermächte statt. Deren Offiziere oder
Beauftragte saßen dabei und scheuten vor Interventionen nicht zurück. Die so entstandenen Parteien wurden
später vor allem von rechten Gruppierungen als „Lizenzparteien“ bezeichnet, womit sie als von den Mächten
gegen die deutschen Interessen installierte Institutionen diffamiert werden sollten.
Im Jahre 1948 wurde auf Anordnung der Militärgouverneure in den drei westlichen Zonen mit der
„Währungsreform“ die DM eingeführt. Ludwig Erhard, damals Direktor des Amtes für Wirtschaft, hatte sich mit
dem Konzept der freien Marktwirtschaft im Frankfurter Wirtschaftsrat gegen die SPD, aber auch Teile der CDU,
durchgesetzt.
Die DM wurde auch in den Westsektoren Berlins eingeführt. Darauf reagierten die Sowjets mit der Blockade
West-Berlins, die wiederum von den westlichen Alliierten mit der „Luftbrücke“ abgewehrt wurde. Vor diesem
Hintergrund erhielten die Ministerpräsidenten der bereits existierenden westdeutschen Länder ebenfalls 1948
von den drei Militärgouverneuren die Aufforderung zur Gründung eines westdeutschen Staates. Auf einer
Konferenz in Rittersturz bei Koblenz hatten die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder Bedenken, die
Teilung Deutschlands durch Gründung eines westdeutschen Separatstaates zu zementieren. Der gewählte, aber
von den Sowjets nicht bestätigte Bürgermeister Berlins, Ernst Reuter, zerstreute diese Bedenken, indem er einen
staatlichen Neubeginn im Westen als Chance erläuterte, daß eines Tages auch der Osten Deutschlands
hinzukäme. So wurde aus den Landtagen ein „Parlamentarischer Rat“ gewählt, der sich am 1. September 1949
konstituierte. Der Rat hatte - entsprechend der Zusammensetzung der Landtage - eine schwache Mehrheit der
bürgerlichen Parteien. Sein Präsident war Konrad Adenauer von der CDU, Vorsitzender des zentralen
Hauptausschusses Carlo Schmid von der SPD. Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD und eigentliche
Gegenspieler Adenauers war infolge einer Verletzung aus dem 1. Weltkrieg und vor allem wegen der
Nachwirkungen seiner langen KZ-Jahre gesundheitlich nicht in der Lage, direkt im Rat vor Ort zu sein. Der
Parlamentarische Rat beschloß am 8. Mai 1949 das Grundgesetz. Der Text wurde - mit einigen Änderungen -
Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 1 Der Aufstieg 1876 – 1952, Stuttgart 1968 und Bd. 2 Der Staatsmann:
1952 - 1967, Stuttgart 1991
19
13
zuerst von den Militärregierungen und dann von einer ausreichenden Anzahl der Landtage genehmigt und trat
am 24. Mai in Kraft. Die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag waren am 14. August 1949. Die
Bundesrepublik Deutschland war gegründet. = Deutsche Konservative Partei / Deutsche Rechtspartei
d) Ära Adenauer20
In den fünfziger Jahren setzte sich in der Bundesrepublik eine politisch-psychologische Grundeinstellung durch,
in der Privates Vorrang vor Öffentlichem hatte und Sicherheit im Materiellen und Sozialen der herrschende Wert
war. Im Rahmen der globalen und nationalen Ost-West-Konfrontation transformierte sich diese Haltung in einen
kräftigen Antikommunismus, dem die politische und wirtschaftliche Westintegration der Bundesrepublik
entsprach. Wie in einer Schonung konnten in dieser Konstellation die neuen politischen Institutionen und die
liberale Wirtschaftsordnung anwachsen. Die Bundesrepublik wurde gesehen als eine Konflikte negierende
„nivellierte Mittelstandsgesellschaft”. Konrad Adenauers Politik entsprach diesen Grundstrukturen und setzte sie
gegen zunächst durchaus vorhandene anderslaufende Tendenzen konsequent durch. Deswegen heißt die Zeit von
1949 bis 1961 zu Recht die „Ära Adenauer“.
Auch die Entwicklung des Parteiensystems ist weitgehend aus Gefolgschaft oder Gegnerschaft zu Konrad
Adenauer zu erklären. Die aus heterogenen Quellen gespeiste Neugründung der CDU mit ihrem bayerischen
Pendant entwickelte sich allmählich von einem Machtinstrument des Bundeskanzlers zu einer lose integrierten
Partei mit einem leichten politischen Eigengewicht. Ursprüngliche Bündnispartner der Union wie die DP oder
der BHE wurden von der Adenauer-Partei aufgesogen oder überrollt. Die FDP stürzte sich wegen ihrer Konflikte
mit Adenauer wegen des Wahlrechts und der Saarfrage in ihre erste große Krise. Die SPD schließlich suchte
zunächst nach einer Alternative zur Adenauer-Politik und fand dann doch ihr Heil in deren Anerkennung und
Kopie. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist das noch heute durchschlagende duale Parteiensystem zweier großer
Blöcke mit der FDP als mehrheitsbeschaffender Funktionspartei. Die dieses duale System bildenden klassischen
Bundestagsparteien hatten 1949 72% der Wählerstimmen errungen, und 1961 war ihr gemeinsamer Anteil auf
95% gestiegen! Viele der in der Ära Adenauer politisch Sozialisierten aber sollten später neue nichtmaterielle
Werte vertreten und die Basis werden für die Nach-Adenauer-Partei der „Grünen“.
In der ersten Legislaturperiode führte Adenauer die CDU/CSU, die FDP und die DP zu einer bürgerlichen
Koalition zusammen, deren Mehrheit äußerst knapp war: Mit 202 von 402 Stimmen wurde er zum Kanzler
gewählt. Die Wahl von Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten war ein Zugeständnis an den größten
Bündnispartner der Union, die FDP. Die folgenden Auseinandersetzungen innerhalb der bürgerlichen
Koalitionen unter Adenauer in den ersten beiden Legislaturperioden haben unmittelbar zur Aufreibung der
kleineren Parteien und zur Spaltung sowie dem Überwechseln der FDP in die Opposition 1956 geführt. Trotz der
knappen Mehrheit im Jahre 1949 und trotz zahlreicher Krisen war die Mehrheit für die Unionsparteien bis 1961
niemals ernsthaft infrage gestellt.
Die Zeit von 1949 bis 1953 kann als wichtigste Periode für die Formierung des Parteiensystems in
Westdeutschland gesehen werden. Denn neben der SPD, der Union und der FDP hatten die in dieser Zeit im
Bundestag vertretenen Parteien DP, ZP, KPD, DRP und WAV die Chance der parlamentarischen Profilierung.
Andererseits hoben die westlichen Besatzungsmächte am 17. März 1950 den Lizenzzwang für Parteien auf, und
es kam zur Bildung von über zwanzig neuen Parteien. Aber von den kleineren 1949er Bundestagsparteien
20
Dieses Unterkapitel ist stark orientieret an: Jürgen Dittberner, Zur Entwicklung des Parteiensystems zwischen
1949 und 1961; in Dietrich Staritz, Das Parteiensystem der Bundesrepublik. 2. Auflage, Opladen 1980, S. 129ff.
14
schaffte neben der FDP lediglich die DP 1953 noch einmal den Sprung in den Bundestag. Von den zahlreichen
Neugründungen des Jahres 1950 hatten lediglich zwei größere Wählerresonanz: Der „Bund der
Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) und die neonazistische „Sozialistische Reichspartei“ (SRP).
Manfred Rowold erklärt in seinem Buch über die kleinen und gescheiterten Parteien die vorübergehenden
Erfolge dieser beiden Gruppierungen beruhten darauf, daß „deren Wirkungsmöglichkeiten bis dahin durch einen
künstlichen Rückstau beschränkt waren: es sind dies die Vertriebenen ... und die neonazistische Rechte“. 21 Der
BHE als reine Interessenpartei verlor im folgenden seine Basis durch die erfolgreiche Integration der
Heimatvertriebenen, und die SRP konnte sich gegen die antinationalsozialistische Staatsdoktrin nicht halten.
Die aus der Tradition der antipreußischen Welfenbewegung hervorgegangene „Deutsche Partei“ (DP) hatte
hauptsächlich in Niedersachsen ein großes Anhängerreservoir und erzielte hier 19% der Stimmen. Die DP
konnte sich im Bundestag bis 1961 nur durch Wahlabkommen mit der FDP, vor allem aber mit der CDU, halten.
Ab 1957 war die DP praktisch ein Satellit der CDU.
Der CDU war es von Anfang gelungen, denjenigen Politikern die soziale Basis zu entziehen, die sich für eine
Wiedergründung des alten Zentrums eingesetzt hatten. Zwar war das Zentrum mit Helene Wessel als Sprecherin
im ersten Bundestag vertreten, geriet aber mit seiner stark föderalistischen, sozialistischen und im
Bildungsbereich klerikalen Politik zwischen alle Stühle.
Die KPD scheiterte, obwohl sie eine der vier Lizenzparteien gewesen und während der Gründungsphase der
Bundesrepublik in allen wichtigen parlamentarischen Gremien vertreten war. Die KPD trat wie die SED im
Osten zunächst für einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus ein. Als es aber auf der internationale
Ebene zum Bruch zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien eben wegen der Frage eigener Wege zum
Sozialismus kam, vollzog die KPD 1948 einen Kurswechsel, erkannte die unbedingte Führung der KPdSU an
und stellte schließlich 1952 den revolutionären Klassenkampf in den Mittelpunkt ihrer Politik. Zuvor war es zu
„Säuberungen“ in den Reihen der KPD gekommen. Die KPD lehnte das Grundgesetz ab, beteiligte sich aber mit
mäßigem
Erfolg
an
den
Bundestagwahlen.
Als
im
April
1956
ein
Verbotsantrag
vor
dem
Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde, widerrief die KPD ihr revolutionäres Programm und wollte es
durch ein Bekenntnis zum Parlamentarismus ersetzen. Zu dieser Zeit war sie nur noch in Bremen und
Niedersachsen mit insgesamt 6 Abgeordneten vertreten. Als das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956
die Verfassungswidrigkeit der KPD festgestellt hatte, war diese schon zu einer bedeutungslosen Splitterpartei
geworden.
In der Geschichte des bundesrepublikanischen Parteiensystems hatte es nur zweimal den Fall gegeben, daß das
Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Partei festgestellt hatte und diese anschließend
verboten wurde. Vor der KPD hatte dieses Schicksal die SRP ereilt. In Niedersachsen (11%) und in Bremen
hatte diese Partei Erfolge erzielt. Auf Antrag der Bundesregierung erklärte das Verfassungsgericht die SRP am
23. Oktober für verfassungswidrig. Waren beim KPD-Verbot die revolutionären Zielsetzungen für das Verbot
maßgebend, so gab bei der SRP der undemokratische innere Aufbau der Organisation den Ausschlag.
Adenauers klare Politik der Integration der Bundesrepublik in das westliche Staaten- und Bündnissystem war in
der ersten Legislaturperiode heftig umstritten. Ein Hauptargument gegen die Politik des Bundeskanzlers war,
durch die Westintegration würde die Wiedervereinigung unmöglich. Zu einem zentralen Streitpunkt entwickelte
21
Manfred Rowold, Im Schatten der Macht. Zur Oppositionsrolle der nicht-etablierten Parteien in der
Bundesrepublik, Düsseldorf 1974, S. 26f
15
sich der Status des Saarlandes, das unter französischer Verwaltung stand. Adenauer wollte einen Beitritt der
Bundesrepublik zum Europarat, bei dem auch das Saarland als autonomes Gebiet assoziiert werden sollte.
Hauptwidersacher des Kanzlers auch in dieser Sache war der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher,22 der die
Einladung
des
Saarlandes
zum
Europarat
als
rechtswidrig
bezeichnete.
Sie
widerspräche
dem
Selbstbestimmungsrecht. Mit dem Europarat würde zudem der Weg zu einem nichtsozialistischen Europa
eingeschlagen. Gegen diese rigorose Oppositionspolitik des Parteivorsitzenden gab es innerhalb der SPD
Widerstand: Sozialdemokratische Reformer wie Max Brauer, Paul Löbe und Willy Brandt warnten vor einer
Isolierung der SPD und forderten die Partei auf, die sich in Europa bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Kurt
Schumacher starb am 20. September 1952 an den Folgen seiner schweren KZ-Haft und seiner Tabaksucht.
Obwohl sein Nachfolger als Parteivorsitzender, Erich Ollenhauer, Schumachers Politik im Wesentlichen
fortsetzte, gewannen die Reformer in der SPD an Boden und setzten sich schließlich 1959 innerparteilich durch.
Im Grunde war die Entscheidung für die Politik und Person Adenauers mit der Bundestagswahl 1953 gefallen.
Die alte Koalition aus CDU/CSU, FDP und DP wurde um den BHE erweitert, um eine 2/3-Mehrheit für
Verfassungsänderungen zugunsten der Wehrpolitik zu sichern.
Doch die Viererkoalition war von starken inneren Spannungen geprägt. Hauptstreitpunkte waren die Saar- und
die Wahlrechtsfrage. Mit seinem Ziel einer „Europäisierung“ der Saar stieß Adenauer auf heftigen Widerstand
auch bei der FDP und beim BHE. Und als der CDU-Politiker Paul Lücke mit Parteifreunden einen
Wahlrechtsentwurf vorlegte, bei dem 60% der Abgeordneten direkt und 40% über Listen ohne jeden Ausgleich
gewählt werden sollten, war die Unruhe bei der FDP groß. Dieses „Grabenwahlsystem“ hätte ihren Einfluß
erheblich geschmälert.
Adenauer brachte das Wahlrecht mit der Saarfrage in Verbindung. Im November 1954 drohte er der FDP, bei
einer Ablehnung des Saarstatus müßten die Liberalen aus der Koalition ausscheiden, und es werde das reine
Mehrheitswahlsystem eingeführt. Daraufhin machte der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler23 die Zustimmung
seiner Partei zu den Wehrgesetzen von einer befriedigenden Lösung der Wahlrechtsfrage abhängig. Dehler
verwies auf die seit Dezember 1954 in Bayern bestehende Viererkoalition aus SPD, FDP, BP und BHE gegen
die CSU. In sechs weiteren Bundesländern, so Dehler, ließe sich die CDU mit Hilfe der SPD in die Opposition
drängen, und dann werde es im Bundesrat keine Mehrheit für des Kanzlers Wahlrechtspläne geben. Daraufhin
zog Adenauer seinen Wahlrechtsentwurf zurück.
Als im November 1954 die Abstimmung über das Saarabkommen im Kabinett stattfand, stimmten die vier FDPMinister nicht zu. Bei der Abstimmung im Bundestag im Februar 1955 votierten die FDP und der BHE gegen
das Abkommen. Die Bundesminister stimmten jedoch mit dem Kanzler.
Die Folge war das Platzen der Koalition. Die BHE-Bundesminister Oberländer und Kraft verließen ihre Partei
und hospitierten bei der CDU/CSU, zwei BHE-Abgeordnete wechselten zur FDP, und die Restfraktion des BHE
ging in die Opposition. Auch zwischen der Union und der FDP kam es zum offenen Bruch: Entsprechend der
Ankündigung Dehlers wurde der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, mit einem
konstruktiven Mißtrauensvotum der SPD und FDP durch den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff ersetzt. Dieser
Wechsel im größten Bundesland war ausschließlich aus bundespolitischen Gründen herbeigeführt worden: Die
CDU wolle ihre Koalitionspartner mittels des Wahlsystems zerstören und in der Saarfrage deutsche Interessen
aufgeben. Im Bundesrat hatte die Bundesregierungskoalition ihre 2/3-Mehrheit verloren. Bei der FDP gab es
22
23
Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995
Udo Wengst, Thomas Dehler 1897 – 1967. Eine politische Biographie, München 1997
16
daraufhin eine unionstreue Abspaltung von 16 Abgeordneten, unter ihnen die vier Bundesminister. Diese
Abspalter gründeten 1959 die „Freie Volkspartei“ (FVP), die sich im Parteiensystem nicht behaupten konnte.
In dieser Zeit der Konflikte war Adenauer innerhalb der Union zunächst die alleinige und unumstrittene
Autorität. Die CDU wurde als „Kanzlerwahlverein“ bezeichnet. Trotz der Streitereien mit seinen
Koalitionspartnern setzte der Kanzler die Grundlinien seiner Politik der Westintegration durch. Doch just zu der
Zeit, als „der Alte“ seine Ziele erreicht hatte - die Bundesrepublik war 1955 souveränes Mitglied der NATO
geworden, und die soziale Marktwirtschaft schaffte das „Wirtschaftswunder“ - regten sich in der Partei Kräfte,
die die Machtfülle des Kanzlers beschränken wollten. Gegen den Willen des Kanzlers gab ihm ein
Bundesparteitag vier statt zwei Stellvertreter im Amt des Parteivorsitzenden bei, unter anderen Karl Arnold. Die
CDU begann, sich vom Patriarchen zu emanzipieren und bildete allmählich eine eigene Organisation. Der
Wandel vom Kanzlerwahlverein zur modernen Parteiorganisation setzte ein.
Doch zunächst erzielte die Union mit Konrad Adenauer den größten Erfolg ihrer Geschichte: Mit der legendären
Parole „Keine Experimente“ ging sie 1957 in den Wahlkampf und gewann die absolute Mehrheit. Die
CDU/CSU regierte mit ihrem Satelliten DP allein, die SPD und die FDP befanden sich in der Opposition.
Trotz des großen Wahlsieges wurde immer häufiger vom „Ende der Ära Adenauer“ gesprochen. Als er die
außen- und wirtschaftspolitischen Grundlagen der Bundesrepublik geschaffen hatte, war der Kanzler 81 Jahre
alt. Er sollte noch sechs weitere Jahre regieren. Nach dem Ausscheiden des Patriarchen aus der Politik befand
sich die Union in einer Krise, die sie eigentlich erst 1982 überwunden hatte, als sie mit Helmut Kohl wieder an
die Macht gekommen war.
Das Wahlergebnis 1957 beschleunigte bei der anderen großen Partei, der SPD, den Reformprozeß. Infolge des
schlechten Wahlergebnisses schwand die Autorität des Parteivorsitzenden Ollenhauer. 1958 wurden mit Willy
Brandt, Herbert Wehner und Fritz Erler Reformer in den Bundesvorstand gewählt. Der Vorstand beauftragte eine
Kommission mit der Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms, das 1959 in Bad Godesberg verabschiedet
wurde. Die SPD erkannte die von den Regierungen Adenauers geschaffenen Grundstrukturen der
Bundesrepublik an und entfernte sich vom Typ der marxistisch beeinflußten Klassenpartei hin zur
unideologischen, für alle Gruppen in der Gesellschaft offenen Volkspartei. In Godesberg sagte Fritz Erler, der
Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag: „Wir kämpfen nicht gegen den Staat, sondern um den Staat, und
zwar nicht um einen Staat der fernen Zukunft, nicht erst um den Staat im wiedervereinigten Deutschland,
sondern auch und gerade um den Staat in dieser Bundesrepublik, die wir regieren wollen und werden.“ Für die
Bundestagswahl 1961 wurde der junge Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt, 24 als
Kanzlerkandidat nominiert. Gegen den „Alten aus Röhndorf“ sollte er - ganz im Stil amerikanischer
Wahlkämpfer - Frische, Jugend und Zukunft personalisieren. Zur Vorbereitung dieses Wahlkampfes hatte sich
der spätere Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Schütz, in die USA begeben, um dort die erfolgreiche
Kampagne John F. Kennedys gegen Richard Nixon zu studieren.
In der CDU mußte derweil Adenauer Ludwig Erhard,25 den ungeliebten „Vater des Wirtschaftswunders“, als
Kronprinz neben sich dulden. Der Wahlslogan der CDU 1961 lautete „Adenauer/Erhard und die Mannschaft“.
Auch in der FDP hatte sich in der Zeit von 1957 bis 1961 ein Wandel zu einer moderneren Parteiorganisation hin
vollzogen. Der schroffe Franke Thomas Dehler wurde nach einer Übergangszeit unter Rheinhold Maier durch
Erich Mende als Parteivorsitzendem ersetzt. Mende war ein stolzer Ritterkreuzträger und ein national
24
25
Peter Merseburger, Willy Brandt 1913 – 1993. Visionär und Realist, Stuttgart/München 2002
Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München / Landsberg a. L. 1996
17
ausgerichteter Rechtstaatsliberaler. Er ging in den Wahlkampf mit dem Ziel einer erneuten Koalition mit der
CDU, aber ohne Adenauer.
Überlagert wurde der 1961er Wahlkampf durch den Bau der Mauer in Berlin. Willy Brandt bekam als
Regierender Bürgermeister riesige Medienaufmerksamkeit. Er war „vor Ort“, während man Adenauer vorwarf,
zu spät nach Berlin gekommen zu sein. Willy Brandt war allenthalben präsent. Beim Besuch des amerikanischen
Präsidenten Kennedy wirkte er wie dessen natürlicher Partner, während jedermann sah, daß zwischen dem
Präsidenten und dem Bundeskanzler die „Chemie nicht stimmte“. Die Wahlen von 1961 wurden von allen
Beteiligten auch als eine Entscheidung über die Ablösung Adenauers aus der deutschen Politik begriffen.
Während die FDP jenen Kräften in der Union Hilfe versprach, die Adenauer durch Erhard ersetzen wollten,
stellte die SPD dem greisen Kanzler die personelle Alternative des jungen Willy Brandt gegenüber. Innerhalb
der Union wußte man zwar, daß Adenauer abgelöst werden müßte, über das Wie und Wann aber bestanden keine
klaren Vorstellungen, zumal der Kanzler selber sich mit Energie, List und Tücke gegen seine Ablösung wehrte.
Nach einigem Koalitionsgerangel, in dessen Verlauf Adenauer auch einmal die SPD als möglichen
Koalitionspartner ins Gespräch brachte, einigten sich Union und FDP auf eine befristete Kanzlerschaft
Adenauers. Der FDP wurde das als „Umfall“ angekreidet. Seither haftet das Etikett „Umfallerpartei“ an ihr.
Erich Mende blieb der Regierung fern. Er wurde erst Vizekanzler als am 16. Oktober 1963 Ludwig Erhard
tatsächlich zum zweiten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Die „Ära Adenauer“ war beendet. Das
Parteiensystem befand sich in einer Umbruchphase.
3.
Die Kulturrevolution der 68er
Durch die Zwischenzeit waren Berlin (-West) einerseits und (Berlin (-Ost) mit Brandenburg andererseits zwei
Welten geworden. An der Freien Universität Berlin fanden Seminaren statt, die auch von den Kommilitonen
Rudi Dutschke und Bernd Rabehl besucht wurden. Im Wintersemester 1964/65 hielt Prof. Otto Stammer 26 ein
Oberseminar ab zum Thema: "Demokratischer Sozialismus und
Marxismus".
Dieses Seminar hatte von
vornherein etwas Provokantes, denn hinter dem vordergründig theoretischen Titel war eine Auseinandersetzung
mit dem Godesberger Programm der SPD beabsichtigt. Stammer, der von den Studenten wegen seiner
Gradlinigkeit und glänzenden Rethorik geliebte Professor
der Soziologie, war alter Sozialdemokrat und
herzlicher Gegner des Godesberger Reformprogramms seiner Partei aus dem Jahre 1959. Daraus und
insbesondere aus seiner Abneigung gegen Herbert Wehner machte er keinen Hehl. Das war mutig an einer
Hochschule, wo es ansonsten zum guten Stil zählte, Politisches nur höchst kodiert anzusprechen.
Das Seminar sollte ein Zerriß des Godesberger Programms werden. Innerhalb und außerhalb der SPD hatte
Stammer immer wieder kritisiert, daß dies kein Grundsatzprogramm sei, weil ihm keine umfassende
Gesellschaftsanalyse vorausging. Das Seminar würde nach den Vorstellungen seines Leiters auch zeigen, daß der
Marxismus trotz aller Fehlentwicklungen im Osten und aller Verteufelungen im Westen für den
Sozialwissenschaftler ein seriöser Ansatz der Gesellschaftsanalsyse war.
26 Otto Stammer, Prof. Dr. rer.pol., geb. 1900, war von 1925 bis 1929 politischer Redakteur und Leiter des
steirischen Arbeiterbildungswerkes, von 1939 bis 1932 Dozent und Leiter der Arbeiter-Wirtschaftsschule in
Peterswaldau, mußte bei den Nationalsozialisten seine Dozententätigkeit aufgeben, war 1937 bis 1948 in der
Industrie tätig und wurde 1951 Prof. für Soziologie an der Freien Universität Berlin sowie 1954 Leiter des
dortigen Instituts für politische Wissenschaften.
18
Für das damalige geistige Klima der Bundesrepublik war das eine politische Provokation. Im Verlaufe der
Veranstaltung, deren Teilnehmer zum großen Teil später selber Professoren wurden, geschah etwas
Ungeheuerliches: Der Student Dutschke kritisierte nicht etwa im angemessenen Seminarton, sondern in seiner
später bekannt gewordenen Dämagogik: "Otto Stammer werfe ich vor, daß er hier hinter akademischen Mauern
die revisionistische SPD attackiert, anstatt sich aktiv am Kampf dagegen zu beteiligen!" Es war eine
Tabuverletzung, einen Professor ohne seinen Titel anzusprechen und insbesondere den so geachteten Stammer
direkt anzugreifen. Im Seminar wurde damit ein Diskssionsstand deutlich wie er im SDS vorherrschte. Der SDS
("Sozialistischer Deutscher Studentenbund") war bekanntlich der beim Parteivorstand in Ungnade gefallene
ehemalige Studentenverband der SPD27 und Wegbereiter der Außerparlamentarischen Opposition.
Die Abkapselung des Ostens durch die Mauer und die damit einhergehende Verteufelung nicht nur des realen
"Sozialismus", sondern auch seiner theoretischen Grundlagen bewirkten bei der studentischen Jugend das
Bedürfnis, selber zu prüfen, was an diesen Grundlagen dran ist, ob sie in der DDR falsch umgesetzt waren oder
immanent zu Zuständen wie im anderen Teil Deutschlands führen mußten. So kam es im Schatten der Mauer
gerade im Westen Berlins zu einer Marxismus-Renaissance. Prof. Lieber hielt Vorlesungen über den
"Stamokap", den staatsmonopolistischen Kapitalismus, die wie Verschwörungsversammlungen besucht wurden
und bei denen alles Gesagte von den Studenten förmlich aufgesaugt wurde. Sie besorgten sich Originaltexte von
Marx und Engels. Als die Mauer vom Westen her etwas durchlässiger wurde, erwarben viele Studenten
sämtliche Ausgaben der 36- bändigen Ausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED mit
den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels.28
Brav setzten sich die Eleven mit Texten folgenden Charmes auseinander: "Soweit Unterschied zwischen capital
fixe und capital ciculant in bezug auf die individuelle Konsumtion als Gesichtspunkt hereinkommt, so ist dieser
schon damit gegeben, daß das capital fixe nicht als Gebrauchswert in die Zirkulation eingeht. (Vom Samen in
der Agrikultur, da er sich vervielfältigt, geht / ein Teil als Gebrauchswert in die Zirkulation ein.) Das nicht-alsGebrauchswert-in-die-Zirkulation-Eingehen unterstellt, daß es nicht zum Gegenstand der individuellen
Konsumtion wird."29
Die West-Berliner Studenten saßen in Zirkeln in "Kapitalkursen" zusammen und versuchten, den Inhalt der
Abhandlungen des Meisters zu verstehen und zu erlernen. In Anspielung auf die jeweils zu zehn Ost-Mark
erwerblichen und in blaue Plastikdeckel eingefaßten Bände der Gesamtausgabe hieß es - halb spöttisch, halb
respektvoll - , die Studenten hätten sich "blaugelesen". Aber es war weniger die komplizierte und etwas
verstaubt wirkende Botschaft, die beispielsweise den Soziologie-Studenten letztlich von den Kapital-Kursen
abschreckte, sondern es war das Verhalten des Botschafters - des Kursleiters - , das zu einem Abbruch der
Kursteilnahme führte. Dieser versuchte nicht, die Texte offen zu diskutieren und sie dadurch zu erklären,
sondern war darauf bedacht, die Botschaft zu verkünden. Das geschah auch mit moralischem Druck: "Wenn Ihr
das nicht so seht ,seid ihr entweder zu blöd, es zu kapieren, oder ihr seid nicht bereit, Euren kleinbürgerlichen
27 s. Tilmann Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Der Sozialistische Deutsche
Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Berlin 1977, S. 64 ff. Die Auseinandersetzung um das
Godesberger Programm war ein Hauptanlaß für den Verstoß des Studentenverbandes durch die Mutterpartei.
28 Institut für Marxismus beim ZK der SED (Hg.), Karl Marx/Friedrich Engels, Werke 1 bis 36 sowie
Ergänzungsbände, Berlin 1967
29 Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau (Hg.), Karl Marx, Grundrisse der (Rohentwurf politischen Ökonomie)
1887 - 1858, Anhang 1850 - 1859, Berlin 1953
19
Interessenstandpunkt zu verlassen!" Dem Studenten dämmerte es, daß das Fehlverhalten des Führungspersonals
sowohl in der DDR als auch im Kapital-Kurs etwas mit der Botschaft zu tun haben mußte. Ihr schon bei Marx
angelegter und von Lenin pointierter Anspruch auf absolute, weil angeblich wissenschaftlich fundierte, Wahrheit
war die Quelle des diktatorischen und illiberalen Verhaltens vieler Menschen, die im Namen des Marxismus
auftraten, ob als Politiker oder Wissenschaftler.
Die Marx- und Theorie-Versessenheit insbesondere des SDS und einiger seiner Protagonisten entwickelte trotz
vieler Vorbehalte bei großen Teilen der Studenten in Berlin eine Dynamik, die zum Medium der Kritik der
jüngeren Generation an zahlreichen Eigenschaften der westdeutschen Gesellschaft wurde. Schon in der "SpiegelKrise" im Jahre 1962 und in der Notstandsdebatte danach wurde deutlich, daß gerade die studentische Jugend
einen Widerspruch zwischen dem demokratischen Anspruch und der Wirklichkeit der Republik empfand. Diese
Reserve gegenüber dem politischen System wurde größer, als im Dezember 1966 in Bonn eine Große Koalition
zwischen CDU/CSU und SPD gebildet wurde. Daß in dieser Koalition der ehemalige NSDAP-Parteigänger Kurt
Georg Kiesinger Kanzler und der ehemalige Emigrant Willy Brandt Außenminister waren, wurde von offizieller
Seite als innere Aussöhnung deklariert, bei großen Teilen der jungen Generation aber als moralisch verwerflich
empfunden.
Es kam hinzu, daß damals angesichts des Vietnam-Krieges Zweifel an der moralischen
Unantastbarkeit der USA aufkeimten und daß eine Reform des Bildungssystems notwendig schien, wollte man
in der Bundesrepublik keinen "Bildungsnotstand" haben.
Diese und weitere Legitimationsdefizite kumulierten, als am 2. Juni 1967 beim Besuch des Schahs von Persien
in Berlin der Student Benno Ohnesorg durch den Schuß eines Polizeibeamten getötet wurde. Der Vorgang und
die anschließenden Versuche der Vertuschung
durch den Senat von Berlin, einhergehend mit einer
Verteufelungskampange "der Studenten", löste in Kreisen der akademischen Jugend eine Radikalisierungswelle
aus.
Die Differenzen mit dem SDS und den Botschaftern des Marxismus-Leninismus rückten in den
Hintergrund: Auch liberale und konservative Angehörige der Universitäten beteiligten sich an Demonstrationen,
Vollversammlungen oder "sit-ins". Berlin, die deutsche Spaltung und gar Brandenburg waren in dieser Zeit gar
kein Thema. Der Konflikt zwischen "Establishment" und "Außerparlamentarischer Opposition" beherrschte die
Szene, und man fühlte sich eins mit ähnlichen Bewegungen in Berkley/ USA oder in Paris.
In jenen Jahren wurden die Weichen gestellt für sehr unterschiedliche politische Wege jener Aktivisten, die man
im Nachhinein "die 68er" nennt. Während Rudi Dutschke , den viele den Kopf der Studentenbewegung nannten,
die Parole vom "langen Marsch durch die Institutionen" ausgab, veröffentlichte die "Kommune I" am 24. Mai
1967 ein Flugblatt, das angeblich als Satire gemeint war, aber von vielen als Aufforderung zum Terror
verstanden wurde:
"Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?
Bisher krepierten die Amis in Vietnam für Berlin. Uns gefiel es nicht, daß diese armen Schweine ihr
Cocacolablut im vietnamesichen Dschungel verspritzen mußten. Deshalb trottelten wir anfangs mit Schildern
durch leere Straßen, warfen ab und zu Eier ans Amerikahaus und zuletzt hätten wir gern HHH in Pudding
sterben sehen. Den Schah pissen wir vielleicht an, wenn wir das Hilton stürmen, erfährt er auch einmal wie
wohltuend eine Kastration ist, falls überhaupt noch was dranhängt...es gibt böse Gerüchte.
Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden - die Bevölkerung konnte immer nur
Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh
heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiliogen: sie zünden ein Kaufhaus an,
dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht
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mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergießen. Ab heute geht er in die
Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine
Zigarette in der Ankleidekabine an. Dabei ist nicht unbedingt erforderlich, daß das betreffende Kaufhaus eine
Werbekampagne für amerikanische Produkte gestartet hat, denn wer glaubt noch an das "made in Germany"?
Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in
einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genausowenig wie beim Überschreiten der
Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der
Marines nach China.
Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben:
burn, ware-house, burn!"
Als Mitglied der Universität konnte man den sich anbahnenden Terror erkennen, als im November 1968 ein
dem SDS verbundener Kollege mittags im Restaurant verkündete: "Heute abend fliegen Steine!" Und am Abend
kam es tatsächlich zu einer "Schlacht am Tegeler Weg".30
Zur gleichen Zeit tagte der Ortsverein
Wedding der SPD. Den Vorsitz führte eine Abgeordnete, die
Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin war. An Seminardiskussionen Gewöhnte waren überrascht
von Form und Inhalt der Veranstaltung. Daß die Diskussion im urberliner Straßenjargon geführt wurde, irritierte
etwas. Daß aber die zu geltende Meinung von der Vorsitzenden vorgegeben und zögerliche Abweichungen
einzelner Diskutanten von der Mehrheit sofort rüde niedergeredet wurden, schreckte ab. Man fühlte sich an den
Dortmunder Parteitag der SPD vom 1. bis 5. Juni 1966 erinnert. Im dortigen Arbeitsausschuß "Mitgliederpartei,
Massenmedien und Verbände" kam es zu einer Kontroverse zwischen dem fränkischen Delegierten Bruno
Friedrich, der mehr innerparteiliche Demokratie forderte, und Herbert Wehner. Mit an physische
Gewaltanwendung grenzender lautstarker Demagogie fiel Wehner dabei über Friedrich her, so daß Beobachter
an die ihm aus Filmen bekannten Brülltiraden von Naziführern erinnert wurde. Bei Diskussion über die
Studentenbewegung im Berliner Abgeordnetenhaus dagegen, war es allein der Vertreter der FDP, Hermann
Oxfort, der eine differenzierte Analyse vortrug, während von den anderen Rednern nur verurteilt wurde. Solche
Beoachtungen führten manche Jungakademiker zur FDP. Die Parole "Mehr Demokratie wagen" entsprach genau
dem politischen Empfinden der Beigetretenen. Ob Rudi Dutschke bei seinem Marsch durch die Institutionen an
die FDP gedacht hatte, ist allerdings eher fraglich.
Als Benno Ohnesorg am 2. Juni in der Krummen Straße von dem Polizeibeamten Kurras erschossen wurde,
erreichte die Sudentenrevolte ihren emotionalen Höhepunkt. An jenem Tag hatten Berliner Studenten gegen den
herzlichen Empfang eines Potentaten, des Schahs von Persien, durch den Berliner Senat demonstriert. Eine
demokratisch orientierte Regierung sollte keinen Herrscher empfangen, der Geheimdienste unterhielt, politische
Gen verfolgte, selbst in Deutschland “Prügelperser”einsetzte und im übrigen den Pomp stätbarocker Fürsten
entfaltete.
Daß der angeblich unpolitische Ohnesorg bei jener Demonstration sein junges Leben lassen mußte, weil das
“Establishment” - heute würde man sagen: die “politische Elite” - vor allem von der Springer-Presse gegen die
Studenten aufgehetzt war, erfüllte die Mehrheit der Studierenden mit tiefer Trauer und großer Wut.
30 Der 1993 verstorbene FU-Professor und Theologe, Helmut Gollwitzer, ein vehementer Unterstützer der
Studentenbewegung, meldete nach der "Schlacht" mit der Polizei im Auditorium Maximum der FU bei einer
Vollversammlung Widerspruch gegen die Gewaltanwendung, die Menschenleben gefährdet hätte, an. Er wurde
dafür ausgebuht.
21
Nach Ohnesorgs Tod setzte sich ein Konvoi von Kleinwagen auf den Weg über die Transitautobahn nach
Helmstedt. Die Autos waren mit Trauerfloren versehen und wurden von den “Grepos” - Grenzpolizisten - der
DDR höflich behandelt, was ungewöhnlich war. Noch Wochen später sah man überall auf den Straßen WestBerlins “Enten” - “Deux Chevaux”, alte “VW-Käfer” - oder “R4s” - ” Renault 4" - mit schwarzen Bändern an
den Rückspiegeln.
Das war für damalige schon eine kleine poltische Bewegung. Doch von “68ern” sprach zu der Zeit noch
niemand.
Später wurde Rudi Dutschke, der Studentenführer, von einem verhetzten Jugendlichen auf dem Kurfürstendamm
angeschossen. Dutschke war Moralist, Sozialist, Theoretiker und empfand sich als Revolutionär. Mit seiner
rauhen Stimme entwickelte er auf Massenversammlungen jene Diktion und Rhetorik, durch die sich die
Studenten angesprochen fühlten. Wegen seiner Popularität war er unter Insidern umstritten, von seinen
Kommilitonen überwiegend geachtet, von der Springer-Presse als Chaot und Wüstling verteufelt. Die Nachricht
von dem Anschlag verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer. Spontane Versammlungen fanden statt, und
immer wieder hieß es : “Springer hat mitgeschossen!”
Die Aufgebrachten drängte es nach Aktionen. Diesmal wollten sie sich nicht mehr mit schwarzen Stoffbändern
an den Autos begnügen. Die Diskussion über Gewaltanwendung - gegen Sachen, gegen Menschen? - kam auf.
Ein große Menge traf sich vor dem Springerhaus in der Kochstraße. Es knisterte, die Stimmung war gespannt.
Dann gingen plötzlich Autos aus dem Fuhrpark des Zeitungskonzerns in Flammen auf, und das Glasportal des
Gebäudes zerbarst in tausend Stücke. Dieser Protest hatte für einige Drahtzieher - die es nun schon deutlich gab Konsequenzen. Einer von ihnen war der “APO-Anwalt” Horst Mahler. Er wanderte später ins Gefängnis und
verlor seine Konzession. Später tummelte er sich in der rechtsradikalen Szene.
Rudi Dutschke aber starb Jahre nach dem Attentat an dessen Folgen einen späten, frühen Tod. Er war der
eigentliche 68er.
Doch diesen Begriff gebrauchte niemand, weder beim Ohnesorg-Tod, noch beim Dutschke Attentat. Die
Bewegung war dafür stets zu vielschichtig. Sie war entstanden aus der Empörung junger Menschen über den
Widerspruch zwischen Moral und Realität des sich demokratisch gebärdenden deutschen Westens nach 1945.
Angefangen hatte es 1961 mit der “Spiegel”-Affaire, als sich unter jungen Intellektuellen Empörung über die
rechtswidrigen Eingriffe der Adenauer-Regierung gegen die Pressefreiheit breit machte. Der Held der Stunde
war der Herausgeber des Nachrichtenmagazins, Rudolf Augstein - damals wie heute sicher kein “60er”.
Nach der “Spiegel-Affaire” wuchs der Realitätsschock der Nachkriegsjugend, als offenbar wurde, daß das bis
dahin heiß geliebte Vorbild der fünfziger Jahre, die USA, einen ungerechten Krieg gegen ein kleines Volk in
Südostasien führte. Dann sahen die Studierenden, daß ihre so hochgestochen daherkommende Alma Mater
ziemlich patriarchalische Strukturen hatte und fragwürdige Inhalte vermittelte. Diese und weitere
Enttäuschungen empfanden Studierende als
Ausdruck der die herrschenden Klassen stützende politische
Struktur. Viele, jedoch längst nicht alle von ihnen gaben ihren Empfindungen Ausdruck, zuerst verbal - dann bis
hin zum Terror aktiv. Die permanenten oder gelegentlichen Aktivisten wurden getragen und auf den Weg gesetzt
von einer Infrastruktur des Protestes. Hier waren die eigentlichen Drahtzieher und ihre Helfer versammelt.
Häufig wird der “SDS”, in dem auch Dutschke aktiv war, als Kern der Studentenbewegung angesehen. Der
“Sozialistische Deutsche Studentenbund” war eine einstige Jugendorganisation der SPD. Der Verband mochte
nicht vom Studium marxistischer Texte lassen, als die SPD mit ihrem Godesberger Programm auf Reformkurs
ging. Der SDS wurde daher von der Mutterpartei verstoßen. Auch der als Ersatz gegründete
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“Sozialdemokratische Hochschulbund” (“SHB”) verhielt sich nicht linientreu. Er betrieb Marxstudien und
veranstaltete Aktionen an der Universität in etwas weniger radikaler Weise als der SDS. Einer ihrer Wortführer
war Knut Nevermann, Sohn des Hamburgischen Bürgermeisters und heute oberster Beamter Gerhard Schröders
“Staatsministers für Kultur”. Ein 68er?
In einer großbürgerlichen Wohnung in der Charlottenburger Wielandstraße hatte sich zudem der
“Republikanische Club” gegründet, in dem sich aufsässig Fühlende verschiedener Richtungen versammelten das war der Kabarettist Wolfgang Neuss ebenso anzutreffen wie der fast überall unvermeidliche Horst Mahler,
aber auch “liberale Scheißer” - wie der Slogan hieß - waren geduldet.
Schließlich gab es Wohngemeinschaften - “Kommunen”. “Kommune 1" und “Kommune 2" würzten die
Bewegung mit kulturrevolutionären Aktionen wie kollektiven Nacktphotos, aber auch schon mit zweideutigen
Flugblättern wie “Burn, warehouse, burn”. Fritz Teufel und Rainer Langhans gaben die Clowns der Bewegung.
Die Parole “Teufel ins Rathaus” hatte ebenso Witz wie die Entgegnung des vor dem Richtertisch Gelandeten
nach der Aufforderung zum Erheben: “Wenn`s der Wahrheitsfindung dient...”
Immer wieder fanden an den Universitäten Vollversammlungen statt, immer wieder “ist ins”, später “go ins”. Es
wurde diskutiert, geredet, theoretisiert, gespottet und verhöhnt. Als Klaus Schütz, der Regierende Bürgermeister
von Berlin, das Audi Max der Freien Universität bei einer Vollversammlung besuchte, wurde zum Vergnügen
der Versammelten hinter dem Rücken des Bürgermeisters ein Schild hochgehalten: “Und solche Idioten regieren
uns.”
Die Stimmung wurde verbissener: Schütz polemisierte nach seinem Besuch an der FU, man müsse den “Typen
nur ins Gesicht schauen”. In der Springerpresse wurden “die Studenten” weiterhin als langhaarige Zottelfiguren
diffamiert. Berliner Werktätige verspürten schon `mal Lust, den “Chaoten” eins zu verpassen.
Doch von “68ern” war immer noch nicht die Rede. Es gab auch genügend viele Studenten, die stolz betonten,
mit den “Chaoten” nichts zu tun zu haben. Sie wollten, sagten sie, an der Uni lernen und dann Karriere machen.
Diese “68er” wurden damals gerne in erschreckten bürgerlichen Kreisen als die “wahren Studenten” präsentiert.
Es waren häufig dieselben Menschen, von denen viele sich heute - arriviert - gerne als aufsässige 60er
bezeichnen. In der Auto-Rezeption waren damals viel mehr Menschen durch die Straßen gezogen mit Bildern
von Che Guevara und einem “Ho, Ho, Ho Chi Min” auf den Lippen, als es jemals in der Wirklichkeit gewesen
sind.
Die “68er” sind ein Mythos. Die Studentenproteste haben eine Universitäts- und Bildungsreform ausgelöst,
deren egalisierende Auswirkungen heute beklagt werden. Sie waren das Hauptmedium
der politischen
Sozialisation einer Generation, deren Erfolgreiche sich heute gerne “politische Elite” nennen. Sie haben
Nachahmer in den zahllosen Bürgerinitiativen gefunden. Die Studentenproteste haben der in den fünfziger
Jahren formalen Demokratie Inhalte geben. Das “Mehr Demokratie wagen” Willy Brandts wäre ohne die
Proteste undenkbar gewesen. Die politischen Parteien erhielten infolge der so unrevolutionären Parole Rudi
Dutschkes vom “Marsch durch die Institutionen” Blutauffrischung. Und die “Grünen” können in den 60er
Vorgängen eine ihrer Quellen sehen.
Heute wollen viele dabei gewesen sein. Was gestern angefeindet und verpönt war, gilt - da es vorbei ist - im
Nachhinein als chic. Sich als 68er zu präsentieren, ist für viele heute eine Attitüde, sich interessant zu machen.
Rudi Dutschke war der 68er. Auch die Nevermänner können mit Recht behaupten, sie seien welche gewesen.
Horst Mahler aber auch. Die Studiendirektoren oder Bankvorstände Nils oder Peter Krause oder Meyer aber
flunkern meist, wenn sie sich als “68er” bezeichnen.
23
Und andere drehen die Wahrheit um. Die innovatorische Wirkung der Bewegung war an der Gewaltfrage
gestoppt. Schon die Diskussion, ob Gewalt gegen Menschen erlaubt sei oder “nur” Gewalt gegen Sachen, hat
eine repressive Wirkung gehabt, denn sie fiel hinter den bis dahin ausgemachten Grundsatz des Gewaltmonopols
des Staates zurück. “Häuserkämpfer” und “Pflastersteinrebellen” waren so gesehen schon keine 60er mehr, noch
viel weniger die Leute von der “RAF” oder andere Terroristen. Die Gewaltbereiten haben die
Studentenbewegung zerstört, ihr die inhaltliche und personelle Basis genommen. Aus der Bewegung wurden
Sektierergruppen mit zunehmendem Realitätsverlust.
Josef Fischer ist sicher keiner, der es nötig hätte, mit einer gar nicht vorhandenen 68er Vergangenheit zu
renommieren. Daß er sich dennoch auf den Mythos 68 berief, kann eigentlich nur Verdrängung sein. Fischer
verdrängte, daß schlimme Prügelszenen und weiteres auch in den Siebzigern nicht die Deckung irgendeiner
demokratischen Bewegung gefunden haben. Die Fronten waren seinerzeit ebenso klar wie heute. Die Frankfurter
Szene war außerhalb des demokratischen Spektrums, und das einzugestehen, ist offensichtlich schwierig für
jemanden, der
Demokratie und Menschenwürde für die Maßstäbe seines politischen Handeln über alle
persönlichen Brüche hinweg bezeichnet.
Auch Fischer war kein 68er. Er stand offensichtlich wie andere auch eine Zeitlang außerhalb des vom
Grundgesetz gezogenen Rahmen. Diesen Rahmen hat er später gefunden und wurde einer der höchsten
Repräsentanten des darauf ruhenden politischen Systems. Als solcher durchlebte er Höhen und Tiefen eines
deutschen Spitzenpolitikers. Den Mythos „68“ allerdings konnte Fischer zu keiner Zeit zu recht in Anspruch
nehmen.
4.
Sozial-liberale Hoffnungen: Mehr Demokratie wagen und Entspannung
Ein Jahr nach der Regierungsbildung 1961 offenbarte die „Spiegel“-Affäre, wie sehr die Union unter dem
Ausklingen der Ära Adenauer in eine Krise geraten war. Auf Weisung der Bundesanwaltschaft wurden in der
Nacht vom 26. auf den 27. Oktober die Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ durchsucht.
Anlass war eine angeblich die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdende Veröffentlichung über das NATOManöver „Fallex 62“. Die Durchsuchung, die Festnahme von Journalisten und die harte Haltung Adenauers
(„Ein Abgrund von Landesverrat“) sowie des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß brachte eine intellektuelle und linksbürgerliche Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung und die reaktionär erscheinende Union auf.
Der Verteidigungsminister mußte demissionieren, und am 19. November 1962 zog die FDP ihre Bundesminister
aus dem Kabinett zurück. Wie es Adenauer schon 1961 getan hatte, so sondierten auch diesmal Unionspolitiker Paul Lücke und Freiherr von und zu Guttenberg mit der SPD - repräsentiert durch Herbert Wehner - die
Möglichkeiten eines Zusammengehens. Die SPD, vor deren möglicher Regierung Adenauer einst mit dem
Seufzer „armes Deutschland” gewarnt hatte, kam infolge der Krise der Union nach ihrer Bad Godesberger
Reform ins Spiel. Diesmal machten diese Gespräche die FDP wieder gefügig, und es wurde eine
Kabinettsumbildung vereinbart, bei der die FDP erreichen konnte, daß Adenauer sich festlegte, nach den
Parlamentsferien im Herbst 1963 zurückzutreten.
Im Jahre 1963 erfolgte dann nicht nur bei der CDU der Wechsel von Adenauer zu Erhard mit Erich Mende als
Vizekanzler und Minister für gesamtdeutsche Fragen. Auch bei der SPD gab es nach dem Tod Erich Ollenhauers
im Dezember einen Wechsel. Willy Brandt wurde SPD-Vorsitzender und gleichzeitig erneut Kanzlerkandidat.
Die Kanzlerschaft des populären Ludwig Erhard litt von Anfang an unter internen Querelen der Union. Da gab
es den außenpolitischen Streit zwischen den USA-orientierten „Atlantikern“, zu denen der von Erhard gestützte
24
Außenminister Gerhard Schröder gehörte, und den frankophilen „Gaullisten“. Hinter allen Sachstreits standen
stets Machtfragen. Insbesondere die CSU testete nach dem Abgang des „Alten“ aus, ob und wie sie ihre Stellung
unter dem „Dicken“ ausbauen konnte.
Bei der Bundestagswahl 1965 wirkten sich zaghafte Gewichtsverlagerungen im Verhältnis der parteipolitischen
Lager aus. Die CDU verfehlte knapp die absolute Mehrheit, die FDP verlor erheblich, und die SPD galt als der
Gewinner, der sich endgültig aus dem „30-%-Turm“ der fünfziger Jahre befreit hatte.
Die 2. Regierung Erhard hatte vor allem eine Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, die sich 1966 und
1967 in einer allgemeinen Rezession, einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Defizit des Staatshaushaltes
- im Wesentlichen als Folge von Wahlversprechen - gezeigt hatte. Beachtenswert ist, daß damals eine
Arbeitslosenzahl von 673 000 Menschen (Februar 1967) als bedrohlich und eine Ursache für das Erstarken der
rechtsradikalen NPD gesehen wurde. Im Bundeshaushalt 1967 (74 Mrd. DM) gab es eine Deckungslücke von
über 4 Mrd. DM. Die FDP lehnte die von der Union vorgesehenen Steuererhöhungen ab und machte das Ganze
zur Koalitionsfrage. Ein Kompromiß, dem die FDP-Minister zustimmten, wurde von der FDPBundestagsfraktion zu Fall gebracht, weil man in der Presse erneut als „Umfallerpartei“ bezeichnet worden war.
Wieder einmal zogen die Liberalen ihre Minister zurück, und nach dem 27. Oktober 1966 stand Ludwig Erhard
als Kanzler eines Minderheitenkabinetts da. Zuvor, im Juli, hatte es infolge von Landtagswahlen in NordrheinWestfalen einen Machtwechsel gegeben. Die SPD löste die CDU als stärkste Partei in Düsseldorf ab und regierte
fortan mit der FDP zusammen. In Bonn wurde das Zustandekommen der sozial-liberalen Koalition im größten
Bundesland als Schlappe des Kanzlers gewertet. Zugleich verzeichnete die NPD bei Landtagswahlen Siege, die
zu Lasten der CDU gingen und Zweifel an deren Integrationskraft aufkommen ließen. In Hessen beispielsweise
wählten am 6. November 1966 7,9% der Wähler die rechtsradikale Partei.
Die Zeichen standen auf Sturm. Unter CDU-Politikern breitete sich im Sommer 1966 der Wille aus, Erhard zu
stürzen, um die Macht im Bund nicht zu verlieren. Aber bei einer Bundestags-debatte am 4. Oktober 1966 sprach
der Unions-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel die mittlerweile legendären Worte „Erhard ist und bleibt
Bundeskanzler. Wir wünschen die öffentliche Debatte darüber zu beenden.” Nach für die CDU schlechten
Wahlergebnissen in Hessen gab Erhard dem Drängen insbesondere der CSU unter Führung von Franz Josef
Strauß nach. Die CDU/CSU-Fraktion nominierte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg
Kiesinger als Kandidaten für die Leitung einer Großen Koalition, die nun ausgehandelt wurde. Am 1. Dezember
1966 wurde Kiesinger 3. Kanzler der Bundesrepublik, und die SPD zog unter Vizekanzler und Außenminister
Willy Brandt zum ersten Mal in ein Bundeskabinett ein.
Obwohl durch sie die SPD ins Spiel gebracht wurde, gab es gerade bei den Sozialdemokraten, ihren Anhängern
und darüber hinaus in der linken und liberalen Öffentlichkeit viele Bedenken gegen die Große Koalition.
Befürchtet wurden eine unkontrollierbare Machtakkumulation, eine Verfestigung der Herrschaftsverhältnisse
und eine die Rechte der Bürger einschränkende Politik. Die von der Koalition behauptete innere Versöhnung der
ehemaligen Mitläufer und Gegner der Nationalsozialisten, symbolisiert durch die Zusammenarbeit des früheren
NSDAP-Mitglieds Kiesinger mit dem einstigen Emigranten Brandt, galt vielen als anstößig und unglaubwürdig.
Unvergessen waren die auch aus CDU-Kreisen geschürten Schlammschlachten gegen Brandt, den Emigranten.
Erster Ausdruck dieses Unbehagens war, daß bei der Wahl des Kanzlers mindestens 89 Koalitionsabgeordnete,
die meisten gewißlich SPD-Mitglieder, Kiesinger ihre Stimme verweigerten.
25
Mit ihrer verfassungsändernden Mehrheit setzte die Große Koalition das „Gesetz zur Förderung der Stabilität
und des Wachstums der Wirtschaft” - kurz: „Stabilitätsgesetz” - und die Notstandsgesetze durch. Das
Stabilitätsgesetz gab der Regierung haushalts- und wirtschaftspolitische Instrumente an die Hand, die bis dahin
beim Bundestag oder bei den Ländern gelegen hatten. So kann die Regierung bei einer Gefährdung des
gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes die Kreditaufnahme der Länder und Gemeinden begrenzen oder
Steuersätze bis zu 10% nach oben oder unten verändern. Die Notstandsgesetze sehen für den Fall eines inneren
oder äußeren Notstands vor, daß Grundrechte und Rechte des Parlamentes eingeschränkt werden dürfen: Im
Notstandsfall soll ein kleiner Ausschuß als Notparlament tätig werden. Es können Beschlagnahmungen erfolgen
und die Versammlungsfreiheit aufgehoben werden. Der Einsatz der Bundeswehr bei einem „inneren Notstand“
ist möglich.
Nicht realisieren konnte die Große Koalition ihr drittes Vorhaben der Wahlrechtsreform, das auf die Etablierung
eines Zweiparteiensystem mit Hilfe des Mehrheitswahlrechtes hinauslief. Gegen diese Wahlrechtspläne gab es
Widerstand vom linken Flügel der SPD, der eine innerparteiliche Schwächung befürchtete. Als dann durch
Gutachten und Analysen der Mehrheit der SPD-Funktionäre klar wurde, daß alle vom CDU-Innenminister Paul
Lücke vorgelegten Modelle der SPD und CDU/CSU zwar die alleinige Repräsentanz im Parlament sicherte, die
SPD aber zur ewigen Nr. 2 machen würde, ließ die SPD das Projekt fallen.
Mit ihrem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller betrieb die Große Koalition eine streng
keynesianische Wirtschaftspolitik31. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor verstand es nicht nur, mit neuen
Institutionen und Begriffen wie „Konzertierte Aktion“ (regelmäßige Zusammenkunft von Gewerkschaften,
Unternehmensverbänden, Regierung und anderer Wirtschaftsbeteiligten) oder „Mifrifi“ („Mittelfristige
Finanzplanung“) das Publikum zu unterhalten, sondern auch, die wirtschaftliche Lage tatsächlich zu verbessern.
Doch in der Öffentlichkeit gab es ein breites Unbehagen gegen die Große Koalition. Sie war nicht Ursache, aber
gewiß ein Auslöser für die „Außerparlamentarische Opposition” (APO) der studentischen Jugend. Die
Notstandgesetzgebung wurde als Bestätigung der Furcht vor einem autoritären Staat gesehen. Nicht nur die
Gewerkschaften, auch die Mini-Opposition der Liberalen kämpften dagegen an. Die unversehens aus der
Regierung gedrängte FDP bekam einiges vom Zeitgeist zu spüren. Politiker wie Karl-Hermann Flach, Werner
Maihofer oder Walter Scheel setzten in der Partei einen sozial-liberalen Kurs durch. Um den Preis der
Existenzgefährdung wurde die Mitglieder- und Wählerschaft weitgehend ausgetauscht.
Doch trotz gelegentlicher Berührungen blieb die FDP der APO fremd. Parteipolitisch ging die Hauptzielrichtung
hier gegen die SPD, denn der aus der SPD eliminierte Studentenverband SDS („Sozialistischer Deutscher
Studentenbund“) und auch sein parteioffizieller Nachfolger SHB („Sozialdemokratischer Hochschulbund“)
waren Hauptträger der APO und bedienten sich im Widerstand zur reformierten Mutterpartei marxistischer
Gesellschaftsanalysen zur Begründung ihrer Politik. Angekündigt durch die „Spiegel“-Affäre, beschleunigt
durch die Bildung der Großen Koalition, entzündete sich die APO zunächst an zwei Themen: dem Krieg der
Amerikaner in Vietnam und den Mängeln des Bildungswesens in Deutschland. Die USA – „Amerika“! - hatten
in den fünfziger Jahren in allem als demokratisch, gerecht, human und einfach vorbildhaft gegolten. Nun hatte
der Protest gegen den schmutzigen Krieg dieser Weltmacht gegen ein kleines Volk in der deutschen Gesellschaft
die Wirkung eines Tabubruchs. Entsprechend wütend waren die Reaktionen der Mehrheit der Bevölkerung und
des Staates darauf. Gerade die nun einsetzenden staatlichen Repressionen jedoch heizten die APO-Bewegung
weiter an.
26
Der „Imperialismus“ insgesamt war jetzt im Visier. So kam es zu studentischen Protesten, als der Schah von
Persien im Juni 1967 Berlin besuchte und der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden.
Die darauf folgende Protestwelle änderte einiges in der Bundesrepublik. Folgen der Studentenbewegung waren
eine umfassende Bildungsreform mit einer Ausweitung und Demokratisierung der Bildungsangebote von der
Schule bis zur Universität, das Aufkommen von parteiunabhängigen Bürgerinitiativen in vielen Bereichen des
Lebens und die demokratische Öffnung mancher Institutionen des Staates von den Leistungsverwaltungen
(„gläsernes Rathaus“) bis hin zu den Parlamenten, die nun ihre Sitzungen häufiger öffentlich abhielten und
Anhörungen – „Hearings“ genannt - veranstalteten. Auf der anderen Seite keimte in der Studentenbewegung
auch der Terrorismus, der mit den Mordaktionen der „Rote Armee Fraktion” (RAF) die dunkelsten Tage der
Bundesrepublik brachte. Der Aufruf von Rudi Dutschke zum „langen Marsch durch die Institutionen“ führte
zwar der SPD und in geringem Maße auch der FDP studentenbewegte Mitglieder zu - die dort später manchmal
als „APO-Opas“ verspottet wurden -, doch keine der etablierten Parteien vermochte die durch die APO und ihre
Folgen geprägte Generation wirklich an sich zu binden. Themen wie der Umwelt- oder Datenschutz wurden
einer neuen Generation Kristallisationsmasse für die Gründung einer eigenen und erfolgreichen Partei, die der
„Grünen“.
Im übrigen ist es falsch, wenn behauptet wird, ein zentrales Thema der APO sei die erstmalige
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewesen oder der Aufstand der Kinder gegen ihre
Vätergeneration. Das hatte bei der Bewegung keine zentrale Rolle gespielt. Im Sinne einer politisch korrekten
Aufarbeitung des Nationalsozialismus hatte es sogar Schieflagen gegeben, beispielsweise bei den engen
Kooperationen radikaler Teile der APO mit der gegen Israel kämpfenden palästinensischen PLO.
Entgegen ursprünglicher Befürchtungen und wohl auch gefördert durch die Protestbewegung hatten sich die
Gemeinsamkeiten der Großen Koalition bald erschöpft. Es war nicht nur die Wahlrechtsreform, die nicht
zustande kam. Auch in gesellschaftspolitischen Fragen kamen die Partner nicht zusammen. Vor allem fand der
Außenminister Willy Brandt keine ausreichende Unterstützung bei der Union für seine Politik, die
Machtverhältnisse im Osten als Folge des 2. Weltkrieges anzuerkennen und dorthin Kontakte aufzunehmen.
Durch den Wandel der FDP zum Sozial-Liberalismus schien sich der SPD eine Perspektive jenseits der Union zu
eröffnen, falls die Wahlergebnisse von 1969 das erlauben würden.
Die sozial-liberale Phase hatte ein Vorspiel, eine richtige Ouvertüre: Im März 1969 fand in Berlin die Wahl des
Bundespräsidenten statt. Für die CDU/CSU kandidierte Gerhard Schröder, der vormalige Außenminister. SPDKandidat war Gustav Heinemann, einst Mitbegründer der CDU und erster Bundesinnenminister unter Konrad
Adenauer. Heinemann war Vorstands-mitglied der Rheinischen Stahlwerke in Essen und zugleich Präses der
Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Unter den Nazis war er in der Bekennenden Kirche
aktiv gewesen. Heinemann hatte 1950 sein Ministeramt niedergelegt als Protest gegen die Absicht des Kanzlers,
deutsche Truppen aufzustellen. Er gründete 1952 eine „Gesamtdeutsche Volkspartei“ (GVP), die zu den vielen
erfolglosen Parteien nach 1945 gehörte. Für die SPD zog er 1957 in den Bundestag ein und hielt dort im Januar
1958 eine bittere Rede der Abrechnung mit Konrad Adenauer und seiner „verfehlten Deutschlandpolitik”. Diese
Rede war so scharf, kühl und pointiert, daß die Unionsabgeordneten „wie vom Blitz getroffen“32 waren. Das
Tischtuch zur Union war zerschnitten.
31
32
John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1961
Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 58
27
Dieser Heinemann war als möglicher Bundespräsident eine Provokation für die CDU/CSU. Der Vorsitzende der
FDP, Walter Scheel, wollte die Wahl des Sozialdemokraten zum Nachweis der Koalitionsfähigkeit der FDP mit
der SPD machen und bereitete die Partei mit großem Einsatz auf die Wahl Heinemanns vor. In der Fraktion der
Bundesversammlung gab es drei Probeabstim-mungen, bis die FDP die zur Mehrheit notwendigen Stimmen der
SPD präsentieren konnte. Das war schwierig genug, denn die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung
waren knapp, und die Union hatte deutlich gemacht, daß Schröder die Wahl auch annehmen werde, wenn die
Stimmen der NPD für ihn den Ausschlag geben würden. Doch bei der Versammlung erreichten weder
Heinemann noch Schröder im 1. und 2. Wahlgang die notwendige Mehrheit. Mit 512:506 Stimmen wurde
Heinemann im dritten Wahlgang gewählt. Einsam verließ der geschlagene Schröder die Ostpreußenhalle. Die
SPD lud am Abend die FDP zu einer Siegesfeier in den „Philips-Pavillon” am Funkturm ein. Hier herrschte
Sektlaune, und die Verdächtigungen gegen die unsicheren Liberalen vom Nachmittag waren vergessen. Zwei
Tage später polarisierte Heinnemann wieder, indem er verkündete, es habe ein „Stück Machtwechsel”
stattgefunden.33
Nach der Bundestagswahl im September 1969 vollzog sich der tatsächliche Machtwechsel, weil mit der
SPD/FDP in Bonn die Vorherrschaft der Union gebrochen wurde. Obwohl die Union stärkste Fraktion geblieben
war, obwohl die FDP nur knapp über der 5%-Sperrgrenze lag und der neue Kurs dort weiter umstritten blieb,
gingen Willy Brandt und Walter Scheel das Bündnis ein. Am 21. Oktober 1969 wählte der Bundestag mit 251
gegen 235 Stimmen Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Die Union sprach von einer
Verfälschung des „Wählerwillens“ und strebte eine kurzfristige Rückkehr zur Macht an: Es stellte sich eine
Polarisierung des Parteiensystems ein.
Der neue Bundeskanzler kündigte in seiner Regierungserklärung unter dem Schlagwort „Mehr Demokratie
wagen“ das umfangreichste Reformprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik an. Das Hauptprogramm
der Koalition war die Ostpolitik mit der Anerkennung der DDR und der gesamten politischen Situation in
Osteuropa.
Die sozial-liberale Koalition empfand sich als politischer Ausdruck des „neuen Mittelstandes“, der aus einer
zunehmenden Zahl von hochqualifizierten, materiell abgesicherten Menschen bestehen würde. Dieser neue
Mittelstand brauche für seine Entwicklung Demokratie als durchgängiges Regulationsprinzip überall in der
Gesellschaft sowie Ausgleich und Versöhnung mit den Nachbarn Deutschlands auch im Osten. Tatsächlich
traten damals viele akademisch gebildete und sozial-liberal orientierte neue Mitglieder in die SPD und auch in
die FDP ein. Das aktuelle Problem war nur, daß mindestens bei der FDP der „alte Mittelstand“ - also
Selbständige, kleine und mittlere Unternehmer - noch immer stark verankert war und innerparteilich gegen die
neue Linie der FDP arbeitete, zumal der Verlust von 3,7% bei der Bundestagswahl die Parteiführung nicht
gerade gestärkt hatte. In Nordrhein-Westfalen organisierten sich die Gegner des Kurses der Parteiführung in
einer „National-Liberalen Aktion“ (NLA). Im Bundestag selber war der Bestand der Koalition gefährdet, was
der Öffentlichkeit deutlich wurde, als die liberalen Abgeordneten Erich Mende, Heinz Starke und Siegfried
Zoglmann im Oktober 1991 zur CDU/CSU übertraten. Das grundsätzliche Problem der Koalition war, daß sie
mit der Theorie vom neuen Mittelstand einem kurzlebigen und wenig verifizierten Konstrukt der
Sozialwissenschaft aufgesessen war, denn gegen Ende der sozial-liberalen Ära, bekamen die hochqualifizierten
Abhängigen Angst vor zu vielen Reformen vor allem der Wirtschaft und suchten flugs ihr Heil bei den
neokonservativen Versprechen Helmut Kohls.
33
a.a.O., S. 120ff
28
So kam es, daß die Regierung Brandt/Scheel im Innern Reformen voran trieb - beispielsweise für die
Hochschulen, vor allem Grundlagenverträge der neuen Ostpolitik vorbereitete, die Vier-Mächte-Verhandlungen
über West-Berlin initiierte - es aber im Bundestag mit Verweigerern, Abweichlern und Überwechslern zu tun
hatte. Die Basis für das gesamte Projekt schien dahinzuschmelzen.
Eigentlich war die Regierung Brandt/Scheel ein „Bündnis für die Neue Ostpolitik“,34 wie Arnulf Baring
formuliert. Mit großem Einsatz und unter hohem Druck hat die Regierung die Kontakte nach Osteuropa
geknüpft, Gesten der Versöhnung wie den Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des
Warschauer Ghettos gezeigt, Verträge verhandelt, die Abstimmung mit dem Westen nicht vergessen und alles in
aufgeheizter innenpolitischer Stimmung in einem labilen Parlament vertreten. Dabei ereignete sich bis dahin
Undenkbares: Am 19. März trafen sich Bundeskanzler Willy Brandt und der Vorsitzende des Ministerrates der
DDR, Willy Stoph. Die Menge rief „Willy, Willy!“, und es war klar, daß Stoph nicht gemeint war. Ebenso
bewegend war es, als im Dezember des gleichen Jahres Brandt und der polnische Ministerpräsident
Cyrankiewicz in der polnischen Hauptstadt die Warschauer Verträge unterzeichneten. Während die nun in der
Opposition befindliche CDU/CSU die neue Ostpolitik einerseits heftig bekämpfte, den durch sie geschaffenen
Tatsachen aber andererseits hinterher hechelte wie einst die SPD der Westpolitik Adenauers, fand der Kanzler
hohe internationale Achtung und Anerkennung. 1971 wurde Willy Brandt der Friedensnobelpreis zugesprochen.
Aber das immunisierte ihn nicht gegen die Feindschaft im Innern. Alles schien vergebens, als ein weiterer
Bundestagsabgeordneter der FDP das Regierungslager am 23. April 1971 verließ und die Koalition damit ihre
Mehrheit im Parlament verlor. Die Union hoffte nun auf den schnellen Weg zurück an die Macht und brachte
zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein konstruktives Misstrauensvotum ein. Willy Brandt
sollte als Kanzler gegen Rainer Barzel ausgewechselt werden. Doch überraschenderweise scheiterte der Antrag,
und als Informierte schon vor der offiziellen Verkündung den Namen „Willy Brandt“ ins Plenum riefen, brach
ein Jubel der Begeisterung bei der Koalition aus, während die Opposition in lähmendem Entsetzen verharrte.
Bei den Übertritten und auch bei der Abstimmung selber hatten wohl nicht alle Abgeordneten nur nach ihrem
Gewissen entschieden. Offensichtlich ist von beiden Seiten „geschmiert” worden. Noch in den neunziger Jahren
hatte
ein Gericht versucht,
Aufklärung zu schaffen,
als es um die
Rolle
des seinerzeitigen
Fraktionsgeschäftsführers der SPD, Karl Wienand, bei der Abstimmung gegen Brandt ging. Es wurde vermutet,
das Scheitern des konstruktiven Mißtrauensvotums beruhe darauf, daß an Unionsabgeordnete über Wienand
„Stasi-Gelder“ geflossen seien.
Willy Brandt blieb nach dem Überraschungsergebnis zwar im Amt, und der Bundestag ratifizierte, bei
Enthaltung der Union, die Ostverträge am 17. Mai 1972. Doch kurz zuvor war der Haushalt des Bundeskanzlers
nicht durch das Parlament gegangen, und sehr bald lief alles auf vorzeitige Neuwahlen hinaus. Diese fanden
nach einer gescheiterten Vertrauensfrage Brandts am 19. November 1972 statt.
Die Bundestagswahl hatte der Koalition eine glänzende Bestätigung gebracht. Zum ersten Mal wurde die SPD
stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag und konnte mit Annemarie Renger, der früheren Weggefährtin Kurt
Schumachers, das Amt des Parlamentspräsidenten besetzen. Doch im Triumph lag der Keim zur Krise. In der
SPD kamen Stimmen auf, die das durch die Ostpolitik gute Wahlergebnis fälschlicherweise mit „linken“
gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus der SPD erklärten und hofften, die FDP abschütteln zu können. Der
Kanzler schlaffte nach der Phase der Anstrengungen ab, verfiel in Krankheit und Depressionen. Die FDP fühlte
sich nach innerer Konsolidierung gestärkt und betonte gegen die SPD liberale und marktwirtschaftliche Akzente
29
in der Innen-, Wirtschafts- und in der Gesellschaftspolitik. Die Liberalen fühlten sich hierzu veranlaßt durch die
CDU, bei der sich in einem innerparteilichen Machtkampf der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Helmut
Kohl, gegen Rainer Barzel durchgesetzt hatte („Keiner wählt Rainer“). Die Union lockte einerseits die Liberalen,
andererseits diffamierte sie die FDP als „Blockpartei“, als Anhängsel der SPD. Die ostpolitische Euphorie
verflog, Widersprüche taten sich auf. Die Terrorwelle der sich „Rote Armee Fraktion“ („RAF“) nennenden
Baader-Meinhof-Gruppe erforderte in den Augen vieler Koalitionäre nicht mehr Demokratie, sondern mehr
Repression. Walter Scheel setzte sich aus der Regierung ab, indem er als Nachfolger Gustav Heinemanns das
Amt des Bundespräsidenten anstrebte. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, war mit dem labilen
Zustand und präsidentialen Führungsstil des Kanzlers unzufrieden und trug zu seinem Autoritätsverlust bei: „Der
Kanzler badet gerne lau!“, wurde er zitiert. Als schließlich Anfang 1974 der persönliche Referent Willy Brandts,
Günter Guillaume, als Spion für die DDR enttarnt wurde - worüber der Innenminister Hans-Dietrich Genscher
bereits ein Jahr zuvor vom Verfassungsschutz informiert worden war -, erklärte Willy Brandt am 6. Mai seinen
Rücktritt. Der Bundestag wählte Helmut Schmidt zu seinem Nachfolger, und als Walter Scheel im Juli 1974
tatsächlich sein neues Amt antreten konnte, war die reformerische Regierung Brandt/Scheel durch die
konsolidierende Schmidt/Genscher abgelöst worden.
Mit der Verabschiedung der Ostverträge war die wichtigste Bindung zwischen den Koalitionspartnern dahin.
Statt weiter zu reformieren hatte die Regierung Schmidt/Genscher nun die Aufgabe, eine sich verschärfende
Wirtschaftskrise zu meistern und den Terrorismus zu bekämpfen. Außenpolitisch sollte eine Kurskorrektur
vorgenommen werden, weil der Westen im Falle des Scheiterns von Abrüstungsverhandlungen mit dem Osten
im Wettrüsten die
Schraube
anziehen
und
mit
vor
allem auf deutschem
Boden stationierten
Mittelstreckenraketen „nachrüsten“ wollte. Diesen „Doppelbeschluß“ sollten die Parteien absegnen. Hierbei wie
in der Wirtschaftspolitik wurde deutlich, daß der Kanzler Schmidt nicht die Mehrheit seiner Partei hinter sich
hatte, daß zwischen ihm und der Mehrheit der Sozialdemokraten ein Riß klaffte.
Die Wahlen zum 8. Deutschen Bundestag brachten der Koalition Verluste ein. Die Union war wieder stärkste
politische Kraft.
Das Wahlergebnis, bei dem die FDP sich verbessert, die SPD aber stagniert hatte, wird vielfach als Auslöser für
den folgenden Verfall der sozial-liberalen Koalition gesehen. Die Koalitionsverhandlungen wurden in gereizter
Atmosphäre geführt. Es ging um den Versuch, den Staatshaushalt zu konsolidieren. Die Freien Demokraten
drängten auf Einsparungen auch zu Lasten der Sozialpolitik, was bei der SPD auf Widerstand stieß. Zunehmend
war die Rede davon, daß das Reservoir an Gemeinsamkeiten erschöpft sei. Das Wort von der
„Endzeitstimmung“ kam auf. In Umfragen sank die Popularität der SPD weiter ab. Die FDP fürchtete, mit in
deren Sog zu geraten und unterzugehen.
Dennoch entwickelte
sich
die
Legislaturperiode
bis 1980 relativ stabil.
Als Politmanager
und
Wirtschaftsfachmann, später auch Staatsmann, genoß Helmut Schmidt hohes Ansehen in der Bevölkerung, von
dem die FDP profitierte. Der innere Konsolidierungsprozeß der Union war noch nicht abgeschlossen, so daß
diese als Alternative nicht infrage kam.
Kohl mußte zur Bundestagswahl 1980 Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidaten vorlassen, bevor er selber nach
der Macht greifen konnte. Der FDP kam die Kandidatur von Strauß sehr recht, konnte sie sich doch ihm
gegenüber als vernünftige Alternative darstellen. Genscher bezeichnete in internen Parteikreisen Strauß immer
wieder als „unseren besten Wahlhelfer“. Der damalige Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, bezeichnete
34
Arnulf Baring, a.a.O., S. 195 ff
30
das im Nachhinein - nach seinem Wechsel zur SPD - als „reine Überlebensstrategie“.35 Die Wahlparole der FDP
war: „Für eine Regierung Schmidt/Genscher - Gegen Alleinherrschaft einer Partei - Gegen Strauß - Diesmal
geht`s ums Ganze. Diesmal FDP”. Über diese Verwendung seines Namens war der Bundeskanzler nicht angetan,
wie überhaupt das innere Klima nach der Wahl 1980 nicht mehr gut war.
In der größer gewordenen FDP-Bundestagsfraktion saßen nun zahlreiche rechtsliberale Gegner des sozialliberalen Kurses. Sie waren auf ursprünglich als aussichtslos eingeschätzten Listenplätzen ins Parlament
gekommen und trafen sich im „Wurbs-Kreis”, so genannt nach dem der FDP angehörenden Vizepräsidenten des
Bundestages, Richard Wurbs. Dieser Kreis soll mehr als die Hälfte der Mitglieder der Fraktion mobilisiert
haben. Auch die „Linken“ trafen sich regelmäßig. Es soll sogar eine Gruppe der gruppenlosen Abgeordneten
gegeben haben.36 Diese Fraktionierung der FDP-Fraktion war Ausdruck einer Unsicherheit der Partei, die in
allen Gliederungen bestand. Das kam auch im Verhalten des Parteivorsitzenden und Vizekanzlers Hans-Dietrich
Genscher zum Ausdruck, der zwar den direkten Bruch mit den Sozialdemokraten nicht forcierte, aber mit seiner
Forderung nach einer „Wende“ in der Politik das geistige Klima für einen solchen Bruch schuf. Genschers
Taktik hatte das Ziel, für den von ihm gewünschten oder zumindest erwarteten Bruch mit den Sozialdemokraten
diese als die Täter dastehen zu lassen und die FDP als die Unschuld vom Lande. Genscher setzte auch Schmidt
unter Druck: Unter erheblichem persönlichen Engagement des Parteivorsitzenden stimmte der FDP-Parteitag im
Mai 1981 in Köln dem Rüstungs-„Doppelbeschluß“ nach heftigen Kontroversen zu. Zwar hatte der Berliner
Parteitag der SPD zuvor im Dezember 1979, Schmidt folgend, den Doppelbeschluß grundsätzlich akzeptiert.
Aber die gegen diesen Beschluß gerichtete und nicht nur von den Grünen getragene „Friedensbewegung” hatte
doch weite Kreise der SPD erfaßt, so daß die Haltung der Sozialdemokraten von Genscher und anderen leicht als
labil hingestellt werden konnte. Schmidt durchschaute das und versuchte zu verhindern, daß Sozialdemokraten
an der Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn mitmachten, wo sich 300 000 Menschen vor der
Universität versammelten. Wie zum Beweis für die Wankelmütigkeit der SPD sprach dort als einer der
Prominenten das sozialdemokratische Präsidiumsmitglied Erhard Eppler. 37
Die Regierung - voran der Kanzler - hatte die Entwicklung „draußen im Land“ nicht mehr im Griff. Ein
Gewerkschaftsskandal um die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“, bei dem es um Bonzenwirtschaft und
Veruntreuung gegangen war, fiel auch der SPD auf die Füße. Der SPD-Geschäftsführer Peter Glotz nahm sich
die Freiheit, in aller Öffentlichkeit über einen Bruch mit der FDP zu spekulieren, denn er dozierte, die SPD müße
damit rechnen, „über kurz oder lang in die Opposition zu gehen“. 38 In München tagte im April 1982 abermals ein
Parteitag der SPD und faßte angesichts steigender Arbeitslosigkeit, aber auch vor dem Hintergrund einer Kette
verlorener Wahlen in den Ländern und Kommunen, finanz- und beschäftigungspolitische Beschlüsse, die der
FDP-Wirtschaftsminister
Otto
Graf
Lambsdorff
zuvor
verworfen
hatte:
höhere
Kreditaufnahmen,
Ergänzungsabgaben für höhere Einkommen, Arbeitsmarktabgabe, Abbau von Steuerprivilegien und Erhöhung
des Spitzensteuersatzes. Die Beschlüsse von München wurden als Spaltpilz gesehen: Entweder würde die SPD
auf einer Umsetzung bestehen, dann wäre das das Ende der Koalition, oder die SPD verzichtete darauf, dann
würde das die Verfallstendenzen der SPD beschleunigen.
35
Günter Verheugen, Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP, Hamburg 1984, S. 107f
Güter Verheugen, a.a.O., S. 121f
37
Eppler hatte zuvor als Spitzenkandidat der SPD die Landtagswahlen in Baden-Württemberg verloren. Spötter
hatten behauptet, das sei daher gekommen, dass der etwas sauertöpfig wirkende Eppler ausgerechnet im
kulinarisch opulenten “Ländle” die vielen dargebotenen Wurstsorten durch eine “Einheitswurst” hatte ersetzen
wollen...
36
31
Auch die FDP geriet aus dem Gleis: Bei Landtagswahlen in Niedersachsen wurde sie von den „Grünen“ als
dritte Partei überholt, im Berliner Abgeordnetenhaus nach der „Alternativen Liste“ (AL) die vierte Partei, bei
den Bürgerschaftswahlen in Hamburg scheiterte sie, und in Hessen kündigte ein Landesparteitag die gute
Zusammenarbeit mit der SPD unter Holger Börner auf.39 Gleichzeitig trafen sich in Köln 700 „linke“ FDPFunktionäre unter dem Motto „Noch eine Chance für die Liberalen“. Genschers Politik wurde dort als „Verrat“
bezeichnet. Dieser erkannte, daß ihm ein „geordneter“ Wechsel zur Union hin nicht gelingen werde. Die
Parteiführung wurde unsicher und machte sich lächerlich. Als der Wechsel in Hessen zur CDU als Maßnahme
zur Stärkung der sozial-liberalen Koalition im Bundesrat ausgegeben wurde, riefen Kommentatoren:
„Schwachsinn!“ Und Genscher wurde mit einem Maikäfer verglichen: „Seit letztem Sommer hat er gepumpt,
gepumpt, gepumpt - nur geflogen ist er nicht. Genscher hat so lange gemaikäfert, bis ihm ... das Gesetz des
Handelns entglitt.”40
Das „Gesetz des Handelns” ergriffen nun andere Politiker: Otto Graf Lambsdorff und Helmut Schmidt. Der
Minister erklärte in aller Öffentlichkeit, die bevorstehenden Hessen-Wahlen wären ein Test auf eine Wende der
FDP zur Union. Der Kanzler tadelte ihn in einer Kabinettssitzung dafür und forderte ihn zur Vorlage seiner
wirtschaftpolitischen Vorstellungen auf. Am 9. September 1982 legte der Wirtschaftsminister das als
„Lambsdorff-Papier“ bekannt gewordene „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche
und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” vor. Das Papier entwickelte rein marktwirtschaftliche Konzepte, die
mit der SPD nicht zu realisieren waren. Der Kanzler wollte diesen Fehdehandschuh ursprünglich nicht aufgreifen
und dachte daran, die Krise durchzustehen, bis mit nahender Bundestagwahl 1984 der Spielraum für die FDP
immer enger würde. Dennoch kündigte er am 17. September vor dem Bundestag die Koalition überraschend auf
und teilte den Rücktritt - der wie ein Rauswurf wirkte - der FDP-Minister mit.
Zeitzeugen sind sich uneinig, was die Gründe für das Handeln des Kanzlers waren. Ralf Dahrendorf schreibt:
„Die Historiker werden in den Prozeß des Wechsels gewiß ihre eigenen Erklärungen hineintragen; aber wer die
Ereignisse aus der Nähe verfolgt hat, weiß, daß sie, wie das so zu gehen pflegt, aus einer Serie von nicht ganz
zufälligen Zufälligkeiten bestanden: dem Zeitpunkt des Lambsdorff-Papieres zur Wirtschaftspolitik, dem
plötzlichen Adrenalinstoß in Helmut Schmidt und ähnlichem mehr.“ 41 Demgegenüber meint Günter Verheugen:
Schmidt „wollte sich mit seiner Regierung nicht auf dem Rost braten lassen, bis er nach Meinung der FDP gar
war.“42 Schmidt warb nach Art. 68 des Grundgesetzes für Neuwahlen, die stattfinden könnten, wenn eine
Vertrauensfrage des Kanzlers negativ beschieden würde.
Von nun an setzte in der völlig mutlosen und zerstrittenen FDP eine Serie der Niederlagen bei Landtagswahlen
sein. Die vom Kanzler des „Verrats“ gescholtene FDP fiel nacheinander in Hessen, Bayern und anderen
Bundesländern unter die Sperrklausel. Der Rettungsanker war, daß sich in der Union die Meinung Helmut Kohls
durchsetzte, den Neuanfang nicht über Neuwahlen zu beginnen, sondern über ein konstruktives
Mißtrauensvotum. Die „Koalitionsverhandlungen”, die die FDP daraufhin mit der Union führte, waren in
38
Der Tagesspiegel, 1.101981
Solche Veränderungen lösen bei den Beteiligten tiefe Emotionen aus. So zerstritten sich die Berliner
Parteimitglieder der FDP heillos, als die Mehrheit der Fraktion einen CDU-Senat unter Richard von Weizsäcker
auf Wunsch der Bundesspitze und gegen den Willen des Landesparteitages tolerierte. Der Landesvorstand stellte
die Fraktionsmehrheit vor ein Parteigericht. - Bei einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz der FDP in Wiesbaden
versicherten Holger Börner und sein freidemokratischer Ministerkollege, Gries, sich gegenseitig ihres
persönlichen Respekts. Den Tränen nahe kündigten sie ihre Zusammenarbeit auf. Es war eine berührende Szene.
40
Wilfried Herzt-Eichenrode, Maikäfer, pump!, in: Die Welt, 2.7.82
41
Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 44
39
32
Wahrheit Kapitulationsverhandlungen. Die Union verwehrte dem als sozial-liberal eingestuften und
zurückgetretenen Innenminister Gerhart Baum nicht nur die Rückkehr in sein Amt; sie akzeptierte ihn auch nicht
als Mitglied der FDP-Verhandlungsdelegation. Die FDP gehorchte und stimmte schließlich dem Verhandlungsergebnis mit knappen Mehrheiten zu: In der Fraktion gab es 32 Ja- und 20 Neinstimmen bei zwei Enthaltungen,
im Bundesvorstand eine 18:17-Mehrheit. Mit den Stimmen einer FDP-Mehrheit und gegen die Stimmen der
Sozialdemokraten und einer FDP-Minderheit wurde Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 anstelle von Helmut
Schmidt zum Bundeskanzler gewählt.
Die sozial-liberale Koalition war zu Ende. Die SPD ging in die Opposition. In der FDP gab es auf dem Berliner
Parteitag im November 1982 ein dramatisches Nachspiel zur in Bonn vollzogenen „Wende“. Die dezidiert
sozial-liberale Seite des Parteienspektrums formierte sich und postulierte drei Ziele für den Bundesparteitag:
„ - klare Mißbilligung des Koalitionswechsels und des ganzen Vorgehens,
- personelle Erneuerung (Genscher muß weg),
- programmatische, radikal-liberale Perspektiven”.
Der eher konservative Uwe Ronnebuger aus Schleswig-Holstein sollte Hans-Dietrich Genscher als
Parteivorsitzenden ablösen. Bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden erhielt Genscher jedoch 222 Stimmen,
Ronneburger
169.
Die
Linksliberalen
konnten
sich
auf
dem
Parteitag
nicht
durchsetzen.
Die
Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier kündigte daraufhin wie weitere Delegierte ihren Austritt aus der
FDP und ihren Beitritt zur SPD an. Es gab dramatische Szenen. Man sprach vom „Parteitag der Tränen“. Damals
und in der folgenden Zeit verließen etwa 15000 Mitglieder die FDP, von denen 2 000 SPD-Mitglieder wurden.
Mittelfristig wurde dieser Abgang durch Neueintritte von Maklern, Rechtsanwälten, Handwerksmeistern und
mittleren Unternehmern kompensiert, die die FDP in ihrer Not an der Seite der CDU stabilisieren wollten.
Die FDP wurde im Unionslager zur „Partei der zweiten Wahl“. Auf der anderen Seite etablierten sich die Grünen
im Parteiensystem neu. Man sprach von zwei Lagern im deutschen Parteiensystem: Die CDU/CSU und die FDP
auf der einen, die SPD und die Grünen auf der anderen Seite.
5.
Die ausgebliebene geistig-moralische Wende in der Ära Kohl
Der Wechsel ins andere Lager wurde der FDP als „Verrat” angekreidet. Waren doch ihre Abgeordneten nach
dem Slogan für eine Regierung „Schmidt/Genscher“ in den Bundestag gekommen. Auch Konservative nahmen
den Liberalen den Wechsel nicht ab. So schrieb Golo Mann in der „Weltwoche“: „Dreizehn Jahre lang habt ihr
alles mitgemacht und gutgeheißen, und plötzlich war alles falsch, plötzlich seid ihr die Gegner derer, deren
Freunde ihr gestern noch wart, und die Freunde derer, deren Gegner ihr gestern noch wart.” Nur um seinen
Ministerposten zu retten, sei Genscher zur Union gewechselt.43 In Umfragen war die Wählergunst der Liberalen
auf 2,3% gesunken. Dennoch setzte der neue Kanzler Kohl gegenüber der FDP durch, daß alsbald Neuwahlen
stattfinden sollten, um den Machtwechsel durch die Wähler legitimieren zu lassen. Die FDP hätte damit gerne
etwas gewartet, aber die Wahlen sollten schon im März sein. Sie brachten der CDU/CSU eine glänzende
Bestätigung ihrer Führungsrolle, und die FDP - die zuvor reihenweise aus den Landtagen geflogen war - zog als
ihr Anhängsel wieder in den Bundestag ein - im Huckepack, wie die Differenz zwischen 2,8% und 7,0% bei
Erst- und Zweistimmen zeigt.
42
43
Günter Verheugen, a.a.O., S. 135
Golo Mann, “Man hätte nicht tun dürfen, was man am 1. Oktober in Bonn tat”, in: Weltwoche, 6.10. 1982
33
Als neue Partei zogen die Grünen 1983 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag ein. Die Bundestagsfraktion
wurde das neues Kraftzentrum innerhalb der Partei und prägte das Bild der Grünen nach innen und außen
erheblich. Die ersten Fraktionssprecher waren Marieluise Beck-Oberdorf, Petra Kelly und Otto Schily. Über die
Startphase im Deutschen Bundestag schreibt Hubert Kleinert: „Schon der Einzug der neuen Fraktion in den
Bundestag ... vollzog sich unter spektakulären Begleitumständen. Morgens um neun versammelte sich eine bunte
Schar von Menschen auf einem Platz mitten in Bonn. Unter ihnen befanden sich die frischgebackenen
Abgeordneten der neuen Fraktion. Gemeinsam zog
man mit Blumen, Topfpflanzen und einer
überdimensionierten Weltkugel zum Regierungsviertel, wo die Abgeordneten dann symbolisch von der Basis in
den Bundestag verabschiedet wurden. Durch eine solche Inszenierung kamen die Kamerateams aus aller Welt so
richtig auf ihre Kosten.“44 Auch innerhalb des Plenums war der Neuigkeitswert der Grünen so groß, daß deren
Abgeordnete bisher Außerparlamentarisches über die Friedens- und Sexualphilosophie wenig gekonnt vortragen
mochten und dennoch Aufmerksamkeit erzielten. Die Grünen waren ein Medienereignis.
Die nunmehr auch von den Wählern legitimierte neue Bundesregierung hatte nach der Zeit sozial-liberaler
Reformen eine Rückkehr zu den vermeintlichen Tugenden der Adenauer-Zeit versprochen. Die tragenden Werte
dieser neokonservativen geistig-politischen Führerschaft sollten Freiheit, Leistung und Selbstverantwortung sein.
Doch trotz des guten Starts zeigte sich in der Mitte der Legislaturperiode, daß es nicht gelingen wollte, die
Arbeitslosenquote zu senken. Im Mai 1985 lag diese Quote bei 8,% - das waren 2 192 627 Arbeitslose. Und
wieder präsentierte die Politik das alte Bild: Während in der CDU/CSU die Neigung zur Verabschiedung
staatlicher Beschäftigungsprogramme stieg, lehnte die FDP diesen Weg ab und forderte marktwirtschaftliche
Lösungen. Die Hauptwidersacher der FDP in der Koalition waren die Sozialausschüsse und die CSU.
Ein anderes „geerbtes“ Thema konnte dagegen von der Koalition rasch erledigt werden - die Stationierung neuer
amerikanischer Mittelstreckenraketen („Nachrüstung“) in der Bundesrepublik. Trotz heftigsten Widerstandes der
breiten Friedensbewegung stimmten die Koalitionsabgeordneten im November 1983 der Nachrüstung zu.
So sehr sich die FDP in der neuen Koalition wirtschaftspolitisch fast dogmatisch marktwirtschaftlich gebärdete,
so verstand sie sich in der Außen- und Ostpolitik als Garant der Kontinuität. Die Westbindung der
Bundesrepublik, die Stärkung der europäischen Zusammenschlüsse und der vertragliche Interessenausgleich mit
dem Osten waren die Säulen dieser Politik. In der Deutschland- und Ostpolitik begab sich die Union, die einst
die Ostverträge bekämpft hatte, auf eine Linie der Kontinuität. Gelegentliche Ausbrüche des Bundeskanzlers, der
beispielsweise der Landsmannschaft der Schlesier sein Erscheinen auf einem Treffen zugesagt hatte, oder seine
Querelen mit dem französischen Staatspräsidenten halfen dem immer mehr in die Rolle des deutschen
Chefdiplomaten hineinwachsenden Außenminister Genscher, sich als Kraft der Vernunft zu profilieren und seine
Popularität zu steigern. Es ist erstaunlich, wie aus dem „Verräter“ von 1982/83 bald einer der populärsten
Politiker Deutschlands wurde.
Die Zuständigkeit für die Innenpolitik war von der FDP unter Gerhart Baum nunmehr auf die CSU unter
Friedrich Zimmermann übergegangen. Es wurde ein Abbau des Rechtstaates und eine Vernachlässigung der
Umweltpolitik befürchtet. Doch Zimmermann setzte die Katalysatoren-Pflicht für Autos durch und gab zunächst
der FDP Gelegenheit, sich etwa beim Demonstrations-strafrecht oder in der Ausländerpolitik gegen die
etatistische Union als „Bremser“ zu profilieren. Langfristig verlor sie jedoch diese Rolle, weil die Union bei
44
Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992, S. 37
34
Fragen wie dem Asylrecht die SPD auf ihre Seite zog und es nun auf die FDP nicht mehr ankam. Immer öfter
mußte die FDP spüren, wie sehr ihr Spielraum eingeschränkt war.
Insgesamt war die Wahlperiode zwischen 1983 und 1987 nicht besonders glanzvoll. Zwar war die DM stark wie
nie, schienen die öffentlichen Haushalte weitgehend konsolidiert, und Exporte erreichten Rekordhöhen, - aber
das Versprechen einer geistig-politischen Führung konnte die Bundesregierung nicht einhalten. Die SPD und die
„Grünen“ hatten die absolute Mehrheit der Wähler unter 45 Jahren hinter sich, während bei den über 60jährigen
die Union der Favorit war.
Spannender und interessanter als im neokonservativen Lager ging es im grün-sozialdemo-kratischen Lager zu,
wo die Richtungsstreite tobten und in der SPD die Meinungen zu rot-grün als politischer Alternative geteilt
waren.
Der CDU/CSU brachen traditionelle Wähler weg, so auf dem Lande, wo die EG-Agrarpolitik enttäuschte. Hinzu
kam eine weitgehende Unlust an der Politik in der Bevölkerung, so daß der Anteil der Nichtwähler stieg. Selbst
in parteinahen Publikationen wird 1987 als „Krisenjahr der CDU“ 45 bezeichnet.
Für die Union war das Wahlergebnis von 1987 schlecht: Es war das schwächste seit 1949. Im Herbst des
gleichen Jahres brach die „Barschel-Affäre“ über die Union herein. Der CDU-Ministerpräsident von SchleswigHolstein, Uwe Barschel, hatte seinen sozialdemokratischen Gegenspieler, Björn Engholm, mit Hilfe der
Staatskanzlei übel diffamieren lassen („Barschels schmutzige Tricks“, so „Der Spiegel”), diesen Tatbestand bis
zu einer „Ehrenwort“-Pressekonferenz geleugnet, war anschließend ins Ausland gereist und wurde am Ende tot
in einer Badewanne eines Genfer Hotels aufgefunden.
Zuvor hatte der „Flick-Skandal” die moralische Glaubwürdigkeit der Koalition erschüttert. Flick hatte mit
Geldzuwendungen an die Parteien ihm steuersparende Leistungen auch in den Ländern erkauft. In der Sprache
des Flick-Konzerns war das eine „Pflege der Landschaft”. 1983 hatte die SPD im Bundestag einen FlickUntersuchungsausschuß beantragt. Helmut Kohl, der selbst Geldbeträge angenommen hatte, sagte vor dem
Ausschuß falsch aus. Heiner Geißler entschuldigte das mit einem „Blackout“. 1984 begann vor dem Bonner
Landgericht ein Prozeß gegen Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff und seinen Vorgänger Hans
Friderichs, ebenfalls FDP-Mitglied. Mit Prozeßbeginn trat der Minister zurück. Das Gericht sah den Tatbestand
der Beamtenbestechung und des Zusammenhanges von Leistungen für die FDP und Steuerbefreiungen als
erwiesen an. Es verurteilte die Politiker sowie den ehemaligen Generalbeauftragten des Flick-Konzerns, von
Brauchitsch, zu Geldstrafen: Lambsdorff und Friderichs zu je 180 00 DM, Brauchitsch zu 550 000 DM.
Außerdem war der Verdacht aufgekommen, Rainer Barzel habe 1973 den CDU-Vorsitz für Helmut Kohl
geräumt, nachdem er von Flick 1,6 Millionen DM erhalten habe. Nach diesen Vorwürfen trat Barzel vom Amt
des Bundestagspräsidenten am 26.10.1984 zurück. Dietrich Thränhardt schreibt, es sei der „Eindruck des
Bauernopfers“ entstanden, „da Kohls alter Rivale Barzel zurücktreten mußte, während Kohl im Amt blieb.“46
Der CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler versuchte es mit einer Reform der CDU als „Volkspartei der Mitte“:
Das Erbe von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard sollte bemüht werden. Aber die innerparteiliche
Unzufriedenheit verging nicht. Bei einem Bundesparteitag im Herbst 1988 erzielte Kohl ein schlechtes Ergebnis
bei der Vorsitzendenwahl. Innerhalb der Partei traten Meinungsverschiedenheiten zu diversen Fragen auf. Es
ging um so unterschiedliche Themen wie die Abtreibungsfrage, um Südafrika oder auch um die von der
45
Konrad -Adenauer-Stiftung (Hg.), Kleine Geschichte der CDU, Stuttgart 1995, S. 156
Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main
1996, S 276
46
35
Regierung geplante Quellensteuer. Die Fraktion unter Alfred Dregger forderte gegenüber der Parteizentrale unter
Generalsekretär Heiner Geißler mehr Einfluß. Der Ernst der Lage für die Koalition insgesamt wurde deutlich, als
bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin im Januar 1989 eine Abwahl der dortigen CDU/FDP-Koalition
erfolgte, sich eine Mehrheit für rot-grün herausbildete, die FDP unter der 5-%-Grenze blieb und die
rechtsradikalen „Republikaner“ in das Parlament einzogen. In der Folge kam es in der Union zu
Personaldiskussionen auch um Helmut Kohl. Doch dieser setzte sich erneut durch. Er trennte sich von Heiner
Geißler als Generalsekretär, der dieses Amt zwölf Jahre wahrgenommen hatte. An dessen Stelle schlug er Volker
Rühe vor. Auf einem Parteitag im September 1989 in Bremen wurden Kohl und Rühe bestätigt.
In dieser Zeit erreichte die Bundesrepublik zwar den höchsten Beschäftigungsstand ihrer Geschichte (29
Millionen Erwerbstätige), aber die Zahl der Arbeitslosen blieb bei 2 Millionen. Auf dem Ausbildungssektor
sprach die Opposition von einer „Lehrstellenkatastrophe“, obwohl immerhin 700 000 Lehrstellen vorhanden
waren. Erste Ansätze zur Steuer- und Gesundheitsreform wurden unternommen, erwiesen sich aber doch
bestenfalls als Zwischenlösungen. All diese Widersprüchlichkeiten hatten zur Folge, daß das Ansehen der Union
und des Kanzlers in der Bevölkerung nicht hoch waren.
Da kamen der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung. Bundeskanzler Kohl begriff
mit Hans-Dietrich Genscher nach anfänglichem Zögern die Chance zur Vereinigung und nutzte sie in
Verhandlungen und der Ausarbeitung eines Vereinigungskonzeptes. Kohl, an dem Freund und Feind genörgelt
hatten, der als „Birne aus Oggersheim“ Verspottete, wurde der „Kanzler der Einheit“ und schlug bei den ersten
gesamtdeutschen Wahlen seinen Herausforderer Oskar Lafontaine, der auf die Risiken der Vereinigung
hingewiesen hatte. Die Wiedervereinigung hatte Kohl die Kanzlerschaft gerettet, vor allem durch den großen
Zulauf im Osten.
Die Bundesregierung unter Kohl hatte die politische Entscheidung getroffen, die Wiedervereinigung gegen alle
politischen, sozialpsychologischen und ökonomischen Hemmnisse durchzusetzen. Daß Helmut Kohl und HansDietrich Genscher sich dabei gegen Widerstände aus London und Paris, gegen Unlust bei der Mehrheit der
Westdeutschen, gegen Befürchtungen bei einer Minderheit der Ostdeutschen und gegen allen ökonomischen
Sachverstand - wie er zum Beispiel vom Präsidenten der Deutschen Bundesbank artikuliert wurde - durchsetzte,
ist auf der einen Seite zweifellos als staatsmännische Leistung zu werten, bescherte der nun im vereinten
Deutschland regierenden Koalition aber große innere Probleme. Wahrscheinlich hatte der Kanzler in der
Wiedervereinigungseuphorie tatsächlich geglaubt, sehr bald würden im deutschen Osten „blühende
Landschaften“ entstehen. Daß tatsächlich Transferleistungen in Milliardenhöhe von West nach Ost über zehn
Jahre und mehr hinweg zu leisten wären, daß Stillegungen ganzer Industriestandorte kommen würden,
Arbeitslosigkeit und weitere Abwanderungen aus dem Osten, damit mußten sich der „Kanzler der Einheit“, seine
Regierung und das gesamte Parteiensystem seither ohne durchgreifenden Erfolg herumschlagen.
Die während der revolutionären Ereignisse in der DDR im Jahre 1989 erfolgten eigenständigen Entwicklungen
vom Blocksystem hin zum Pluralismus der letzten Volkskammer wurden schon sehr früh von den Westparteien
gesteuert und mündeten nach der Wiedervereinigung ein in die Strukturen des alten westdeutschen
Parteiensystems. Zu Recht bemerkt Ulrich von Alemann: „Angesichts dieser dramatischen Veränderungen ist es
kaum zu fassen, wie wenig sich an den Grundstrukturen der deutschen Politik und des Parteiensystems an der
Oberfläche geändert hat.”47 Die Großparteien CDU und SPD haben sich ebenso wie die FDP auf den Osten
ausgeweitet, wobei die SPD mit einer ostdeutschen sozialdemokratischen Neugründung fusionierte, während die
36
bürgerlichen Parteien ohne großes Federlesen die ihnen adäquaten ehemaligen Blockparteien schluckten. Die
größten Schwierigkeiten hatten die Grünen und Bündnis 90 miteinander. Hinzugekommen war die SEDNachfolgepartei PDS.
Daß die politischen Parteien nach der Vereinigung keine Konzeptionen für die Gestaltung des vereinten
Deutschlands hatten, wurde sehr deutlich bei der Entscheidung über die Hauptstadt. Auffallend dabei ist, daß die
politischen Parteien, die doch sonst überall mitreden und bestimmen wollen, keine eigenen Positionen entwickelt
hatten. Sie überließen es ihren Abgeordneten, am 20. Juni 1991 ihrem „Gewissen“ folgend zu entscheiden. Auch
nach der Abstimmung hat keine politische Partei ein klares Programm dazu entwickelt, wie der Umzug erfolgen
sollte und wie man sich auf die neue Lage einstellen wollte. Das meiste wurde der Regierung oder Ausschüssen
und Kommissionen überlassen, die zwischen verschiedenen Interessen lavierten. Die Ausnahme war die PDS,
die als ostdeutsche Regionalpartei mehrheitlich für einen schnellen Umzug war und erwartete, daß im vereinten
Deutschland die Erfahrungen und Interessen der Ostdeutschen stärker berücksichtigt würden.
Das noch von Alemann diagnostizierte Kontinuität des Parteiensystems über die Vereinigung hinaus erfolgte
allenfalls an der Oberfläche. Darunter taten sich bislang unbekannte Strukturen und Probleme auf, auf die das
Parteiensystem der Berliner Republik reagieren mußte
1. Es besteht über Jahre hinweg eine strukturelle Arbeitslosigkeit, von der mehrere Millionen Menschen
betroffen sind. Weder die Regierung Kohl noch die Regierung Schröder konnten daran etwas ändern. Das zweite
Kabinett Schröder versuchte, auf der Grundlage der Hartz-Kommission und mit einem „Superminister“ nach
dem Vermittlungsverfahren vom Dezember 2003 hierbei erfolgreicher zu sein. Insgesamt droht dennoch die
Gefahr, daß die Bürger der Glauben an die Garantie allgemeinen Wohlstands durch das Parteiensystem endgültig
verlieren. Damit entfiele eine der klassischen Legitimationsgrundlagen dieses Systems.
2. Es bestehen seit der Vereinigung zwei politische Kulturen in Deutschland. Wie sollte es anders sein, nachdem
die politische Sozialisation in Ost und West bei wichtigen Werten geradezu gegensätzlich verlaufen war?
Wurden im Westen Leistung und Durchsetzungsfähigkeit als grundlegende vermittelt, so waren es im Osten
Gemeinschaft und soziale Sicherheit. War von Westen aus New York der Mittelpunkt der Welt, so war es vom
Osten her Moskau. Der Osten sollte sich dann an den Westen anpassen. Das führte zu unterschiedlichen
Verarbeitungsprozessen: Die Systemkritiker im Untergang des Staatskommunismus verabsolutierten ihre in der
Wende gemachten Erfahrungen und sind seitdem für westliche Verhältnisse ungewohnt rigoros und unerbittlich
in der Verteufelung der Machtträger des alten Systems. Die Verlierer und die sich mißverstanden Fühlenden aus
dem alten System wollten ihre eigene Identität „einbringen“ und machten die PDS stark. Die meist bei den
Grünen gelandeten Rigoristen aus dem Osten und die mittlerweile allerdings im Niedergang befindliche PDS
waren neue Elemente im Parteiensystem. Über zehn Jahre nach der Wiedervereinigung sind ernste Bemühungen
in den Parteien zu erkennen, sich stärker für die Befindlichkeiten im Osten zu öffnen: Die ostdeutsche
Parteivorsitzende Angela Merkel versucht, ihre innerparteiliche Macht auszuweiten, die SPD präsentiert bewußt
„Ost“-Themen wie die Bush-Administration und „Ost“-Personen wie Manfred Stolpe, und selbst bei den Grünen
drängt der Bürgerrechtler Schulz in den Vordergrund.
3. Das alte Zweieinhalb-Parteiensystem gehört der Vergangenheit an. Nach den Grünen schaffte vorübergehend
auch die PDS den Einzug in den Bundestag, indem sie die Sperrgrenze überwand. Die FDP hat ihre
Monopolstellung als Mehrheitsbeschaffer verloren und irrlichtert seitdem bei der Suche nach ihrem Standort.
47
Ulrich von Alemann, a.a.O., S.23
37
4. Das mühsam dem Bundesverfassungsgericht abgetrotzte System der staatlichen Parteienfinanzierung geriet
mehr und mehr ins Wanken: Wissenschaft und Öffentlichkeit erkannten, daß von der Kommune bis zum Bund
über direkte Zuschüsse an die Parteien, indirekte Finanzierungen an Stiftungen und Fraktionen sowie an
Diätenzahlungen ein ganzer Strauß der Zuschüsse aus öffentlicher Hand gebunden worden war, der nun kritisch
beäugt wird. Die nach 1998 bekannt gewordenen Spendenskandale der CDU und der SPD sowie die finanzielle
Seite der Möllemann-Affäre bei der FDP belegen, daß staatliche Mitfanzierung der Parteien diese keineswegs
gegen die Gier nach privaten Zuwendungen immunisiert.
5. Der alte Glaube, daß man die Macht mit Hilfe der Umfrageforschung und eines professionellen Wahlkampfes
erhalten kann, ist dahin. Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Umfrageforschung sind herausgearbeitet.
Vor allem ist bekannt, daß eine noch so ausgetüftelte Fragetechnik immer nur Simulation sein könne: Das
tatsächliche Verhalten in der Sekunde, in der ein Wähler in der Kabine sein Kreuzchen auf dem Wahlzettel
schreibt, kann nicht vollkommen antizipiert werden.
Viel schwieriger noch ist es, die Wirkung von Werbemaßnahmen wie Plakate, Filme, Kampagnen in der so
vielfältigen Gesellschaft genau zu berechnen.
6. Auf dem Höhepunkt der Ära Adenauer galt der Satz „Macht hält Macht“. Danach kam der Machtwechsel.
Zwar erreichte die „Machtmaschine“ Kohl Mitte der neunziger Jahre Adenauersche Dimensionen, doch die
Abwahl 1998 lehrte, daß jede Macht zerbröselt. Und viel hätte nicht gefehlt, daß 2002 eine Regierung schon
nach vier Jahren die Macht wieder verloren hätte.
Doch trotz dieser schon Mitte der neunziger Jahre erkennbaren Defizite behauptete sich das alte System noch
einmal bei der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl - aus Mangel an Alternativen. Die Ära Kohl war zwar
formal nicht zuende, aber die Probleme türmen sich über den „Kanzler der Einheit“: Eine Steuerreform wurde
nicht umgesetzt. Der Staatshaushalt war weniger in Ordnung als zu Schmidts Zeiten. Die Arbeitslosenzahl waren
so hoch wie nie. Die eigenen Mitstreiter wie der Bundesfinanzminister Theo Waigel verloren die Lust am
Geschäft. Das Wort vom „Reformstau“ machte die Runde.
1998 war Wechselstimmung. Helmut Kohl hatte sie nicht erkannt, weder innerparteilich noch allgemein. Wieder
einmal klammerte sich einer so lange an die Macht, bis sie ihm entrissen wurde. Gerhard Schröder, der damalige
Liebling der Bosse und der Bild-Zeitung, personifizierte mit seinem linken Tandem Oskar Lafontaine den
Wechsel und wies Kohl den Weg aus dem Kanzleramt.
Noch in Bonn wurde die erste rot-grüne Bundesregierung installiert. Doch die Residenz am Rhein wurde
abgewickelt. 1999 zog die Hauptstadt nach Berlin um.
6.
Die unerwartete Einheit: Zwei politische Kulturen?
a) Die Gründung von wissenschaftlichen Institutionen
"Der Mangel an gebildeten, staatsverbundenen, mit den einheimischen Verhältnissen vertrauten Beamten, der
Wunsch, die Stadt an der Oder wirtschaftlich weiter zu fördern, und die Absicht, die außenpolitische Geltung
Brandenburgs in der Niederlausitz und in Schlesien, in Pommern und Polen zu erhöhen, veranlaßten Kurfürst
Joachim I. 1506 zur Errichtung der ersten, dem Leipziger Modell folgenden brandenburgischen
38
Landesuniversität in Frankfurt. Ihr Schwerpunkt lag in der Juristenfakultät." i Heinz Kathe schreibt das in einer
Kulturgeschichte Preußens und erinnert damit an die Gründung der Viadrina. 48
Wie gründete man fast 500 Jahre später ohne einen Kurfürsten in zwei Jahren drei Universitäten, fünf
Fachhochschulen und einige Forschungsinstitute? Nach der westdeutschen Bildungsreform in den siebziger
Jahren hätte jeder Kenner auf diese Frage geantwortet: "Gar nicht, weil es unmöglich ist." Doch zumindest in
Brandenburg schien das Undenkbare in der Aufbauphase des Landes erreichbar geworden zu sein.
Der Einigungsvertrag
hatte eine rasche Erneuerung der Wissenschaftseinrichtungen der ehemaligen DDR
vorgesehen. Sie sollten auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft werden. Die "Brandenburgische
Landeskommission für Hochschulen und Forschungseinrichtungen" resümierte im April 1993: "Im Oktober
1990 gab es in Brandenburg vier Hochschulen: die aus der pädagogischen Hochschule "Karl Liebknecht"
hervorgegangene Brandenburgische Landeshochschule in Potsdam, die aus der Ingenieurschule Cottbus
hervorgegangene Hochschule für Bauen in Cottbus, die aus der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft
der DDR hervorgegangene Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam-Babelsberg und die Hochschule
für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. ... An Instituten der Akademie der
Wissenschaften wies das Land auf: die Zentralinstitute für Astrophysik und Physik der Erde in Potsdam, die
Institute für Ernährung in Potsdam-Rehbrücke, für Hochenergiephysik in Zeuthen und für Halbleiter-Physik in
Frankfurt/Oder." Nicht erwähnt hatte die Landeskommission die kleineren Institute der "Akademie der
Wissenschaften der DDR" ("AdW") in Caputh ("Einsteinlaboratorium"), Niemegk (Erdmagnetismus), Potsdam
(Hochdruckphysik) sowie die dann beim brandenburgischen Landwirtschaftsminister verwalteten Institute der
"Akademie der Landwirtschaftswissenschaften" ("AdL") . Insgesamt waren in Brandenburg 1990 bei der AdW
727 und bei der AdL 775 Wissenschaftler beschäftigt. Beide Akademien warten zentralistisch organisiert.
Daß die Umwandlung der Wissenschaftseinrichtungen der DDR von dort aus gewollt und keineswegs im Zuge
der Übernahme vom Westen aufgestülpt wurde, zeigen die Schlußfolgerungen einer Denkschrift, die ein
"Fachausschuß Wissenschaft/außeruniversitäre Forschung" im Oktober 1990 vorgelegt hatte. Dieser
Fachausschuß war eingesetzt worden vom Ressort für Kultur, Wissenschaft und Bildung der damaligen
Bezirksverwaltungsbehörde Potsdam. Die Unterschiede zwischen der Forschung in der DDR und der öffentlich
geförderten Forschung in Westdeutschland wurden wie folgt gesehen:
- Die DDR-Forschung sei stärker vermischt gewesen mit Ressort- und Industrieforschung,
- es habe in der DDR kaum eine Anbindung an die Universitäten und keinen zügigen Personalaustausch
gegeben,
- im Osten hätten Technologie-Parks und An-Institute als Scharniere zwischen Forschung und Wirtschaft
gefehlt,
- in der DDR sei der Anteil fest angestellter Mitarbeiter sehr hoch gewesen, und
- es hätte dort viel zu stark ausgebaute technische Dienste, beispielsweise beim Gerätebau, gegeben. ii
Im Ergebnis der Überprüfungen wurden die brandenburgischen Forschungsinstitute zum großen Teil als
Einrichtungen der westdeutschen Trägerinstitutionen der Forschung wie der Max-Planck-Gesellschaft, der
Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft oder als vom Bund geförderte "Blaue- ListeInstitute" weitergeführt. Meist erhielten sie einen Status als zeitlich begrenzte Arbeitsgruppen oder als
Außenstellen westdeutscher Zentralen. Bei Berufungen wurde auf eine Anbindung an die Hochschulen geachtet.
48
Heinz Kathe, Preußen zwischen Mars und Museen. Eine Kulturgeschichte von 1100 bis 1920,
München/Berlin 1993
39
Teilweise hatten die brandenburgischen Forschungsinstitute auch international einen ausgezeichneten Ruf. Das
galt zum Beispiel für die Astrophysik. Die aus den "Königlichen Observatorien für Astrophysik, Meteorologie
und Geodäsie bei Potsdam"49 hervorgegangene Forschungseinrichtung auf dem Telegraphenberg hätte durchaus
wieder ein zentrales Forschungsinstitut werden können. Aber der Vorschlag, Einrichtungen aus Süddeutschland
dazu nach Potsdam zu verlagern, erzeugte bei den Mitarbeitern im Süden der Republik helles Entsetzen. Das
Vorhaben wurde fallengelassen, und Potsdam bekam die Zentrale nicht.
An den Hochschulen waren in Brandenburg 1990 215 Professoren und Dozenten für 6897 Studenten tätig. Der
Quotient Studentenzahl zu Bevölkerung betrug in diesem Land 0,27 %. In Sachsen-Anhalt war diese Relation
0,71 % und im Durchschnitt der alten Bundesländer 2,54 %. Wie alle Hochschulen in der DDR hatten auch die
Brandenburgischen einen hohen Anteil fest angestellter Wissenschaftler, und sie waren strikt getrennt von den
Forschungseinrichtungen.
Die allgemeinen Schwächen der Hochschulen in der DDR und mehr noch die magere Ausstattung des Landes
mit Hochschulen waren die Hauptgründe für die Errichtung von Universitäten und Fachhochschulen im Lande.
Im "Vertrag zur Bildung der Landesregierung Brandenburg in der ersten Legislaturperiode des Landtages 1990 1994" dem Vertrag der Ampelkoalition also, heißt es dazu noch sehr vorsichtig: "Ein Landeshochschulgesetz
wird vorbereitet. Die Gründung einer Landesuniversität Brandenburg sowie von Fachhochschulen wird
angestrebt. Die Standortfragen werden im Rahmen der Landesentwicklung entschieden."
Sollte es eine
Landesuniversität geben oder mehrere, das war eine der Streitfragen im Zuge der Regierungsbildung 1990. Eine
Landesuniversität mit möglicherweise mehreren Standorten würde das Land verkraften können und hätte bei der
Wissenschaftswelt angesichts der Unterausstattung der neuen Landes und der Konzentration von Hochschulen in
Berlin breite Unterstützung gefunden. Mit der Berufung Hinrich Enderleins zum Wissenschaftsminister war
jedoch die Entscheidung für gleich drei Universitäten verbunden. Potsdam, Frankfurt an der Oder und Cottbus
sollten ihre Universitäten bekommen. Daneben sollten fünf Fachhochschulen gegründet werden. Im 1957 von
Bund und Ländern gegründeten Wissenschaftsrat, einem Fachgremium zur Bewertung von Hochschul- und
Forschungsplanungen, wurde diese Linie anfangs noch ziemlich deutlich als maßlos kritisiert. Hier hätte man es
lieber gesehen, Brandenburg hätte sein Hauptgewicht auf die Fachhochschulen gelegt und somit auf die
Ausbildung von Studenten mit günstigen Berufsperspektiven. Insbesondere die beabsichtigten Gründungen in
Cottbus und Frankfurt an der Oder wurden in Zweifel gezogen. Die Landesregierung und der
Wissenschaftsminister konnten dagegen ihre Position nur halten mit dem Konzept von Mini-Universitäten an der
Oder und in der Lausitz. Auf ganze Fächergruppen wurde verzichtet, und Brandenburg machte wieder einmal
aus der Not eine Tugend. Nach dem Motto "Small is beautifull" versprach man der akademischen Jugend
"studierbare" Universitäten.
Im Osten Deutschlands beherrschten Ende 1990 zwei Begriffe die Wssenschaftswelt: "Evaluation" und
"Abwicklung". Der Wissenschaftsrat nahm seine Überprüfungaufgaben wahr, und die Landesregierung
schlossen ganze Einrichtungen, die fachlich und politisch keine Zukunft haben würden.
In Brandenburg wurde die politisch belastete Akademie für Staats- und Rechtwissenschaft, die vergebens eine
Reform unter dem Namen Hochschule für Recht und Verwaltung versucht hatte, auf Beschluß der
Landesregierung geschlossen. Die Bereiche Politikwissenschaft und Wirtschaftswissenschaft wurden
abgewickelt, die Rechtwissenschaft in die Brandenburgische Landeshochschule - die spätere Universität
49
Die Königlichen Observatorien für Astrophysik, Meteorologie und Geodäsie bei Potsdam. Aus Amtlichem
Anlass Herausgegeben Von Den Beteiligten Directoren, Berlin 1990
40
Potsdam - übernommen. Der Minister, der Staatssekretär und der Abteilungsleiter fuhren nach PotsdamBabelsberg, wo Studenten und Mitarbeiter in einem überfüllten Hörsaal darauf warteten, zu erfahren, was die
Landesregierung über ihre Zukunft beschlossen hatte. Nur äußerlich konnte man sich an die einstigen
Vollversammlungen der Freien Universität Berlin erinnert fühlen. Die Veranstaltung nahm jedoch einen anderen
Verlauf als jene tumultösen Happenings der APO-Zeit. Der Minister erhielt das Wort und teilte nervös,
offensichtlich innerlich erregt aber dennoch couragiert den Abwicklungsbeschluß der Landesregierung mit. Das
Ende! Kein Sturm der Entrüstung brach los, keine Tränen flossen; es gab keine wütenden Tiraden. Nach dem
schweigend zur Kenntnis genommenen Bericht des Ministers meldeten sich einige und fragten nach den
Konsequenzen des Kabinettbeschlusses für bestimmte Gruppen von Hochschulangehörigen: "Was wird aus den
Schreibkräften? Werden auch die alle entlassen?" Andere wieder wollten wissen: "Warum werden die
Sprachlehrer in die Wüste geschickt, wo sie doch künftig an der Uni Potsdam gebraucht werden?" Studenten
erkundigten sich: "Werden die bisherigen Semester jetzt annulliert, oder von den kommenden Hochschulen
anerkannt?" Die Politikwissenschaftler fragten eigentlich nur noch rhetorisch: "Warum hat man uns keine
Chance gegeben, wir hatten doch schon ein Reformmodell entwickelt?" Der Minister und seine Mitarbeiter
konnten nicht auf jede dieser Fragen zuverlässige Antworten geben.
Zur gleichen Zeit waren die ersten Evaluierungskommissionen in Brandenburg eingetroffen. Der
Wissenschaftsrat hatte sie eingesetzt, und ihre Aufgabe war es nun, Hochschul- und Forschungseinrichtungen zu
begutachten und Empfehlungen für die Zukunft abzugeben. Eine Kommission begutachtete die in Brandenburg
ansässigen Fachschulen, um zu sagen, welche von ihnen in Fachhochschulen umgewandelt werden könnten. Seit
Gründung des Wissenschaftsministeriums in Potsdam hatte auf diesem ein großer Druck der Fachschulen
gelegen, deren Lehrer hofften, ihre berufliche Zukunft als Fachhochschulprofessoren zu sichern.
Gebetsmühlenartig wurden diesen Lehrern und ihren Schülern immer wieder gesagt: "1. muß der
Wissenschaftsrat Eure Umwandlung empfehlen, 2. muß das Land sich diese Empfehlung zueigen machen und 3.
werden dann Hochschullehrerstellen ausgeschrieben;
es gibt keinen Übernahme-Automatismus von
Fachschullehrern zu Fachhochschullehrern." Dennoch blieb der Druck groß; viele Lehrer hofften, daß alle diese
Voraussetzungen eintreffen und sie am Ende der Ruf an eine neu gegründete Fachhochschule ereilen würde.
Die Kommission reiste durch das Land und besichtigte Fachschulen. Was das Land vorhatte, wußten die
Mitglieder schon: Fachhochschulen sollten in Potsdam/Brandenburg (Soziales/Technik), Wildau (Technik), in
der Lausitz (Technik) und in Eberswalde (Forstwissenschaft) gegründet werden.
Die Kommission kannte
natürlich auch die Vorgaben des Wissenschaftsrates für die Gründung von Fachhochschulen; dort hatte man
besonderen Wert auf günstige Berufschancen für Absolventen einerseits und auf die regionalen
Entwicklungseffekte andererseits gelegt. So vorbereitet erschien die Kommission in den Schulen, besichtigte die
Räume, sprach mit den Kollegien und begab sich zum nächsten Ort der Evaluation. Wenig später legte sie ihre
Empfehlungen vor.
Diese Empfehlungen waren wichtig, denn der Wissenschaftsrat machte sie sich in der Regel zu eigen. Für das
Land war eine Hochschulgründung aber nur mit einer entsprechenden Empfehlung des Rates möglich, denn der
Bund machte seine Mitfinanzierung vor allem beim Hochschulbau vom Rats-Votum abhängig, und die
notwendige wissenschaftliche Reputation hing auch von der Position des Wissenschaftsrates ab. Entsprechend
bitter war die Reaktion vor Ort, wenn die Kommission eine Einrichtung negativ bewertet hatte. Da wurde gesagt,
die Kommissionsmitglieder seien durch die Räume geeilt und hätten nur oberflächlich mit den Fachlehrern
parliert. Von "Kolonialherrenverhalten" war die Rede. Die Mitglieder der Kommission verteidigten sich mit
41
ihrer Professionalität: "Wir besuchen in einer Woche teilweise zehn Einrichtungen und haben einen Blick dafür
entwickelt, was geht und was nicht. Im übrigen müssen wir die Vorgaben der Landesregierung und des
Wissenschaftsrates beachten."
Bitterkeit blieb. Hier wie auch in der Wirtschaft, wo die Treuhand Strukturentscheidungen traf, war es für die
Landesregierung günstig, daß eine Institution wie der Wissenschaftrat die unpopulären Entscheidungen auf sich
nahm. Mit dieser scheinbaren Kompetenzverlagerung konnte sie das Vertrauen auch enttäuschter Bürger
bewahren. Tatsächlich hatte der Wissenschaftsrat in den Jahren der Wende ein enormes Arbeitspensum geleistet
und solide Empfehlungen gegeben.
Bis zur Gründung der Hochschulen mußten in Brandenburg folgende - mehr oder weniger hohe - Hürden
genommen werden:
1. Die Proklamation des politischen Willens durch die Landesregierung und durch den Landtag gehörte zu den
weniger schwierigen Hürden. Alle Fraktionen im Landtag versprachen sich von den Hochschulgründungen
Entwicklungsimpulse für das Land. Und wenn der aus dem Bundesbildungsministerium gekommene Minister
das Mammutprogramm für realisierbar hielt, dann würde es wohl auch so sein. Es war ein Leichtes, das sich
eben erst in seiner Rolle findendes Parlament dazu zu bewegen, schon im Mai 1991 ein "Gesetz über die
Hochschulen des Landes Brandenburg" zu verabschieden. Herr des Gesetzgebungsverfahrens war in dieser
Gründerzeit nicht etwa der Landtag, nicht die Regierung als Ganzes, nicht das zuständige Ministerium, sondern
ein Club von drei Personen: Der Minister, der zuständige Abteilungsleiter und der Vorsitzende des
Landtagsausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Vom Minister kamen die Vorgaben und der
Glaube an ihre Realisierbarkeit, vom Abteilungsleiter in Anknüpfung an seine Referententätigkeit im
Bundesbildungsministerium der aus 16 bekannten Landeshochschulgesetzen destillierte 17. Text,
und der
Ausschußvorsitzende bugsierte das Werk durch das Parlament. Wer Beratungen über Hochschulgesetze in den
alten Bundesländern gekannt und daran mitgewirkt hatte, der konnte sich nur die Augen reiben und verwundert
feststellen, daß es in Brandenburg überhaupt keine Diskussion über den Gesetzentwurf gab. Den Abgeordneten
war das Hochschulrecht mit den Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes unbekannt, und eine kritische
Hochschulöffentlichkeit, die beispielsweise die Themen "Gruppenuniversität" oder "Ordnungsrecht" hätte
problematisieren können, gab es nicht. Es war beim Hochschulgesetz nicht anders als bei anderen grundlegenden
Rechtsnormen des sich konstituierenden Bundeslandes: Es war die Stunde der Referenten aus dem Westen, die
ihr Gesellenstück ablieferten
und sich damit häufig die Basis schufen für leitende Posten in der
brandenburgischen Verwaltung.
Im § 2 des so verabschiedeten Gesetzes heißt es seitdem: "Das Land Brandenburg errichtet die Universität
Potsdam, die Europa-Universität Frankfurt/Oder und die Technische Universität Cottbus. ... Das Land
Brandenburg errichtet Fachhochschulen; dabei ist ein nach Aufgabenstellung, Fachrichtung, Zahl, Größe und
Studenten ausreichendes und ausgeglichenes Angebot an Fachhochschulen anzustreben."
2. Mit dem Hochschulgesetz in der Hand hatte der Wissenschaftsminister die Möglichkeit, durch Verordnung die
Hochschulen zu gründen und Gründungskommissionen mit Gründungsrektoren an den Spitzen einzusetzen. Bei
der Suche nach geeigneten Persönlichkeiten für diese Aufgabe war Eile geboten, denn der Kreis der infrage
Kommenden erhielt in dieser Zeit zahlreiche Angebote aus den neuen Bundesländern.
Zur Gestaltung der Hochschullandschaft im Lande Brandenburg hatte das Land insgesamt zehn Kommissionen
eingesetzt: Eine Landeskommission, eine Fachhochschulkommission, drei Gründungskommissionen der
Universitäten und fünf der Fachhochschulen. Insgesamt waren in diesen Kommissionen 144 Personen, meist
42
Wissenschaftler, tätig. Von diesen Personen waren neun Ausländer, 41 Ost- und 94 Westdeutsche. Drei der
zehn Vorsitzenden dieser Kommissionen waren "Ossis", mithin sieben "Wessis".
Im Ministerium erfolgte die Auswahl geeigneter Personen gelegentlich per Zuruf. Für die Technische Universität
Cottbus wurde der vielbeschäftigte Wissenschafts-Unternehmer Prof. Günter Spur von der TU Berlin
ausgewählt.
Wie die anderen Gründungsrektoren der Universitäten, die Professoren Knut Ipsen (Frankfurt/Oder) und Rolf
Mitzner (Potsdam) und übrigens auch die Gründungsrektoren der Fachhochschulen, leistete Spur Pionierarbeit.
Ohne seine Zielstrebigkeit, seinen Einsatz und seine Überzeugungskraft wäre das Projekt TU Cottbus
möglicherweise schon in der Gründungsphase gescheitert. Bereits Ende August 19991 beschloß der Spur zur
Seite gestellte Gründungssenat der Universität Cottbus die Errichtung von fünf Fakultäten für 6 250 Studenten.
Gründungsdekane wurden eingesetzt, und am 11. November 1991 fand im Staatstheater die feierliche
Immatrikulation des 1. Studienganges in Anwesenheit des Ministerpräsidenten, des Oberbürgermeisters und
anderer Politiker statt.
Prof. Mitzner in Potsdam war übrigens der einzige Ostdeutsche unter den
Gründungsdirektoren.
3. Nach der Proklamation des politischen Willens und der Ausarbeitung der Konzepte ging es ab der zweiten
Jahreshälfte 1991 darum, die Ressourcen für Hochschulen im Landes zu erkämpfen. Das war eine der
schwierigsten Hürden. Es wurde gerungen um Stellen, Räume und Geld.
In Frankfurt/Oder herrschte mehr noch als in anderen Orten eine wahre Universitätsbegeisterung.
beabsichtigte Neugründung der Europa-Universität
Die
knüpfte an die erste brandenburgische Universität
überhaupt, die "Universitas Viadrina" an, die von 1506 bis zu ihrer Verlegung nach Breslau im Jahre 1811 in
Frankfurt bestanden hatte. Die neue Frankfurter Universität sollte Ausstrahlung nach Polen und ganz Osteuropa
haben. So erklärt sich der stolze Name "Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)". Für die erste
Ausbaustufe waren drei Fakultäten ("Kulturwissenschaften" als Innovation, Jura und Wirtschaftswissenschaften)
für rund 4000 Studenten vorgesehen. Sitz der Universität sollte das ehemalige Gebäude der Bezirksverwaltung in
der Innenstadt sein. Hier entstand ein Streit. Der Finanzminister suchte - wie überall im Lande, so auch in
Frankfurt - Räumlichkeit für die neu errichteten Finanzämter. In Frankfurt beanspruchteer dafür daßelbe
Gebäude wie die Universität. Die Universität sollte an den Stadtrand gehen und dort frei werdende
Militärgebäude nutzen. Das lehnten die Universität und das Wissenschaftministerium ab: Die Viadrina gehöre in
das Weichbild der Oder, sie müsse für polnische und deutsche Studententen gleichermaßen erreichbar sein. Der
Landesrechnungshof schaltete sich in den Streit ein und schlug sich auf die Seite des Finanzministers. Vor dem
Parlament wiederum machte die Kontrollbehörde eine Bauchlandung; die Abgeordneten nahmen einhellig
Partei für die Universität. Schließlich wurde in einem "Chefgespräch" zwischen den Ministern ein landesweiter
Kompromiß gefunden, von manchen als "Kuhhandel" bezeichnet. Danach konnte die Universität in das begehrte
Frankfurter Gebäude einziehen, in Oranienburg aber
Unterbringung
des
dortigen
Finanzamtes
im
akzeptierte der Wissenschafts- und Kulturminister
ehemaligen
Verwaltungsgebäude
der
SS
für
die
Konzentrationslageriii unter der Voraussetzung, daß die damals in Vorbereitung befindliche "Stiftung
Brandenburgische Gedenkstätten" in diesem Gebäude ebenfalls unterkommt.
Der nächste Streit ging um die Stellen. Allein für Professoren begehrten in ihren Gründungsschriften
- die TU Cottbus 133 Stellen,
- die Europa-Universität 46 Stellen und
- die Universität Potsdam 215 Stellen.
43
Dazu kamen Stellenanforderungen für weitere wissenschaftliche Mitarbeiter und sonstige Dienstkräfte. Nach
zähem Hin und Her konnte das Wissenschaftsministerium, immer das Parlament auf seiner Seite wissend, sich
durchsetzen.
Aber es drohte neues Unheil.: Das Kabinett selber wollte über die Einstellung und Berufung von Professoren
entscheiden. Darüber hinaus hatte der Landtag eine restriktive Haltung zum Thema "Berufbeamtentum"
eingenommen, und in der Folge lehnte zumindest das Innenministerium seine Mitwirkung bei der Verbeamtung
von Professoren ab. In den Gründungssenaten herrschte Krisenstimmung. Alle Berufungen nach Brandenburg
seinen gefährdet, hieß es. Der Staatssekretär fuhr im Sommer 1992 zu allen drei Universitäten in Gründung und
erklärte die Haltung des Wissenschaftsministeriums, daß schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit mit
anderen Bundesländern Hochschullehrer auch in Brandenburg Beamte sein müßten (weil sie nun einmal sein
wollten). Auch würde man es nicht zulassen, daß im Kabinett über Berufungen oder Ernennungen entschieden
werde. Berufungen spreche der Wissenschaftsminister aufgrund der eingereichten "Listen" der Hochschulen aus,
und die Ernennung zu Beamten werde der Berufung auf dem Fuße folgen. Das Kabinett werde informiert,
entscheide aber nicht.- Im Fraunhofer-Institut in Berlin fand dazu zusätzlich ein Gespräch mit dem Cottbuser
Gründungsrektor statt. Er wollte ein klares Wort des Ministerpräsidenten, das allein die Bedenken gegen das
Brandenburger Berufungsverfahren in der Wissenschaftswelt entkräften könne. Die Staatskanzlei hatte dem
Wissenschaftsministerium zuvor mitgeteilt, wegen der "Professorensache macht der MP keinen Termin". Noch
vom Fraunhofer-Institut aus versuchte Spur, dennoch Stolpe zu sprechen. Die Sekretärin meldete:
"Ministerpräsident Stolpe ist nicht zusprechen." Spurs Weisung: "Dran bleiben! Immer wieder versuchen!" Spur
bekam seinen Termin beim "MP". Und der sagte ihm nach Konsultation mit dem Wissenschaftsminister zu,
Brandenburg werde bei der Einstellung von Professoren nicht anders verfahren als die anderen Bundesländer.
Diese Nachricht war wichtig für die Bewältigung der nächsten Hürde im Gründungsprozeß, dem
Wissenschaftsrat.
4. Der Wissenschaftsrat, genauer gesagt seine Wissenschaftliche Kommission,
war eine Versammlung
hochgelobter Primadonnen. Jeder Wissenschaftler dort hielt sich auf dem Fachgebiet, das er vertrat, für ein "As",
und diese Einschätzung war in den meisten Fällen zutreffend. Ohne den Rat, so die Selbsteinschätzung dieses
Gremiums, würde sich in der deutschen Hochschullandschaft gar nichts bewegen. Zumindest für Brandenburg
war das eine hypertrophe Einschätzung, denn faktisch wurden die Entscheidungen über die Gründungen von
den zuständigen Politkern des Landes und des Bundes getroffen. Der Rat konnte korrigieren, Hinweise geben,
Gewichte verlagern, verzögern.
Projekte verhindern oder gar initiieren konnte er nicht. Der Typus der
angesehenen und unabhängigen Wissenschaftler, der sich in den Wissenschaftsrat wählen läßt, hängt doch von
der Politik vor allem des Bundes ab, weil sie letztenendes über die von ihm begehrten Ressourcen verfügt.
Professoren, die darauf keinen Wert legen, kommen auch nicht in den Wissenschaftsrat. Und daß im
vorliegenden Fall der Bund die brandenburger Pläne der Hochschulgründungen unterstütze, setzten die Räte vielleicht in vorauseilendem Gehorsam - bei der gleichen Parteiorientierung von Bundesbildungsministerium
und dem Potsdamer Wissenschaftsministerium einfach voraus.
Bevor sie ihren Segen gaben, stellten die Räte jedoch zunächst einmal Frage an Frage: Welche Gebäude sollten
denn nun in Cottbus an die Fachhochschule und welche an die Universität gehen? Und wie, bitteschön, stimmt
man das Gründungskonzept mit den TU`s in Berlin und Dresden ab? Ein Prominenter von ihnen begab sich in
die Öffentlichkeit: Von einer Europauniversität halte er nicht viel, da habe es schon früher Versuche gegeben
44
und heute sei da praktisch nichts Europäisches. Und schon gar nichts halte man von der Frankfurter Idee, einen
Studiengang Wirtschaftsphysik einzurichten.
Seltsamerweise geriet das größte Gründungsprojekt, die Universität Potsdam, nicht ins Visier. Offensichtlich
reichte der günstige Standort der Landeshauptstadt direkt neben Berlin
aus. Die Potsdamer hatten fünf
Fakultäten vorgesehen (Jura, Philosophie I und II, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, MathematikNaturwissenschaften) für 13 000 Studenten. Auch daß Potsdam zugleich eine Fachhochschule und die
Hochschule für Film und Fernsehen beherbergte, störte niemand. Potsdam war ein Selbstläufer; hier bedurften
die Hochschulen auch nicht des Zuspruchs durch die Stadt wie in Frankfurt an der Oder. Sie erhielten ihn auch
nicht...
Frankfurt und Cottbus wurden endlich evaluiert. Der Rat formulierte noch einige Änderungswünsche Betriebswirtschaftslehre bitte nur in Frankfurt, nicht aber in Potsdam und die Wirtschaftsphysik in die "zweite
Aufbauphase" der Viadrina - , aber die Gesamtentwicklung wollte und konnte er nicht stoppen. Der Gründung
der brandenburgischen Universitäten und Fachhochschulen wurde am Ende zugestimmt. Die Hochschulen hatten
damit die Geburt geschafft, ob sie lebensfähig sind, wird die Zukunft zeigen.
Der schnelle und wenig systematisch geplante Gründungsprozeß hat es mit sich gebracht, daß es nun Regionen
im Lande gibt, die sich vernachlässigt fühlen und ebenfalls Hochschulgründungen fordern. Das ist in Schwedt, in
Eisenhüttenstadt und auch in der Prignitz der Fall. Die Landespolitik wird sich hier mit Defiziten herumplagen
müssen. Frankfurt hat - angesichts ausländerfeindlicher Vorkommnisse und stockender Berufungen - um die
Einlösung seines Anspruchs zu kämpfen. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz hat es keine
systematische Abstimmung mit der Hochschulentwicklung in Berlin gegeben, wo beispielsweise die drei
Universitäten FU, TU und Humboldt trotz Abbaubemühungen Brandenburg weit in den Schatten stellen. Ganze
Fächergruppen lassen sich in Brandenburg nicht studieren. Berlin hat drei Universitätsklinika, Brandenburg hat
keines, und der Wissenschaftsrat wollte daran auch nichts ändern. Auf der anderen Seite leistet sich die direkt
nebeneinander zwei Spezialhochschulen, die Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und die Film- und
Fernsehakademie im Westen Berlins. Sowohl von Berliner als auch von brandenburger Seite wurde eine
Zusammenlegung dieser Einrichtungen von Anfang an blockiert.
Mit seinen Gründungen hat Brandenburg eine eigene Wissenschaftslandschaft geschaffen und bietet
beispielsweise 23 000 Universitätsstudienplätze an - ein Drittel des Volumens der FU in Dahlem. Die
brandenburger Einrichtungen sind nur zu verstehen als Ergänzungen zu den Berliner Institutionen, und als solche
sind sie sinnvoll. In Berlin gab es 1994 140 000 Studenten.
Bei allen strukturellen Mängeln sind die Wissenschafts- und Hochschuleinrichtungen für die Wirtschaft und die
politische Kultur Brandenburgs unverzichtbare Institutionen. Der Landesregierung kann daher nur empfohlen
werden, pfleglich mit diesem Erbe umzugehen, das ihr in einer außergewöhnlichen Zeit zugefallen ist und daß
heute nur zu leicht verspielt werden könnte.
b) Zwei politische Kulturen
Ende 1993, vor der Kaskade von Bundestags- und zahlreichen Landtagswahlen, geschah in der
brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam Ungeheuerliches: Bei den Oberbürgermeisterwahlen lag der
Kandidat der PDS, Rolf Kutzmutz, im ersten Wahlgang vor dem sozialdemokratischen Amtsinhaber, Horst
Gramlich. Gramlich hatte eine unglückliche erste Amtsperiode hinter sich, aber daß Potsdam nun von einem
"Kommunisten regiert" werden könnte, regte Gemüter in ganz Deutschland auf. Vor allem Kritiker aus dem
45
Westen fanden es empörend, daß der sympathische Kutzmutz mit SED-Vergangenheit auch eine Mitarbeit bei
der Stasi zugegeben hatte. Freilich war seine Stasi-Geschichte weniger brisant als die des Ministerpräsidenten
des Landes, Manfred Stolpe. Aus dem Parteihauptquartier der CSU im fernen München war zu hören, man sollte
die PDS verbieten, und im nahen ehemaligen West-Berlin polterten CDU Politiker, man habe nicht vierzig Jahre
gegen den Kommunismus gestanden, um nun im Zuge der möglichen Vereinigung Berlins mit Brandenburg von
einer Landeshauptstadt aus regiert zu werden, an deren Spitze ein Kommunist säße. Diese Fürsorge um Potsdam
hatte sich zweieinhalb Jahre später nach dem Scheitern der Fusion durch die Volksabstimmung als voreilig
erwiesen.
Aber auch aus dem Kommunisten im Rathaus wurde nichts. Für den zweiten Wahlgang wurde ein Bündnis für
Gramlich und gegen Kutzmutz geschmiedet. CDU, Grüne und FDP warben für den ungeliebten OB, der es dann
noch einmal schaffte.
Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Brandenburg und die Reaktionen hierauf im Westen zeigten, daß
Deutschland Jahre nach der Vereinigung zwei politische Kulturen hatte. Das könnte sich zum Wesen der
Berliner Republik zu verfestigen und wäre ein gravierender Unterschied zur Bonner Republik. Das
Produktivkapital sitzt im Westen und hat an der Wiedervereinigung verdient. Von West nach Ost wandert
dauerhaft kein Kapital, dafür wandern qualifizierte Arbeitnehmer von Ost nach West. Mit
öffentlichen
Transferleistungen auch in Milliardenhöhe läßt sich der Sozial- und Bewußtseinsunterschied nicht wegkaufen.
Im Osten hatten die Menschen die deutsche Einheit neben der Befreiung von der Diktatur überwiegend auch als
eine Befreiung im regionalen Sinne empfunden. Nicht nur der Kurfürstendamm, auch die Alpen und sogar die
Everglades waren erreichbar geworden. Wirtschaftlich und sozialpsychologisch brachte die Einheit aber auch
"Befreiungen" von der Lebenssicherheit. Existenzielle Besitzstände wie Wohnung und Arbeit gerieten in Gefahr
und gingen vielfach verloren.
Der Westen übernahm das Kommando in der Republik, im Bund sowieso, aber auch in den Ländern und in den
Kommunen. Trotz des Umzugsbeschlusses des Deutschen Bundestages wurde die Politik am Rhein fortgesetzt,
als sei die deutsche Vereinigung lediglich eine Arrondierung des Bundesgebietes um einige Wüsteneien. In den
Behörden Brandenburgs, seinen Kreisen und Gemeinden gaben "Wessis" – aus der anderen Lebenswelt von
Rhein und Ruhr kommend – den Ton an. Weil sie als Botschafter der ersehnten Konsum- und Luxuswelt
gesehen wurden, waren sie zunächst – wenn auch mit einem unangenehmen Gefühl der Unterlegenheit –
willkommen. Innerhalb von zwei Jahren kam die Ernüchterung. Trotz der Versprechen und der Helfer aus dem
Westen ging es für viele hier sozial bergab, und sie konnten oder wollten nicht sehen, wo es bergauf gegangen
war. Zwar wurden Straßen gebaut, Häuser renoviert und investiert. Aber die Arbeitslosenquoten wurden
zweistellig, ganze Wirtschaftszweige brachen ab. Auf Liegenschaften wurden Altansprüche erhoben. Immer
mehr Brandenburger erkannten, daß sich die Westhelfer mit Buschgeldern und Sprungbeförderungen selber
ganz gut helfen konnten, ansonsten aber auch nur mit Wasser kochten.
Wen wundert eigentlich der aufgekommene Frust? Wen wundert der Zulauf zur PDS, die ein altes "Wir-Gefühl"
der DDR anspricht und deren Repräsentanten wenigstens nicht die roten Socken von der Sorte waren, die sich
nach der Wende als Oberkapitalisten aufspielten? Wen wunderte das relativ magere Abschneiden der SPD
beispielsweise in Potsdam, wenn sich diese Partei trotz des Stolpe-Untersuchungsausschusses über die IMTätigkeit eines PDS-Genossen scheinbar moralisch empört gab, während solche Tätigkeit dem SPD-Genossen
verziehen wurde?
46
Der Erfolg der PDS in Potsdam war Ausdruck einer nicht erreichten inneren Einheit. Daß die
Konkurrenzparteien über dieses Ergebnis unglücklich waren, ist geschenkt. Daß aber im Westen darüber hinaus
aufgeschrien wurde über die Ungerechtigkeiten des Brandenburger Kommunalwahlergebnisses, was die
einstigen Vereinigungsbefürworter in der Minderheit und deren Gegner in der Mehrheit sähe, zeugte von
Ignoranz und Selbstgerechtigkeit.
Dabei hatte das westliche politische System auch in Brandenburg einen großen Erfolg erzielt. All der Frust über
die empfundenen Erniedrigungen der Menschen im Osten wurde gebündelt durch eine parlamentarische Partei
und in geradezu klassischer Weise in die repräsentative Versammlung der Gebietskörperschaft transmissioniert.
Alles ging nach guten demokratischen Regeln vonstatten. Was wollte man eigentlich mehr angesichts einer
noch nicht vollendeten deutschen Einheit?
Ohne politische Bildung im westlichen Sinne und trotz der Erfahrungen unter der SED-Diktatur hatten sich die
Brandenburger in einer schlimmen moralischen und wirtschaftlichen Krise als passable Demokraten erwiesen.
Daß dies von der Politik im Westen nicht gesehen wurde und die Wähler stattdessen Vorwürfe hörten, zeugte
von der Ferne dieser Politik von einem Teil ihres Veranwortungsbereiches.
Potsdam war keine Eintagsfliege, und die Republik mußte sich an die Erfolge der neuen Partei im Osten
gewöhnen. Anfang 1996 stellte die PDS etwa 6000 Parlamentarier in den Kommunen sowie landauf, landab in
der früheren DDR 180 Bürgermeister. Diese gehörten innerparteilich meist zu den "Realos", also jenen, die alte
Ideologien über Bord werfen und pragmatische Politik machen wollten. So wurde der Bürgermeister von
Neuruppin im Brandenburgischen mit den Worten zitiert: "Es spielt überhaupt keine Rolle, daß ich in der PDS
bin." Und einer der PDS-Bezirksbürgermeister in Berlin, Uwe Klett im Bezirk Hellersdorf mit vierzig Prozent
PDS-Stimmen im Rücken, spottete öffentlich über die "Staatsgläubigkeit " seiner Genossen, forderte gar
"Wettbewerb in der Verwaltung". Solchen Politikern freilich standen in der Mitgliederschaft der Partei DDRNostalgiker
gegenüber,
die
Arbeitslosigkeit
und
Umweltzerstörung
gleichermaßen
als
Folge
der
uneingeschränkten Profitgier der Kapitaleigner sahen.
Bei den Wahlen der Jahre 1994/95 setzte die PDS ungeachtet ihrer inneren Zerstrittenheit ihre Erfolge in den
Ländern des deutschen Ostens fort. Aber innerparteilich öffnete sich von 1991 bis 1995 eine Schere zwischen
der Zahl der Mandatsträger und der Mitgliederstärke der PDS. Die Mitgliederzahl sank einerseits von rund
173.000 auf 120.000 im Jahre 1995, aber durch gute Wahlergebnisse, zuletzt in Berlin, verfügte die Partei
andererseits über 159 Mandate im Deutschen Bundestag sowie in den Landtagen Ostdeutschlands und der
Hauptstadt. Während unter den Aktiven besonders den Medien viele jüngere Mitglieder auffielen – unter
anderem die Anführerin der dogmatischen "Kummunistischen Plattform", die sechsundzwanzigjährige Sahra
Wagenknecht oder die aus der Arbeitsgemeinschaft "Junge GenossInnen" stammende dreiundzwanzigjährige
stellvertretende PDS-Vorsitzende Angela Marquardt – sah es an der Basis grauer aus. 60 Prozent der PDSMitglieder hatten 60 und mehr Lebensjahre hinter sich, während der entsprechende Seniorenanteil in der CDU
35 und in der SPD 26 Prozent betrug. Derweil in der Partei über mögliche Koalitionen mit der SPD oder den
Grünen gestritten wurde, und in Sachsen-Anhalt die Duldung einer rot-grünen Landesregierung fast schon
Alltagsroutine war, schreckten meist aus der SED hervorgekommene Grauköpfe junge Sympathiesanten ab, der
Partei beizutreten. Selbst die Aussicht auf eine schnelle Karriere konnte die Abneigung gegen die alten Genossen
nicht kompensieren. Die PDS war beispielsweise in Brandenburg mit 17.950 Mitgliedern die mitgliederstärkste
Partei, jedoch nur 2,7% dieser Mitglieder war jünger als 30 Jahre. Der entsprechende Anteil war bei der SPD
7,2% und bei der CDU 5%. Im gleichen Jahr konnte die Landespartei 117 Neuaufnahmen verzeichnen, während
47
es die CDU auf 712 und die SPD auf 253 neue Mitglieder brachte.50 Die PDS könnte eines Tages von der
Mitgliederschaft her austrocknen. So könnte der Zeitpunkt kommen, an dem die im Osten Deutschlands 1995
noch mit rund zwanzig Prozent der Wähler triumphierende Partei von innen her abbrennt. Eine wider Erwarten
doch einsetzende Angleichung der politischen Kultur des Ostens an den Westen würde diesen Prozeß geradezu
entfachen. Diese Krise könnte ab dem Jahre 2000 auf die PDS zukommen. 51
Das Jahr der Wende in der DDR, 1989, ist auch das Geburtsjahr der PDS. 52 Auf ihrem Sonderparteitag im
Dezember mutierte die abgewirtschaftete Staatspartei SED zunächst zur "SED-PDS" und wenig später zur
"Partei des Demokratischen Sozialismus" (PDS). Noch zwei Monate zuvor hatte sich die autistische
Führungsclique der DDR-Staatspartei vor winkenden Bürgern zum 40. Jahrestag der DDR feiern lassen. Aber im
Volke brodelte es. Die Menschen gingen in den Städten Ostdeutschlands auf die Straße. Die westdeutschen
Botschaften in den kommunistischen Nachbarländern der DDR waren voll von Flüchtlingen. Es gründeten sich
mit dem "Neuen Forum" und der sozialdemokratischen "SDP" neue Parteien, mit deren Vertretern die alten
Kader der SED sich nun an einen "Runden Tisch" setzen mußten. Jetzt trauten sich die
eingebildeten
Kronprinzen der SED aus der Deckung. Am 18. Oktober mußte Erich Honecker zurücktreten, und Egon Krenz
trat als Staats- und Parteichef an seine Stelle. Aber auch er war zu spät gekommen. Im Eiltempo der Revolution
verlor er seine Ämter, und wie sein alter Vorgänger flog er obendrein aus der Partei. Hans Modrow, neuer
Ministerpräsident der DDR und Rechtsanwalt Gregor Gysi waren im Dezember 1989 die Männer der Stunde.
2700 Delegierte, die über zwei Millionen Parteimitglieder repräsentierten, waren nach Berlin gekommen, um
die Frage zu entscheiden, ob die SED aufgelöst werden sollte. Modrow und Gysi kämpften gegen die Auflösung.
Gysi beschwor die Delegierten: "Die Auflösung der Partei und ihre Neugründung wäre m.E. eine Katastrophe
für die Partei. All jene, die sich in den letzten Wochen im ganzen so engagiert haben für die Erneuerungen ihrer
Partei, würden wir enttäuschen. Sie wollen doch unsere und nicht irgendeine Partei retten. Mit welchem Recht
sollten wir uns alle einer politischen Heimat berauben?"
Die Tatsache, daß die PDS aus der SED hervorgegangen ist und keine Neugründung war, wurde ihr in der
Folgezeit von den politischen Gegnern vorgehalten. Angesichts der "Sünden" der SED sprach man der PDS die
demokratische Satisfaktionsfähigkeit ab. Die Wahlerfolge der Partei behinderte das jedoch nicht. Für die
Mehrzahl der zwei Millionen Mitglieder vom Dezember 1989 blieb die PDS in den kommenden Jahren nicht die
"politische Heimat" für das Parteibuch, wohl aber für den Stimmzettel. Ob dieser Erfolg auch im Falle einer
Neugründung gekommen wäre, ist offen. Gegner der Partei behaupten, Modrow und Gysi hätten die Kontinuität
deshalb nicht abgebrochen, weil man das erhebliche Parteivermögen retten wollte. Daß daran etwas war,
offenbarte sich im Jahre 1990, als aufgedeckt wurde, daß hohe PDS-Funktionäre versucht hatten,
Parteivermögen beiseite zu schaffen. Immerhin: Gysi betonte, getäuscht worden zu sein und bot seinen Rücktritt
an, der allerdings von der Partei nicht angenommen wurde. Aber viele Mitglieder verließen zu dieser Zeit die
Partei.
Wie sehr die PDS Teile der Bevölkerung der früheren DDR ansprach, hatten schon die Volkskammerwahlen im
März 1990 gezeigt, als die Partei 16,4% der Stimmen bekam und damit den Platz drei hinter der CDU und der
50 Der Tagesspiegel, 5.3. 1996, S. 12, Jugend zieht eher zu SPD und CDU
51 Der Spiegel, Nr. 3 1996, S. 40 ff
52 Zum folgenden s. Heinz Beinert (Hg.), Die PDS – Phönix oder Asche?, Eine Partei auf dem Prüfstand,
Berlin 1995
48
SPD einnahm. Bei der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezember 1990 hätten die CDU/CSU, die SPD und die
FDP die PDS liebend gerne durch die Fünfprozentgrenze aus dem Deutschen Bundestag ferngehalten, doch das
Bundesverfassungsgericht verordnete – wie berichtet – die Sperrgrenze jeweils getrennt für Ost- und
Westdeutschland. Die PDS zog aufgrund ihrer elf Prozent im Osten (Bundesdurchschnitt 2,4%) in den
Bundestag ein, wo man ihnen – ähnlich wie man es zu Beginn mit den Grünen gemacht hatte – prompt den
Fraktionsstatus verwehrte. Nach dem Kutzmutz-Spektakel und anderen guten Wahlergebnissen zog die PDS
1994 mit 30 Abgeordneten gegenüber bis dahin 17 in den Deutschen Bundestag ein. Zwar hatte die Partei
bundesweit
4,4% der Wählerstimmen erhalten, doch die nun für das gesamte Deutschland geltende
Fünfprozentgrenze übersprang die Partei, weil sie im Osten Berlins vier Direktmandate errungen hatte.
Der Öffentlichkeit wurde die innere Vielfalt der PDS auf ihrem 4. Parteitag im Januar 1995 gewahr. Ein
Parteitagsbeobachter schreibt: "Im Foyer des Konferenzgebäudes glaubte man sich auf einen Jahrmarkt versetzt,
im Tagungssaal in ein APO-Teach-in der späten sechziger Jahre."53 Inhaltlich machte vor allem die
Kommunistische Plattform von sich reden, die den alten DDR-Dogmatismus verklärte und in Sarah
Wagenknecht die Freund und Feind genehme Repräsentantin fand. Die alten Genossen freuten sich über die
Prinzipientreue der Enkelin, und für die Gegner der PDS war die "attraktive Philosophiestudentin im Rosa-L.Outfit"54 das geeignete Vorzeigeobjekt: alter Dogmatismus hinter hübscher Maske. Gysi und der neue
Parteivorsitzende Lothar Bisky, zugleich Vorsitzender der Brandenburgischen PDS-Fraktion, verhinderten die
Wahl der Rosa-Inkarnation in den Vorstand durch ein Ultimatum: "entweder sie oder wir". Aber in Talk-Shows
des deutschen Fernsehens wurde die junge dogmatische Sarah/Rosa zum gern präsentierten Medienstar.
An der Spitze ist das Bild der PDS bunt. Es gibt zahlreiche Plattformen und Arbeitskreise zu allen Politikthemen.
Doch an der Basis sind es vor allem die rüstigen Rentner, alte Kader zumeist, die voller Energie und für die
Partei umsonst Stadtteilarbeit leisten, womit sie die Erfolge der Partei gerade in den Berliner Bezirken
Hellersdorf und Marzahn vorbereiten. So konnte die PDS bei den Berliner Wahlen 1995 im Osten der Stadt
erneut triumphieren. Aber den alten Kämpfern wächst niemand nach, und das Schicksal der Partei hängt mit
davon ab, wie lange diese noch die Kärnerarbeit leisten können.
Ähnlich wie Manfred Stolpe bei der SPD in Brandenburg so hat auch Gregor Gysi alle gegen ihn gerichteten
Vorwürfe, er sei Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes gewesen, abgewehrt. Er spricht von einer Kampagne,
bei der sich die Gauck-Behörde, die CDU/CSU und die Bürgerrechtler um Bärbel Bohley verbündet hätten.
Immerhin wird die Bürgerrechtlerin und spätere SPD und dann CDU-Politikerin Angelika Barbe mit den Worten
zitiert: "Der muß im Bundestag mit Zwischenrufen fertig gemacht werden."
Solche Versuche, die DDR-Vergangenheit zu bewältigen, nützen allerdings der PDS mehr als daß sie ihr
schaden würden: Sie binden in einer Art Allianz des Trotzes Anhänger an die Partei. Die Stasi-Vorwürfe haben
Gysi bei seinen Wählern – hierin ähnlich Stolpe – nicht geschadet. Er selber ist ein großer politischer
Kommunikator und eines der wenigen politischen Talente aus dem Osten Deutschlands. Daher sagt er, man
wolle ihm schaden, um die PDS zu schwächen. Das provoziert allerdings die Frage, ob die PDS auf so tönernden
Füßen steht, daß ihr Erfolg überwiegend einem einzigen Politiker zu verdanken sei.
Die PDS hofft, sich als neue, sozialistische Partei im Parteienspektrum der Bundesrepublik etablieren zu können.
Dem stehen zwei Hindernisse entgegen:
53 a.a.O.,, S. 18
54 ebenda
49
1. Die rigorose Ablehnung der SED-Nachfolgepartei durch die anderen Parteien. Für die nach wie vor vom
Westen beherrschte politische Klasse der Bundesrepublik ist die PDS schlicht nicht gesellschaftsfähig. Da man
dort offensichtlich davon ausgeht, daß die PDS ohnehin eine vorübergehende Erscheinung ist, wird sich so bald
nichts daran ändern, daß diese Partei geschnitten wird – jedenfalls von der Union, der FDP, der Mehrheit der
SPD, auch von vielen Grünen.
2. Mit der Ablehnung durch die politische Klasse korrespondiert die mangelnde Wählerakzeptanz im Westen
Deutschlands. Für die Bürgerschaftswahlen in Bremen im Mai 1995 hatte sich die PDS vorgenommen, den
ersten Schritt aus der Ost-Diaspora zu tun, und sie engagierte sich dort erheblich. Dennoch erhielt die Partei an
der Weser nur 2,3% der Stimmen. Die PDS blieb ostdeutsche Regionalpartei, und eine Frage auf ihre Zukunft
ist, ob sie sich jemals aus dieser Begrenzung befreien kann. Jeder Schritt in den Westen gefährdet den Stand im
Osten,
wo
die
PDS
aufgrund
der
regionalen
Befindlichkeit
Zulauf
hat.
Immerhin:
Bei
den
Abgeordnetenhauswahlen 1995 in Berlin erzielte die PDS im Bezirk Kreuzberg 5,3% der Wählerstimmen und
schaffte damit zum erstenmal den Sprung in eine Bezirksverordnetenversammlung des ehemaligen West-Berlins.
Doch der soziale Brennpunkt Kreuzberg inmitten der Stadt ist in jeder Weise ein Ausnahmefall.
Den wichtigsten Ausbruch aus der parteipolitischen Ächtung schaffte die PDS Mitte 1994 in Sachsen-Anhalt,
als sie die Wahl einer rot-grünen Regierung unter Reinhard Höppner unterstützte. Mit dieser Tolerierung wurde
in Magdeburg die von der CDU und der Bundes-SPD favorisierte Große Koalition verhindert. Der "Sündenfall"
von Magdeburg war für die CDU Anlaß für heftige Polemiken vor allem gegen die SPD, und natürlich geisterte
dabei auch das Volksfront-Gespenst durch die Lande. Die SPD fühlte sich in die Enge getrieben und erklärte
Magdeburg zur Ausnahme. Aber von sozialdemokratischen Politikern in Schwerin und Potsdam war seitdem
immer wieder einmal zu hören, daß man sich eine engere Zusammenarbeit mit der SED-Nachfolgepartei
vorstellen könne. Und nicht viel später setzte bei den Grünen eine Diskussion darüber ein, ob die Regierung von
Union und FDP mithilfe einer Kooperation von SPD, Bündnisgrünen und der PDS gestürzt werden könne.
Es ist nicht auszuschließen, daß die Ächtung der PDS regional durch Kooperationen vor allem mit der SPD im
Osten Deutschlands aufgelockert wird. Dadurch würden die innerparteilichen Differenzen zwischen den
Reformern
und den Dogmatikern in der PDS
stärker in das Bewußtsein rücken. Deren Streit ist nicht
ausgestanden. Die eigentliche Hypothek der PDS sind die verbliebenen alten Genossen, die nach wie vor den
"Klassencharakter der BRD" als Ursache allen Übels sehen, den Pluralismus der PDS für falsch halten und
behaupten, die Leistungen der DDR würden durch den antikommunistischen Zeitgeist im vereinten Deutschland
zu Unrecht negiert. Es sind jene Leute, die Rang und Status als Teil der DDR-Elite verloren haben, darüber
verletzt sind und dies kompensieren, indem sie sich aufführen, als verfügten sie allein über die Wahrheit. Als
1995 38 Mitglieder der PDS – "Intellektuelle" aus DDR-Zeiten – ein Papier unter die Parteimitglieder brachten,
das sie mit "In großer Sorge" überschrieben, wehte den Lesern der rüde Geist der einst Mächtigen entgegen.
Bleiben diese Gruppen, die zusammen mit den verrenteten Sozialarbeitern vor Ort der Partei Kraft geben, so
werden sie deren Gegnern immer wieder als Demonstrationsobjekte der Häßlichkeit der Partei dienen. Verlassen
sie wegen eines in ihren Augen überbordenden Pluralismus und ihnen unerträglichen Pragmatismus die Partei,
wird es für deren Organisation eng, wenn sie die Bewohner der Plattenbauten in Hellersdorf und Marzahn bei
der Stange halten will.
Solange die Partei sich nicht an Regierungen beteiligt, was in den Jahren nach der deutschen Vereinigung ihre
offizielle Politik
war, hat sie trotz ihrer inneren Unausgewogenheiten Erfolge. Sie kann die Gefühlswelt
ostdeutscher Wähler ansprechen, die hohe Arbeitslosigkeit beklagen, den Frieden beschwören und den
50
Sozialabbau verteufeln, ohne sich mit praktischer Politik in Widersprüche verwickeln zu müssen. Sie ist in der
Opposition
und
wird
im
Deutschen
Bundestag
als
Schmuddelkind
behandelt.
Im
Falle
einer
Regierungsbeteiligung in einem der ostdeutschen Länder oder im Bund müßte sie sich offenbaren, und sie würde
dabei entweder ihre Koalitionspartner oder einen Teil ihrer Wählerschaft verprellen.
Die Parteiführung will trotz aller Schwierigkeiten die Öffnung der Partei nach Westen. Je mehr Kooperationen –
schließlich auch Koalitionen – mit den Altparteien sie erreicht, so ist das Kalkül, desto eher wird der Bann von
ihr fallen, und dann hätte sie die Chance, durch fortschreitende innere Vereinigung sinkende Wähleranteile im
Osten durch steigende im Westen zu kompensieren. Ein Schritt in diese Richtung war der erste PDS-Parteitag,
der nicht in Berlin tagte, sondern auf dem Wege nach Westen, in Magdeburg. Dort wurde das ersehnte Terrain
vorsichtig in Augenschein genommen. Der Parteivorsitzende Lothar Bisky sprach davon, es könne "künftig
Wahlergebnisse geben, die sowohl eine rechnerische Mehrheit für eine schwarz-rote Koalition als auch eine
rechnerische Mehrheit diesseits der Union zulassen". Noch sei es zu früh, schon klar Kurs auf
Regierungsbeteiligungen zu gehen, befand Bisky mit Rücksicht auf die innerparteiliche Opposition. Aber
ausschließen solle man das auch nicht. "Wir sollten uns hüten, jetzt für alle möglichen Konstellationen der
Zukunft Beschlüsse auf Vorrat zu schaffen." Der Parteitag folgte diesem Kurs, der langsam wegführen soll von
der ausschließlichen Oppositionsrolle der PDS hin zu einem Partner der SPD und der Grünen, um ein
Politikmodell möglich zu machen, das "aus dem altbundesrepublikanischen Rahmen fällt." 55
Dieses Politikmodell ist der Versuch einer Synthese zwischen west- und ostdeutschen Werten, wobei es im
Zweifel wegen der dortigen Wähler auf die ostdeutschen ankommt. Doch es ist eben ein Versuch, aber es wird
keine Synthese, wenn beispielsweise klassische Staatsbürgerrechte und soziale Menschenrechte gleichwertig
nebeneinander gefordert werden. Zur ersten Kategorie gehören die Grundrechte, zur zweiten das Recht auf
Arbeit und auf eine Wohnung. Der Eindruck ist, die PDS verbeuge sich notgedrungen vor dem Grundgesetz,
während ihr Herzblut doch der DDR-Ideologie gehört. Weiterhin wird der Parlamentarismus zwar
hingenommen, aber gleichzeitig dessen prinzipielle Umgestaltung vorgeschlagen. Harmlos, vielleicht etwas
opportunistisch ist die Forderung, das Wahlalter auf 16 Jahre zu senken. Aber die geforderte 3. Stimme bei
allgemeinen Wahlen für eine ständische "Bundeskammer für soziale Bewegungen", wovon Gregor Gysi spricht,
würde die Prinzipien des Parlamentarismus aushebeln. 56 Die PDS müßte schon sehr stark werden, wollte sie
derlei verwirklichen können.
Wird es die PDS schaffen, der Formateur eines neuen Parteiensystems – wenigstens im Osten - der Berliner
Republik zu werden? Angesichts ihrer Wahlerfolge traut sie sich offensichtlich diese Rolle zu. Als die
Kampagne der PDS gegen die von der Potsdamer Landesregierung und dem Berliner Senat mit viel Aufwand
vorbereitete Länderfusion in Brandenburg und in Ost-Berlin für die Partei erfolgreich war und sowohl Stolpe als
auch Diepgen als Verlierer dastanden, strotzte die PDS vor Kraft. Es wurden Stimmen laut, daß man nun in die
Regierungen drängen solle. Vorsichtige Genossen warnten. Sie wissen, wie wenig ihre Programme umsetzbar
sind. So wird die PDS im Osten Deutschlands Sammelbecken derer bleiben, die ihr Verliererdasein betrauern
oder solcher, die sich über die Machtübernahme durch den Westen ärgern. Daß es ursprünglich der Osten war,
55 Diese Bemerkung bezieht sich auf Deutschland. Neonationale auch in der FDP sagen, die Entwicklung in Osteuropa und
im früheren Jugoslawien zeuge von einer Renaissance des Nationalismus. Jedoch ist hier der Nationalismus ideologischer
Rettungsanker gegen den Werte- und Statusverlust ganzer Völkerschaften nach dem Niedergang des Sowjetsystems. Dieser
Vorgang ist mit Westeuropa und Deutschland nicht zu vergleichen.
51
der die Einheit wollte, wird längst verdrängt. Wie es aussieht, wird die ökonomische Basis solcher Stimmungen
noch lange bestehen bleiben. Die eigentliche Gefahr für die PDS ist die ihr drohende innere Vergreisung. Die
Probe für ihre Überlebensfähigkeit wird erst kommen, wenn PDS-Politiker wie Angela Marquardt oder Petra Pau
auf sich gestellt – ohne die plumpen oder sublimen DDR-Nostalgiker – die Partei führen müssen. Die alten
DDR-Geschichten werden keine Rolle mehr spielen. Aber es ist möglich, daß sich einige Merkmale der
Ostmentalität wie das etatistische Sicherheitsdenken in die nächste Generation vererbt. Wenn die PDS dies
politisch ausdrücken kann und die anderen Parteien dabei versagen, könnte diese Partei über längere Zeit als
ostdeutsche Regionalpartei bestehen bleiben. Allerdings muß sie dafür neue Mitglieder gewinnen, die den
natürlichen Rückzug der alten "roten Socken" kompensieren.
Ob die PDS „entzaubert“ wird, ist nicht entschieden, nachdem sie über Jahre hinweg in MecklenburgVorpommern und im Land Berlin mit der SPD regiert hat. Es scheint, noch 15 Jahre nach der Vereinigung ist
vielen Bürgern der „neuen“ Länder das gefühlte ostdeutsche Milieu so wichtig, dass sich die PDS noch lange
Zeit als 3. Kraft im Osten Deutschlands halten wird.
7.
Gedenken
a) Die bleibende Last
Auschwitz ist das Symbol und der Beweis dafür, daß der Staat einer hochentwickelten Gesellschaft die Moral
verlieren und zur Organisation des Verbrechens werden kann.
Die Nationalsozialisten hatten sich zu Herren über Freiheit und Unfreiheit, über Leben und Tod von Menschen
und Völkern in Europa aufgeschwungen. Für den Apparat, mit dem sie das durchführten, ist das Sprachkürzel
“KZ” bis in unsere Zeit erhalten geblieben. Die Einrichtung von Konzentrationslagern war von Hitler lange vor
1933 angekündigt worden. Sofort nach der Machtergreifung entstanden die ersten “wilden” Konzentrationslager
- noch unter der Regie der SA. Von Dachau aus und dann über Sachsenhausen errichtete ab Mitte der dreißiger
die SS das System der Konzentrationslager. Mit der wachsenden Hybris des nationalsozialistischen Terrors über
Europa wucherte dieses System exponentiell und brachte vor allem in Osteuropa die Apokalypse der
Vernichtungslager hervor. Die Namen der Konzentrations- und Vernichtungslager, die überall in Europa
entstanden, sind uns heute schrecklich geläufig: Dachau, Bergen-Belsen, Sachsenhausen, Theresienstadt,
Auschwitz. Die Konzentrationslager und ihre Außenlager befanden sich häufig direkt neben den Arbeits- und
Wohnorten der “Zivilbevölkerung”. Wie eine böse Krebskrankheit legte sich das KZ-System über Europa. Und
wie bei einer solchen Krankheit wußten oder ahnten die meisten Menschen davon, schwiegen oder verdrängten
es jedoch zu allermeist. Die Nazis indes versuchten noch in den Tagen des Untergangs infolge des verlorenen
Krieges, das Ungeheuerliche ihre KZ-System vor der Weltöffentlichkeit zu verbergen. Vor den anrückenden
Truppen der Sieger trieben sie die verbliebenen und marschfähigen Häftlinge auf Todesmärsche zu Orten, wo
diese heimlich ermordet werden sollten. Bei diesen Todesmärschen sind noch einmal Tausende von Menschen
ums Leben gekommen. Durch die Befreiung der Lager wurde die Menschheit über das KZ-System informiert.
Ein weltweiter Schock war die Folge.
Das ist jetzt 60 Jahre her.
Nach Kriegsende nutzten die Siegermächte einen Teil der ehemaligen Lager der Nationalsozialisten als
Internierungslager. Die Grundlage hierfür war eine Richtlinie im Potsdamer Abkommen von 1945 über die
56 s. Gero Neugebauer/Richard Stöss, Die PDS, Geschichte. Organisation. Wähler. Konkurrenten, Opladen
1996, S. 70ff
52
Inhaftierung Deutscher. Die Amerikaner taten das beispielsweise in Dachau. In der sowjetischen Besatzungszone
wurden unter anderem in Sachsenhausen und Buchenwald Internierungslager eingerichtet. Während die
Amerikaner die Gefangenen bald vor Gericht stellten oder sie entließen, blieben die Lager in der sowjetischen
Besatzungszone - häufig versehen mit dem Kürzel des sowjetischen Geheimdienstes “NKWD” - bis 1950
bestehen. Es war ihren Insassen bei Androhung schwerer Strafen verboten, über das Lagerleben zu sprechen,
auch nach der Entlassung. In diesen Internierungs- und Speziallagern kamen Tausende von Menschen infolge
von Unterernährung und Krankheit, aber auch als Opfer der Lagerherren, um. Noch nach dem Zusammenbruch
des Sowjetimperiums war das Thema für viele Menschen, die damit zu tun hatten, tabu. Die Furcht saß tief.
Gedenkstätten zur Erinnerung an die Konzentrationslager der Nationalsozialisten wurden sowohl in Ost- als auch
in Westdeutschland in den fünfziger und sechziger Jahren errichtet. Die politischen und ideologischen
Voraussetzungen hierfür jedoch waren in beiden Teilen Deutschlands sehr unterschiedlich. Hatten die
Siegermächte zunächst beispielsweise durch die Kriegsverbrecherprozesse gemeinsam mit einer Aufarbeitung
des Nationalsozialismus begonnen, so trennten sich die Wege doch sehr bald. In Westdeutschland bemühten sich
vor allem die Amerikaner durch ein “Reeducation”-Programm um eine demokratisch-liberale Sozialisation der
Deutschen. Im Osten etablierten die Sowjets eine Diktatur nach ihrem eigenen Muster mit Hilfe deutscher
Gefolgsleute. Die Sowjetzone und spätere DDR begriff sich offiziell als “antifaschistisch”, und dadurch gab es
wenig Veranlassung zu einer inneren Auseinandersetzung mit der eigenen Nazi-Vergangenheit. Der “verordnete
Antifaschismus” verhinderte bei der “normalen” Bevölkerung eine eigenständige Beschäftigung mit der Zeit von
1933 bis 1945. Zu gerne zog man aus der offiziellen Staatsdoktrin den Schluß, selber mit dieser Zeit nichts zu
tun zu haben und nunmehr auf der richtigen Seite zu stehen. In der Bundesrepublik dagegen fand eine - wenn
auch ambivalente - innere und nach außen gerichtete Auseinandersetzung statt. Einerseits leistete die
Bundesrepublik materielle “Wiedergutmachung” in beachtlichem Umfang, andererseits waren hier ehemalige
Funktionäre des Nazis-Regimes an entscheidenden Stellen des Verwaltungs- und Regierungsapparates tätig. Die
bürgerlichen Parteien bemühten sich um eine Integration ehemaliger Parteigänger in die neue gesellschaftliche
Ordnung. Die Frage der Verjährung nationalsozialistischer Verbrechen wurde mehrmals kontrovers und
gelegentlich auf hohem Niveau diskutiert. Innerhalb der DDR dagegen hatte es derartiges nicht gegeben. Mit der
Antifaschismus-Ideologie glaubte man offensichtlich, sich an der Geschichte “vorbeimogeln” zu können.
Die Errichtung von KZ-Gedenkstätten hatte noch weitere Bezüge. In den Konzentrations- und
Vernichtungslagern hatten Menschen aus ganz Europa und darüber hinaus gelitten. Insgesamt waren es mehr
Ausländer als Deutsche. Die Nationalsozialisten hatten Juden ermordet, um das ganze Volk “auszurotten”.
Ebenso geschah es den Zigeunern - Sinti und Roma wurden allein wegen ihrer Volkszugehörigkeit getötet.
Auch tatsächliche und vermeintliche politische Gegner wurden verfolgt, gequält und ermordet. An den Völkern
des Ostens, Polen und Russen zumal, versündigten sich die Nazis aufgrund ihrer bornierten Rassenideologie,
indem sie auch diese schunden, “minderwertiger” behandelten als die eigene angeblich “nordische” Rasse. In
Sachsenhausen machte man sich nicht einmal die Mühe, die Tausenden ermordeter sowjetischer Soldaten
namentlich zu registrieren.
Die Einrichtung von Gedenkstätten an den Orten früherer KZ`s richtete sich gegen das Vergessen. Es gab aktive
Bürgergruppen wie die “Aktion Sühnezeichen”, die aus moralischer und politischer Überzeugung an die Zeit von
1933 bis 1945 gemahnen wollte. Ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen, ihre zahlreichen Verbände und
Komitees vor allem erzeugten zusammen mit solchen Bürgergruppen in den fünfziger und sechziger Jahren
erheblichen öffentlichen Druck zur Errichtung für die Gedenkstätten und gegen das fortschreitende Tilgen der
53
einstigen Folterplätze. Das geschah in beiden Teilen Deutschlands gleichermaßen. Die offizielle Politik der
Bundesrepublik führte die Gedenkstätten im Rahmen ihrer Wiedergutmachungspolitik ein. Eine wichtige Rolle
in der politischen Kultur der Bundesrepublik hatten sie nicht. An bestimmten Gedenktagen wie dem 20.Juli
wurden sie von Politikern aufgesucht. Oder man ging dorthin in der Begleitung von Staatsgästen, wenn diese das
gewünscht hatten. Den meisten Bürgern indes waren die Gedenkstätten wohl nur von den Hinweisschildern an
den Autobahnen bekannt. Einzelne Gruppen jedoch kümmerten sich sehr intensiv darum, insbesondere viele
Menschen unterschiedlichsten Alters aus dem Ausland.
In der DDR andererseits wurden die Gedenkstätten in das Herrschaftssystem eingebaut. An diesen Orten sollte
gezeigt werden, daß es eine Form des heroischen und schließlich siegreichen Widerstandes gegeben habe, den
der Kommunisten. Ihrer Helden wurde bei feierlichen Anlässen wie der Jugendweihe oder der Vereidigung der
Volksarmee gedacht. Die deutschen Gedenkstätten im Osten waren auch Orte für Massenveranstaltungen des
kommunistischen Systems. Entsprechend waren sie konzipiert, mit Aufmarschalleen, großen Plätzen und
monumentalen Statuen. Während man nach der Wiedervereinigung die originalgetreue Rekonstruktion
verbliebener Anlagen anstrebte, hatte man in der DDR die Anlagen nach eigener Philosophie überbaut und auch
so den Sieg des Sozialismus über den Faschismus demonstrieren wollen.
Auch bei der Darstellung der
Geschichte - in Ausstellungen und Filmen - kam es mehr auf die richtige Lehre als auf die historische
Genauigkeit an.
Von solcher staatlichen Erhöhung waren die Gedenkstätten im Westen nicht belastet. Sie konnten sich allerdings mit bescheidenen Mitteln - um die geschichtliche Wahrheit bemühen. Die große Öffentlichkeit nahm
davon wenig Notiz. Unter Schulbürokraten und Lehrern herrschte Uneinigkeit über Verbindlichkeit und Sinn
von Schülerbesuchen in Gedenkstätten. West-Berlin konnte sich nie darauf verständigen, Schülerfahrten zu
Gedenkstätten obligatorisch durchzuführen.
Widerstand kam vor allem aus der Schulbürokratie. Die KZ-
Gedenkstätten lagen in der DDR oder in der Volksrepublik Polen, und der Antikommunismus vieler Bürokraten
war offensichtlich stärker ausgebildet als das Bedürfnis, der Jugend die Verbrechen der Nazis vor Augen zu
führen. Gedenkstätten wie zum Beispiel Plötzensee gerieten darüber hinaus in Gefahr, zu Alibiorten der
Bundesrepublik zu werden, wenn es galt zu zeigen, daß man “aus der Geschichte gelernt” habe.
Für die Opfer und ihre Angehörigen haben die Gedenkstätten in Ost und West immer einen sehr hohen
persönlichen Wert. Diese Menschen wollen ihrer toten Leidensgenossen, Verwandten und Freunde gedenken
und die deutsche Gesellschaft mahnen, daß sie auf der Hut sei, ähnliche Entwicklungen wie in der dreißiger
Jahren zu vermeiden. Diese Menschen und ihre Organisationen finden großes Gehör in allen Ländern West- und
Osteuropas, in den Vereinigten Staaten und natürlich in Israel. Sie machen deutlich, daß die Gestaltung der
Gedenkstätten keine
deutsche Angelegenheit allein ist.
Seit der deutschen Wiedereinigung erscheinen die Gedenkstätten in neuem Licht, und es tun sich neue Probleme
auf.
1. In der deutschen Bevölkerung gibt es eine weit verbreitete Reserve gegen Gedenkstätten - sowohl im Osten
als auch im Westen. Geradezu im Gegensatz dazu existieren jedoch verschiedene Gruppen, welche
Gedenkstätten für notwendig und nach der deutschen Wiedervereinigung für ausbaubedürftig halten.
Normalerweise formulieren die Menschen ihre Zurückhaltung den Gedenkstätten gegenüber eher in privaten
Gesprächen - öffentlich sind sie nicht aktiv. Es dürfte wohl die Mehrheit der Deutschen sein, die Gedenkstätten
und eine entwickelte Gedenkkultur ablehnen, und diese Skeptiker sind in allen Schichten zu vermuten. Die
54
Befürworter der Gedenkstätten dagegen sind sehr aktiv und entsprechen den Normen der offiziellen politischen
Korrektheit. In latente und manifeste Konflikte geraten sie immer wieder mit Einwohnern jener Orte, an denen
sich Gedenkstätten befinden.
2. Ausländische Persönlichkeiten, andere Staaten und internationale Organisationen achten seit 1990 mehr als
früher auf die Entwicklungen in der Gedenkkultur Deutschlands. Für sie ist der Umgang des nunmehr größeren
Deutschlands mit den Mahnmalen der nationalsozialistischen Vergangenheit ein Indikator dafür, ob das vereinte
Deutschland eines Tages wieder geneigt sein könnte, sich zum Richter über andere Völker und Staaten
aufzuzwingen.
3. Infolge der Überbetonung des kommunistischen Widerstandes in der untergegangenen DDR wurde in den
östlichen Gedenkstätten die Entwicklung neuer Arbeitskonzepte erforderlich. Der Zentralrat der Juden in
Deutschland, der Zentralrat der Deutschen Sinti und Roma, christliche, sozialdemokratische, gewerkschaftliche
Opfergruppen, Schwuleninitiativen, Zeugen Jehovas und viele andere wollen nun, daß in den Gedenkstätten des
Ostens auch der Leiden ihrer Gruppen gedacht wird. Zugleichen haben sich Wissenschaftler - Historiker zumal aufgemacht, die Geschichte der KZ`s gründlich zu erforschen, denn die Wissens- und Materiallücken hierüber
sind erstaunlich groß. Dabei ist eine schwierige Diskussion innerhalb der Gedenkkultur entstanden: Die
Nationalsozialisten hatten sich vor allen das Ziel der “Ausrottung” der Juden gesetzt. An diesen haben sie sich
vergangen, und sie haben dem jüdischen Volk größte Schmerzen zugefügt. Wie aber soll der Opfer gedacht
werden, die keine Juden waren? Mußten nicht die Sinti und Roma das gleiche Schicksal erleiden wie die Juden,
und welchen Unterschied macht es, daß ihr Volk kleiner und weniger einflußreich ist? Ein schwieriger Streit auch zwischen den Opfergruppen - ist entstanden. Wer sollte ihn schlichten? Gedenkstätten und andere
Institutionen des Gedenkens werden in Zukunft mehr Offenheit und Kontroversen bei sich dulden müssen. Nur
so können sie glaubwürdig sein, auch wenn sie dabei etwas von ihrer weihevollen Würde verlieren.
4. Die Internierungslager der Sowjets nach 1945 müssen beachtet und gewürdigt werden. In diesen Lagern waren
ehemalige Nationalsozialisten, zufällig Denunzierte und politische Gegner des sowjetischen Systems gefangen.
Auch Jugendliche um die Fünfzehn waren unter den Häftlingen. Daß diese Lager eingerichtet wurden, ist
offensichtlich eine Folge des Nationalsozialismus und seiner Niederlage. Wieder wurden Menschen ohne
rechtsstaatliche Verfahren gefangen, gequält, getötet. Zwar geschah das nicht in dem industriell angelegten
Vernichtungssystem der Konzentrationslager - aber durch Zusammenpferchen, bewußt herbeigeführten Mangel,
durch Epidemien und Drangsalierungen wurden Menschen terrorisiert und zerbrochen. Wie nun soll in
Gedenkstätten wie Buchenwald oder Sachsenhausen, wo auf die Konzentrationslager die Internierungslager
folgten, die Nachkriegsgeschichte dargestellt werden? Wie soll der Opfer der sowjetischen Lager gedacht
werden, von denen doch einige Mitläufer oder sogar Täter bei den Nationalsozialisten gewesen waren? Das sind
Fragen, die mehr die deutsche als die internationale Öffentlichkeit angehen. Sie betreffen jedoch ein wichtiges
Kapitel der Geschichte der DDR und berühren die persönlichen Schicksale Tausender von Menschen.
Viele wehren sich gegen Gedenkorte für die Internierungslager an den Orten, die auch KZ-Gedenkstätten sind.
Der Opfer und möglicher Täter könne nicht zugleich und am gleichen Ort gedacht werden, so wird argumentiert.
Doch die Geschichte muß gezeigt werden, wie sie war. Ist es nicht wichtig zu wissen, daß in Sachsenhausen
beispielsweise die KZ-Baracken nach 1945 als Lager fortgenutzt und daß man sich der Funktionsräume wie etwa
einer Küche vor und nach Kriegsende gleichermaßen bediente?
5. Weiterhin sind die Gedenkstätten, wie sie aus der Bonner Republik und der DDR überkommen sind, selber ein
Stück deutscher Geschichte. Da der deutsche Vereinigungsprozeß sich insgesamt an den Maßstäben des Westens
55
orientierte, hätte man vermuten können, daß auch bei den Gedenkstätten alle Spuren in Gestaltung und
Darstellung, wie sie aus der DDR gekommen waren, getilgt worden wären. Dieser Weg ist aber nicht gegangen
worden - in Buchenwald nicht und schon gar nicht in Sachsenhausen und Ravensbrück. Die jeweils Beteiligten
waren sich grundsätzlich einig, die Gestaltung der DDR-Gedenkstätten behutsam zu verändern und im Falle der
Beseitigung einzelner Ensembles zu musealisisieren und dokumentieren. Wichtig ist es, heute die monumentale
Gestaltung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätten zu erläutern und das Gedenkstättenwesen in der DDR als
Teil des Herrschaftsapparates des untergegangenen Systems zu studieren.
6. Heikel ist das Thema des räumlichen Umfanges und der Anzahl der KZ-Gedenkstätten und der Gedenkorte.
Der Stadtteil Sachsenhausen von Oranienburg beispielsweise ist durch SS-Bauten, die alle einen unmittelbaren
Bezug zum KZ-System haben, geprägt. Die Gebäude - Kasernen, Verwaltungs- und Produktionshäuser - wurden
in DDR-Zeiten von Institutionen wie der Nationalen Volksarmee, ihren Angehörigen - aber auch der “HO”
(“Handelsorganisation”) - genutzt. Heute residieren dort das Finanzamt Oranienburg, der Polizeipräsident
Oranienburg, die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten. Die anrainenden Wohnhäuser waren für das SSPersonal errichtet worden und werden nun zum guten Teil von ehemaligen NVA-Leuten genutzt. Über die
städtebauliche Nutzung des trotzdem weitgehend brach liegenden Areals haben die Landesregierung und die
Stadt einen Wettbewerb veranstaltet, der aber auch den nicht gewünschten Effekt gebracht hat: Seitdem die
Absicht der Gedenkstättenstiftung bekannt ist, das gesamte Areal unter Bereichsschutz zu stellen, gibt es heftige
Bürgerproteste von Anwohnern dagegen, und auch Konflikte zwischen den wenigen Gewerbetreibenden in der
Nähe und der Gedenkstätte sind nicht ausgeblieben.
Doch damit nicht genug: Im Kernbereich der Stadt Oranienburg war 1933 von der SA eines der ersten “wilden”
KZ`s errichtet worden. Neben anderen wurde hier der Anarchist und Schriftsteller Erich Mühsam ermordet - in
der Nacht vom 9. zum 10. Juli 1934. Nach 1990 sollte fast an gleicher Stelle ein Polizeigewahrsam ausgebaut
werden. Würde das möglich sein?
Die Liste solcher Probleme an den Originalorten des nationalsozialistischen Terrors könnte verlängert werden.
Große Teile der Verwaltung der Stadt Berlin beispielsweise müßten sich nach neuen Behausungen umsehen,
wollte man sämtliche von den Nazis errichteten oder genutzten Bürogebäude für tabu erklären. Die Kunst des
Handelns kann nur darin bestehen, einige besondere Orte als Gedenkstätten zu bewahren und andere belastete
Gebäude für das allgemeine Gesellschaftsleben zur Verfügung zu stellen. Dabei spielt allerdings die Art der
Nutzung ebenso eine Rolle wie geklärt werden muß, wo welche Hinweise - etwa in der Form von Tafeln angebracht werden sollten. Dabei gibt es Grenzen: Es ist nicht vorstellbar und wäre sinnwidrig, ganze Städte mit
Gedenktafeln zu übersäen.
7. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden Gedenkstätten besonders im Osten Deutschlands zu Orten
rechtsradikaler Aktionen. Daß die Sicherheitsvorsorge der Gedenkstätten auch in Kooperationen mit der Polizei
daraufhin verbessert wurde, schützt Deutschland vielleicht vor peinlichen Zwischenfällen, löst aber das Problem
des wiederentstehenden Rechtsradikalismus nicht. Vor Asylheimen, in den S- und U-Bahnen, in Jugendclubs
und Gaststätten und leider auch bei der Bundeswehr breiten sich Rechtsradikale aus, werden brutaler und
dreister. Daß sie auch in die Gedenkstätten ziehen, dort Hakenkreuze malen, den “Hitlergruß” zeigen und sogar
Feuer legen, belegt, daß die Tabuwirkung der authentischen Orte des Terrors begrenzt ist. Auch ist zu
beobachten, daß in den Gedenkstätten selber eine gewisse Hysterie entsteht, wodurch Falsche in den Verdacht
des Rechtsradikalismus geraten können. Eine Debatte darüber, ob und was die Gedenkstätten zum Erhalt einer
liberalen politischen Kultur beitragen können, hat nicht stattgefunden.
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8. Auffällig ist, daß die Gedenkkultur mehr und mehr von einer begrenzten Schicht bürgerlicher Intellektueller
getragen wird, die geradezu den Idealtypus politischer Korrektheit verkörpern. Diese “Szene” löst die alte Garde
der ehemalgen Häftlinge ab, die sich für den Erhalt vor allem der baulichen Überreste der Konzentrationslager
als weihevolle Mahn- und Gedenkorte eingesetzt hat. Die Inszenierungen der “Ehemaligen” wirken heute
emotional überfrachtet und - wie bei den immer wiederkehrenden Fahnenzeremonien - altväterlich. Etwas im
guten Sinne Dilettantisches haftet den Ergebnissen ihrer Arbeit an. Die Träger der Gedenkkultur in der neuen
Generation dagegen sind stärker ästhetisch, musealisch und wissenschaftlich orientiert. Sie lösen sich von den
authentischen Orten und der “oral history”, wollen neue Denkmäler, Ausstellungen und Museen schaffen. Die
besten Künstler der Welt sollen ihnen dazu die Entwürfe liefern. In einem schlechten Sinne sind sie
Professionelle, denn anstelle eines Holocaust-Museums oder -Denkmals könnten sie auch die Entwürfe für ein
Kunstgewerbe-Museum oder Karajan-Denkmal besorgen. Mit den Widrigkeiten der authentischen Orte draußen
im Lande wollen sie sich nicht abgeben - ihre Arbeit soll in den Metropolen sein, möglichst in der Hauptstadt
und dort unmittelbar im Regierungsviertel. Den tapferen Kameraden des Überlebens folgen Chicki-Mickis des
Gedenkens!
9. Durch die Verlegung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin erhalten die aktuellen West-Berliner Gedenkstätten
Auftrieb. Von der “Topographie des Terrors” bis zum “Holocaustmahnmal” wurden hier Projekte entwickelt, die
der einstigen Insel West-Berlin hatten helfen sollen, unter anderem als Geschichts- und Museumsort der alten
Bundesrepublik eine Überlebensfunktion zu finden. Nach der Wiedervereinigung entstehen in der Hauptstadt so
viele Gedenkorte wie nirgendwo sonst in Deutschland. Quantitativ wird Berlin Gedenkhauptstadt. Sollten sich
die einzelnen Gedenkstätten künftig zu einem inhaltlichen Arbeitsverbund finden, so wird dem auch eine
entsprechende Qualität folgen.
10. Bleibt die Frage nach den Aufgaben der Gedenkstätten im vereinten Deutschland. Zu allererst sollen sie Orte
der Erinnerung und des Ehrens der Opfer sein. Sie können darüber hinaus als Originalorte - “steinerne Zeugen”einiges beitragen zur Veranschaulichung des Wirkens der SS und des KZ-Systems. Weiterhin sind sie national
und international gesehen Zeichen des offiziellen deutschen Willens, die Verbrechen in der eignen Geschichte
nicht zu verdrängen. Damit dieses Zeichen bleibt, werden die Gedenkstätten aus öffentlichen Kassen finanziert.
So aber werden die Gedenkstätten Anhängsel von Politik und Verwaltung. Sie sind gewissermaßen die für die
Bewältigung der Vergangenheit zuständige Sparte des deutschen Verwaltungs- und Regierungssystems. So
kommt es, daß nicht sie die Diskussion über die Gedenkkultur in Deutschland bestimmen, sondern die historisch
und museal ambitionierte Szene der Gutmenschen des Gedenkwesens und deren politische Sprachrohre. Es ist
daher notwendig, die Arbeit der Gedenkstätten, ihr Verhältnis zueinander und ihre Einbindung in die gesamte
Gedenkkultur zu überdenken.
Im Innern muß einiges reformiert werden, und trotz des organisatorischen
Egoismus jeder einzelnen Gedenkstätte muß ein Verbund zwischen ihnen allen geschaffen werden.
Die Gedenkstätten müssen ihre Aufgabe darin sehen, mit ihren Darstelllungen tiefer als bisher in die
Gesellschaft hineinzuwirken. Es ist auffällig, daß in Brandenburg, dem Bundesland mit den meisten KZGedenkstätten, Rechtsextremismus bei Jugendlichen mit den besten Nährboden in der Republik hat. Obwohl die
Gedenkstätten gerade für die Potsdamer Landesregierung Teil des speziellen “Brandenburger Weges” sind, geht
von ihnen offenbar keine die Gesellschaft humanisierende Wirkung aus. Die Gedenkstätten müßten in die Lage
versetzt werden, selber aktiv jene Zielgruppen anzusprechen, die sich ihnen bisher entzogen haben. Dazu ist
eine Kooperation mit Trägern der politischen Bildung und vor allem der Wissenschaft - den Universitäten zumal
- notwendig. Künstlerische Mittel und moderne Kommunikationstechnik sollten verstärkt in der
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Gedenkstättenarbeit eingesetzt werden. In den USA und in Israel ist das Realität. Die Gedenkstätten müssen sich
ein Mandat erkämpfen zur Parteinahme in öffentlichen Diskussionen, insbesondere da, wo es um Fragen des
Rechtsextremismus , des Schutzes von Minderheiten und um die Geschichte geht. Die heutigen Gedenkstätten
können das personell nicht leisten. Daher brauchen sie die Blutzufuhr aus den Universitäten, Schulen und
Bildungsstätten. Sie müssen geöffnet werden für berufliche Mobilität.
Vor allem wird es wichtig sein, daß die Gedenkstätten der Bevormundung durch ängstliche und dienerisch der
jeweils angesagten politischen Linie hinterher hechelnde Verwaltungsmitarbeiter entzogen werden. Zu viele
Verwaltungen im Bund und den Ländern fühlen sich für das Gedenkwesen zuständig. Doch aus keinem
Ministerium ist je ein großer Wurf für ein Projekt gekommen, sondern nur dienerisches Bemühen um angepaßt
politische Korrektheit. Wenn die Bürokraten die Gedenkstätten weiterhin bei der Kandare halten, sollte man den
Steuerzahler lieber von der Finanzierung dieser Einrichtungen befreien. Geist, Witz, Wagemut scheitern immer
an der Bürokratie, und so brauchen die Gedenkstätten im vereinten Deutschlands vor allem eins: Freiheit des
Geistes ihrer Entscheidungsträger.
Gedenken und Gedenkstätten sind im vereinten Deutschland zu einem öffentlichen Thema geworden. Das ist
kein Spezialthema für Karrierehistoriker - auch Politiker, Diplomaten, Künstler, Sozialwissenschaftler haben in
dem Diskurs um die Zukunft des Gedenkwesens Wichtiges mitzuteilen. Vor allem die politischen Parteien
sollten sich bei der Entwicklung der Gedenkkultur in Deutschland engagieren und das Feld nicht anderen
überlassen. Ein politischer Diskurs etwa, der sich um die Ablehnung eines Gedenkprojektes durch eine politische
Partei ranken würde, ist allemal demokratischer als den mittleren Rängen der Ministerien freie Bahn zu lassen.
So gesehen ist der Gedanke richtig, nicht den Bundeskanzler oder die Regierung über ein Holocaust-Mahnmal
entscheiden zu lassen, sondern den Deutschen Bundestag - nach gehörigem Diskurs dort. Das Land braucht nach
den vielen Expertentreffs eine allgemeine parlamentarisch-politische Debatte über Sinn und Form des
Gedenkens.
Über fünfzig Jahre nach der Befreiung ist es an der Zeit, über die deutschen Grenzen zu schauen, um zu
erkennen, welchen Stellenwert die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus anderswo hat. Mit Yad
Vashem in Jerusalem und dem Holocaustmuseum in Washington sind Institutionen entstanden, welche die Frage
in den Mittelpunkt ihrer Arbeit gestellt haben, wie aus einer Kulturnation die größten System- und
Staatsverbrechen des Jahrhunderts werden können. Mehr und mehr wird diese Frage nicht nur historisch,
sondern auch sozialwissenschaftlich untersucht: Was kann - kann überhaupt etwas - getan werden, um
Wiederholungen hier oder anderswo zu verhindern? Die Rassenkrawalle von Los Angeles haben der
Supermetropole, haben ganz Amerika wieder einmal vor Augen geführt, wie dünn das Eis der Zivilisation ist.
Die Verbrechen des Nationalsozialismus werden mehr und mehr zum Studienobjekt als Beispiel eines absoluten
Werteverfalls. Daraus möchte man Schlußfolgerungen ableiten für die Möglichkeiten der Immunisierung der
heutigen Gesellschaften gegen erneuten Terror, gegen Mord und Genozid. Zunehmende Bedeutung gewinnen
dabei Erkenntnisse wie die, daß Worte die Welt nicht nur zum Guten, sondern oft viel schneller, zum Bösen
verändern können. Das Abgleiten in die Unkultur beginnt mit geringschätzigen und feindlichen Bemerkungen
über Minderheiten oder mit rassistischen Sprüchen im privaten Bereich.
Es scheint, daß die deutschen Gedenkstätten ebenso wie die deutschen Wissenschaften immer noch nicht den
Anschluß an die internationale Diskussion über die Immunisierung unserer Kulturen gegen Barbarei gefunden
haben.
Über fünfzig Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus aber sollte man ausgehend von den
Originalstätten des Staatsterrors in Deutschland einschwenken auf die Erforschung von Sicherheiten für die
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Existenz unserer Kulturen. Gerade in einer Welt rasanter wirtschaftlicher und politischer Veränderungen, in
einem vereinten Deutschland mit über fünf Millionen Arbeitslosen und einem immer krasser werdenden
Gegensatz zwischen Vermögenden und Verarmten ist es aktuell, nach Antworten zu suchen auf die Frage, wie
sich die Gültigkeit von humanitären Werten festigen ließe. In einem Bundesland wie Brandenburg, wo brutale
Überfälle von unorientierten Jugendlichen auf Ausländer zum Alltag gehören, sind solche Antworten geradezu
lebenswichtig.
Wohl ausbleiben konnte nicht, daß in dem halben Jahrhundert nach 1945 unter Intellektuellen das Thema einer
Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen aufkam. Wissenschaftler - auch Politiker - versuchten, die
Motive der massenhaften Täter mit der Methode des wertfreien Verstehens zu erklären. Die Gewichtungen der
großen Verbrechen des Jahrhunderts wurden mit gelehrten Worten gegeneinander abgewogen. Dabei wurde der
Nationalsozialismus als Reaktion auf den Bolschewismus gesehen. Auf einem anderen Niveau wurde versucht,
mit quasi technischen Gutachten darüber zu streiten, ob sechs oder wie viel Juden ermordet wurden - ja sogar, ob
Vergasungen in Auschwitz überhaupt hatten stattfinden können. Auf einer Primitivebene politischer Debatten
wurde am Ende der Genozid gänzlich geleugnet: “Holocaust-deny” ist in den USA zum festen Begriff geworden.
Die
Gedenkstätten
in
Europa
sind
gegenüber
diesen
Entwicklungen
auf
wissenschaftlichen,
pseudowissenschaftlichen und politischen Feldern wichtige Zeugen dafür, wie ungeheuerlich diese
Relativitätsbemühungen sind. An der “Station Z” in Sachsenhausen wie an vielen anderen Orten kann man
sehen, welche Grauen da relativiert und “verstanden” werden sollen. Die Gedenkstätten provozieren ein Tabu
gegenüber allzu kaltem Drang nach Erklärungen für Taten und Täter. In Deutschland, wo sich der Kulturverfall
ereignet hatte, gibt es mit den früheren Konzentrationslagern Orte, die von den Folgen der Rassen- und
Machtideologie zeugen. Es ist ein Versäumnis, daß aus diesen Zeugen nicht mehr gemacht worden ist. Es mag
zynisch klingen: Dort, wo der Genozid stattgefunden hatte, besteht nicht nur eine besondere Pflicht, gegen
Wiederholungen zu arbeiten - nein, die Möglichkeiten hierfür sind besser als dort, wo man nur künstliche
Gedenkstätten schaffen kann.
b) Jahrestage
1995 war das Jahr der öffentlichen und umfassenden Erinnerung an den Sieg über den Nationalsozialismus und
die Befreiung Deutschlands von ihm. Durch die Erinnerungen selber sind in Deutschland einige Entwicklungen
forciert worden: Das Problembewußtsein über institutionalisiertes Gedenken wurde geschärft; neonationale
Strömungen versuchten, ihre Positionen zu etablieren, und ehemalige KZ-Häftlinge legten vor der Geschichte
Zeugnis ab über ihre Leiden. Aber die Beschäftigung mit der Vergangenheit kann im Falle des
Nationalsozialismus kein Selbstzweck sein. Auch von der Politikwissenschaft müssen stärkere Anstrengungen
übernommen werden, die vor fünfzig Jahren wiedergewonnene politische Kultur in Deutschland immer erneut
zu festigen.
Als das Vergehen des Gedenkjahres 1995 nahte, kam die Sorge auf, daß seine Wirkung - die öffentliche
Reflexion über Ursachen, Ereignisse und Folgen des Nationalsozialismus - nicht lange anhalten würde. Um dem
entgegen zu wirken, soll das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin bald geschaffen werden. Auch
wollte man in den folgenden Jahren wenigstens einen Gedenktag haben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland
hatte vorgeschlagen, an einem Tag des Jahres des Holocausts besonders zu erinnern. Daraus wurde der 27.
Januar als offizieller - aber nicht arbeitsfreier - Gedenktag.
59
Die Gefahr lag darin, daß auch an einem Wochentag Sonntagsreden gehalten werden, daß der 27. Januar
angesichts neonationaler Tendenzen zu Problemverschiebungen in der Gesellschaft genutzt wird und eine
Alibifunktion erhält. Der Tag wurde kein wirksames Mittel , die Erinnerungen an den Völkermord zu verfestigen
– in Brandenburg wurde die DVU, in Sachsen die NPD stark. Die rechten Parteien begannen zu kooperieren.
Und die Mehrheit der „demokratischen“ meinte daraufhin, den liberalen Rechtsstaat wieder ein Stückchen
aushöhlen zu müssen.
Das Denkmal in Berlin sollte - nach dem Willen der Auslober: des Förderkreises um Lea Rosh, des Berliner
Senats und der Bundesregierung - 1999 errichtet werden. Seit 1995 sind Zweifel immer wieder geäußert
geworden, ob ein derartiges Werk jemals überhaupt die beabsichtigte politische Wirkung wird haben können. Es
ist zu hoffen, daß es nun – nachdem es fertig gestellt ist - nicht das Schicksal so vieler anderer Denkmäler teilen
muß: Daß man es nicht bemerkt...
Die unterschiedlichen Veranstaltungen zum 50. Jahrestag des Kriegsendes hatten in Deutschland eine spezielle
Diskussion ausgelöst: Eine Auseinandersetzung darüber, ob der 8. Mai 1945 für Deutschland wirklich ein Tag
der Befreiung war. Provoziert wurde diese Diskussion durch eine Anzeige in der Tagespresse: "8. Mai 1945 Gegen das Vergessen": "Einseitig wird der 8. Mai von Medien und Politikern als "Befreiung" charakterisiert.
Dabei drohte in Vergessenheit zu geraten, daß dieser Tag nicht nur das Ende der nationalsozialistischen
Schreckensherrschaft bedeutete, sondern zugleich auch den Beginn von Vertreibungsterror und neuer
Unterdrückung im Osten und den Beginn der Teilung unseres Landes." Zu den Unterzeichnern gehörten
Mitglieder vom im Bundestag vertretenen Parteien, auch der FDP.
Der Aufruf war zwielichtig formuliert. Zwar wurde mit dem Hinweis auf die "neue Unterdrückung im Osten"
der Terror der Kommunisten äußerlich nicht mit dem der Nationalsozialisten gleichgesetzt; hintergründig jedoch
wurde dieser Eindruck der Gleichsetzung erweckt. Es ist die Methode, die schon seit Jahren von der
rechtsradikalen Presse in Deutschland bekannt ist: Nach den Buchstaben der Texte bewegt man sich noch im
Konsens des Grundgesetzes, aber der Geist der Aussagen zwischen den Zeilen verrät neonationale Gesinnung.
Diejenigen, die es angeht, verstehen es recht. Wie wenig man aus den Diskussionen von 1995 gelernt hatte,
wurde offenbar, als die Verordnetenversammlung eines großen Berliner Bezirks – Steglitz-Zehlendorf – mit den
Stimmen der CDU und der FDP 2005 eine Resolution verabschiedete, die den gleichen Tenor hatte wie die
Anzeige zum 8. Mai aus dem Jahre 1995.
Die Initiatoren des Aufrufs wollen nach wie vor im sich wandelnden Parteiensystem der Bundesrepublik eine
neonationale bis rechtsradikale Perspektive eröffnen. Neben dem "linken" Block von SPD und Grünen stellen sie
sich einen rechten Block der Union zusammen mit einer rechtsradikalen Partei vor. Für eine derartige Partei
hätten sie gerne den Firmenmantel der krisengeschüttelten FDP ergattert, um im seriösen Gewand als Partner
der Union Politikern wie Rita Süßmuth oder Heiner Geißler und deren Politik den Garaus machen zu können.
Entsprechende Versuche in Hessen und Berlin scheinen jedoch gescheitert zu sein. Umso eifriger wird daran
gearbeitet, eine originär rechtsradikale Partei zu gründen, die bundesweit und langfristig erfolgreich ist. Dieses
Projekt ist noch nicht gescheitert. Mittels Initiativen wie der Anzeige zum 8. Mai, einem "Berliner Manifest"
oder Publikationen wie dem Sammelband "Die selbstbewußte Nation" 57 wollen die Neonationalen das geistige
Fundament für ein Bündnis weit rechts von der Mitte schaffen, das sich im deutschen Parteiensystem fest
57
Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewußte Nation. "Anschwellender Bocksgesang" und weitere
Beiträge zu einer deutschen Debatte, Frankfurt/M. - Berlin 1994
60
etablieren soll.58 Eine Folge davon wäre, daß die Erinnerung an den Nationalsozialismus auch aus der offiziellen
Politik heraus zurückgedrängt würde.
Anläßlich des Jahres 50 nach dem Untergang des Nationalsozialismus hatte es die unterschiedlichsten
Erinnerungs- und Gedenkveranstaltungen gegeben. Diese verschiedenen Veranstaltungen - meist mit
ausführlicher Berichterstattung in den Massenmedien - waren für viele der damals Beteiligten Anlaß zur
erneuten Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensgeschichten und den traumatischen Ereignissen darin. Wir
haben die alliierten Veteranen gesehen, die noch einmal die Landung in der Normandie exerzierten, den Rhein
überquerten und sich bei Torgau trafen. Dabei waren 70-jährige Amerikaner im Habitus der Sicherheit, den
richtigen Job getan zu haben, und voller Überzeugung, heute seien die Germans o.k.. Beeindruckend waren
ehemalige Sowjetsoldaten, die den "großen vaterländischen Krieg" gewonnen hatten und nun den Verfall der
Siegermacht Sowjetunion miterlebten, verbunden mit ihrem persönlichem sozialen und materiellen Absturz vor dem Hintergrund eines wiedervereinigten und für ihre Verhältnisse nach wie vor wohlhabenden
Deutschlands. Ehemalige deutsche Soldaten dagegen wirkten wie Menschen, die aus einer ihnen fremden Welt
berichteten und sehr bedacht waren auf ihren heutigen Status mit seinen Symbolen: Geschichtslose Menschen
scheinbar.
Frühere Täter hatten sich nicht ins Bild gedrängt, aber aufgesucht wurden sie offensichtlich auch selten. So
können wir nur mutmaßen, welche Rolle sie noch spielen und wie sie den Jahrestag empfunden haben: Leben
sie voller Scham oder uneinsichtig? Wahrscheinlich sind sie in ihrer Verdrängungsarbeit so weit fortgeschritten,
daß sie den 50. Jahrestag gut überstehen konnten.
Für Opfer, die überlebt hatten, ehemalige Häftlinge der KZ`s zumal, war der 50. Jahrestag ein elementares
Ereignis. 70- und 80-jährige Frauen und Männer aus Polen, Rußland, Frankreich, der Ukraine, aus den USA, aus
Israel und vielen anderen Ländern dieser Erde waren im April 1995 in Deutschland, um sich ein halbes
Jahrhundert nach der Befreiung der KZ`s an den Orten ihrer Qualen wiederzutreffen. Viele kamen zum ersten
Mal wieder. Sie wollten sehen, wie es heute im vereinten Deutschland aussieht. Sie waren voller Angst,
Mißtrauen und mit aufgestauten Emotionen gekommen. Die meisten dieser ehemaligen Häftlinge verließen das
Land in einem völlig veränderten Gemütszustand. Sie hatten einen guten Eindruck von ihrem Gastland
gewinnen.59
Aus der Sicht der Geschichtswissenschaft erfolgte der Besuch der ehemaligen Häftlinge zu einem psychologisch
optimalen Zeitpunkt. Es ist bekannt, daß viele der überlebenden Opfer der Nationalsozialisten über ihre Zeit im
KZ nachher nicht geredet haben, nicht in der Familie, schon gar nicht in der Öffentlichkeit. Zu groß war die
Scham über das Erlebte, zu mächtig das Bedürfnis nach Verdrängung. Hinzu kam, daß in einigen Ländern sich
niemand für das KZ-Schicksal interessierte und in anderen - zum Beispiel in der Sowjetunion - die Tatsache der
KZ-Haft geradezu als Menetekel des Versagens der davon betroffenen Menschen gesehen wurde. Jetzt, 1995,
aber wollen viele reden. Am Ende ihrer Tage wollen sie Vorsorge treffen, daß das Erlebte nicht mit ins Grab
genommen wird. Es bedurfte nur eines Anstoßes, daß sie Zeugnis ablegten. Die Treffen an den Plätzen der
früheren Lager waren ein solcher Anstoß für die überfälligen Zeugenaussagen - über das eigenen Leben und den
Charakter des Nationalsozialismus mit seinem KZ-System.
Die 50. Jahrestage waren auch die große Chance für die "oral history".
58
Jürgen Dittberner, Neuer Staat mit alten Parteien? Die deutschen Parteien nach der Wiedervereinigung,
Opladen/Wiesbaden 1997, S. 241ff
61
Bleibt die Frage, ob der Nationalsozialismus im Selbstverständnis der deutschen Nation auch in der Berliner
Republik in den nächsten fünfzig oder hundert Jahren weiterhin seinen epochalen Stellenwert als der schlimmste
Kulturverfall der deutschen Geschichte behalten wird. War der 50. Jahrestag der Schlußstrich unter dem Kapitel
Nationalsozialismus oder der Beginn einer instrumentalisierten Hervorhebung dieses Geschichtsabschnittes?
Immerhin wurde 2005 alles wiederholt: In den KZ-Gedenkstätten erinnerte man sich wie 10 Jahre zuvor an die
Befreiung nun 60 Jahre nach Kriegsende. Doch die ehemaligen Häftlinge waren weniger geworden. Und die
Öffentlichkeit hatte sich an gesamtdeutsche Jahrestage gewöhnt.
Die Lage ist unklar und verworren. Einen nationalen Grundkonsens über die Haltung zum
Nationalsozialismus gibt es offenbar nicht. Während sich die offizielle und die der politischen Korrektheit
folgende Gedenkkultur verfestigt, eruptieren immer wieder rechtsradikale Aktionen - in den neuen
Bundesländern, bei der Bundeswehr, aber auch in Städten wie Solingen oder Lübeck. Der Streit über den
Nationalsozialismus und seine Folgen wird weitergehen, wobei vieles gar nicht ausgesprochen wird. Gleichzeitig
werden die Möglichkeiten, authentische Zeugnisse zu erleben, abnehmen. Die ehemaligen Opfer der
Nationalsozialisten werden in den nächsten zehn, zwanzig Jahren nicht mehr sein. Die Gebäudereste der
früheren KZ`s in Sachsenhausen und Ravensbrück beispielsweise drohen zu verfallen. In Dachau spürt jeder
Besucher eine unterschwellige Stimmung in der Stadt gegen die Gedenkstätte, und in Buchenwald werden bittere
Rechtfertigungskämpfe über die Rolle der Kommunisten unter den ehemaligen KZ-Häftlingen ausgetragen.60 An
die Stelle der Häftlinge und der authentischen Orte als Mahner aus der Vergangenheit werden mehr und mehr
Institutionen wie Stiftungen und Ausstellungen treten - abhängig vom politischen und fiskalischen
Tagesgeschäft. Diese werden eine politisch-bürokratische "Zuständigkeit" für die Vergangenheit übernehmen.
Weiten Kreisen in Deutschland ist klar, daß es in diesem Land nach Auschwitz nicht nur Denkmäler geben kann,
die an ruhmvolle Abschnitte der eigenen Geschichte erinnern, sondern auch solche, welche die Erinnerung wach
halten sollen an die Staatsverbrechen des Nationalsozialismus. Über das "Wie" dieser Erinnerungsstätten aber
gibt es die unterschiedlichsten Vorstellungen, besonders in Berlin.
In der deutschen Hauptstadt und ihrem Umland befinden sich Originalstätten der Staatsverbrechen: Die
Wannsee-Villa, die Stauffenberg-Straße, das Prinz-Albrecht-Palais, die früheren Konzentrationslager
Sachsenhausen und Ravensbrück. Diese Orte existieren als Gedenkstätten, teilweise mehr schlecht als recht und
ziemlich unsystematisch nebeneinander. Eine integrale Darstellung der Planung, Organisation und des Vollzugs
des Staatsverbrechens am Ort des damaligen und zukünftigen politischen Zentrums in Deutschland erfolgt
jedoch nicht und ist auch nicht beabsichtigt.
Die vom Förderkreis, dem Land Berlin und dem Bund getragene Diskussion über ein Denkmal für die
ermordeten Juden Europas läßt auch nach dem zweiten Anlauf mehr Fragen offen als sie beantwortet. Nach dem
ursprünglich ausgewählten Entwurf für eine monumentale Grabplatte werden Ende 1997 vier weitere Entwürfe
favorisiert, gegen die es mittlerweile ebenfalls wieder zahllose Einwände gibt. Verstärkt sind Stimmen zu hören,
die sagen, der Schmerz über den Genozid könne nicht Ausdruck finden in einem Denkmal, selbst wenn es zum
Kunstwerk geriete. Wichtiger als ein Denkmal sei deswegen eine Diskussion hierüber. Diese würde verstummen,
sobald ein Werk errichtet worden ist. Die Scham würde sich in Baumaterial verfestigen und vergehen. Aber ein
Denkmal könnte doch nur gerechtfertigt sein, wenn sich auch nachwachsende Generationen davon angesprochen
59
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg; Erinnerung und Begegnung.
Gedenken im Land Brandenburg zum 50. Jahrestag der Befreiung, Potsdam 1996
62
fühlen würden. Seit Beginn des Jahres 1998 wird der Entwurf von Eisenmann/Serra - eine Landschaft aus 4000
Betonpfeilern, die man nur individuell durchqueren kann - favorisiert. Die Verwirklichung dieses Entwurfs fällt
in eine Zeit, in der Deutschland bei der UNO um einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat kämpft und in eine Zeit,
in der das geplante „Parallel-Denkmal“ für die Zigeuner nicht errichtet werden kann, weil der „Zentralrat der
Sinti und Roma“ im Unterschied zu anderen Betroffenen stur an der Kunstbezeichnung für sein Volk festhält,
während es unstrittig ist, dass die Nazis Zigeuner verfolgt und ermordet hatten.
Die Vorgänge um das Jüdische Museum innerhalb des Stadtmuseum Berlins offenbaren ebenfalls nur
Unsicherheiten: Zwar soll die Geschichte des Judentums innerhalb der Stadt Berlin dargestellt werden, aber wie
und von wem und mit welcher Botschaft, das blieb strittig. Was ist davon zu halten, daß der Senat von Berlin die
Ratlosigkeit personalisierte, indem er einem Diplomaten und Geschäftsmann aus den USA mit deutsch-jüdischer
Vergangenheit als Moderator des Museumsaufbaus bestellte? Ist es Zufall, daß dieser One-Dollar-Mann in der
ersten Pressekonferenz erklärte, er habe noch gar kein Konzept für das Museum, welches er nun aufbauen soll?
Ist es Zufall, dass nun ein architektonisches Wunderwerk errichtet wurde, dessen Inhalt weit hinter die Form –
die Hülle – zurückfällt?
Schon gar nicht bedarf es eines künstlich geschaffenen Holocaust-Museums in Deutschland. Der Vorschlag, in
Berlin wie in Washington oder in Jerusalem ein solches Museum zu schaffen, ist noch in der Welt. Dabei wird
übersehen, daß die Juden in Jerusalem für ihre Toten einen Platz und einen Namen geschaffen haben und daß in
Washington ein Museum in der Hauptstadt eines Landes der Zuflucht vor dem Staatsverbrechen errichtet wurde.
Nichts von dem läßt sich nach Deutschland, dem Land der Täter, übertragen: Hier geht es nicht ohne Verweise
auf die so nahe gelegenen authentischen Orte!
Hier ist es angemessen, die Originalstätten zu erhalten, zu dokumentieren und zu musealisieren - wenn man die
Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sucht! Die Originalstätten des Terrors von der Wannsee-Villa
über Dachau und Buchenwald bis zum Prinz-Albrecht-Palais sollten unter der Verantwortung des Bundes und
der Sitzländer koordiniert werden, wobei die Individualität der einzelnen Gedenkorte zu beachten wäre. Wichtig
ist, daß dieser Verbund der Gedenkorte einerseits deren innere Pluralität schützt, andererseits parteipolitische
Unabhängigkeit garantiert. Optimal wäre das zu erreichen, wenn man eine Stiftung für den Betrieb des
Holocaust-Denkmals gründete und die einzelnen Gedenkstätten hier vertreten wären. Als Finanziers kommen die
Öffentliche Hände infrage, aber auch Wirtschaftsunternehmen, deren Vorgänger an der Zwangsarbeit in den
KZ`s profitiert hatten. Ein von den Parlamenten des Bundes und der Länder bestimmtes Kuratorium müßte über
die demokratische Legitimität der Institution wachen. Ihre Anbindung sollte diese Stiftung auch bei den
Universitäten der Region finden, die somit zur
fortwährenden Beschäftigung mit dem Thema
Nationalsozialismus veranlaßt wären. Das ist ein Organisationsmodell, welches auch die Gedenkstätten schützt
vor dem Drang des Hineinregierens, wie es bei Politikern und Bürokraten des Bundes und der Länder in der
Vergangenheit zu beobachten war.
Das wissenschaftliche und museale Niveau bei all diesen in der Denkmalsstiftung vertretenen Gedenkstätten
müßte gleichwertig sein mit dem Holocaustmuseum in Washington, dem Toleranzmuseum in Los Angeles und
Yad Vashem in Jerusalem. Darauf wird das vereinte Deutschland wohl nicht verzichten können. Die
Originalstätten bedürfen des museologischen und wissenschaftlichen Standards der USA und Israels.
60
Jürgen Dittberner/Antje von Meer (Hg.), Gedenkstätten im vereinten Deutschland. 50 Jahre nach der
Befreiung der Konzentrationslager, Berlin 1994
63
Es ist wahrscheinlich, daß der Nationalsozialismus mit seinen Folgen in den nächsten Jahren in den
Hintergrund des öffentlichen Bewußtseins gerät. Das muß nicht bedeuten, daß Deutschland wieder der Barbarei
verfallen wird. Aber das Tabu vor Rassenhetze und Minderheitenausgrenzung wird schwächer werden, seinen
moralischen Anker verlieren. Schon seit 1990 wird es dumpf und brutal immer wieder verletzt.
Daher sollten neben den Historikern die Sozialwissenschaftler den Nationalsozialismus ins Zentrum ihrer Arbeit
rücken. In den USA erforscht man gezielt, wie es kommen konnte, daß aus einer hochentwickelten und
zivilisierten Gesellschaft ab 1933 der größte Kulturverfall des Jahrhunderts werden konnte. Wie konnte die
Demokratie abstürzen in staatlichen Terror und Genozid? In Amerika sieht man, daß dieses Problem auch eines
der USA unserer Tage ist. Die Rassenkrawalle von Los Angeles beispielsweise haben dort die aufgeklärte
Öffentlichkeit wachgerüttelt. Man will Rezepte entwickeln, wie ein Absturz der politischen Kultur verhindert
werden kann. An dieser Forschung über den Erhalt der Demokratie sollte sich auch die deutsche
Sozialwissenschaft beteiligen. Es gibt dazu allen Anlaß. Denn niemand wird wohl behaupten, das Eis der
Demokratie sei in den USA dünner als in Deutschland. Das Engagement von Sozialwissenschaftlern und auch
Psychologen in den Gedenkstätten Deutschlands ist viel zu schwach. Historiker und Museumsfachleute geben
hier den Ton an. Wenn aber die Gedenkstätten stärker hineinwirken sollen in die Gesellschaft der Gegenwart,
muß dort interdisziplinär gearbeitet werden.
Der Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin und die Errichtung eines Denkmals für die ermordeten
Juden Europas dort könnte zum Anlaß einer angemessenen Reform des disparaten Gedenkwesens in
Deutschland werden. Notwendig ist es vor allem, die wichtigsten Originalstätten des nationalsozialistischen
Terrors zu erhalten, mit den heutigen Möglichkeiten zu musealisieren und die Forschung über sie den
Universitäten mit ihren vielfältigen Disziplinen aufzutragen. Die bislang unerforschte Komplexität des
Lagerlebens in den KZ`s beispielsweise wird nur zu analysieren sein, wenn Historiker, Sozialwissenschaftler und
Psychologen gemeinsam daran arbeiten.
Von den USA und von Israel lernen sollte man hierbei zweierlei: Einerseits die Methoden der Darstellungen
mithilfe des Einsatzes moderner Medien. Auch an den Originalstätten wird man diese Medien einsetzen, wenn
man junge Menschen ansprechen will: Es ist die ihnen vertraute Art der Artikulation. Andererseits sollte die
Zielrichtung übernommen werden, wie man sie derzeit an vielen Orten vor allem in Amerika findet: Antworten
zu suchen auf die Frage, ob und wie man einen Kulturverfall wie 1933 in Deutschland künftig vermeiden kann hier und anderswo.
Wir müssen eine Lehre von der Kunst des Bewahrens demokratischer Kultur entwickeln. Der Rückstand, den
wir da gegenüber Amerika haben, ist kompensierbar durch die Tatsache, daß hier die Originalorte des
Studienobjektes sind, die Akten und anderen Zeugnisse, denen sich nun auch die Sozialwissenschaften und die
Psychologie widmen sollten. Überall wird heute interdisziplinär gearbeitet.
Auch in den deutschen
Gedenkstätten ist das notwendig.
Sollte nicht wenigstens die Tatsache, daß der Genozid der deutschen Kultur entwuchs, diese heute mehr als
andere Kulturen mit der Sorge vor Wiederholungen versehen?
8.
Leitkultur oder Multikulti, und was wollen die Rechten
a) Politfloskeln
64
“Leitkultur” ist ein weißer Schimmel, ein Pleonasmus: Kultur, bezogen auf`s Zusammenleben der Menschen ist
Maßstab, Orientierung, Leitung. Vielleicht wurde der in der Union seit einiger Zeit kursierende Begriff erdacht,
weil “Kultur” schlicht verbunden mit dem Adjektiv “deutsche” erwarten läßt, daß Teile des Publikums nur
reflexartig reagieren, wenn sie das hören.
Die Vorsichtsmaßnahme half nicht durchgängig: Friedrich Merz, der den Pleonasmus gebrauchte und eine
Debatte auslöste, hallten vielfach Vorwürfe wie “Rassismus ” entgegen. Das machte Teile der Debatte grell und
abstoßend. Aber es blieb nicht bei verbalen Keulenschlägen. Argumentiert wurde auch. Die deutsche Kultur
gebe es nicht mehr, war von einer Seite zu hören. Unsere Gesellschaft sei vielmehr multikulturell. Die deutsche
Kultur, so kam es aus anderer Richtung, sei längst vom Geist der 68er vernichtet worden. Jede ihrer
Hervorbringungen sei auf 1933 gepreßt worden. Selbst Goethe und Schiller habe man von den Sockeln gestoßen,
indem man auch sie als geistige Ahnherren Adolf Hitlers sezierte.
In dieser Debatte wimmelt es vor Mißverständnissen: Kultur im sozialen Sinne ist nicht die Welt jener Leute, die
in der DDR “Kulturschaffende” hießen. Es ist nicht die Welt der Dichter, Sänger, Maler, Schauspieler,
Intendanten und Kultursenatoren - jedenfalls nicht deren Welt allein. Kultur wie hier gemeint ist die Welt aller:
der Angestellten, Arbeitslosen, Beamten, Unternehmer, der Politiker, Schüler und Rentner, der In- und
Ausländer. Sie alle werden durch Ziele, Konventionen und Kommunikation in Freundschaft und Feindschaft
mehr oder weniger beieinander gehalten. Dieser Kitt, der sie verbindet, ist die Kultur der Gesellschaft.
Da die deutsche Gesellschaft offensichtlich existiert, existiert auch eine deutsche Kultur. Ihre Ziele mögen
profan sein und “Geld”, “Gesundheit”, “Spaß”, vielleicht auch “Freiheit” heißen. Ihre Konventionen sind u.a.
Rechtsverkehr, die Arbeit, die Feiertage - allen voran Weihnachten mit seinem unchristlichen Konsumdruck.
Das wichtigste Medium der Kommunikation dieser Kultur
ist die deutsche Sprache und noch nicht die
englische.
Die deutsche Kultur gibt es, wie es das Wetter gibt. Wer von außen hierher kommt, spürt das stärker als
eingewöhnte Ansässige, und er wird um so eher integriert sein, desto mehr er sich dieser Kultur bedient.
Ausgerechnet bei dieser Binsenweisheit fangen deutsche Probleme an:
-
Die Orientierung an der vorherrschenden Kultur, sagen viele, sei eine Zumutung an Menschen aus
anderen Kulturkreisen. Die deutsche Kultur könne nicht der Maßstab für ganz Europa sein. Dabei geht es nicht
um Europa, sondern um einen Teil davon, genannt Deutschland.
-
Hier werde eine “Zwangsgermanisierung” gefordert, wird weiterhin beklagt. Abgesehen davon, daß es
lustig ist, wie auf einmal die alten Germanen aus dem Dunkel der Geschichte auftauchen, wird bei dieser
Argumentation aus einer banalen Tatsache - eben daß die Berücksichtung der herrschenden Kultur die
Orientierung erleichtere - der Vorwurf eines bösen Zwanges. Im Hinterkopf entsteht das Bild von Heerscharen
unschuldiger und dunkelhaariger Fremdkulturler, die von blonden germanischen Peinigern wie von KZWächtern zu ihresgleichen umgepolt werden sollen. Welch ein Alptraum ohne jeden Realitätsbezug!
-
Schließlich kommt der stärkste Angriff gegen das Bewußtsein einer vorherrschenden Kultur in
Deutschland: Diese deutsche Kultur habe den Nationalsozialismus hervorgebracht und werde deshalb von hier
lebenden Fremden mit einem besonderen moralischen Recht ignoriert. Ja, war der Nationalsozialismus nicht
auch aus einer tiefgehenden geschichtlichen und sozialen Umbruchsituation hervorgegangen und hat sich seit
1945 in Deutschland gar nichts geändert? Steht der Nazismus vor der Tür, eben weil er aus der deutschen Kultur
folgt? Wenn dem so wäre, müßten alle Freiheitsliebenden sofort das Land verlassen. Der Erfolg und die
Anziehungskraft der Bundesrepublik beruhen hingegen darauf, daß sie einen demokratischen Weg gegangen ist.
65
Der führte zu einer Resistenz gegen Extremismus, die mit derjenigen in anderen demokratischen Kulturen wie
Frankreich oder Großbritannien mittlerweile äquivalent ist.
Das hat unter anderem damit zu tun, daß hierzulande eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Zeit von 1933
bis 1945 stattfindet - eine Auseinandersetzung, die ihren sichtbarsten Ausdruck in der Errichtung des
Holocaustmahnmals in Berlin haben wird. Es gibt kaum ein Land auf der Welt, das die dunkelsten Epochen
seiner Geschichte öffentlich beklagt. Deutschland tut es. Man weiß, daß eines der schlimmsten Verbrechen der
Menschheit im deutschen Namen geschehen ist. Aus diesem Wissen erwächst der Wille, Vergleichbares nie
wieder zuzulassen. So ist es zu erklären, warum in der Öffentlichkeit seit einiger Zeit eine tiefgehende Debatte
über die richtige Art, den objektiv eher marginalen Rechtsextremismus zu bekämpfen, geführt wird. Das alles,
obwohl kein einziger Rechtsextremist im Deutschen Bundestag sitzt.
Das Gedenken ist ein Element der deutschen Kultur. Davon nun halten insbesondere die verbalen Gegner
derselben sehr viel. Sie finden das sogar vorbildlich! - Wo man ansetzt: Die gesamte Debatte über “deutsche
Leitkultur” oder “multikulturelle Gesellschaft” ist verbale Schaumschlägerei, allerdings mit ideologischem
Hintergrund.
Tatsache ist, daß es nun einmal in dieser Region in der Mitte Europas ein Volk gibt, die Deutschen, die über die
Jahrhunderte hinweg eine eigene Kultur entwickelt haben. Es gibt eine gemeinsame Sprache, eine sehr
wechselvolle gemeinsame Geschichte einschließlich des Einbruchs der Kultur 1933 und einen mittlerweile auf
ein Minimum säkularisierten Bestand gemeinsamer Werte. Diese “deutsche” Kultur wurde, das weiß jeder, stets
durch Einflüsse von außen mitgeformt: Da war der Beitrag der Juden, der stete Zustrom aus Frankreich und den
Niederlanden, da waren Impulse aus Polen und anderen Teilen Osteuropas. Dieser stets einen inneren Wandel
bewirkende Zustrom von außen hat sich seit den sechziger Jahren rasant beschleunigt: Italienische, spanische,
türkische und andere Lebensformen sind heute präsent und prägen die Wirklichkeit. Über allem weht hier wie in
Toronto und Tokio der heftige Wind der Globalisierung und schleift die nationalen Kulturen insgesamt ab, so
daß diese immer ähnlicher werden: “Leistung” und schneller “sozialer Wandel” werden Elemente einer
entstehenden allgemeinen Weltkultur.
Was von den nationalen Kulturen übrig bleibt, dient immerhin noch der alltäglichen Orientierung in den
Ländern. Es ist unsinnig, eine Vielfalt kultureller Kreise auf dem Territorium einer jeweiligen Nation zu
etablieren. “Multikulti” als ernst genommenes Leitbild würde Selbstbezoghenheit und Erstarrung der ethnischen
Gruppen bewirken. Inselkulturen im See der jeweiligen Nation würden entstehen. Konflikte zwischen der
Mehrheit und den Minderheiten müßten die Folgen sein. Das Erbe der Mehrheiten und das Eingebrachte der
Minderheit sollten sich doch besser gegenseitig befruchten und so eine Konvergenz der Kulturen bewirken. Kein
Bayer muß seine regionalen Eigenheiten aufgeben, kein Türke seine Herkunft verleugnen, aber sie und die
anderen machen sich das Leben leichter, wenn sie die Grundelemente der vorherrschenden hiesigen Kultur
akzeptieren: die deutsche Sprache, die wenigen verbliebenen Werte und die allgemeinen Regeln des
Alltagslebens. Ansonsten tut einer Gesellschaft immer die Neugier für kulturelle Anregungen gut.
“Deutsche Leitkultur” und “multikulturelle Gesellschaft” müssen als Begriffe zurückgezogen werden. Sie
stiften nur Verwirrung. Statt dessen täte es uns allen gut, wenn wir uns auf die Bezeichnung und das Ziel einer
“offenen Kultur” einigen könnten. Eine offene Kultur bietet Minderheiten Chancen des Einflusses und eröffnet
der Mehrheit die Perspektive des sozialen Wandels.”
2005 kam das Wort von den „Parallelgesellschaften“ auf, auch ein politischer Kampfbegriff. Zwar gibt es viele
in Deutschland lebende Ausländer, die mit der hiesigen politischen Kultur und Sprache nicht vertraut sind, aber
66
traditionelle Strukturen der deutschen Gesellschaft haben sich ohnehin aufgelöst zugunsten disparater Milieus. In
der Gesellschaft existieren nebeneinander Szenen der verschiedensten Art. Dazu zählen auch sehr
unterschiedliche Ausländergruppen. In einer offenen Gesellschaft kommt es darauf an, dieses zusammen zu
halten mit den Werten des Grundgesetzes und mit dem Beherrschen der deutschen Sprache. Werden die Parteien
sich auf diesen Minimalkonsensus einigen?
b) Was wollen die Rechten?
Bei Kommunalwahlen in Hessen hatten die Rechten einst über 6 % der Wählerstimmen erhalten. Im Landtag
von Baden-Württemberg waren die „Republikaner“ vertreten. In Brandenburg sitzt die DVU schon zum zweiten
Mal im Landtag, und in Sachsen sprach mit NPD-Abgeordneter vom „Bomben-Holocaust“ auf Dresden.
Versuche der Rechten, sich im Parteiensystem zu etablieren, bleiben der Berliner Republik nicht erspart.
Zwischen fünf und 15 % der Wähler in unserem Lande haben ein rechtsextremes Weltbild, sagen die
Wahlforscher. Zwar waren die Wahlerfolge der Rechten in der Bundesrepublik im internationalen Vergleich
bescheiden: In den Jahren 1990 bis 1993 erzielten sie hier im Schnitt 2,4 %, dagegen in Belgien 6,6 %, in
Dänemark 8,3 %, in Frankreich 12,4 % und in Italien 14,1 %.
Mit seiner nationalsozialistischen Hypothek ist Deutschland für die Rechten schwierig. Doch aufgegeben haben
sie gerade nach der deutschen Vereinigung nicht. Es werden zwei Wege probiert, sich parlamentarisch zu
verankern - die Übernahme einer etablierten Partei einer- und der schließlich doch noch erhoffte Erfolg einer
neugegründeten Partei andererseits.
Was wollen die Rechten eigentlich? Ihre „Programmatik“ läßt sich in sechs Komplexen zusammenfassen.
Rechte Parteien und Gruppierungen behaupten:
1. Die Verbrechen der Nationalsozialisten würden benutzt, Deutschland international in Schach zu halten und
das deutsche Volk als Paria der Weltgemeinschaft abzustempeln. Dabei würden die Nazi-Verbrechen
übertrieben, andere Völker hätten Vergleichbares getan, und nach über 50 Jahren müsse Schluß sein mit der
Vergangenheitsbewältigung.
2. Es würde zu viele Ausländer in Deutschland geben, und diese seinen überwiegend Parasiten des
Wohlfahrtsstaates. Deutschland könne nicht die Probleme der restlichen seien.
4. Klassisches Thema der Rechten ist das Schüren von Furcht vor Kriminalität. Dem Staat wird vorgeworfen,
gegenüber der Kriminalität - besonders von Ausländern und "Terroristen" - zu lasch zu sein. Unter dem Einfluß
der Grünen, der SPD und den liberalen Flügeln von Union und FDP lasse sich der Staat von der organisierten
Kriminalität an der Nase herumführen. Gangsterbanden aus Osteuropa und terroristische Vereinigungen könnten
in Deutschland schalten und walten, wie sie wollen, weil der Staat insbesondere der Polizei die rechtlichen
Handhaben und technischen Möglichkeiten verweigere, mit Nachdruck gegen sie vorzugehen. Die Furcht vieler
Bürger vor Kriminalität und Verbrechen wird verknüpft mit einer grundsätzlichen Kritik am liberalen
Rechtsstaat.
5. Ambivalent ist das Verhältnis der Rechten zum Sozialstaat. Den eigenen Anhängern möchte man schon
soziale Sicherheit gewähren, nicht aber denen, die man als Feindbild braucht. Da ist die Rede von Faulenzern,
Schmarotzern, Wirtschaftsasylanten, Kriminellen. Denen sollen soziale Leistungen entzogen werden. Eine
Perversion des Sozialstaates wird diagnostiziert. Man habe keine Vorurteile gegen Ausländer, aber diese sollten
wie die Deutschen in der jeweiligen Heimat leben und diese lieben. Der Zorn der Rechten geht gegen die
Ideologie der "multikulturellen Gesellschaft".
67
3. Mehr und mehr dringt das Thema einer "europäischen Integration" ins Zentrum der neonationalen
Argumentation. Die Ziele von Maastricht und deren angeblich mangelnde Legitimation bei der deutschen
Bevölkerung durch die hier unterbliebene Volksabstimmung werden ins Visier genommen. Insbesondere wird
die verbreitete Furcht vor der Einführung einer europäischen Währung geschürt. Der "Euro" werde niemals so
stabil sein wie die DM. Ein weiteres Argument gegen Europa ist, daß die Entscheidungsprozesse in Brüssel
unüberschaubar, bürokratisch und nicht kontrollierbar
Seit längerem gehört die Kritik am übertriebenen Sozialstaat nicht nur zum Repertoire der Rechten, sondern
auch weiter Kreise der "bürgerlichen" Parteien CDU/CSU und FDP. Aber in der drastischen Formulierung
angeblich ungerechtfertigter Empfänger von Sozialleistungen sind die Rechten radikaler mit Begriffen wie
"Absahner", "arbeitsscheue Elemente" oder "kaltblütige Wirtschaftsflüchtlinge".
6. Ein Modethema ist die Übernahme der Kritik an der "Political Correctness" wie sie in den USA verbreitet ist:
Für Deutschland haben die Rechten haben ein linkes Meinungskartell ausgemacht, das Form und Sprache
angepaßter Politik in der Bundesrepublik vorschreibe. Der Zwang zu politischer Korrektheit führe zu einer
Verschleierung sozialer Mißstände, löse Negatives in schwammiges Wohlgefallen auf. Zum Diktat politischer
Korrektheit gehöre auch der "Auschwitz-Hammer", der stets zuschlage, wenn jemand in den Verdacht gerate,
sich rassistisch, nationalistisch oder judenfeindlich geäußert zu haben, was allerdings Rechten weitaus häufiger
passiert als anderen.
Für diese Thesen sind, wie gesagt, bis zu 15 % der Deutschen empfänglich. Das Potential ist da. Die DVU, die
„Republikaner“ und andere Rechtsparteien haben darüber hinaus immer wieder Organisationsvermögen an den
Tag gelegt, und in Berlin will man gar die Organisation einer etablierten Partei entern. Dennoch ist es den
Rechten bisher nicht gelungen, sich im politischen System auf allen Ebenen zu etablieren. Nach dem
Nationalsozialismus ist in Deutschland die Hemmschwelle vor extrem nationalen und rechten Politikfeldern
groß. Es hat sich bisher auch kein „großer Kommunikation“ gefunden, der die Rechten sammeln könnte.
Schließlich ist das Innenleben der meisten rechten Gruppierungen von geistiger Armseligkeit und Zerstrittenheit
beherrscht, was selbst Sympathisanten fern hält.
Aber in Österreich, auch mit dem Nationalsozialismus belastet, hat es ein Populist geschafft. Die etablierten
Parteien in Deutschland sollten auf der Hut sein. Dabei ist es sicher nicht klug, wenn ausgerechnet ein
Repräsentant eines umkämpften Landesverbandes der FDP den Populisten aus der Alpenrepublik hierzulande
durch Diskussionen hoffähig macht. Wirksamer ist es da schon, wenn die demokratischen Parteien durch
Kontroversen über gelegentlich stramme Sprüche aus den eigenen Reihen rechtsanfällige Wähler am Abdriften
hindern.
Doch ist das alles nur Taktik, solange der Arbeitsmarkt einem großen Teil der Bevölkerung verschlossen bleibt.
Wenn sich das nicht ändert, wird ein großes rechtes Potential als Bedrohung der Berliner Republik bleiben.
c) Gegen rechts: Therapie oder Administration?
Wird in Deutschland darüber debattiert, wie Gesellschaft und Staat sich zu politischem Extremismus verhalten
sollen, dann kristallisieren sich zwei grundsätzliche Positionen heraus:
Der Staat müsse alle administrativen und rechtlichen Möglichkeiten gegen den Radikalismus einsetzen, sagen
Verfechter der einen Position. Notfalls, so fügen besonders harte Verfechter dieses Standpunktes hinzu, notfalls
müßten eben auch die Gesetze geändert werden, um der Justiz, der Polizei und den Verwaltungen zusätzliche
Waffen in die Hand zu geben.
68
Man solle den sozialen und psychischen Ursachen des Extremismus auf den Grund gehen, halten die
Protagonisten der anderen Position dagegen. Dann sei es Aufgabe sozialarbeiterischer Therapie und Prophylaxe,
die verirrten Extremisten “dort abzuholen, wo sie leben”. Das ist der Ratschlag vor allem um politische
Korrektheit Bemühter. Freiere Geister schlagen dagegen vor, vor allem die sozialen Ursachen des Extremismus
zu bekämpfen. Die müssen allerdings aufpassen, daß sie nicht selber zu Extremisten gestempelt werden.
Die erste Position mit ihren Spielarten läßt sich etatistisch, die zweite therapeutisch nennen. Solange die
Bundesrepublik besteht, gibt es politischen Extremismus, der seine Ziele gegen die im Grundgesetz formulierte
Ordnung des Gemeinwesens durchsetzen will.
Welche offizielle Gegenposition sich jeweils durchsetzt, hängt vom Zeitgeist ab.
In den fünfziger Jahren war das verheerende Ende des nationalsozialistischen Extremismus noch ebenso
gegenwärtig wie sich im Zuge des Kalten Krieges zum Kommunismus ein Feind-Verhältnis aufgebaut hatte.
Folglich ging
die Regierung Konrad Adenauers gegen die neonazistische SRP ebenso wie gegen die
kommunistische KPD mit der schärfsten etatistischen Waffe vor: Dem Gang zum Bundesverfassungsgericht, um
die Handhabe für Parteienverbote zu bekommen. Karlsruhe stellte die Verfassungswidrigkeit beider Parteien
fest, und die Verwaltung löste diese auf.
Als später dann in den sechsziger Jahren die NPD erstmals die politische Szene betrat, Landtagswahlen gewann
und in den Deutschen Bundestag einzuziehen drohte, reagierte vor allem die CSU auf die den Erfolg der NPD
speisenden ökonomischen Ängste in weiten Kreisen
der Bevölkerung und ging auf ihre Befürchtungen
beschwichtigend ein. Die CSU grub so den “Nationaldemokraten” das Wasser ab. Wirtschaft war damals das
Kredo der Republik, und wirtschaftspolitische Argumente eigneten sich als Rezept gegen die seinerzeitige NPD.
Die Studentenbewegung hernach hat die Gesellschaft gelehrt, daß auch politische und ideologische Motive
einflußreich werden und eine traditionelle Ordnung - wenigstens scheinbar - gefährden können. Die Etablierten
in Politik und Verwaltung glaubten jedenfalls an diese Gefährdung, und sie schufen sich neue administrative
Waffen gegen die “APO”: Radikalenerlaß, Kontaktsperregesetz und Stammheim sollten die “FdgO” genannte
freiheitlich-demokratische Ordnung schützen, spornten aber gleichzeitig einen schlimmen Terrorismus an.
Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung nun macht rechter Extremismus dem Lande zu schaffen. Lange Zeit
kam die öffentliche Debatte nach den Mitteln gegen diesen Extremismus nicht in Gang. In Hoyerswerda,
Rostock, Mölln, Lübeck und Solingen kam es zu Mord und Totschlag gegen Minderheiten. In MecklenburgVorpommern bildeten sich rechtsfreie Gebiete heraus. In Brandenburg wurden Asylbewerber zu Tode gehetzt.
Gleichzeitig zogen die “Republikaner” zweimal hintereinander mit guten Stimmenergebnissen in den Stuttgarter
Landtag ein. In Schleswig-Holstein war die DVU einmal erfolgreich, und heute sitzt diese rechtsradikale
“Partei” des Verlegers Frey in den Landtagen von Sachsen-Anhalt und von dem die Hauptstadt Berlin
umschließenden Land Brandenburg. Dann marschierten auch noch NPD-Funktionäre in Springerstiefeln, mit
Bomberjacken und Glatzen am Vorabend des “Tages der Machtergreifung” durchs Brandenburger Tor.
Aber alle diese und weitere Ereignisse lösten keine Dahatte über die Gegenwehr aus. Den rechtsradikalen
Vorkommnissen folgten routinierte Rituale auf dem Fuße. Gutmenschen zeigten Betroffenheit, politische
Autoritäten besonders im Osten Deutschlands entschuldigten und relativierten. Die liberale Öffentlichkeit
empörte sich - mehr oder weniger stark - über Vorkommnisse, ging aber spätestens eine Woche nach dem
Ereignis wieder zur Tagesordnung über, indem sie sich auf ein neues aktuelles Ereignis stürzte - seien es Kohls
Spendenaffaire, die Eskapaden des Prinzen von Hannover oder die Kampfhunde.
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Der Rechtsradikalismus wurde im vereinten Deutschland lange nicht das beherrschende Thema, trotz ermordeter
und verletzter Opfer, trotz öffentlicher Auftritte von Extremisten, trotz der Wahlerfolge der Rechtsparteien und
trotz der offensichtlichen Hinwendung der “Partei” NPD zum Nationalsozialismus.
Die therapeutische
Grundposition beim Kampf gegen Extremismus auch gegen rechts war allenthalben so dominierend, daß die
Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft das Thema an tatsächliche oder vermeintliche Experten delegierten.
In rechte Jugendtreffs wurden öffentliche Mittel gegeben, um die verirrten Schafe einzusammeln. An
Gedenktagen gegen den Nationalsozialismus wurden schön anzuhörende moralisierende Reden von dafür
zuständigen Politikern wie Rita Süßmuth oder Wolfgang Thiersee gehalten. Jedes Bundesland und viele noch so
kleine Gemeinden legten sich “Ausländerbeauftragte” zu, die zu gegebener Zeit ermahnende Worte sprachen.
Ignatz Bubis wurde der Status einer obersten informellen moralischen Autorität der Republik zuerkannt, und er
scheiterte darin tragisch , weil er im Innersten ein Etatist und kein Therapeut war. Die staatlichen
Verfassungschützer auf der anderen Seite rieten den Verantwortlichen ab, rechtsextreme Organisationen
aufzulösen, weil sie dann die Szene nicht mehr beobachten könnet. Das ging so weit, daß sogar davor nicht
zurückschreckten, erwiesene Extremisten als staatliche Kundschafter einzusetzen. Und schließlich waren da
Kommunalpolitiker, Polizeibeamte und andere Funktionsträger auf der unteren und mittleren Ebene, die noch
jeden rechtextremen Exzeß relativierten, erklärten, vertuschten und entschuldigten, wenn er auf ihrem Terrain
stattfand. Diese Art von Therapie interpretierten die Extremisten als klammheimliche Sympathie der Etablierten
mit ihrem Tun. Sie machten weiter.
Da explodierte im Sommer 2000 in Düsseldorf eine Rohrbombe und verletzte ausschließlich Zuwanderer aus
Rußland, die meisten davon Juden. Über die Hintergründe der Tat konnte die Polizei nicht ermitteln, doch die
Öffentlichkeit nahm diesen Vorfall zum Anlaß, nunmehr die längst fällige Generaldebatte über den
Rechtsextremismus zu eröffnen. Die Medien brauchen offensichtlich den Zeitpunkt, die richtige Geschichte und
die geeigneten Bilder, bevor sie etwas ganz oben auf die Tagesordnung setzten.
Nun flammte erneut die bekannte Debatte um die beiden Grundpositionen auf. Anfangs waren die Therapeuten
noch die Meinungsführer. Vor Ort bis in das Zentrum der Staatsmacht in Berlin wurden Betroffenheitsgesten
gezeigt. Die unvermeidlichen Sprecher der Arbeitgeberschaften sprachen ihrerseits von der Gefährdung des
Standortes Deutschland. Alles schien zu sein wie immer seit zehn Jahren. Da forderte der bayerische
Innenminister ein Verbot der NPD. Und wie in dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern fielen vielen die
Schuppen von den Augen: Tatsächlich, da existierte eine politische Partei, die seit einiger Zeit Anleihen bei den
Nationalsozialisten nimmt.
Nun wurde die etatistische Position verstärkt wahrnehmbar. Ein Parteienverbot, das hatte es nur zweimal in der
Geschichte der Bundesrepublik gegeben, zuletzt 1956. Was da im Grundgesetz steht, daß die privilegierten
politischen Parteien nicht einfach durch Regierung und Verwaltung aufgelöst werden können, sondern daß es für
diesen Schritt einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes bedarf, hatte lange Zeit als anachronistisch
gegolten: Der politische Extremismus müsse politisch bekämpft werden, lautete dreißig Jahre lang ein Dogma
der deutschen Politik. Viele Hilfsargumente wurden bemüht, um das Dogma zu stützen: Eine starke Demokratie
könne Extremisten rechts und links ertragen, verkündeten die einen. Man dürfe die Extremisten nicht
kriminalisieren, lautete es menschenfreundlich. Nicht verbotene Organisationen ließen sich besser observieren,
versicherten die Dienste, deren Erkenntnisse zugleich auch nicht immer besonders nahe an der Realität waren.
Überhaupt seien Parteienverbote ja illiberal, ließen sich schließlich börsenverliebte Yuppies ein, die sich nicht
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vorstellen können, wie schnell Leute vom Schlag der NDP-Kader mit dem freiheitlichen Yuppiegefühl Schluß
machen würden, wenn sie nur könnten.
Daß ein Parteienverbot Ende des zwanzigsten Jahrhunderts als Steinzeitwaffe angesehen wurde, hat damit zu
tun, daß die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus nach über fünfzig Jahren verblaßt sind - allen
Gedenkfeiern und Mahnmaldiskussionen zum Trotz. Vergessen sind auch die Gründe, warum die politischen
Parteien im Grundgesetz 1949 hervorgehoben wurden und warum ausdrücklich festgehalten wurde, daß sie an
der “politischen Willensbildung” mitwirken: Nur ein System von demokratischen Parteien - das hatten Weimar
und das “3. Reich” gelehrt - kann eine Massendemokratie am Leben erhalten. Doch in der Bundesrepublik zur
Jahrhundertwende verging mehr und mehr Menschen die Lust, sich an Wahlen zu beteiligen, gar in den Parteien
zu engagieren, und das Wort von der “Parteienverdrossenheit” machte die Runde sowohl in den Zirkeln des
renommierten Staatsrechtsprofessors als auch über dem sprichwörtlichen Stammtisch. Bis in die Zentren der
Parteien hinein machten Menschen sich Gedanken, wie sie das Wirken der politischen Parteien beispielsweise
durch weitgehende Plebiszite eindämmen können. Die Forderung etwa, den Bundespräsidenten direkt durchs
Volk wählen zu lassen, galt bei Modernen und Liberalen als sehr schick, und zum Hinweis aus die
Rechtsparteien, daß die dergleichen auch forderten, wurde locker gesagt, deswegen sei diese Forderung noch
nicht falsch. Dabei ist es so, daß sich die Rechten wohl präziser erinnern, wie wenig segensreich der vom Volke
gewählte Staatspräsident in Deutschland Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts gewirkt hat.
Es mußten offensichtlich Asylheime brennen, Fremde durch Provinzstädte gehetzt werden und Glatzen durchs
Tor marschieren, bis ein relevanter Teil der deutschen Öffentlichkeit erkannte: So dick ist das Eis nicht, auf dem
sich Liberalität und Demokratie in diesem Lande bewegen, und wie vor siebzig Jahren, kann es auch jetzt oder
später noch einmal einbrechen. Und um das zu verhindern, reichen Pädagogik, Sozialarbeit und Moralisieren
offensichtlich nicht aus; es bedarf
auch der administrativen Repression. Und so kam es denn, daß eine
Staatssekretärskonferenz ersthaft die Chancen eines Verbotsantrages gegen die NPD prüfte, daß erneut über die
Bannmeile in Berlin-Mitte nachgedacht wurde und daß Polizisten ernst einschritten, wenn Extremisten im Lande
wieder einmal von sich reden machen wollten. Die etatistische Position bei der Bekämpfung des Extremismus ist
wieder hoffähig, weil mittlerweile genügend Verantwortliche erkannt haben, daß ein erneuter Einbruch der
politischen Kultur nicht ausgeschlossen ist.
Doch diesmal wäre es falsch, bei der Wahl der Mittel gegen den Rechtsextremismus im “Entweder-OderDenken” zu verharren. Neben Verboten, Einengungen und schärferen Bestrafungen, bedarf es weiterhin der
politischen Bildung, der Sozialarbeit und der moralischen Verurteilungen durch Autoritäten vor allem der
mittleren und unteren Ebene. Hierbei kann manches fortgeführt und anderes verbessert werden. Es bedarf aber
auch einer gründlichen Debatte über die Ursachen für den Rechtsextremis und die Anfälligkeit vor allem
Jugendlicher hierfür.
Da wird es heikel. Denn der Extremismus ist auch ein Indikator für Schwachstellen unserer Gesellschaft. Eine
dieser Schwachstellen ist, daß die neue Ökonomie zum Motor der gesellschaftlichen Entwicklung geworden ist.
Die neuen Techniken, die Urbanität, die neuen Jobs und die unermeßlichen Einkommenquellen gehören zur
Sonnenseite dieser rasanten Entwicklung; zur Schattenseite aber gehören die Chancenlosigkeit vieler und die
soziale Kälte, mit der sie abgespeist werden. Es kann doch einer Demokratie nicht nützen, wenn die alte
Mittelschichtengesellschaft auseinanderdriftet, oben Geld, Prestige und Elitebewußtsein akkumuliert werden,
unten aber Stütze, Trost- und Perspektivlosigkeit sich ausbreiten. Wieviel “VIP-Longues” hält ein
Fußballstadion aus, wieviel Milliarden die Lizenz- und Übernahmepolitik der Firmen, wieviel überbezahlte
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“Promis” der Unterhaltungsbranche die Demokratie? Wie wirkt sich der frühe Reichtum der “Oli P`s”, der
“Slatko`s”, aber auch der “Jauch`s” und “Effenberg`s” auf die Motivation der Unbegabten und Ungefragten aus,
sich anzustrengen, damit sie es im Leben einmal “zu etwas bringen”? Es kann doch selbst für die gut Begabten
und Ambitionierten nur frustrierend auswirken, daß in den Profiteams des Sportes noch qualifiziertere Ausländer
ihnen vorgezogen werden, daß die Computer von “Indern” programmiert werden müssen, damit die Companies
noch mehr scheffeln und weitere Börsengänge vorbereiten können. Überall gehen Halt, Maß und das Gefühl
verloren, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen erbrachter Leistung und erhaltenem Lohn.
In solchem Umfeld gibt es einige, die ihren Frust in Gewalt gegenüber solchen umsetzten, derer sie habhaft
werden und die nicht zu ihnen gehören. Und ihnen biedern sich jene Ideologen an, die behaupten, das einzig
mögliche Gegenmodell sei der Nationalsozialismus. Die Frustrierten und obendrein Gewaltbereiten werden nur
in die Arme jener Ideologen getrieben, wenn sie spüren, daß sich die “Promis” nennende herrschende Klasse
gegen sie wendet, weil sie - wie es schon immer in der Welt war - um ihre Pfründe fürchtet.
Derartiges auszusprechen ist - wie gesagt heikel. Doch dazu muß es kommen in der Debatte über die richtigen
Mittel gegen den Extremismus. Eigentlich ist es nicht möglich, daß die Bundesregierung jetzt Steuermittel zur
Verfügung stellt für Projekte gegen rechts. Die Gefahr der Mitnahme ohne Effekt ist hoch. Geld sollte vielmehr
ausgegeben werden für Forschungen und politische Diskurse über die Frage: “Können in der modernen
Gesellschaft Leistung und Gerechtigkeit verbindliche Maßstäbe sein?”
Das Volk beklagt in allen Befragungen, die Reichen würden immer reicher und die Armen immer ärmer. Nur
eine Minderheit ist deswegen unzufrieden. Aber wie lange noch? Sollten weitere Bevölkerungskreise radikal
werden, werden diese sich wohl überwiegend nicht auf der linken Seite des politischen Spektrums wiederfinden,
sondern auf der anderen. Mit dem Ende des Weltkommunismus ist der linke Extremismus unglaubwürdig, nicht
attraktiv. Umso größer die Gefahr, daß auf der rechten Seite noch mehr zusammenbraut als was wir heute
kennen. Um das zu verhindern, muß die Politik dem öffentlichen Leben wieder Maß geben, damit Leistung und
Gerechtigkeit zusammen gehen und der Gesellschaft jenen Halt geben, den die Politikwissenschaftler
“Legitimation” nennen.
9.
Transatlantische Entfremdung
a) Der 11. September
Der 11.September 2001 war einer jener Tage, die das politische Bewusstsein der Menschen prägen. Und damit
ändert sich die Welt.
Das Datum 11. September 2001 ist einschneidend wie der 13. August 1961, der Tag des Mauerbaus. Wieder hat
man das Gefühl, die Menschheit halte den Atem an. So war das auch am 22. November 1963, dem Tag als John
F. Kennedy ermordet wurde. Solche Tage haben weltgeschichtliche Aura, und alle spüren es sofort. Meist lösen
diese Tage Furcht und Entsetzen aus, seltener Freude und Euphorie. Der letzte Freudentag dieser Dimension war
der 9. November 1989, als die Mauer fiel.
Wie ändert sich die Welt an Tagen mit weltgeschichtlicher Aura? Der 11. September 2001 wirkte wie die
Kriegserklärung der ärmeren, fundamentalistischen gegen die reichere, liberal-demokratische Welt. Auch im so
euphorisch begrüßten neuen Jahrhundert also ist die Zivilisation aufs höchste gefährdet. Waren es im vorigen
Jahrhundert politische Religionen - vor allem der Kommunismus und der Nationalsozialismus - , die
Abermillionen Menschen in die Gaskammern, in die Gulags, auf die Schlachtfelder und dort in den Tod trieben,
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so scheinen es im neuen Jahrhundert religiös verbrämte politische Ideologien zu sein, aus denen der Terror
entsteht, der wiederum taufende Menschenleben kostet. Es ist Terror gegen Toleranz, gegen eine offene Welt gegen jede Form aufgeklärter politischer Kultur.
Diesen Terror findet man auch vor unserer Haustür, und er hat nicht immer etwas mit moslemischem
Extremismus zu tun:
In Nordirland jagen angebliche Christen erbarmungslos heulende Schulkinder aus purer Rechthaberei durch eine
Gasse der Gewalt und Bösartigkeit. Das geschient im Namen der Konfessionen, und der Papst begibt sich ebenso
wenig wie höchste protestantische Kreise leibhaftig dorthin, um Einhalt zu gebieten.
Auf dem Balkan verjagen sie sich gegenseitig, morden und vergewaltigen im Namen ihrer unterschiedlichen
Nationen und Religionen. In ihrem Bemühen, dem Einhalt zu gebieten, verstrickt sich die westliche Welt derweil
in einem Dickicht von Hass, Egozentrik und Unerbittlichkeit. Um dem auf diesem Boden heranwachsenden
Terroristen etwas entgegen zu stellen, züchtete der Westen Strukturen heran, aus denen heraus sich der Terror
schließlich gegen ihn selber richten kann.
Im Nahen Osten kämpfen Juden und Araber alttestamentarisch um ihr Land: "Auge um Auge, Zahn um Zahn".
Das Tempo dabei bestimmen religiös aufgeputschte Fundamentalisten. Sogenannte Gottesmänner säen Hass in
die Seelen "heiliger Krieger", und auf der anderen Seite pochen Orthodoxe unerbittlich auf den alleinigen Besitz
von Wahrheit, Recht und Moral. In den Lagern der Palästinenser wachsen seit Generationen das eigene Leben
und das anderer verachtende Selbstmordkrieger heran. Bei den Juden errichten unerbittliche Orthodoxe Barrieren
gegen die Vernunft und den Friedenswillen des eigenen Volkes. Sie und ihre kongenialen Gegner bei den
Moslems haben der gesamten Region ein Klima der Gewalt, der Rechthaberei und des Todes gebracht. Weiter
weg in Afghanistan ist eine Gruppierung an die Macht gekommen, die sich auf den Islam beruft und Menschen,
welche nicht ihren Vorstellungen entsprechen, drangsaliert, verfolgt und vernichtet. Frauen werden gehalten wie
unmündiges Vieh. In diesem Land, seit dem Überfall der Sowjetunion geschunden, zerstört, materiell und geistig
ruiniert sollen von einem reichen Araber die Fäden gesponnen worden sein für den Angriff auf Amerika am 11.
September.
Seit die Flugzeuge mitsamt ihren zu Gefangenen gewordenen Passagieren und ihren selbstmörderischen
Entführern in die Twin Towers gerast sind, ist in der westlichen Welt das Urvertrauen in die Sicherheit ihrer
Zivilisation dahin. Was sich diese Zivilisation in ihrer hemmungslosen Unterhaltungswut als virtuellen
Nervenkitzel schon ausgedacht hatte, ist wie nach dem Prinzip der self fulfilling prophecy Wirklichkeit
geworden. Es ist wie in den von Hollywood ausgedachten Horror-Filmen - und doch schlimmer: Die Wolke von
Staub und Rauch blieb wie ein infernalischer Stempel über der Superstadt kleben als bezeugte sie das jüngste
Gericht. Wer kann sich tausendfach ausmalen, welches Elend und welche Qualen die unter den Trümmern
Begrabenen erlitten haben?
Es scheint, als komme das Dunkle aus dem Hellen, der Terrorismus aus der Zivilisation - das nicht nur wegen
der zuvor produzierten Hollywood-Bilder. Einige der Attentäter haben sich in Florida - des Präsidenten
politische Heimat - ausbilden lassen, einer hat in Hamburg auf den Einsatz gewartet. Unter anderem in Boston der Wiege der amerikanischen Demokratie - haben sie sich eingecheckt. Sie nutzten die Hightech der modernen
Welt, um ihr einen tiefen Stoß zu versetzen.
Diese Terroristen spielten virtuos auf der Klaviatur der modernen Medienwelt, in der Bilder und Symbole
zählen. New York und Washington, die Metropolen der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Macht
des Westens wurden angegriffen. Der Landsitz des Präsidenten war offensichtlich ein weiteres Ziel. Mit dem
73
Doppelschlag gegen die Handelstürme wurde die Traumkulisse Manhattans in einen Alptraum verwandelt. Und
als hätten die Attentäter noch dabei Regie geführt: Die Fernsehstationen dieser Erde wiederholten die
apokalyptischen Bilder wieder und wieder.
Der Präsident der USA sprach von einem Krieg des "Guten" gegen das "Böse". Das "Gute" werde gewinnen.
„Wer nicht für uns ist, ist gegen uns." Das erinnert an das Western-Schema. Dabei definiert sich das "Böse"
durch das "Gute" und umgekehrt. Für das "Böse" selber ist Amerika der Feind schlechthin, der Weltenverderber.
Auf der anderen Seite braucht das sich als "gut" Definierende offenbar das "Böse", sonst verliert es die
Orientierung. Diese scheint ein Jahrzehnt nach dem Untergang des Ostblocks und dem Verlust des alten Bösen
wieder da zu sein. Es sieht so aus, als ob sich das neue Feindbild auf den moslemischen Fundamentalismus
fokussiert. Die westliche Welt - genauer gesagt: Amerika - wird reagieren auf den 11. September. Doch ein
wenig schwankt sie noch zwischen dem strikten Freund-Feind-Schema und einem stärkeren InterdependenzDenken. Das sucht die Ursachen des internationalen Terrorismus und vermutet sie in den Ungerechtigkeiten
dieser einen Welt:
- Die ganz Elenden in Afrika bäumen sich global nicht auf. Viel zu schwach sind sie. Regional allerdings kommt
es dort immer wieder zu Ausbrüchen. Diese sind infernalisch, doch sie treffen die westliche Welt nicht.
- Trotz terroristischer Strukturen auch in den USA selber oder in Europa: Der Hauptangriff kommt in der Tat aus
dem Gürtel der moslemischen Staaten im Süden der "weißen" Länder - von Westafrika bis nach Fernost. Dort
gibt es eine gewachsene Kultur, eine nicht wie in Afrika einst zerstörte Infrastruktur und eine aggressiv
aufladbare Religion. Setzte man hier mit tätiger Hilfe tatsächlich an, so meinen viele, könnte dem internationalen
Terrorismus langsam der Boden entzogen werden. Dazu aber müsste der Westen einen Teil seines Reichtums
wirklich opfern. Bisher hat er - gegenteiligen Bekundungen zum Trotz - stets akkumuliert. Wo es nicht anders
geht, muss er selber die Verhältnisse massiv so ordnen, daß das Leben der Menschen in den Regionen Ziel und
Maß erhält. Alsbald wäre dazu vonnöten eine große Balkankonferenz Europas und der USA und die Umsetzung
eines Modus vivendi in Israel ähnlich wie ihn der Präsident Clinton kurz vor seinem Amtsende vorgeschlagen
hatte. Es scheint, als sei das Freund-Feind-Denken in den USA stärker verbreitet, das Interdependenz-Denken
dagegen mehr in Europa. Doch haben beide Richtungen Verfechter auf beiden Kontinenten, und auch die
amerikanische Administration kennt nicht nur das Freund-Feind-Schema. Handeln nach dem interdependenten
Denken wird zudem das Bemühen um Strafe für die Verursacher des 11. September nicht ausschließen. Nur
scheint es besser zu sein, Strafe zu fordern und nicht Rache, denn Strafe könnte Wiederholer anschrecken, Rache
würde neue auf den Plan holen.
Die historischen Ereignisse lehren: Die Menschen meinen zwar, daß sich etwas ändern wird, aber ihre konkreten
Erwartungen gehen oft in die falsche Richtung. Beim Mauerbau dachten viele, Berlin, Deutschland und Europa
würden nun auf ewig geteilt bleiben. Dabei war der Bau der Mauer der Anfang vom Ende der Teilung. Als John
F. Kennedy ermordet wurde, sah das Publikum die amerikanische Demokratie gefährdet und den Rassismus auf
dem Vormarsch. Der Rassismus ist mittlerweile in den USA wenigstens formal allgemein geächtet, Amerika ist
noch stärker geworden, und die älteste Demokratie funktioniert nach wie vor - wenn auch manchmal wie bei der
Präsidentschaft Nixons oder den jüngsten Wahlen mehr schlecht als recht. Zu gut schließlich ist in Erinnerung,
daß die deutsche Vereinigung die erwarteten "blühenden Landschaften" beileibe nicht gebracht hat. Aber im
großen und ganzen ist doch ein friedliches und demokratisches Deutschland mit einer neuen Hauptstadt daraus
geworden. Der 11. September wird nicht vergessen werden wie viele andere Ereignisse. Die an diesem Tage
deutlich gewordene Fragilität der Zivilisation wird bewußt bleiben. Es ist zu hoffen, daß alle Beteiligten nach
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Strategien zur Festigung dieser Zivilisation suchen und weise genug sind, dabei nicht deren kulturelle
Untermauerung aus Toleranz, Freiheit und Demokratie zu zerstören. Denn sonst hätten die terroristischen
Massenmörder von New York und Washington am Ende doch noch gewonnen.
Wie die Welt sich nunmehr ändert, weiß niemand, selbst der amerikanische Präsident nicht:
Sollte es gelingen, den Terrorismus zu besiegen, so hätten wir eine neue Weltordnung. Weniger die UNO, mehr
die USA wären der Friedensrichter der Erde.
Gelingt der „Feldzug" nicht, bleibt er stecken in den Fallen und Dickichten dieser Erde, so sind wohl regionale
Kriege, Aufstände, Migrationen die Folge.. Beginnen die Industriestaaten, die Welt jetzt umzubauen und
Gerechtigkeit zu globalisieren, so veränderte das nicht nur die Weltordnung , sondern auch das Alltagsleben –
bei den bisher Armen ebenso wie bei den bisher Reichen.„Wie ändert sich die Welt?" Niemand weiß eine
Antwort. Aber ändern wird sie sich - dramatisch!
b) Die deutschen Parteien nach dem 11. September
Beim Erscheinungsbild der politischen Parteien in Deutschland nach 2001 wurde die Perspektive bestimmt durch
die Terroranschläge in den USA vom 11. September sowie durch die daraus folgenden Kriege in Afghanistan un
im Irak. Der Anschlag auf das World Trade Center und das Pentagongebäude wird verstanden als Angriff auf die
westliche Zivilisation insgesamt und damit auch auf den Kern des politischen Systems in Deutschland. Formell
kommt das darin zum Ausdruck, dass die NATO - deren Mitglied Deutschland ist - den Beistandsfall festgestellt
hat. So kann Deutschland jederzeit zur aktiven Kriegpartei in Asien werden. Gleichzeitig meint man nach den
Ereignissen von New York und Washington, auch in Deutschland eine Gefährdung der inneren Sicherheit für
möglich halten zu müssen. Es steigert offensichtlich die Plausibilität einer solchen möglichen Gefährdung, dass
ein Teil der Attentäter sich als sogenannte „Schläfer“ in Deutschland vorbereitet hatten.
Alle bis zum 11. September aktuellen Themen der deutschen Innenpolitik wie die stockende Konjunktur, das aus
den Fugen geratende Gesundheitswesen, die Bundestagswahl 2002 oder die zweifelhafte Qualifikation des
Bundesverteidigungsministers sind in den Hintergrund getreten gegenüber je einer innen- und einer
außenpolitischen Hauptfrage:
1. Werden deutsche Soldaten bei militärischen Vergeltungsschlägen eingesetzt?
2. Mit welchen Mitteln und Maßnahmen können Terroranschläge in Deutschland verhindert werden?
In dieser Situation hat die SPD die Rolle der Führungspartei übernommen. Der SPD-Vorsitzende und
Bundeskanzler Gerhard Schröder ist zum über den Parteien stehenden Staatsmann mutiert. Er ist nicht nur
formell, sondern auch faktisch als der Sprecher Deutschlands legitimiert. Seinem Innenminister Otto Schily ist
eine entsprechende Mutation auf seinem Gebiet nicht geglückt: Mit seinen Konzepten zur inneren Sicherheit
bleibt er wie beispielsweise bei der Forderung nach einem Einsatz der Bundeswehr in Innern im Meinungsstreit
der Parteien. Die beabsichtigte Verwischung von Polizeibefugnissen und Aufgaben der Nachrichtendienste stößt
auf Widerstand von Verfassungsjuristen im Bundesjustizministerium. Dennoch erweckt der von den Grünen
gekommene Law-and-Order-Mann den Eindruck sicherheitspolitischer Kompetenz, die seiner derzeitigen Partei,
der SPD, zugute kommt. Das Bild des Kanzlers und seines Ministers verstellt somit nicht nur den Blick auf die
Fehlbesetzung Rudolf Scharping, sondern auch weitere inneren Schwächen der SPD. Noch vor ein paar Wochen
hatte der Generalsekretär der SPD, Franz Müntefering, die Verweigerer eines Militäreinsatzes in Mazedonien
unter den sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten harsch gerügt und damit deutlich gemacht, wie sehr es
75
die Koalitionsführung schmerzte, dass sie im deutschen Parlament außenpolitisch keine eigene Mehrheit gehabt
hatte.
Für die SPD trifft nunmehr die These zu, dass in Krisenzeiten die Regierung und die sie tragenden Parteien
gestärkt werden. Bei der kleinen Regierungspartei, Bündnis 90/Die Grünen, lässt sich das nicht behaupten.
Obwohl diese Partei mit dem Bundesaußenminister Josef Fischer einen der beliebtesten deutschen Politiker
stellt, leidet sie in der Öffentlichkeit unter Anerkennungsproblemen.
Die Grünen befinden sich in einem
Rollenkonflikt zwischen Koalititionsräson und Grundsatztreue. Dass sie sich in dieser Situation jetzt wie schon
in vorhergehenden Fällen meist für die Koalitionstreue entscheiden, sichert ihnen zwar den Verbleib in der
Regierung, verunsichert aber ihre Basis bei den Mitgliedern und Wählern. Eine Quelle der Grünen - wenngleich
nicht die einzige - war der Pazifismus. Nun wird von ihnen verlangt, dass sie Militäreinsätzen der Bundeswehr
weit außerhalb des eigenen Landes zustimmen. Vorschläge wie die von Claudia Roth, eine Feuerpause in
Afghanistan einzulegen, werden vom Kanzler und offensicht auch seinem Außenminister als Kindereien
abgetan. Immer mehr Bundestagsabgeordnete dieser Partei entsprechen dem Verlangen, Kriegseinsätze
grundsätzlich zu befürworten. So müssen die Grünen bangen, große Wählergruppen zu verlieren, und sie können
nur darauf setzen, Traditionswähler zu halten und Wählerströme von anderen Parteien auf sich zu lenken.
Letzteres ist ihnen offensichtlich bisher nicht gelungen, wie die Serie von Wählerverlusten bei den vergangenen
Landtagswahlen zeigt.
Zusätzlich prekär ist die Situation der Grünen dadurch, dass ihr schärfster Konkurrent unter den politischen
Parteien, die FDP, sich der SPD als Ersatzpartner in der Bundesregierung anbietet. Die Oppositionspartei FDP
sagt, sie möchte mit dieser Linie ihre Eigenständigkeit unterstreichen. Sie wolle nicht länger Anhängsel einer der
großen Parteien sein. Dennoch bietet sie sich der SPD an, oberflächlich betrachtet aus rechnerischen Gründen,
faktisch aber auch inhaltlich: In der Außenpolitik stellt sie dem Kanzler praktisch einen Blankoscheck aus. Ihre
Korrektivfunktion möchte sie in der Innenpolitik deutlich machen. Das zeigt sich am Beispiel der
innenpolitischen Thesen der Bundestagsfraktion, die einen großen Teil des innenpolitischen Programms Schilys
- wie die Fingerabdrücke oder die Kronzeugenregelung - billigen, aber beim Inlandseinsatz der Bundeswehr noch - widersprechen. Im Unterschied zu den Grünen befindet sich die FDP im elektoralen Aufwind, und ihrer
Politik des Sich-Anbietens bei der SPD im Bund schadet es offenbar nicht, wenn sie in Hamburg gleichzeitig
eine Koalition mit der CDU und der rechtspopulistischen Schill-Initiative vorbereitet.
Die andere kleinere Oppositionspartei, die PDS , hat sich mit ihrer Ablehnung der Militäreinsätze der USA und
demzufolge einer möglichen deutschen Unterstützung dieser Einsatz aus dem Kreise der übrigen Parteien
entfernt. Das liegt weniger am Ergebnis ihrer Entscheidung und mehr an deren Zustandekommen und
offensichtlichen Motivation. Die Parteiführung hatte ja durchaus versucht, eine Unterstützung von
Bundeswehreinsätzen für die PDS nicht grundsätzlich auszuschließen. Aber damit ist sie bei der nach wie vor
von alten DDR-Kadern durchsetzten Basis nicht durchgedrungen. Das hat eine lange schon spürbare
Führungsschwäche insbesondere der Parteivorsitzenden Gabi Zimmer allgemein erkennbar gemacht. Es nährt
zudem die Vermutung der Gegner der Partei, die PDS lehne die Militäraktionen in Asien nicht aus
pazifistischen, sondern aus antiamerikanischen Motiven ab. Der Bundeskanzler verstärkt diesen Eindruck, indem
er die PDS als einzige Bundestagspartei nicht zu seinen vertraulichen Informationsgesprächen über die
weltpolitische Lage einlädt.
Die CDU/CSU trägt noch immer die Last der Spendenaffaire ihres einstigen Vorsitzenden und Bundeskanzlers
Helmut Kohl mit allen Nebenaspekten wie etwa dem hessischen. In ihrem tiefen Innern ist diese Affaire eine
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Führungskrise nach dem Zusammenbruch des Systems Kohl im Jahre 1998. Die Diadochenkämpfe sind im
vollen Gange. Ein Ausdruck der Führungskrise ist die offene Frage der Kanzlerkandidatur zwischen Angela
Merkel und Edmund Stoiber für die Bundestagswahl im Jahre 2002. Aber auch die Rivalitäten zwischen der
CDU-Vorsitzenden und den “Granden” der Union wie Friedrich Merz, Volker Rühne oder auch Horst Seehofer
von der CSU sind unübersehbar. So kann die um ihre Stellung kämpfende Vorsitzende der CDU dem fest im
Sattel sitzenden Kanzler nicht ebenbürtig entgegentreten. Sie muß ihm das Primat überlassen und sich einordnen
in einen größeren Kreis, der zum Empfang im Kanzleramt Zugelassenen. Das schwächt das Bild der CDU,
zumal die regierende SPD sich gerade mit klassischen Unions-Themen - Bündnistreue in der NATO und innere
Sicherheit - in Szene setzt.
Die CSU versucht, sich als bayerische Regional- und Bundespartei von der CDU-Krise fern zu halten. Der CSUVorsitzende und Ministerpräsident Edmund Stoiber agiert aus seiner Staatskanzlei in München und über den
Bundesrat so als sei er der Gegenregent zu Gerhard Schröder. Wenn Schröder auch nach Stoibers Meinung gut
ist, so will Stoiber noch besser sein. Den Worten des Bundesinnenministers Schily lässt Stoiber gemeinsam mit
seinem medial zu bundespolitischer Kompetenz aufgestiegenen Innenminister Günther Beckstein Taten folgen
und legt für Bayern ein millionenschweres Sicherheitsprogramm auf. Für Bayern soll der Kanzlerbonus an
Stoiber gehen, und die CSU sichert sich so in der gegenwärtigen Krisensituation die Vormacht im Freistaat und
die bundespolitische Schlagkraft zugleich.
In dieser bundespolitischen Lage wurde die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 21. Oktober 2001 für alle
Parteien zu einem aufschlussreichen Test. Anlass dieser vorgezogenen Wahlen war das Milliardendefizit der als
“Milchkuh” des Stadtstaates gedachten Bankgesellschaft Berlin. Die Berliner SPD nutzte unter Anleitung Klaus
Wowereits die in der Stadt seit Jahren bekannte Ämterhäufung des CDU-Politikers und Bankers Klaus
Landowsky als Vehikel, um den langjährigen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen von der CDU aus
dem Amte zu entfernen und Neuwahl des Abgeordnetenhauses durchzusetzen. So sollte die SPD in Berlin
wieder zur stärksten Partei gemacht werden, was sie unter bekannten Bürgermeistern wie Ernst Reuter, Otto
Suhr und Willy Brandt einst war.
Nach der Duldung der sozialdemokratisch geführten Regierung Höppner in Sachsen-Anhalt und der SPD/PDSKoalition in Mecklenburg-Vorpommern ist die PDS beim Berliner Machtwechsel an einer landespolitisch
zentralen Stelle ins Spiel gekommen, indem sie zusammen mit der SPD und den Grünen im Berliner
Abgeordnetenhaus den Diepgen-Senat der Großen Koalition abgewählt und den rot-grünen Minderheiten-Senat
Wowereit installiert hat. Diese als “Übergangssenat” bezeichnete Landesregierung wird von der PDS toleriert.
Der Einbruch der PDS in die Landespolitik ist in Berlin bedeutend, weil es
a) die Bundeshauptstadt ist und weil
b) in der Zeit der Teilung der Stadt West-Berlin seine politische Identität als “Bollwerk” gegen jene
Kommunisten entwickelt hatte, deren Nachfolger heute als PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus agieren.
Würde die PDS durch den Berliner Machtwechsel Regierungspartei in der Stadt, wäre das ein Signal für die
Bundespolitik, dass auch dort die PDS koalitionsfähig werden könnte. Entsprechende Ankündigungen hatte es
seitens der SPD-Führung gegeben. Die PDS hat im Osten Berlins eine starke Basis, und im Berliner Wahlkampf
wollte sie ihre Position ausbauen, indem sie ihren früheren Bundesvorsitzenden Gregor Gysi zum
Spitzenkandidaten kürte - trotz oder gerade wegen dessen mittlerweile bekannt gespanntem Verhältnis zu seiner
eigenen Partei. Gysi ist einer der talentiertesten Medienpolitiker der Republik. Im Berliner Wahlkampf ist es
ruhig um ihn geworden - große stadtpolitische Impulse gingen nicht von ihm aus, und die Außenseiterposition
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seiner “Antikriegspartei”schien nicht attraktiv zu sein für solche Wähler, die durch Gysi zum PDS-Stamm
hinzugewonnen werden sollten. In Umfragen lag die PDS eineinhalb Wochen vor der Wahl bei 16%. Zwar
schloss die Landes-SPD eine Koalition mit der PDS nicht aus, aber die Wahrscheinlichkeit, dass es zu dieser
Konstellation kommt, schien zu sinken - je näher der Wahltag kam und je länger der Krieg in Asien dauerte. Das
Signal für die Bundespolitik “Rot-rot ist möglich” würde- so vermutete man vor der Wahl - ausbleiben.
Nachdem die PDS 22,6% der Stimmen geholt hat, sie es wieder anders aus. Als Option ist die SPD/PDSKoalition im Senat wieder vorhanden. Die PDS ist nun eindeutig die Partei des Berliner Ostens, wo sie 48% der
Stimmen geholt hat. Sie dürfte aber auch bei vielen Wählern als einzige konsequente Antikriegspartei
angekommen sein, was die verantwortlichen Bundespolitiker zur Reaktion zwingen wird.
Die CDU überholt hatte die SPD in Berlin schon vor der Wahl eindeutig. Mit 36% lag die SPD eineinhalb
Wochen vor dem Ereignis zehn Prozent vor der CDU. Ein Ziel des Berliner Wendemanövers war erreicht. Mit
ihrem Spitzenkandidaten Klaus Wowereit haben die Sozialdemokraten den Führungsanspruch in der Stadt, den
ihnen einst Richard von Weizsäcker, Eberhard Diepgen und Klaus Landowsky entrungen hatten,
zurückgewonnen. Dabei kam der SPD zugute, dass stadtpolitische Themen im Berliner Wahlkampf kaum noch
eine Rolle spielten - als Folge der Dominanz innen- und außenpolitischer Erfordernisse nach dem 11. September.
Was die Berliner vor Monaten auf die Barrikaden getrieben hatte - die Bankenkrise mit ihren Milliardenverlusten
- war nun ein Thema von gestern. Dass die SPD beispielsweise durch ihre frühere Finanzsenatorin am
Zustandekommen der Bankenkrise mitgewirkt haben mußte, hatte keine politische Bedeutung mehr. Wichtig
war, ob der Minderheitssenat die innere Sicherheit der Stadt garantieren und deren kulturelle Ausstrahlung
erhalten konnte, während die schlechte ökonomische Situation Berlins kaum noch ein Wahlkampfthema war.
Mit dem Einsatz von 200 Grenzschutzpolizisten und den Vertragsabschlüssen mit renommierten Künstlern wie
Simon Rattle und Daniel Barenboim hatte der Übergangs- und Minderheitssenat Zeichen gesetzt und eine
gewisse Kompetenz, die sich im Wahlergebnis möglicherweise ausgewirkt hat, entwickelt. Der Schachzug
Wowereits, seine Homosexualität vor seiner Wahl zum Bürgermeister zu bekennen um “Enthüllungen” zuvor zu
kommen, war richtig und hat ihm - Hoffnungen von Gegnern zum Trotz - nicht geschadet.
Die SPD mußte versuchen, die kurz vor der Wahl fehlenden drei bis vier Prozent der Wählerstimmen noch zu
bekommen, die ihr für eine Mehrheit von “Rot-grün” noch fehlten. Dieses Ziel hat die SPD mit ihren 29,7% nun
bei weitem nicht erreicht, so dass die Berliner Wahl aus sozialdemokratischer Sicht keine völlig geglückte
geglückte Generalprobe für die Bundestagwahl ist, zumal die Partei nun die unangenehme Debatte über eine
Senatskoalition mit der PDS führen muß .
Die Bankenkrise und die CDU-Parteispendenaffaire hängt der Berliner CDU an. Sie gilt als Schuldige an der
Misere- wohl auch deswegen, weil sie über Jahre hinweg den Senat geführt hatte. Aber ihre Mitglieder waren es
auch, die in diesem Feld durch unseriöse Geschäfte und unkorrekte Parteispenden auffielen. Dennoch war die
Bankenkrise nur das Medium, mit dem ein Wunsch nach einem Wechsel in der Stadt realisiert wurde. In
Hamburg hat es die Dauerregenten von der SPD getroffen, in Berlin die CDU. Das Absacken der CDU hat
einerseits mit dem unklaren Erscheinungsbild der Union auf Bundesebene und andererseits mit landespolitischen
Zusammenhängen zu tun. Neben der Bankenkrise schadete der CDU die Art der Nominierung und das Agieren
des Spitzenkandidaten Frank Steffel. Dass Steffel Wolfgang Schäuble als Spitzenkandidaten vorgezogen wurde,
galt insbesondere der veröffentlichten Meinung als Beleg für die Provinzialität des Landesverbandes. Mit
ungeschickten Auftritten um die Rechtfertigung politisch nicht korrekter Äußerungen aus seiner Jugend und dem
Bekenntnis seiner Liebe zu München hat Steffel sich zwar in der Stadt bekannt, aber eben auch weitgehend
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unbeliebt gemacht. Die Berliner und die Bundespolitiker der CDU gaben die Berliner Wahl schon vorher
verloren. Aber der Absturz auf 23,7% ist dramatisch und vermutlich mit der Berliner Landespolitik allein nicht
erklären: Der Druck auf Angela Merkel und ihr Regiment hat sich verstärkt.
Profiteur der Krise der CDU ist offensichtlich die FDP - auf der Bundes- wie auf der Landesebene. In Berlin ist
die Partei seit zwei Legislaturperioden nicht mehr im Abgeordnetenhaus vertreten. Nach einer “Figaro-Affaire”
ihrer Partei- und Fraktionsvorsitzenden Carola von Braun waren die Berliner Liberalen aus der Politik abgewählt
worden. Ihr Niedergang ging einher mit dem Niedergang der FDP im gesamten Osten Deutschlands, wo die
Partei derzeit nicht in einem einigen Landtag vertreten ist und wo die FDP mit dem Motto von der “Partei der
Besserverdienenden” die Kampfparole gegen sich selber formuliert hatte. Nach den Vorstellungen des neuen
Bundesvorsitzenden Guido Westerwelle und des Erfinders des Autosuggestionsprojektes “18", Jürgen W.
Möllemann, sollte der Test für die neue eigenständige FDP in Berlin erfolgen. Mit ihrem Spitzenkandidaten
Günter Rexrodt, der nicht weiß, ob er nach der Wahl in die Landespolitik wechseln oder lieber
Bundestagsabgeordneter bleiben soll, haben die Berliner Liberalen eine große Werbekampagne aufgezogen, die
ihnen in Umfragen schon 10 % eingebracht hatte. Allerdings schien die Koalition in Hamburg mit der SchillPartei der FDP in Berlin zu schaden, jedenfalls gingen die Voten zurück, und die FDP wurde eineinhalb
Wochen vor der Wahl bei 7 % gesehen. Der Einzug ins Abgeordnetenhaus erfolgte schließlich mit 9,9% - auch,
weil die Berliner FDP ihre inneren Flügelkämpfe offensichtlich überwunden und wieder Beachtung in den
Medien gefunden hat ,was den derzeitigen Höhenflug der Partei ermöglichte. Der Hauptgrund für den Erfolg der
Partei ist aber die Abwanderung der CDU-Wähler: 83000 Wähler gingen diesmal von der CDU zur FDP.
Die direkte Konkurrenzsituation der FDP zu den Grünen ist in der Berliner Politik weniger spürbar. Die FDP
wollte in der Stadt die Grünen nicht aus dem Senat verdrängen, sondern sich zu ihnen als Koalitionspartner der
SPD hinzugesellen - allerdings als die stärkere Kraft. Die Grünen sind in der Großstadt Berlin eine fest
verankerte politische Kraft, der besonders die SPD keine Wähler abjagen kann. Mit der Bundesministerin Renate
Künast haben die Berliner Grünen eine populäre Politikerinnen in ihren Reihen, und es war für die Partei kein
besonderes Problem, dass ihre Spitzenkandidatin Sybill Klotz nicht besonders brillierte. Die Grünen wurden vor
der Wahl bei bis zu 10% der Wählerstimmeneingeschätzt. Bekommen haben sie 9,1%. Die Grünen wollen nun
die Koalition mit der SPD erneuern. Dazu brauchen sie die FDP, die sie aber in der Wählergunst überholt hat.
Das ist keine günstige Lage für die Grünen, auch bundespolitisch nicht.
So ist die augenblickliche Situation des deutschen Parteiensystems gekennzeichnet durch eine weltpolitische
Überlagerung der Bundespolitik. Der Vorteil daraus geht auf der Bundesebene offensichtlich
an den
Bundeskanzler und seine SPD - weniger eindeutig in den Ländern, wie der 21. Oktober gezeigt hat. Insofern sind
die Berliner Wahlen begrenzt als Test für den bundesweiten Urnengang im Jahre 2002 zu sehen. Aber dreierlei
ist aus diesen Wahlen abzulesen:
1. Die CDU/CSU muß sich besser aufstellen, will sie bei der Bundestagswahl überhaupt eine Chance haben.
2. Die Partei des Ostens ist die PDS, der SPD ist es nicht gelungen, ihr hier das Wasser abzugraben.
3. Die anderen Parteien müssen überdenken, ob sie allein der PDS die Artikulation der in der Bevölkerung
verbreiteten Antikriegsstimmung überlassen wollen.
c) Der Krieg ist da: Die Amerikaner marschieren ohne Votum der UNO im Irak ein
In den letzten Stunden, Tagen, Wochen, Monaten kamen Zweifel auf, ob die Menschheit hinzulernen kann. Das
Wissen über die brutalen Folgen des Krieges gehört zu den Kollektiverfahrungen des deutschen Volkes. Mir hat
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sich 1945 für mein Leben als Sechsjährigem das Bild des Infernos auf einer Straße in Berlin eingeprägt:
brennende und schwelende Ruinen, herunterhängende Straßenbahnoberleitungen, auf dem Pflaster liegende tote
Pferde mit aufgerissenen Augen und daneben getötete Landser in ihren grauen Uniformen.
Andere haben Entsprechendes erlebt oder durch Familienmitglieder davon erfahren.
Es sind nicht die hochmächtigen Staatsmänner, die sich konkret solchen Elends annehmen, sondern das tun
Hilfsorganisationen, Glaubensgemeinschaften, Nachbarn.
Nach dem Inferno des II. Weltkrieges haben wir geglaubt, die Menschheit hätte sich fortentwickelt. Die UNO
sollte dafür sorgen, daß Recht vor Stärke geht. Die nordatlantische Gemeinschaft würde Krieg als Mittel der
Konfliktlösung tunlich vermeiden. Europa würde sich zu einer der Freiheit, dem Frieden und dem Wohlstand
verpflichteten Wertegemeinschaft hin entwickeln.
Nun ist das alles infrage gestellt. Liegt nur eine kurze Periode der Aufklärung hinter uns und steht von nun an die
Gewalt über dem Recht? Wenn eine der stabilsten und ältesten Demokratien der Welt robust auf Gewalt setzt
und die Verantwortlichen sich dabei nicht nur das Recht, sondern auch ihren Gott selber machen, dann besteht
die Gefahr, daß die Dämme der liberalen politischen Kultur allüberall brechen. Es ist doch zu befürchten, daß
andere Staaten, daß Institutionen und letztlich die Menschen sich untereinander ebenso verhalten.
Vielen scheint es, als habe Amerika den amerikanischen Traum zerstört. Warum nur wurde das weise Prinzip der
Checks und Balances faktisch ausgehebelt?
Aber die Hoffnung, daß die inneren Ereignisse der USA seit der letzten Präsidentschaftswahl dort sehr bald
politisch, publizistisch und wissenschaftlich analysiert werden, ist berechtigt, weil es große intellektuelle und
moralische Kräfte im amerikanischen Volke gibt. Diese sind gefordert.
Schon während das Zerstörungswerk geplant wurde, sorgten sich viele um den Wiederaufbau des Irak. Zugleich
jedoch muß daran gearbeitet werden, daß zwischen den Staaten und in ihnen das Recht über die Gewalt gesetzt
wird. Daran sollten sich auch unsere führenden Parteipolitiker orientieren, anstatt kleinlich irgendwelche
Schuldzuweisungen zu formulieren. Unser Gemeinwesen muß die freiheitliche und gewaltvermeidende
Demokratie praktizieren, sie dadurch fortentwickeln und verteidigen.
Auch in Deutschland gibt es eigenständige Gefahren wie die unsägliche jüngste Diskussion über die Folter
gezeigt hat. Daß es Verantwortliche gibt, die den Einsatz von Folter erwägen, beunruhigt und zeigt, wie dünn das
Eis der liberalen und sozialen Kultur ist, auf dem wir uns bewegen.
Wir trauern um die Opfer des jetzt geführten Krieges. Jedes Opfer ist eines zuviel.
Die Administration Bush sagt, sie wolle nach dem Sieg über den Irak dort eine Demokratie installieren wie in
Deutschland nach 1945. Dabei hatte Deutschland eine eigene demokratische Tradition spätestens seit 1848.
Darauf ließ sich mit Unterstützung der westlichen Alliierten aufbauen. Entsprechendes gibt es im Irak nicht. Wo
sind dort die erfahrenen und untadeligen demokratischen Politiker vom Schlage Konrad Adenauers, Kurt
Schumachers oder Thomas Dehlers? Der Eindruck besteht, daß im Irak ein Projekt begonnen hat, das politisch
nicht zu einem befriedigenden Abschluß geführt werden kann.
Die Welt wird niemals ohne Konflikte sein. Diese müssen ausgetragen werden, wenn es sein muß, hart und
kontrovers in der Sache aber fair – die Integrität des Kontrahenten achtend - im Stil. Diese Methode bedarf der
ständigen Übung, Verinnerlichung und Verbreitung so weit wie möglich. Denn das ist jene Methode, die es jetzt
verstärkt durchzusetzen und zu sichern gilt für die großen Auseinandersetzungen auf dieser Erde. Gäben wir die
Hoffnung mit diesem Ziel auf, verlöre alles politisches Tun der Demokraten seinen Sinn.
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10. Berlin-Brandenburg: Was tut sich in der Region?
a) Brandenburg neu erfinden (2001)
„So richtig “Stolpe-Land” war Brandenburg zwischen dem 10. September 1994 und dem 5. September 1999. In
dieser zweiten Legislaturperiode verfügte die SPD über die absolute Mehrheit im Landtag - sie hatte 54,14
Prozent Wähler für sich gewinnen können. Vorher, nach der Wiedergründung des Landes Brandenburg im Jahre
1990, war Manfred Stolpe als Persönlichkeit und als Ministerpräsident zwar die dominierende Figur der
Landespolitik, aber da war er eher der Wanderführer auf dem “Brandenburger Weg” mit einer wundersamen
“Ampelkoalition” aus SDP, Bündnis 90 sowie FDP an der Regierung und einem märkischen Wir-Gefühl, das
auch die Oppositionsparteien CDU und PDS beherrschte. Im Landtag erkannte man häufig noch keine Parteien:
Regine Hildebrandt spendete dem Oppositionsredner Lothar Bisky von der Regierungsbank her Beifall, und
während
dessen saß Manfred Stolpe unten im Plenum neben dem Fraktionsvorsitzenden Peter-Michael Diestel,
offensichtlich in ein grundsätzliches Gespräch vertieft.
Ab 1994 war Stolpe vorwiegend nicht mehr zwischen den Reihen zu finden, sondern er saß als Ikone an der
Spitze des Projektes Brandenburg. Dorthin hatten ihn “seine Brandenburger” gestellt, weil sie die jahrelangen
Attacken vor allem westlicher Medien auf seine möglichen Stasiverwicklungen als Angriffe auf ihre eigenen
“Ostindentität” bewerteten. Brandenburg, von außen vielfach als “die kleine DDR” verspottet, wollte sich seinen
Landesvater nicht vermiesen lassen. Stolpe wurde zu einer Schimäre: Zum Teil Erich, zum anderen Teil
Friedrich. Alles andere, die nach dem Ausscheiden von Bündnis und FDP übrig gebliebenen Parteien, die
Minister - mit Ausnahme von Regine Hildebrandt - blieben demgegenüber Staffage. Stolpe war Brandenburg,
die SPD-Brandenburg war Stolpe, und davon profitierte sie. Die Ernüchterung kam im Mai 1996. Bei der
Abstimmung über die Fusion zwischen Berlin und Brandenburg verweigerten die meisten seiner Brandenburger
dem Landesvater die Gefolgschaft. Nur 36,6 Prozent stimmten mit “ja”: Das reichte nicht. Die Fusion war an
Brandenburg gescheitert - nicht an Berlin, wo es immerhin 53,6 Prozent Befürworter gegeben hatte. Keiner
hatte das Projekt “Berlin-Brandenburg” mit so viel Verve vertreten wie Manfred Stople, und keinen schmerzte
das Ergebnis so sehr.
Die Abstimmung war auch ein Dämpfer für die SPD: Selbst in ihren Hochburgen erreichte sie nur 36 Prozent
Befürworter. Als Sieger stand die PDS da, die gegen die Fusion agitiert und damit die Stimmung der
Brandenburger besser getroffen hatte als der Landesvater. Nicht nur die Länderfusion war gescheitert, sondern
auch Manfred Stolpe war auf seinem Olymp gestoßen worden. Den Brandenburger Weg gab es nicht mehr, seit
die PDS erfolgreich Front gegen die Regierung gemacht hatte. Die SPD mußte erkennen, daß das Land
Brandenburg nicht automatisch ihr Eigentum war, und es überrascht, wie überrascht die SPD war, als sie 1999
wieder auf ihr Wählerreservoir von 1990 zurückfiel. Zwar hatte die Partei gegenüber 1994 fast 15 Prozent der
Stimmen verloren, aber sie landete mit 39,33 Prozent immerhin dort, wo sie gestartet war (38,21 Prozent).
Nach 1999 verfügt auch Brandenburg über ein System konkurrierender Parteien, in dem zwar die SPD die
stärkste Gruppierung ist, die beiden anderen großen Parteien CDU und PDS aber zumindest danach streben
können, einmal die Mehrheit zu gewinnen. Die beiden kleineren Partner der “Ampel”, Bündnis 90 und die FDP,
sind wie in den anderen ostdeutschen Bundesländern auch seit 1994 im Status von Splitterparteien. Anfang 2001
ist nicht abzusehen, wie und wann sie diese Situation ändern können.
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Ein Menetekel ist die Anwesenheit der DVU im Brandenburgischen Landtag seit 1999 (5,28 Prozent). Hier zeigt
sich auf der parlamentarischen Ebene die häßliche Seite Brandenburgs mit seinen starken rechtsextremen
Einsprengseln. Es ist die zweite große politische Enttäuschung Manfred Stolpes, daß er im Jahre 2000 endlich
eingestehen mußte, er habe die Gefahr des Rechtsextremismus in seinem Land unterschätzt. Daß rechtsextreme
Vorkommnisse in diesem Land bis dato immer wieder heruntergespielt, verschleiert, vertuscht und entschuldigt
wurden, ist zwar nicht das direkte Verschulden der Landesregierung, aber eine geistige Führerschaft hiergegen
ist vom Kabinett bis ins Jahr 2000 hinein nicht ausgegangen. Stets bat man zu bedenken, daß die Täter doch
Landeskinder wären und daß man sie zurückholen müsse in den märkischen Hort.
Schien die SPD Brandenburgs 1990 und besonders 1994 vor allem Stolpes Wahrkampfmaschine zu sein, so ist
sie 2001 ein ganz normaler ostdeutscher Landesverband einer der beiden Großparteien in der Bundesrepublik.
In der ersten Hälfte des Jahrzehnts hatte es Theorien gegeben, die besagten, besonders im deutschen Osten
würden die Parteien sich nicht an Interessenlagen orientieren, sondern an charismatischen Führungsfiguren.
Neben Manfred Stolpe sei Kurt Biedenkopf in Sachsen der Beleg dafür: Ohne ihn wäre die CDU in Dresden
nicht so stark. Doch auch in Sachsen hat sich eine Parteiorganisation mit eigenen Strukturen und eigener
Dynamik entwickelt. Schon heben einige Unvorsichtige unter den dortigen Parteifreunden die Köpfe und fragen
nach der Zeit ohne “König Kurt”. In Brandenburgs SPD - in ihrem Verständnis damit zugleich im gesamten
Land - ist der Kronprinz schon präsent. Matthias Platzeck, von der Parteiführung 1998 als Oberbürgermeister in
Potsdam gegen den glücklosen Genossen Horst Gramlich installiert, soll Stolpe auf dem Fuße folgen. Dazu
wurde der andere “Kronprinz”, Steffen Reiche, im Sommer 2000 vom Amte des SPD-Vorsitzenden entbunden,
so daß Platzeck nun auch offiziell als Anwärter auf das Amt des Ministerpräsidenten dasteht, wenn Manfred
Stople dieses aufgeben und die SPD weiterhin hierüber verfügen sollte.
Eine Besonderheit ist die Kür eines Kronprinzen in einer demokratischen Partei schon. Konrad Adenauer hatte
sich immer dagegen gewehrt, Ludwig Erhard als Kronprinzen ausrufen zu lassen: “Wissen Se,
Kronprinzenfragen sind unangenehme Fragen...” Und zu gut ist erinnerlich, daß der von Helmut Kohl benannte
“Kronprinz” Wolfgang Schäuble es dann doch nicht geworden ist. Über Nachfolgefragen entscheiden die
Wähler und die Parteimitglieder trotz aller Vorabüberlegungen immer erst zur gegebenen Zeit. Da diese
Erkenntnis keineswegs originell ist, läßt sich die sozialdemokratische Festlegung in Brandenburg nur als
Ausdruck der Tatsache sehen, daß einiges von der Vorstellung vom Brandenburger Sonderweg noch immer in
dieser Partei steckt: Das Land ist unser, und wenn der regierende Monarch abtritt, werden wir rufen: “Der König
ist tot, es lebe der König!”
Ob es zu kommen wird, hängt zum einen davon ab, wieviel Widerstände gegen Stolpe und Platzeck in der Partei
unter der Decke schlummern und ob die Konkurrenten der SPD es schaffen werden, sich in Positur zu bringen.
Da hat es in Brandenburg vor allem die CDU schwer. Bis 1999 war sie die Skandalnudel unter den märkischen
Parteien. Partei- und Fraktionsvorsitzende wechselten sich so schnell einander ab, daß die Beobachter gar nicht
mehr mitkamen. Die Fraktion intrigierte gegen den Landesvorsitzenden, dieser gegen die Fraktion. Kaum war
jemand in ein Amt gewählt worden, machte sich ein Trupp daran, diesen zu demontieren. Die Partei war
zerrissen zwischen dem munteren Fortwirken der alten Blockflöten und Erneueren aus West und Ost. So mußte
sie sich 1994 mit 18,72 Prozent zufrieden geben - sie hatte ihr Ergebnis von 1990 (29,45 Prozent) um über zehn
Prozent unterboten - eine gerechte Strafe für einen zerstrittenen Haufen. Da brachte der ehemalige
Bundeswehrgeneral mit märkischer Heimat, Jörg Schönbohm, 1999 die Partei auf Linie. Als Innensenator
Berlins hatte Schönbohm vergeblich am Thron von Eberhard Diepgen gerüttelt und wurde von der dortigen CDU
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mit Freuden ins Brandenburgische weitergereicht. Dort reüssierte er und brachte seine CDU auf 26,55 Prozent.
Dem Bruder und Genossen Landesvater schien sich mit dem General ein quirligerLandesonkel an die Seite zu
drängen.
Theoretisch hätten 1999 in Brandenburg auch die SDP und die PDS eine Koalition bilden können. Diese Option
der Regine Hildebrandt hätte Brandenburg sehr weit weg geführt von der Hauptlinien bundesdeutscher
Parteienpolitik. Was in Mecklenburg-Vorpommern offiziell und in Sachsen-Anhalt informell möglich ist, wäre
in Brandenburg - dem der Bundeshauptsstadt umlagernden Bundesland sehr degoutant. Außerdem hätte es die
Stasi-Diskussion um Manfred Stolpe erneut entfacht, wenn dieser Ministerpräsident einer SPD/PDS-Koalition
geworden wäre. Zum Zeichen, daß die SPD und die CDU in Brandenburg Sonderwege endgültig verlassen
wollen, schied die Jean d`Arc des deutschen Ostens aus der Politik aus, und an der Stelle von Frau Hildebrandt
nahm nun General Schönbohm Platz an der Seite Stolpes. Die CDU schien nun die treibende Kraft im Lande zu
sein. Von ihr kamen Anregungen zur Länderfusion, zur Gemeinde- und Polizeireform sowie zur inneren
Sicherheit. Die tapfere Fraktionsvorsitzende Beate Blechinger hielt dem General den Rücken frei. Doch es zeigte
sich bald, daß die Union in Brandenburg in Wirklichkeit zu schwach war für die Regierung - jedenfalls für eine
Option auf die erste Geige dort. Keiner der vier CDU-Minister war und ist brandenburgisches Eigengewächs. Im
Herbst 2000 wurde offenbar, daß Wolfgang Hackel als Minister für Wissenschaft, Forschung und Kultur eine
Fehlbesetzung war. Und nur mit Hilfe von außen gelang es, Hackel im Kabinett zu ersetzen - mit einer
Ministerin, die Manfred Stolpe mindestens ebenso genehm ist wie Jörg Schönbohm. Weiterhin im Amte bleibt
Justizminister Kurt Schelter, obwohl er das Vertrauen der Justiz verloren hat.
Mit dem Oberbürgermeister von Cottbus, Waldemar Kleinschmidt, schien die CDU über lange Zeit wenigstens
eine kräftige einheimische politische Begabung in ihren Reihen zu haben. Cottbus schien vor Potsdam und all
den anderen märkischen Schwestern die Wende am besten zu bewältigen. Doch Ende 2000 wurden alte
Seilschaften sichtbar, mit denen die Stadt in der Lausitz durchzogen ist. Das Ansehen der Stadt, ihre Magistrats
und ihres Bürgermeisters sank, und Kleinschmidt stand da als Repräsentant einer sehr alten CDU.
So bleiben trotz der fortlaufenden Aktivitäten Schönbohms der Substanzmangel und der schwelende Konflikt
zwischen den Altgedienten und den seit der Wende Hinzugekommenen strukturelle Schwächen der märkischen
CDU.
Ist die märkische PDS eine Alternative? Dieser Landesverband war ein Pfeiler der gesamten
Nachfolgeorganisation der SED. Nicht von ungefähr wurde der Brandenburger Lothar Bisky Bundesvorsitzender
der PDS. Es sprach für die Bodenständigkeit und Solidität der brandenburgischen PDS, daß der Vorsitzende sein
Mandat im Landtag behielt und dieses neben seinen bundespolitischen Verpflichtungen auch wahrnahm. In der
ersten Legislaturperiode wirkten Bisky und die PDS im Landtag wie die heimliche Reserve Stolpes.
Augenzwinkernd schien die PDS dem “Landesvater” beizustehen, wenn es galt, die wahren brandenburgischen
Interessen gegen die arg westlastige FDP oder die doch sehr bürgerrechtsorientierten Grünen zu verteidigen. Die
Abkühlung setzte ein, als die PDS gegen Stolpes Fusionspläne mit Berlin öffentlich Front machte. Den
Sozialdemokraten kamen bange Fragen auf: War Brandenburg vielleicht tatsächlich doch die “kleine DDR” und
die PDS ihr idealer Repräsentant? Die PDS wurde fortan als hartnäckiger Konkurrenz um Wählerstimmen
gesehen. Tatsächlich ist die Wählerentwicklung der PDS seit 1990 für diese Partei überaus positiv: Sie steigerte
ihren Stimmenanteil bei den Landtagswahlen kontinuierlich von 13,4% 1990 über 18,71% 1994 auf 23,34%
1999. Daß im Jahre 2001 und danach der Knick auf dieser Geraden nach oben kommen muß, dafür gibt es drei
Gründe:
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1. Nach den Koalitionsentscheidung der SPD 1999 gegen die PDS kann diese nicht mehr als
Brandenburgs “stille Reserve” gesehen werden, sondern eher als irgendwie noch immer mit der alten DDR
verbandelte Partei, die zwar einen guten Mitglieder- und Wählerzulauf hatte, an Havel und Spree jedoch den
Zugang zur Macht wohl nicht schaffen wird. Von den Sozialdemokraten muß sie in zunehmenden Maße als
Konkurrenz und Gegner und nicht als strategischer Partner gesehen .Auch wenn der Landesvorsitzende diese
Option öffentlich nicht aufgeben möchte, kann sie doch nur als innergouvernementale Geste zur Bändigung des
wirklichen Koalitionspartners verstanden werden
2. In der Öffentlichkeit ist mittlerweile bekannt, daß die brandenburgische PDS Führungsprobleme hat
und stark von innerparteilichen Kontroversen geprägt ist.
3. Generell ist die PDS in ihrem öffentlichen Erscheinungsbild geschwächt, seitdem 2000 die populären
Führer der Partei, Gregor Gysi und Lothar Bisky die Fraktions- und Parteiführung verlassen hatten. In der
Medienlandschaft Deutschland hat die ostdeutsche Regionalpartei ihr mediale Gesicht verloren. Hinzu kommt
der Verlust von Michael Schumann, der als politischer Analytiker in Brandenburg über die Grenzen der PDS
hinaus hohes Ansehen genossen hatte.
Gleichermaßen kümmerlich sind die Existenzen der FDP und der Grünen in Brandenburg. Beide Bündnispartner
Stolpes aus der ersten Legislaturperiode scheinen sich überhaupt zu regionalen Westparteien zu entwickeln,
gewissermaßen als Gegengewichte zur PDS. Die FDP verfügt in Brandenburg - wie in den anderen Ländern
Ostdeutschlands - über keine liberale Wählerschicht, die ihr gesellschaftlichen Halt geben würde. Der Vorstand
um die landespolitisch weitgehend unbekannte Landesvorsitzende Claudia Lehrmann bemüht sich um liberales
Profil, doch er scheint damit auf verlorenem Posten zu stehen. Da nützt es auch nichts, daß man sich bei
öffentlichen Veranstaltungen der Prominenz von Jürgen Möllemann versichert: Brandenburg ist nicht NordrheinWestfalen, und die auch in der FDP angezweifelte Seriosität des Populisten wird für die brandenburgischen
Wähler erst recht nicht erkennbar.
Manche Beobachter vertreten die Auffassung, der Niedergang der Liberalen in Brandenburg komme daher, daß
sie in der Ampelkoalition nur mit Ministern aus Westdeutschland vertreten war: Walter Hirche und Hinrich
Enderlein. Auch der einzige liberale Staatsekretär aus dem Lande, Knut Sandler, sei unter ziemlich unwürdigen
Umständen sehr bald in die Wüste geschickt worden. Schließlich habe die FDP dann ihre Verluste 1994 (2,2%)
und 1999 (1,86%) unter dem “westdeutschen“ Vorsitzenden Hinrich Enderlein eingefahren. Aber niemand
glaubt ernsthaft daran, daß bei der märkischen FDP nun ein Trendwende ins Haus stünde, weil Enderlein 1999
durch die Landestochter Lehmann ausgewechselt wurde.
Die Grünen waren in der Ampel durch die prominenten “DDRler” Matthias Platzeck und Marianne Birthler am
Kabinettstisch vertreten, und ihr Niedergang (1994: 2,89%, 1999: 1,94%) ist ähnlich katastrophal gewesen wie
derjenige der FDP. An der Herkunft des jeweiligen Führungspersonals kann es also weder bei der FDP noch bei
den Grünen gelegen haben.
Für die Grünen gilt wie für die FDP: Sie gelten im Osten als Westpartei und haben keine Klientel bei der
Wählerschaft, die mit ihnen durch dick und dünn ginge. Die Grünen haben gemeint, im Osten Deutschlands und
somit auch Brandenburg Resonanz zu finden durch die Fusion mit der Bürgerrechtsgruppierung “Bündnis 90".
Doch schon 1990 war die Mission der Bürgerrechtler in der DDR beendet: Durch ihre mutige Opposition hatten
sie zum Zusammenbruch der DDR-Diktatur beigetragen. Die Neugestaltung in Richtung Wiedervereinigung welche die Bündnisgruppen so gar nicht gewollt hatten - übernahmen nun andere: Die Flüchtlinge in den
Westen, die proletarischen Protestierer mit der Parole “Wenn die DM nicht zu uns kommen, kommen wir zur
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DM.”, die führenden CDU-Politiker in Bonn und ihre Gefolgsleute in der Volkskammer und in der DDRRegierung. So erging es den Bürgerrechtlern nach 1990 wie es der Klassiker formuliert hatte: “Der Mohr hat
seine Schuldigkeit getan, der Moor kann gehen.”
Die durch die Bürgerbewegung parlamentarisch sozialisierten prominenten “Ossis” gingen sehr verschiedene
Wege: Güter Nooke landete in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auf den vorderen Plätzen, Matthias Platzeck
ging zur SPD, wurde Oberbürgermeister der Landeshauptstadt, Landesvorsitzender der Sozialdemokraten und
“Kronprinz” Manfred Stolpes. Nur Marianne Birthler blieb der Grünen treu und streitet sich nun als Leiterin der
Gauck-Behörde mit “ihrem” seinerseits von den Grünen zur SPD gewechselten Minister Otto Schily über die
Herausgabe von Akten. Bei den Grünen Brandenburgs ist keiner und nichts aus der euphorischen Gründerzeit
hängen geblieben.
Wenn der Maßstab für politisches Gewicht einer Partei deren Repräsentanz im Parlament ist, dann müssen die
Grünen und die FDP in Brandenburg auf absehbare Zeit als Parteien ohne politisches Gewicht eingestuft werden.
Ob das nach der nächsten Landtagswahl auch für die DVU gesagt werden kann, ist offen. Auf jeden Fall wäre
ein Wiedereinzug dieser rechtsradikalen Gruppierung eine Niederlage für die jetzige Regierung wie umgekehrt
ein Scheitern der DVU eine Erfolg der Regierung wäre. Die DVU und der Rechtsradikalismus sind eine schwere
Hypothek für Brandenburg. Das Land, das sich so gerne in der Sonne preußischer Toleranzedikte wärmt, erlebt
seit Jahr und Tag rechtsradikale Jagdszenen in seinen Städten und auf seinen Straßen. Es ehrt Manfred Stolpe,
daß er nach zehn Jahren Regierungszeit eingestanden hat, er habe die Brisanz des Rechtsextremismus in seinem
Lande unterschätzt. Es bringt ihn und übrigens auch seinen Kronprinzen Platzeck - der sich ähnlich wie Stolpe
eingelassen hatte -jedoch in Handlungszwang. Brandenburg geht den richtigen Weg, wenn es den Antrag auf
Feststellung der Verfassungsfeindlichkeit der NPD beim Bundesverfassungsgericht unterstützt und neue Strafen
für rechtsextreme Gewalttäter fordert. Die etablierten Partein und ihre Repräsentanten müssen aber auch jenen
politischen Unterführern spürbar auf die Füße treten, die immer noch abwiegeln und den Rechtsextremismus im
wesentlichen als übles Propagandainstrument westlicher Medien darstellen. Es ist ein Makel Brandenburgs, daß
die DVU nun mit einer Fraktion im Landtag vertreten ist. Die wird zwar weitgehend isoliert, kann politisch
wenig bewegen, aber sie verfügt über die ihr nach dem Recht zustehenden materiellen und politischen
Ressourcen. Die aus München gesteuerte Partei hat ihr Wahlergebnis als “Triumph der DVU” gefeiert und nicht
zu unrecht getönt, ihr Wahlerfolg sei eine “Warnung für die alten Parteien.” Hoffentlich haben diese das
begriffen.
Bei Lichte betrachtet hat Brandenburg ein Dreiparteiensystems. Die SPD ist die größte der etablierten Parteien,
um ein Drittel kleiner sind die CDU und die PDS. Will die SPD die absolute Mehrheit wiedergewinnen, muß sie
erhebliche Wählerpotentiale der anderen Parteien zu sich herüberziehen. Zwar ist die Wählerbindung an die
politischen Parteien im Osten Deutschlands geringer als im Westen (wo sie jedoch gesunken ist), aber in zehn
Jahren wird sich hier und da eine Identifikation aufgebaut haben.
Die Instabilität des Brandenburgischen Parteiensystems liegt vor allem im politischen Desinteresse großer Teile
der Bürgerschaft. Nur 54,30 % der Brandenburger haben sich überhaupt an den letzten Landtagswahlen beteiligt.
Die geringe Mitgliederdichte der SPD und der CDU ist bekannt, und immer wieder stößt die Rekrutierung
politischen Personals auf Schwierigkeiten, weil kein genügendes Auswahlreservoir vorhanden ist. Die
brandenburgische Politik muß die politische Bildung im weitesten Sinne intensivieren, fördern und unterstützen.
Ob LER oder konfessioneller Religionsunterricht: In den Schulen muß über diese und andere Fächer ein sicheres
Gefühl über die Grundwerte, die Geschichte und die politische Kultur unserer Gesellschaft gefördert werden
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Darüber hinaus ist es notwendig, möglichst viele geeignete Landeskinder, die nach der Wende ausgebildet
wurden, in die Schulen zu bringen und das alte Personal zu ersetzen.
Brandenburg muß sich neu definieren. Darum bemüht sich - das ist hinter allen Vordergründigkeiten erkennbar der Ministerpräsident seit zehn Jahren. Es kämpft gegen die geistigen Folgen von zwölf Jahren
nationalsozialistischer Diktatur und 45 Jahren kommunistischer Indoktrination an. Von seinen Mitstreitern am
Kabinettstisch 1990 sitzt heute nur noch Alwin Ziel als nach der Schmökel-Affaire angeschlagener Politiker an
seiner Seite. Alle anderen Minister sind mittlerweile mindestens einmal ausgewechselt worden. Das zeigt den
langen Atem Manfred Stolpes. Dennoch wäre es nicht verwunderlich, wenn auch seine Zeit nicht reichte, die
Hauptaufgabe zu bewältigen und ein anderer den Stab übernehmen müßte. Ob der dieser Aufgabe gewachsen
wäre, würde sich ohnehin erst zeigen, wenn er im Amte ist.“
b) Unheilbar unschuldig? (1999)
„Die Unschuld vom Lande heißt „Brandenburg”.
Die Halbwertzeit dieser Nachricht ist sicher überschritten: Letzthin hatten in Guben rechtsextreme und
rassistische Jugendliche einen Menschen aus Algerien in den Tod gehetzt. Mit Autos als Waffen und Handys als
Wegweiser hatten sie einen 28-jährigen solange durch die Grenzstadt gejagt, bis dieser durch eine
Haustürscheibe flüchtete und sich dabei tödlich verletzte. Auf den Bildschirmen erschienen nach der Tat
überforderte Kommunalpolitiker und jammerten, jetzt nähme der Ruf ausgerechnet ihrer Gemeinde Schaden. Es
gesellten sich Repräsentanten der Landesregierung hinzu, die sagten, man dürfe das Geschehene nicht
verallgemeinern, und Brandenburg sei hauptsächlich ein tolerantes Land. Am Tatort waren Betroffenheitsprofis
zu sehen, die hielten rote Rosen in der Hand. Ein auch in diesem Land so genannter “Streetworker” kannte sich
aus: Rechtsextrem seien eigentlich nur zwei Anführer der Täter - die anderen wären Mitläufer aus Langeweile
und Arbeitslosigkeit und natürlich wegen nicht ausreichender Betreuungsdichte.
Wieder - wie in zu vielen vorangegangenen Fällen - lautete die kaum verschlüsselte Botschaft: “Die Tat
erscheint Euch draußen schlimmer als sie ist. In Wirklichkeit haben wir hier große Probleme, von denen Ihr
nichts wißt. Außerdem tut uns das Geschehene sehr leid. Im übrigen gehen wir im Lande gegen den
Rechtsextremismus angemessen vor: Wir haben ein Spezialtrupp der Polizei gebildet, eine Kommission zur
Erkundung der Ursachen eingesetzt, und wir begehen artig jedes Jahr den 27. Januar. Ein mehrheitlich “rotes”
Land kann nicht rechtsextrem infiziert sein. Man nennt uns doch sogar die “kleine DDR”.”
Hier jedoch scheint das Problem zu liegen. In der Formel vom “Brandenburger Weg” schwingt auch DDRNostalgie mit und mentale Distanz zu westlichen Werten. In der Abstimmung über Berlin-Brandenburg war
dieses Bewußtsein deutlich geworden: “Wir wollen uns von draußen nicht dreinreden lassen.” “Draußen”, das ist
auch die Welt des Multikulti. Deren Probleme werden als nicht brandenburgisch gesehen und sollen hierher auch
nicht importiert werden. Deswegen regt sich Widerstand gegen Asylheime, gegen Fremde. Natürlich geht der
normale Brandenburger gegen das, was ihn bedrängt, nicht gewaltsam vor. Aber wenn entfesselte Jugendliche es
tun, hindert sie selten jemand direkt daran. Viele der Älteren haben sogar ein gewisses Verständnis für ihre
“Kids”. Die spüren den gesellschaftlichen Rückhalt in der Erwachsenenwelt: In diesem Element können sie sich
bewegen.
Die “kleine DDR” gibt Kindern und Eltern eben nicht jenen Halt, den sie brauchten, um wenigstens gegen das
Quälen anderer Menschen gefeit zu sein. Der atheistische Staat Honeckers hatte den heutigen Eltern und
Erziehern dereinst die christlichen Grundwerte der Brüderlichkeit ausgetrieben oder vorenthalten. Das neue
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Bundesland mit dem uralten Namen läßt die Kirchen nicht in die Schulen, um Versäumtes nachzuholen. Die
bürgerlichen Grundrechte andererseits wurden hier nicht zur moralischen Maßschnur. Das Grundgesetz wurde
sogar gelegentlich als Gesetzbuch der “Sieger” aus dem Westen diffamiert. In den Schulen wirken noch immer
Lehrer aus der richtigen DDR, und viele von ihnen beklagen den Verlust der “sozialistischen” Werte. Sie können
nicht aus ihrer Haut: Diese Pädagogen denken und fühlen in alten Kategorien. Sie sind ungeeignet, neues
aufzubauen. Man tat auch ihnen persönlich keinen Gefallen, als man sie im Schuldienst beließ.
In den Elternhäusern und Schulen der neuen Länder tat sich nach der Wende ein Wertedefizit auf: Durch den
“Sieg” des Westens war die bis dahin allein gültige sozialistische Moral des Arbeiter- und Bauernstaates für
jeden sichtbar diskreditiert. Das entstandene Defizit konnte nicht ausgeglichen werden. Die politische Kultur der
alten Bundesrepublik schien nicht geeignet, weil sie im Osten Deutschlands vielfach als formales Regelwerk des
Westens und nicht als Fundus grundlegender Menschenrechte eingeführt und begriffen wurde. Die sicher nicht
unproblematischen Kirchen sind immerhin mögliche Träger alter christlicher Werthaltungen; in Brandenburg
wurden sie auf Distanz gehalten. Das vor allem bei jungen Bürgern dadurch unbeglichene Wertedefizit nahm
man fatalistisch hin. So kommt es, daß heute Absolventen brandenburgischer Schulen - 20-jährig - auch in
Seminaren der Universitäten sitzen und Verständnis zeigen für Deutschtümelei und Fremdenfeindlichkeit. Der
Geist des Grundgesetzes hat sie nicht gepackt, und auch von christlicher Nächstenliebe haben sie in ihrer
Sozialisation nichts erfahren. Nun nähern sich einige von ihnen - wenn auch längst nicht die meisten - dem
Nationalismus und Rassismus. Rechtsextremistisches findet Anklang bei einer neuen Generation und bis hinein
in die akademische Welt! Wer geglaubt hatte, der Rechtsextremismus würde wie die Wirren des
Einigungsprozesses bald wieder vergehen, der hatte sich getäuscht.
In Brandenburg wollen das viele nicht wahrhaben. Es sind die andern und die Medien, die verdrehen und
aufbauschen. Da finden sie es im Lande der Unschuld am besten, wenn man nicht über sämtliche “Vorfälle”
sogleich berichtet. Schließlich habe man doch auch eine Verantwortung für die jugendlichen Täter. Das Kehren
unter die Decke jedoch erinnert an SED-Zeiten. Damals hatte man in Sachsenhausen an die Oberfläche
kommende Spuren des kommunistischen Sonderlagers einfach wieder zugeschüttet. Doch die Wahrheit kam
immer wieder zum Vorschein. Das sollte uns Heutigen eine Lehre sein.
Aber auch jüngst aus Guben kamen wieder Relativierungen und Vertuschungen: Als der Algerier starb, waren
seine Verfolger über 100 Meter von ihm entfernt, sagten Ermittler - die Verfolgung war eigentlich schon zu
ende. Also ein tragischer Unfall? Es war üble Menschenjagd! Im übrigen, berichteten die Ermittler weiter, habe
der Tote einen gefälschten Paß bei sich gehabt. Das rechtfertige natürlich nicht die Hatz auf ihn. Oder doch? In
der Szene werden manche getönt haben, da habe man wieder einmal den Richtigen erwischt.
Nach den Relativierungen fand das Reinwaschungsritual statt - nach bewährtem Muster: Die Offiziellen
veranstalteten in Potsdam eine Trauerkundgebung. Der Ministerpräsident und eine Bundesministerin hielten
Trauerreden, es folgte ein Gottesdienst, und in Potsdam wie in Guben läuteten Kirchenglocken. Die Inszenierung
mit religiösen Symbolen erfolgte im säkularisiertesten Teil der Republik! Dabei wurde versprochen, mehr
Personal in die Jugendarbeit zu geben und die Ursachen von Extremismus verstärkt zu erforschen. Sicher sprang
für den einen oder anderen Jugendforscher auch ein Auftrag dabei heraus.
Dann war alles vorbei. Brandenburg war wieder das unschuldige Land.
Zwar haben sich seitdem Schläger in Velten über einen Angolaner hergemacht. Im benachbarten Hennigsdorf
wurde ein Pakistani zusammen geprügelt. In Frankfurt an der Oder hatten sie zuvor einen Marokkaner
mißhandelt. Aber wieder wiegeln Offizielle ab, werden Täter nicht gefaßt oder entschuldigt.
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Derweil richtet die Ausländerbeauftragte des Landes eine “Antidiskriminierungstelle” ein. Und in Hennigsdorf
veranstalten Gutmenschen eine Menschenkette. Ist dieses Land ist unheilbar unschuldig?“
c) Brüder einst – Brüder jetzt (2000)
„Es ist in Mode gekommen, zu behaupten, die Ostdeutschen würden gegenwärtig über jenes Politikverständnis
verfügen, dass die Westdeutschen in den fünfziger Jahren gehabt hätten. Wie damals die Wessis seien die Ossis
heute autoritätshörig, an sozialer Sicherheit orientiert, und sie hätten vor allem noch keine „demokratische
Streitkultur“ entwickelt. Gestützt wird diese Behauptung durch einige von Sozialwissenschaftlern in die Welt
gesetzte Hypothesen. Und schon meinen viele, ein wohlfeiles Modell gefunden zu haben, mit dem sie die trotz
Wiedervereinigung noch immer bestehenden politischen Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland
erklären können.
Doch das Modell hat wenig mit der Wirklichkeit zu tun:
Die fünfziger Jahre im deutschen Westen waren geprägt durch die „Ära Adenauer“. Deren Hauptmerkmale
waren Westintegration und wachsender Wohlstand. Das entsprach der politischen Befindlichkeit der Mehrheit:
Die Menschen fühlten sich durch die Niederlage des NS-Systems betrogen. Das wollten sie nunmehr ausgleichen
durch eine Abkehr von der öffentlichen Politik und Hinwendung zu privatem Wohlergehen. Politisch
kompensierten die Menschen insgeheim empfundene Mitschuld am Geschehen zwischen 1933 und 1945 durch
unbedingte Parteinahme für den Westen im Kalten Krieg: Noch einmal würde man nicht auf eine Diktatur
hereinfallen und diesmal auf der Seite der Sieger stehen.
Die heutigen Ostdeutschen dagegen haben ganz andere Probleme als die frühen Westdeutschen: Sie fühlen sich
vom Westen, dem sie nun - allerdings durch Beschluss der Volkskammer! - anheim gefallen sind, bevormundet
und reagieren störrisch - auch auf deren politische Kultur. Das hat seine Ursache darin, dass die Ostdeutschen als sie noch DDR-Bürger waren - ein idealisiertes Bild vom „goldenen Westen“ hatten. Der Realitätsschock fiel
um so größer aus, weil die Ostdeutschen just zu jener Zeit in den Westen hineinwuchsen, als dieser durch die
Globalisierung ohnehin in eine Krise manövrierte. Massenarbeitslosigkeit und Sozialabbau waren auch den
Wessis fremd, aber eine Vielzahl der Ossis begann, diese Miseren dadurch zu kompensieren, dass Teilaspekte
der DDR-Vergangenheit im Nachhinein idealisiert werden: Man trauert verklärt einer sozialen Sicherheit, einem
verlorenen „Wir“-Gefühl und einer Egalität nach, die es objektiv gar nicht gegeben hatte. Der Zusammenbruch
der DDR ist der Beweis.
Die Unterschiede zwischen den fünftiger Jahren im Westen und den neunziger Jahren im Osten Deutschlands
können nicht größer sein: Die frühen Bundesbürger wollten zum Westen gehören, die neuen haben
Schwierigkeiten damit. Die einen fanden Befriedigung im „Wirtschaftwunder“, die anderen beklagen trotz der
Verbesserung ihrer materiellen Lage den Tanz ums goldene Kalb. Früher war es selbstverständliche
Staatsbürgerpflicht zur Wahl zu gehen, und man kam mit zweieinhalb Parteien gut aus. Heute halten viele das
Wählen für nicht so wichtig und Zahlreiche sind bereit, auch Unseriösen ihre Stimme zu geben - nur so und aus
Protest. In der frühen Bundesrepublik waren die Menschen brennend interessiert an der Fortentwicklung ihres
neuen Staates, heute sagt und bedeutet der Staat so manchem nichts mehr. Die einen fühlten sich im unter
alliiertem Protektorat stehenden
Adenauerstaat behütet, die empfinden sich in der globalisierten Berliner Republik alleine gelassen.
Hätte das Modell der fünfziger Jahre heute im Osten Gültigkeit, dann wäre die Frage, wie die zeitliche Lücke
zwischen den beiden Teilen jemals geschlossen werden könnte. Würde der Osten noch einmal eine „Spiegel“-
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Affaire, eine 68er Revolte, einen Flick-Skandal und gar eine „Rote-Armee-Fraktion“ durchleben müssen, um in
der politischen Kultur auf „West-Niveau“ zu gelangen? Muß Rudolf Augstein noch einmal in den Kahn? Und
soll der Westen solange warten, stillstehen, sich einfrieren, bei der Osten bei ihm angekommen ist? Wie absurd!
Tatsächlich ist das politische Bewusstsein im deutschen Osten von den Erfahrungen in der DDR plus denen in
zehn Jahren des vereinten Deutschlands geprägt und das im Westen entsprechend. Ein richtiges oder falsches
Bewusstsein kann es nicht geben. Die Erfahrungen aus der Vorgeschichte der Berliner Republik werden immer
mehr verblassen, und daraus wird allmählich die Angleichung zwischen Ost und West kommen. Es wird sich
eine neue politische Kultur entwickeln - eine, die günstigenfalls geprägt ist durch europaverbindenene
Erfahrungen mit dem „Euro“ oder ungünstigenfalls durch die Tatsache permanenter Massenarbeitslosigkeit. Die
schöne alte Bundesrepublik und die olle graue DDR werden in den Geschichtsbüchern landen. Ob jemand Ossis
oder Wessis als Vorfahren hat, das wird genauso wenig relevant sein wie die Frage, ob ein Berliner von heute
rheinische oder polnische Vorfahren hat.
Niemand weiß, wie lange es dauern wird, bis man in diesem Lande ungläubig zurückblickt auf die Kabbeleien
zwischen Ost und West nach der Vereinigung. Aber eines ist ganz sicher: Man wird nicht verstehen, worum es
eigentlich ging bei diesen Kabbeleien - außer vielleicht darum, dass die verstrittenen Brüder wechselseitig
gewollt hatten, der andere möge gefälligst so werden wie er ist. Am Ende werden sie alle ganz anders sein.“
d) Neben dem Ministerpräsidenten (2004)
„Als die Landesregierungen von Berlin und Brandenburg noch miteinander um die Länderfusion verhandelten,
zog Eberhard Diepgen von der CDU aus Berlin mit Manfred Stolpe von der SPD aus Brandenburg an einem
Strang: Sie wollten das gemeinsame Land.
Heute kann man sich nicht sicher sein, ob die Regierungschefs der Region wirklich den Zusammenschluss
wollen. Mathias Platzeck hat das Projekt aufs Eis gelegt, weil er das Votum seiner Brandenburger fürchtet. Und
Klaus Wowereit macht kesse Sprüche Richtung Potsdam. Ob er damit die Herzen der Märker erreichen kann und
wirklich will, ist fraglich.
Der neue Finanzminister Brandenburgs und Intimus von Platzeck, Rainer Speer,
hat den Berlinern
Überheblichkeit vorgeworfen. Da hat der alte Berlingegner Recht: Als die Landesregierungen noch miteinander
verhandelten, trat beim Thema Kultur der Berliner Senator Volker Hassemer auf und erklärte den Potsdamer
Kollegen: „Wir spielen in der Weltliga!“
Das ist genau der Ton, der die Brandenburger so „einnimmt“. Sie erinnern sich an die Privilegierung Berlins zu
DDR-Zeiten und haben nicht vergessen, dass das zu Lasten des Umlandes geschah. Sie sehen eine Stadt in der
Mitte ihres Landes, die Schulden noch und noch angehäuft hat und dennoch meint, sich alles leisten zu können.
Und sie wissen: Bei den Berlinern redet das „Gescherr“ wie der „Herr“: Kurz nach der Öffnung der Mauer zogen
Westberliner über die Insel in Werder und riefen den Leuten in den Gärten zu: „40 Jahre habt Ihr gepennt, jetzt
sind wir da!“ So etwas nimmt ein für ein gemeinsames Land.
Die Reaktionen der Brandenburger auf großmäulige Berliner sind entsprechend. Dann neigt der gemeine Märker
zum Muffeln, wenn die aus der Stadt – die „Bouletten“ – einen Wunsch haben. So kann es einem kessen
Hauptstädter passieren, dass seine Bitte nach der Speisekarte im Brandenburgischen mit der Bemerkung erwidert
wird: „Könnse nich lesen: Draußen steht doch dran, wat dett jibt!“ Die Potsdamer Kollegen der Hassemers
revanchierten sich, indem sie den Berlinern genüsslich vordeklinierten, wie es sein würde, wenn Berlin kreisfreie
Stadt wäre: Was mit den Opernhäusern geschähe, entschiede ein Referatsleiter in Potsdam, und wenn der
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Berliner Polizeipräsident sich zum 1. Mai mal wieder eine neue Taktik ausdächte, müsste er sich diese vom
brandenburgischen Innenministerium genehmigen lassen...
Dass der erste Anlauf am Votum der Brandenburger gescheitert ist, hätte auch im Roten Rathaus Anlass zur
Einkehr sein können. Welcher Berliner Politiker aber bedachte, was sich an der Einstellung der Hauptstädter und
vor allem ihrer Repräsentanten ändern musste, damit sie die Brandenburger überzeugten? Statt dessen wird jetzt
von „Platzeck & Co.“ gesprochen und über die dummen Brandenburger gelästert, die ihre Chance ausgeschlagen
hätten, ein wenig Hauptstadtglanz abzubekommen. Dass Berlin überschuldet ist, wird mit dem „Argument“
gekontert, auch Brandenburg sei arm.
Wer soll so überzeugt werden?
Eigentlich ist die Sache schon von der Überschrift her falsch aufgezogen: Warum soll das gemeinsame
Bundesland „Berlin-Brandenburg“ heißen und nicht einfach „Brandenburg“? Berlin ist doch aus Brandenburg
erwachsen! Fürchtet irgendjemand, die deutsche Hauptstadt könnte vergessen werden, wenn ihr Name nicht
mehr im Reigen der deutschen Länder auftaucht? In Berlin sollte man sich ein Beispiel an Bayern nehmen. Das
heißt nicht „München-Bayern“, und dennoch wird niemand behaupten, dass dies der Isar-Metropole irgendwie
schade.
Nicht dass Berlin und Brandenburg vereint werden, ist das Ziel. Vielmehr muss Berlin nach Brandenburg
zurückkehren. Die gemeinsame Geschichte und Kultur sind der Kitt, den man nehmen sollte, um
zusammenzuführen, was eigentlich zusammengehört.
Für all das steht vor allem Theodor Fontane. Zwar wohnte der in Berlin, aber er war nicht einfach nur Berliner,
sondern ein richtiger Brandenburger. Seine „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ wurden Kult. Ihn
würde man nicht „Boulette“ titulieren. Jeder Ort im Lande, der irgendeinen Bezug zu dem Dichter herstellen
kann, hat seine Fontanestraße. Oder der einstige Berliner Albert Einstein: Kurz nur nutzte er sein Sommerhaus in
Caputh, aber darauf sind sie in dem Ort noch heute stolz. Der Einsteinturm auf dem Telegrafenberg ist eine
Zierde der Landeshauptstadt Potsdam.
Weitere Beispiele für die Verwobenheit Berlins mit Brandenburg waren Walter Rathenau in Bad Freienwalde,
Bert Brecht und Helene Weigel in Buckow sowie die ganze Schar der Ufa-Stars in Babelsberg, auch Heinrich
von Kleist in Wannsee – der dort seinem Leben ein Ende machte. Sie und viele andere sind Zeugen dafür, dass
Brandenburg mit Berlin eine Kulturlandschaft ist. Der Alte Fritz fühlte sich in Berlin genervt und wich nach
Potsdam aus. In Gransee haben sie der geliebten Königin Luise ein anrührendes Denkmal gesetzt, um an die
Überführung ihres Sarges in die Hauptstadt nach ihrem frühen Tod zu gedenken. Und – ein ganz anderes
Beispiel – zu westberliner Zeiten war es ein Luckenwalder, der die halbe Stadt in Aufruhr versetzte: Rudi
Dutschke.
Ob die Brandenburger für die Heimkehr Berlins in ihr Land reif sind, sei dahin gestellt. Die Berliner sind es
sicher nicht: Alljährlich veranstaltet der Fusionsbezirk Charlottenburg-Wilmersdorf einen Bezirkstag, an dem
verdiente Ehrenamtler mit Bezirksmedaillen ausgezeichnet werden. 2004 fand die Feier im Rathaus
Charlottenburg statt. Umständlich wurden tatsächliche und vermeintliche Bezirkshonoratioren begrüßt. Derweil
irrte der Direktor der Stiftung Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg durch die ersten Reihen. Für ihn - den
Herren über Schlösser wie Sanssouci, Charlottenburg, Caputh und Grunewald - war kein Platz unter den
Ehrengästen reserviert. So trollte er sich in die vorletzte Reihe. In Brandenburg hingegen sitzt er in der ersten
Reihe - und wenn der da ist, neben dem Ministerpräsidenten!
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Wie viele Berliner in einer Weltliga spielen, sei dahin gestellt. Dass aber zu viele Hauptstädter nicht den Stil
beherrschen, der in Brandenburg ankommt, ist sicher. Wenn Berlin aufgenommen werden will in das Land
seiner Herkunft, muss sich das ändern.“
e) Träumen von West-Berlin (2002)
„Tatsächliche und eingebildete Verlierer der Einheit haben ihre Trostpflästerchen:
Westdeutsche erinnern sich wohlig an die guten alten Bonner Zeiten. Fritz Walter und „Der Chef“ Sepp
Herberger holten 1954 die Fußballweltmeisterschaft. Konrad Adenauer, „Der Alte“, verschaffte Deutschland in
der westlichen Welt wieder Ansehen und durfte sich in Amerika als greiser Indianerhäuptling abbilden lassen.
Ludwig Erhard schuf das „Wirtschaftswunder“. Später erfanden Karl Schiller und Franz-Josef Strauß als Bonner
„Plisch und Plumm“ die konzertierte Marktwirtschaft. Willy Brandt symbolisierte mit seinem Kniefall von
Warschau Demut als Voraussetzung für die Aussöhnung mit dem Osten. Helmut Schmidt konnte sich danach
sogar „Weltökonom“ nennen lassen. Der „Kaiser“- bürgerlich: Franz Beckenbauer - holte die zweite WM. Selbst
die Chinesen schauten „Derrick“, und die halbe Welt war scharf auf die DM: So schön hatten es die
Westdeutschen ihrer Erinnerung nach gehabt.
Die Ostdeutschen wollten sich durch die Wiedervereinigung ihre Biographien nicht nehmen lassen: Wie lustig
und frivol war es doch bei der FDJ zugegangen. Gemütlich war es mit den Familien in den Datschen. Hin und
wieder hatte man den Funktionären mit den „Bonbons“ am Revers ein Schnippchen geschlagen. Es gab zwar
kaum etwas Vernünftiges zu kaufen, aber man konnte fast alles organisieren. Die Kindergärten, die
Betriebsfrisöre und –Saunen standen ständig für jedermann offen. Freundschaft galt mehr als der Tanz ums
goldene Kalb – das war ohnehin schon längst in den Westen geflohen. Mit der Nazi-Vergangenheit hatte man
nichts zu tun, das war Sache der Westdeutschen. Die DDR proklamierte ständig ihre Freundschaft mit der
ruhmreichen Sowjetunion, und die Werktätigen wähnten dadurch den Frieden gesichert für ihr kleines Glück in
der Nischengesellschaft: So kommod hatten die Ostdeutschen gelebt nach der Erinnerung vieler von ihnen.
2002 - zur Zeit der Globalisierung, der hohen Arbeitslosenquoten, des Terrorismus, der Militärinterventionen
und der Insolvenzen – pflegen West- wie Ostdeutsche ihre Legenden der Erinnerung, weil sie sich gerne in eine
einfachere Welt wegträumen. Dabei gilt es als politisch korrekt, den einen ihre heile Republik und den anderen
ihre Biographien zu belassen, wie sie sich diese durch verklärte Blicke zurück jeweils verschaffen.
Nur einer Gruppe unter den Deutschen wird es übel genommen, wenn sie ihre Vergangenheit verklärt: den
ehemaligen West-Berlinern. Bei denen ist sich die Nation nur in einem Punkte einig: Diese „Frontstädter“ waren
keine Ost- und keine Westdeutschen, sondern eine Sondergruppe, „Insulaner“ halt. Alle – bis auf die Berliner
sagen heute, diese West-Berliner hätten in ihrer Halbstadt auf der faulen Haut gelegen – darin ihren Vettern in
der andern Stadthälfte ähnlich. Die gebratenen Tauben seien den „Spreeathenern“ aus Bonn kommend in die
Münder geflogen. Mit dem Geld anderer Leute hätten sie geprasst, opulente Opern inszeniert, den
Verwaltungsapparat aufgebläht. Von nichts hätten sie eine Ahnung gehabt, dafür aber bei allem ein großes Maul.
Trainingsanzug und Goldkettchen, dazu Schultheiß-Bier und Currywurst wären ihre Markenzeichen gewesen.
Das kann so nicht bleiben: Auch West-Berliner haben ein Recht, sich Legenden über ihre eigene Herkunft zu
bilden, denn auch sie müssen wie alle anderen Deutschen die Gegenwart ertragen. Direkt in Saus und Braus hatte
es sich in der „Frontstadt“ eigentlich auch gar nicht leben lassen. Da war die allgegenwärtige Mauer, die
spätestens nach einer halbstündigen Fahrt durch die Stadt auftauchte. Erinnerlich sind die sowjetischen
Düsenjäger, die über dem Häusermeer die Schallgrenze durchknallten.
Auf den Straßen spielten die
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wehrflüchtigen Kinder der westdeutschen Bürger Revolution und Häuserkampf. Bei Bundestagswahlen durften
die Berliner nicht mitwählen.
Die Flugzeuge mussten auf dem Wege nach Berlin „Korridore“ benutzen, in 3000 m Höhe. Lufthansa durfte gar
nicht fliegen. Wer die „Insel der Freiheit“ auf dem Landwege verließ oder besuchte, musste sich von
missgelaunten Grenzern der DDR schikanieren lassen: „Öffnen Sie die Kofferhaube!“
Das war der Alltag in West-Berlin, und viele verließen die Stadt. Spitz wurde Berlinern auf Reisen durch die
Bundesrepublik – „Westdeutschland“, wie es an der Spree hieß – gesagt, man könne doch in einer
eingemauerten Stadt nicht richtig leben. Jedem West-Berliner trieb es die Zornesröte ins Gesicht, wenn er
gefragt wurde, ob er aus Ost- oder West-Berlin käme. Als ob ein Normalbürger aus der „Hauptstadt der DDR“
hätte nach Westdeutschland reisen dürfen! Kam ein westlicher Spreeathener weiter in den „Westen“, in die USA
gar, so wuchs ihm allerdings ein Heldenstatus zu. Er wurde als Freiheitskämpfer gefeiert. Das kompensierte
allemal den Ärger über die „unwissenden“ Westdeutschen.
Doch das sind nicht Erinnerungen, aus denen Legenden entstehen. West-Berliner Legenden haben Namen wie
Ernst Reuter und Willy Brandt, Herbert von Karajan und Boleslaw Barlog, Bubi Scholz und Harald Juhnke oder
„Otto Otto“ und „Knautschke“. Beim letzten Paar handelte es sich um einen allgegenwärtigen Kapellmeister und
um ein Nilpferd im Zoo. Das waren noch Zeiten, als alle am Radio saßen und dem „Regierenden“ lauschten,
wenn er wöchentlich unter „Wo uns der Schuh drückt“ zu den Berlinern sprach. Da kommt der „Rias“ in
Erinnerung mitsamt den „Insulanern“, dem sprudelnden Theaterkritiker Friedrich Luft und seiner sonntäglichen
Viertelstunde: „Bitte, Herr Luft!“ All die Radiohelden werden wieder lebendig wie „Onkel Tobias“, Hänschen
Rosenthal oder Ivo Veit („Das ideale Brautpaar“). „Straßenfeger“ hatte es reihenweise gegeben. Sendungen wie
„Es geschah in Berlin“ oder die „Schlager der Woche“ fesselten die Berliner über die Radiowellen an zu Hause.
Viele ehemalige West-Berliner kuscheln sich in eigene Legenden zurück: „Damals hat die halbe Welt auf uns
geguckt.“ Genau so hatte es Ernst Reuter gewollt: „Ihr Völker der Welt...“ Waren nicht alle gekommen, um zu
schauen? Die französischen Staatspräsidenten, die englische Königin und die amerikanischen Präsidenten waren
in der Stadt. Der charismatische John F. Kennedy bekannte sich als „Berliner“. Wie hatte die Welt die moderne
Architektur des Hansa-Viertels bewundert und die der Philharmonie Scharouns, der Nationalgalerie Mies van
der Rohes oder des Hochhauses Corbusiers.
Die West-Berliner waren „Insulaner“ und fühlten sich wie Weltbürger. Wie herzlich war der Kontakt der
politischen Klasse zu den Schutzmächten, den Briten, Franzosen und Amerikanern. So manche Casinofête
kompensierte die Unerreichbarkeit von Kyritz oder Cottbus bei weitem. Und Jahr für Jahr war die große Welt
der Illusionen hier zu Gast, wenn in den Palästen am Kurfürstendamm die Filmfestspiele abliefen.
Was waren die Berliner stolz auf ihre Stadtautobahnen: Weg mit den altmodischen Straßenbahnen! Wie in Los
Angeles sollte es werden: die autogerechte Stadt. Hamburg oder München konnten da nur vor Neid erblassen.
Autobahntangenten und –Ringe würden Berlin zu einem Paradies der Autofahrer werden lassen.
War das nicht schön? Ehemalige West-Berliner erinnern sich mit Wohlgefühl. Ihre Repräsentanten waren
kosmopolitisch. Die Berliner galten etwas in der Welt. Dass Berlinförderung und –Hilfe in die Stadt flossen,
galt ihnen als Prämie für die Standorttreue nur als recht und billig. Wehmütig werden Träumer von heute, wenn
sie an ihre einstigen Landesregierungen denken. Das waren noch Senatoren: Joachim Tiburtius, Ella Kay, Karl
Schiller, Adolf Arndt oder Norbert Blüm. Welches Format hatten auch weitere Bürgermeister neben Ernst
Reuter und Willy Brandt: Die tapfere Louise Schröder, der steife Otto Suhr, der vornehme Richard von
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Weizsäcker oder der korrekte Hans-Jochen Vogel. Die Nostalgiker werden schwermütig, denken sie an aktuelle
Besetzungen im Roten Rathaus.
Wie war West-Berlin wirklich?
Eingeengt war es, überaltert, gesellschaftlich ausgedörrt, vom Westen
„gehalten“ aber trotz allem politisch und kulturell kreativ.
Wie war die DDR wirklich? Sie war gesellschaftlich verödet, lag moralisch danieder, war eine Kolonie der
Sowjetunion. Aber immerhin war sie bigott genug, den Bürgern eine Portion schlichten privaten Glücks zu
lassen.
Und wie war „Westdeutschland“? Es war materialistisch eingestellt, lebte ohne Bewusstsein über die Lage der
gesamten Nation. Es hatte Schonzeit und konnte sich so als Bürgergesellschaft und leidlich funktionierende
Demokratie entfalten. Diese hat sich nun in ganz Deutschland durchgesetzt.
Die Gegenwart ist voller Probleme - wie jede Vergangenheit als diese noch Gegenwart war. Wird Gegenwart
Vergangenheit, entstehen in den Köpfen und Herzen der Menschen Legenden. Die haben therapeutische
Wirkungen, lassen die Gegenwart erträglicher erscheinen. Einst in schlimmen Zeiten hatten die Deutschen vom
einem idealisierten Kaiser Barbarossa geträumt, der wiederkehren und die Dinge richten würde. So wurde die
Wirklichkeit weniger deprimierend.
Heute tragen viele ehemalige Ostdeutsche ihre DDR-Biographie wie ein Schutzschild vor sich. Altgediente
Bundesbürger denken zurück an eine heile Republik. Da sollten alle es ertragen, wenn einstige West-Berliner
von Zeiten schwärmen, in denen sie unter den Deutschen etwas besonderes gewesen wären.“
f) Theater in die Hauptstadt (2001)
„Das Schillertheater sollte als Spielstätte der Bühnen der ostdeutschen Länder in der Hauptstadt genutzt werden.
Die ostdeutschen Theater bekämen einen Ort, an dem sie ihre Produkte der überregionalen Presse und
Öffentlichkeit präsentieren können. Da Berlin und die fünf Bundesländer sowie die Theaterstädte gemeinsam als
Träger auftreten, sind die Kosten für alle Beteiligten gering.
1. Die Situation
Das Schiller-Theater in Berlin-Charlottenburg, Bismarckstraße 110 ist seit seiner Schließung ein Mahnmal des
Kulturabbaus im wiedervereinigten Deutschland und seiner Hauptstadt Berlin.
Vor seiner Schließung durch den ersten gesamtberliner Senat nach 1990 war das Schiller-Theater eine der
bedeutendsten Bühnen der Stadt, zeitweise das wichtigste Theater Deutschlands.
Das Theater wurde 1905 bis 1906 vom Münchener Architekten Franz Littmann gebaut und bot 1350 Zuschauern
Platz. Das Gebäude wurde im Kriege zerstört und 1950 neu gebaut wieder eröffnet. Große Intendanten wie
Heinrich George und Boleslaw Barlog gaben der Bühne überregionale Ausstrahlung. Die Zahl der
Spitzenschauspieler, die an diesem Orte wirkten - wie Gustav Gründgens, Gisela Uhlen, Johanna Maria Gorvin,
Johanna von Koczian, Ernst Deutsch, Klaus Kammer, Ernst Schröder, Bernhard Minetti oder Boy Gobert - , ist
groß. Unter Barlog war das Schiller-Theater die führende Theaterbühne im deutschen Sprachraum und das
Spitzentheater Berlins. Noch als es geschlossen wurde, hatte das Theater eine Erfolgsinszenierung im Repertoire:
“Hase Hase” mit Katharina Thalbach.
Seit der Schließung fristet das Schiller-Theater ein kümmerliches Dasein als Gastspielbühne für Musicals,
Unterhaltungsprogramme verschiedenen Niveaus und gelegentlich auch als schlichter Versammlungsraum. Bis
zum Jahre 2000 wurde das Theater aus seinem kulturellen Dornröschenschlaf für kurze Zeit jeweils im Mai
erweckt, wenn die Berliner Festspiele hier ihr Theatertreffen veranstalteten. Wenn das Schauspielhaus Hamburg
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oder das Zürcher Schauspielhaus hier gastierten, lebte noch einmal die alte Atmosphäre auf, die jahrelang vom
künstlerischen Glanz dieser Bühne ausgegangen war.
Als im Jahre 2000 ein personeller, künstlerischer und organisatorischer Neuanfang der Berliner Festspiele
beschlossen wurde und der Bund hierbei die Verantwortung übernahm, war damit auch die Entscheidung
verbunden, das Gebäude der ehemals Freien Volksbühne in Berlin-Wilmersdorf, Schaperstraße als ständigen
Spielort der Festspiele zu nutzen. Für den Erhalt des Kulturstandortes Schaperstaße war das eine wichtige
Entscheidung, für das Schillertheater jedoch verhängnisvoll.
Bei der Berliner Bezirksreform wurden die Verwaltungsbezirke Charlottenburg und Wilmersdorf ab 2001
zusammengelegt. Somit hat der neue Bezirk der Weststadt neben kulturellen Glanzpunkten wie der Schau- und
Volksbühne sowie der Deutschen Oper eine kulturpolitisches Defizite. Dazu gehört neben dem Theater des
Westens vor allem das Schillertheater. Aufgrund der überregionalen Bedeutung des Theaters in der deutschen
Geschichte ist das kein kommunales oder landespolitisches Thema allein, sondern ein überregionales. Die jetzt
vom Senat ins Spiel gebrachten Lösungen, das Schillertheater als Ausweichspielstätte für in Renovierung
befindliche Häuser oder als Appendix des Theaters des Westens zu behandeln, sind unangemessen.
2. Das Projekt
Ziel aller kulturpolitscher Bemühungen auf allen Ebenen vom Bezirk über das Land bis hin zum Bund muß es
sein, das Schillertheater in Berlin als Theaterstandort zu sichern und anderweitige Nutzungen zu verhindern.
Durch ihre Geschichte ist die Bismarckstraße 110 ein kultureller Ort sui generis. Die Wahl der Volksbühne für
das jährliche nationale Theatertreffen weist für das Schillertheater die Richtung für einen Erhalt dieses
Standortes: Während in der Schaperstraße die großen überregionalen Spitzenleistungen eine Theaterjahres im
deutschsprachigen Raum gezeigt werden sollen, könnte das Schillertheater eine regionale Dependance hierzu
werden. Es sollte der
Ort für eine Präsentation des Theaterlebens im deutschen Osten sein und dabei
insbesondere Nachwuchsproduktionen in Berlin präsentieren.
Unter dem Motto “Theater in die Hauptstadt” sollten die Bühnen der neuen Länder im Schillertheater einen
würdigen Ort haben, an dem sie ihre besten und interessantesten Produktionen zeigen könnten. Allzuoft werden
gute Theaterleistungen in Cottbus, Schwerin, Leipzig oder Magdeburg nicht überregional bekannt, weil die
Vermittlung durch dir großen Feuilletons ausbleibt. Dieses Manko läßt sich an der Bismarckstraße in Berlin
ausgleichen. Möglich ist es, sowohl eine zeitlich begrenzte Präsentation in Form von Theaterwochen
durchzuführen als auch eine über das Jahr verteilte Abfolge von ausgewählten Inszenierungen aus den
verschiedenen Städten.
3. Die Träger
Träger des Projektes sollten sein:
a) Charlottenburg-Wilmersdorf,
b) Berlin,
c) der Bund,
d) die Länder Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt,
Thüringen und Sachsen,
e) die Theaterstädte der fünf Bundesländer,
f) eventuell die EU,
g) ein zu gründender privater Verein “Theater in die Hauptstadt”.
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Der Beitrag Charlottenburg-Wilmersdorfs könnte darin bestehen, daß der Bezirk die Geschäftsstelle, den
organisatorischen Anlaufspunkt, stellt. Insbesondere in der Vorbereitungsphase müßte ein hier zu bildendes Büro
der Koordinierungsort sein.
Das Land Berlin muß seine Erfahrungen im Kulturmanagement zur Verfügung stellen und sich zu einem
Sechstel am Länderbeitrag beteiligen.
Der Bund wird aufgrund seiner Verpflichtung zur Pflege des kulturellen Erbes im Osten Deutschlands einer der
Träger des Projektes.
Die fünf Bundesländer zahlen wie Berlin zu gleichen Teilen einen Zuschuß an “Theater in der Hauptstadt” und
wirken an der Koordinierung dieser Institution mit.
Ebenso wie die Länder beteiligen sich die Theaterstädte´ zu gleichen Anteilen an der Finanzierung mit
geringeren Beträgen.
Es ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang EU-Mittel für das Projekt eingeworben werden können.
Ein Verein “Theater in der Hauptstadt” übernimmt Förderfunktionen.
Durch die Vielzahl der an dem Projekt beteiligten Institutionen bleibt deren finanzieller Beitrag in jeweils
bescheidenen Größen. “Theater in der Hauptstadt” beschäftigt zudem keine eigenes künstlerisches Personal,
allenfalls - sofern diese Aufgabe nicht von einem Träger übernommen wird - ein Koordinationsbüro mit einem
Geschäftsführer, einem Angestellten, einer Sekretärin und technischen Hilfskräften.
Die in Berlin zur Aufführung kommenden Aufführungen werden von der jeweiligen Regionalpresse und dort zu
bestimmenden Vertrauenspersonen ausgewählt. Die gastspielgebenden Theater organisieren ihre Tournee und
die Durchführung der Gastspiele jeweils selber. Der Geschäftsführer wird in seiner Arbeit unterstützt von einem
Beirat, in dem die Theaterreferenten der beteiligten Bundesländer und des Bundes sowie der für Kultur
zuständige Stadtrat des Bezirkes Charlottenburg-Wilmersdorf von Berlin versammelt sind.
Einmal jährlich versammeln sich in Berlin die Intendanten der beteiligten Bühnen zu einer Konferenz.
Die Rechtsform von “Theater in der Hauptstadt” muß definiert werden, denkbar ist die einer GmbH.“
11. Sozialer Rückbau als „Reformen“, und wer reformiert die „Reformer“?
a) Föderalismus
Im Dezember 2004 scheiterte die Föderalismuskommission. Kann man den Föderalismus mit seinen eigenen
Mitteln
kurieren?
Die
vom
Bundestag
und
vom
Bundesrat
eingesetzte
Föderalismus-
oder
Bundesstaatskommission hat kurz vor Weihnachten erneut versagt. Schon im Herbst hatte sie es versäumt, einen
Zwischenbericht vorzulegen.
Diese „Kommission“ konstituierte sich am 7. November 2003. Ihr gehören 56 ordentliche und eine gleiche Zahl
stellvertretender Mitglieder an. Der Name „Kommission“ ist hierfür wohl kaum treffend. Es ist eine
Versammlung: 16 Vertreter des Bundesrats - damit ja auch jedes Bundesland dabei ist - und entsprechend 16
Mitglieder des Bundestages gehören ihr an. Dazu kommen Vertreter der Bundesregierung, der längst ins Abseits
des Bundesstaates geratenen Landtage, der ebenfalls machtlosen kommunalen Spitzenverbände sowie 12
Sachverständige, unter denen sich so „unabhängige“ Experten wie die früheren Bundesminister Edzard SchmidtJortzig (FDP) und Rupert Scholz (CDU) befinden. Diese alle mußten ihre Vorschläge ständig vorbesprechen,
Diskussionen in der „Kommission” wiederum rückkoppeln. Sie durften dabei die Interessen jener Institutionen
nicht aus den Augen verlieren, die sie nominiert hatten. Es wurde eine „Kommission“ genannte Versammlung
95
eingesetzt, welche das Grundübel des bundesdeutschen Föderalismus – die vom Politikwissenschaftler Fritz W.
Scharpf so genannte „Politikverflechtungsfalle” - mit der Methode eben der Politikverflechtung beseitigen sollte.
Warum hatte die Bundesregierung – so fragten sich einige von Anfang an - keinen Entwurf zur Änderung des
Grundgesetztes vorgelegt, um aus der Falle herauszukommen? Warum förderte die Regierung stattdessen die
Einsetzung eines Monstergremiums wie die Bundesstaatskommission?
Nach dem vorläufigen und vom Bundeskanzler geförderten Scheitern jeglicher Reformen scheint die Antwort
klar zu sein: Die Regierung will eigentlich gar keine Reform. Für sie ist es nicht schlecht, daß sie auf den
„Vetospieler“ Bundesrat hinweisen kann, wenn sie wieder einmal mit einem Vorhaben scheitert. Für die
Bundesregierung sind die Beteiligung an „Gemeinschaftsaufgaben“ wie bei den Hochschulen, an
Mischfinanzierungen wie bei der Kultur, an der Verantwortung für die innere Sicherheit nicht schlecht, denn da
kann sie überall in die Länder hineinregieren. Und von diesen Möglichkeiten macht die Bundesregierung nicht
erst seit dem Amtsantritt von Gerhard Schröder kräftigen Gebrauch.
Das ist ein Paradoxon des gelebten Föderalismus in Deutschland: Daß die Ministerpräsidenten der Länder
einerseits den Bundesrat als nationale Bühne benutzen und den Eindruck erwecken, als wären sie alle 16 große
Staatsmänner und die Chefs von 16 Nebenregierungen auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesregierung und daß
die Bundesregierung andererseits über Gemeinschaftsaufgaben, Mischfinanzierungen und Rahmengesetze die
Länder auf ihren eigenen Gebieten kujoniert. Die Leidtragen sind neben den nicht mehr durchschauenden
Bürgern die Landesparlamente und der Bundestag. Denn die Landesparlamente haben in Bundesratssachen und
bei Staatsverträgen praktisch nichts zu sagen, und der Bundestag kann beschließen, was er will: Wenn es dem
bürokratisch abgeschirmten Bundesrat nicht paßt, ist das alles wertlos.
So kommt es, daß die Ministerpräsidenten im Bundesrat das große Wort über Bundespolitik führen, während die
Ministerialbürokratie des Bundes es einem Bundesland vorschreibt, ob es an der Universität X eine neue
Fakultät aufmachen darf oder nicht.
Selbst da, wo der Bund den Ländern Leine gelassen hat, hatte er sie als nützliche Idioten benutzt: Wo einige
Länder aus purer Finanznot danach lechzten, die Rechte der Beamten zu beschneiden, ließ der Bund sie
gewähren und ersparte sich den Ärger mit der entsprechenden Lobby.
Was soll da eine Kommission? Regierung und Bundesrat sind schließlich als Verfassungsorgane dazu
geschaffen, Reformen in Gang zu setzen, wenn diese notwendig sind! Also hätte die Bundesregierung eine
Grundgesetzänderung initiieren können, welche die Aufgaben von Bund und Ländern säuberlich trennt, den
Ländern Eigenverantwortung gibt, das Finanzaufkommen gerecht – das heißt auch an der wirtschaftlichen
Leistungsstärke orientiert – verteilt und den Anteil der im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetze auf das
Allernotwendigste reduziert. Die Bundesregierung hätte vorschlagen können, die horizontalen und vertikalen
Finanzströme zwischen den Ländern und dem Bund zurückzudrängen und einen Konkurrenzföderalismus zu
schaffen, bei dem die stärkste Region die größten Vorteile hätte und die schwächste sich eben anstrengen müßte.
Ja, die Bundesregierung hätte sogar noch weiter gehen können: Sie hätte anregen können, das auf dem ganzen
Erdenball einmalige Unikum Bundesrat, wo Regierungsvertreter über Gesetze abstimmen, abzuschaffen und statt
dessen eine wirkliche zweite Kammer einzusetzen, deren Mitglieder vom Volke zu wählen wären: Modelle dafür
gibt es genug in der Welt.
All das hat die Bundesregierung nicht getan. Sie hat es nicht getan, weil sie
1. vordergründig eine Reform des Föderalismus nicht will und weil
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2. ihre Akteure - ebenso wie die Kollegen in den Ländern - nicht anders können als in den Kategorien
der Politikverflechtung zu denken und zu handeln. Die Mitglieder unserer Bundesregierung und die
Ministerpräsidenten: Sie sind Junkies des Gebens und Nehmens, des Konsenses unter Politikern, und sie scheuen
den offenen Konflikt wie die Pest.
Deshalb haben sie die Monsterkommission eingesetzt. Deshalb hat der Berg gekreist und noch nicht einmal eine
Maus geboren.
Diese Maus wenigstens schien im Wachsen, denn lange galt unter Experten als sicher, daß die Kommission nicht
viel, aber immerhin dies beschließen würde: Änderungen oder Streichungen der Grundgesetzartikel 84
(Verfahrens-
und
Organisationsrecht
der
Länder),
75
(Rahmengesetzgebung),
91
a
und
b
(Gemeinschaftsaufgaben), 23 (Europa) und 22 (Bundeshauptstadt Berlin). Durch den Einsatz der Hebammen
Franz Müntefering und Edmund Stoiber schien daraus zu werden, daß der Bundesrat zurückgedrängt würde, den
Ländern keine Kosten vom Bund oktroyiert werden könnten, das Beamtenrecht geändert, Zuständigkeiten und
Finanzen neu geregelt, das Umweltrecht dem Bund zugeschlagen würde und die Länder zu einer EuropaSolidarität verpflichtet worden wären. Dazu ist es jetzt nicht gekommen.
Viele erwarten, daß eine Maus solcher Art nach einem Moratorium doch das Licht der Welt erblicken werde.
Manche wünschen, daß Bundespräsident Horst Köhler – der die Vorteile angelsächsischer Konfliktkulturen
verinnerlicht hat – einen Weg weist.
Wäre eine kleine Reform zu begrüßen oder zu befürchten? Zu begrüßen wäre sie, weil es einige notwendige
Korrekturen an unserer Verfassungswirklichkeit gäbe. Zu befürchten wäre sie, weil die „politische Klasse“
genannte Gemeinschaft der Junkies des Politikverflechtung weiterhin ihren Stoff erhielte und Deutschland
benebelte anstatt die Kräfte des offenen politischen Konfliktes und der ökonomischen Konkurrenz als Quellen
von Innovation, Fortschritt und wachsendem Wohlstand frei zu setzen.
b) Globalisierung
Schon vor dem Zusammenfall des Sowjetimperiums waren die kleinen Tiger in Ostasien auf dem Sprung. HighTech-Produkte wurden dort in mindestens ebenso guter Qualität hergestellt wie in Deutschland. Aber die Kosten,
insbesondere die heute berühmten Lohnnebenkosten, waren wesentlich geringer als daheim. Wer darüber hinaus
in Hongkong oder Singapur eine Baustelle beobachtet hatte, konnte sehen, wie man auch bauen kann: Tag und
Nacht, sonn- und feiertags, mit geringem technischen Aufwand, dafür mit dem billigen Einsatz von Menschen,
Menschen und Menschen. Einfachere Waren wurden in dieser Zeit in den Schwellen- und Dritte-Welt-Ländern
längst günstiger produziert als in Europa. So kam es, daß ganze Wirtschaftszweige wie die Textilindustrie zu
Hause eingegangen waren und sich weiter südlich auf dem Globus angsiedelt hatten.
Wir nahmen es gelassen hin.
Auch hatten wir uns daran gewöhnt, daß andere technisch offensichtlich pfiffiger wurden als wir, die einst ihre
Lehrmeister waren. Die Japaner expandierten auf dem Automarkt, übernahmen weitgehend die optische
Industrie und die Unterhaltungselektronik. Ein Fotoapparat „Made in Germany“ ist heute ein Unikum, Anwärter
auf das Museum für Verkehr und Technik. Dabei hatten wir noch Glück, daß der US-Dollar lange Zeit hoch
bewertet war, sonst hätte unsere Automobilindustrie noch mehr zu kämpfen gehabt. Wer aber sich in den USA
umsah, der konnte schon vor zehn Jahren feststellen: Auch hier ist das Produzieren von Waren billiger, auch hier
sind die Lohnnebenkosten niedriger als in Deutschland.
97
Wir wußten das alles, und waren sogar stolz darauf. Wir hätten eben eine solide Mittelschichtengesellschaft, hieß
es. Der radikale Gegensatz zwischen wenigen Reichen und vielen Armen sei uns wesensfremd. Bei uns würden
die Menschen noch andere Werte kennen als nur Arbeit und Geld: Freizeit, Kultur, Sport und Bildung wären im
Leben wichtig und hätten daher in Deutschland einen hohen Stellenwert. Vor allem waren wir stolz auf unser
Gesundheits- und Sozialsystem. In England schon könne man fortwährend Menschen sehen, die mit Lücken im
Gebiß herumliefen. In den USA würde man im Krankheitsfall nicht ausdauernd und gründlich behandelt, und in
der Dritten Welt verendeten die Kranken auf den Straßen. Das alles gäbe es in Deutschland nicht, brüsteten wir
uns.
Die ungleiche Verteilung der Chancen auf der Welt wurde beim Blick über die Grenzen der kleinen
Bundesrepublik zwar erkannt auch bedauert. Aber das geschah mit dem wohligen Gefühl, zu den Privilegierten
zu gehören. Wenn Gleichheit in der Welt hergestellt werden sollte, dann auf dem westeuropäischen Niveau. Wir
waren nicht ohne Bigotterie.
Der Konflikt mit dem protektionistischen Sowjetsystem stabilisierte unsere Lage. Nun, nach seinem
Zusammenbruch gilt nur noch Global Playing, und die Arbeiter sind nicht nur in Ostasien preiswerter, sondern
schon in Polen. Microsoft und Internet sind Sprache und Schrift der eins gewordenen Weltwirtschaft. Da stört es
nicht länger, daß auf der Erde nach wie vor tausende Kulturen siedeln. Wer weltweit operiert, für den sind die
Kulturen wie Staaten keine Hindernisse: Er entwickelt und produziert dort, wo es betriebswirtschaftlich am
günstigsten für ihn ist. Spiel ohne Grenzen!
Erstaunlich ist, welchen Wandel dieses Spiel im deutschen Wertegefüge auslöste. Panikartig rennen wir der
Globalisierung hinterher. Nun ist es nicht mehr unser Niveau, auf das die anderen gehoben werden sollen,
sondern wir müssen uns den anderen, den wirtschaftlich erfolgreicheren, anpassen. Also runter mit den
Lohnnebenkosten, was das Zeug hält und Aufknüpfen des sozialen Netzes, wo immer es geht! In der Sprache der
jetzt allenthalben auftretenden Wirtschaftsjuppies heißt es: „Wir machen uns fit für den Weltmarkt.“ Die
Menschen der Mittelschichten, auf die wir so stolz waren, müssen sich jetzt bewähren. Entweder sie schaffen es,
oben in der Leistungsgesellschaft mitzumachen oder die sacken ab in untere Schichten. Wenige sehr Reiche und
viele Arme wird es auch hier geben. Wir finden uns damit ab. Anders, so sagen uns die Apologeten der Global
Players, gehe es nun `mal nicht. Würden wir uns abschotten, bekämen wir noch mehr Arbeitslose und soziale
Probleme. Und wir sehen das ein.
Welch ein Wandel in der Gesellschaftspolitik wird da schon den Bürgern der alten Bundesrepublik zugemutet.
Die ehemaligen DDRler aber, die mit den Werten soziale Gleichheit und soziale Sicherheit aufgewachsen sind,
müssen nun begreifen, daß in der von ihnen einst so ersehnten DM-Gesellschaft das genaue Gegenteil des
verblichenen Realsozialismus gilt. Einst hieß es, wenn die DM nicht zu uns kommt, gehen wir zur DM. Jetzt ist
die DM zwar da, aber schon im Gehen begriffen, um dem Euro Platz zu machen. Was die Westler als
Veränderung der Werte erleben, stellt sich für die Ostler als glatte Kehrtwendung der Verhältnisse dar.
Ist das alles Schicksal, gar Gottes Wille? Schon gehören die fleißigen Chinesen in Singapur ebenfalls zu den
Privilegierten in unserer Welt. Die Japaner haben uns sowieso überholt, und die USA - wo die Menschen härter
schuften als bei uns - sind die Weltmacht. Wenn wir uns fit machen für den Weltmarkt: An wessen Niveau
wollen wir uns orientieren und anpassen? An das der Koreaner, der Marokkaner oder der Inder? Sie alle sind auf
dem Weltmarkt und bieten an, was und wie sie es können. Es scheint, als hätten wir mit dem Wandel und der
Verkehrung unserer Werte, mit dem Einfügen unserer Volkswirtschaft in die Weltwirtschaft eine Entwicklung
losgetreten, an deren Ende wir tief unten landen könnten. Wo sind Sicherungen gegen diese Talfahrt? Die Politik
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denkt bis zur nächsten Wahl. Wir setzen etwas in Gang, wissen am Ende aber nicht genau, wie es enden wird.
Werden die vom Wohlstand Ausgeschlossenen resignieren oder rebellieren? Werden Arbeitslose und Elende
ebenso über den Erdball irren wie die Global Players der Marktwirtschaft? Niemand weiß, was das Ende von
dem sein wird, was wir jetzt beginnen.
Falls auch hierzulande die Krankenkassen für viele zu teuer sein werden sollten, das Arbeitslosenheer anwachsen
würde, Bildung und Kultur reiner Luxus würden, die Renten absackten und Alter zur Schande würde - Reiche
alles und Arme gar nichts hätten - dann würden viele stöhnen: „Herr, die Not ist groß, die ich rief, die Geister,
werd´ ich nun nicht los!“ Aber dann wäre es zu spät.
Wir brauchen eine Wende der Wende und zwar heute. Mag uns ein anderes Klassikerwort auf den Weg helfen:
„Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.“ Es ist fahrlässig, die Schleusen des
Marktes so weit wie möglich zu öffnen, soziale Kostenträger davonzuspülen und abzuwarten, was daraus wird.
Wir haben die Marktwirtschaft geerbt mit dem Beiwort „sozial“. Als Regulator des freien Marktes hatten wir den
Staat akzeptiert. Er federte soziale Gegensätze zum Wohle aller ab. Nun verlieren die Staaten ihren
wirtschaftlichen Einfluß weitgehend, weil das ökonomische Spiel weltweit ausgetragen wird.
Die Epoche der Nationalökonomien ist zuende. Die Konsequenz daraus ist eigentlich klar: Den weltweiten
ökonomischen Spielern muß ein globales Regulativ an die Seite gegeben werden. Für diese Aufgabe ist selbst
die EU zu begrenzt. Es ist die Verantwortung der Vereinten Nationen. Dort muß Deutschland zusammen mit
vergleichbaren Staaten sein Erbe der sozialen Marktwirtschaft als Grundidee einbringen. Wir benötigen ein
Modell der sozialen Korrektur des reinen Weltmarktes. Es muß eine global wirksame Sozialtechnologie geben,
in der unter den Bedingungen der Weltwirtschaft soziale Mindeststandards definiert und garantiert werden.
Lassen wir uns nicht bedingungslos von der rein ökonomischen Globalisierungseuphorie mitreißen. Die
Weltunternehmer schaffen ein neues ökonomisches Niveau der Menschheit, aber sie erzeugen zugleich globale
soziale Probleme. Die zu vermeiden oder zu beseitigen, ist nicht ihr Beruf. Also müssen die Staaten - die ihre
Ziele ohnehin neu definieren müssen - die Rolle der sozialpolitischer Global Players einnehmen. Das ist das
Spiel vor allem derjenigen, die das Prinzip des Ausgleichs in den engeren Volkswirtschaften der vergangenen
Epoche durchsetzen konnten.
Es ist eine Frage der Zeit, daß in der Öffentlichkeit nach der sozialen Komponente weltweiten Zusammenlebens
gefragt wird. Wenigstens, daß die „soziale Komponente“ nicht gewaltsam definiert wird, sollte das Ziel
möglichst vieler sozialpolitischer Global Players sein.
Sie müssen schleunigst aufs Spielfeld!
c) Politikermoral
Immer `mal wieder kommt die Frage auf: Wie viele zusätzliche Jobs darf ein dem ganzen Volke verpflichteter
Abgeordneter neben seinem Amt haben? Und welche Jobs passen zum Mandat, welche hingegen nicht?
Die Bundestagsabgeordneten sind – weil es das Bundesverfassungsgericht wollte - so gut bezahlt, daß sie die
Kosten des alltäglichen Lebens mühelos aufbringen können. Die Diäten liegen derzeit bei 7900 Euro, dazu gibt
es eine steuerfreie Kostenpauschale von 3417 Euro. Mit diesem Geld soll jeder Abgeordnete nicht schlicht
„versorgt" werden, sondern er soll seinem hohen Amt als Mitglied des wichtigsten Verfassungsorgans Bundestag
gemäß „ausgestattet" sein. Das heißt, den Beamten, den er zu kontrollieren muß, soll er im Status gleichwertig
gegenübertreten. Die personellen und materiellen Ressourcen für sein Amt soll er aufbringen können. Dafür
können die Wähler verlangen, daß er seiner politischen Auffassung folgend und sachkundig entscheidet, dabei
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innerlich frei und seinem Gewissen verpflichtet bleibt. Gegenleistungen sind sowohl das solide Einkommen als
auch die Befriedigung der Abgeordneten an der Teilhabe an der Macht oder wenigstens an der Nähe zu ihr.
So wie die Stellung der Bundestagsabgeordneten geregelt wurde, ist in der Bundesrepublik möglich, was zu
Beginn des vorigen Jahrhunderts vom Altmeister der Sozialwissenschaften, Max Weber, noch als nicht vereinbar
beschrieben wurde: Daß Politiker nicht nur „für" die Politik, sondern auch „von" der Politik leben können. Auch
derjenige, der nicht vermögend ist und keine „auskömmliche private Lebensstellung" hat, soll „für" die Politik
leben können, weil er auf jeden Fall „von" ihr leben kann.
Nun gibt es Abgeordnete, die neben ihrem auskömmlichen Mandat einem Beruf nachgehen, - wenn auch nur
teilweise, denn die Wahrnehmung eines Mandats verschlingt viel Zeit. Das ist zu begrüßen, wenn ein
Abgeordneter dadurch zweierlei erreicht: Daß er zum einen durch seinen außerpolitischen Beruf Kontakte zum
„wirklichen Leben" außerhalb des „Raumschiffs Politik" wahrt oder daß er sich zum andern wie durch ein
Trockentraining fit hält für eine Aufgabe außerhalb der Politik. Denn in einer richtigen Demokratie gehört es
dazu, daß Abgeordnete nach einer Zeit ihre Mandate verlieren: Politik braucht den Wechsel, und ehemalige
Abgeordnete brauchen einen ordentlichen Beruf.
So weit, so gut.
Es gibt jedoch Abgeordnete, die ihr Mandat als Angebot für neuerdings als „Beratung" bezeichneten
„innerparlamentarischen Lobbyismus“ – ein sprachlicher Widersinn drückt eine politische Perversität aus feilbieten. Das ist nicht in Ordnung. Denn erstens kommt bei solchen Politikern der Appetit beim Essen: Sie
begeben sich in immer mehr Beraterzusammenhänge, weil sie dadurch nach Einkommen und Prestige in höhere
Ligen aufsteigen. Dort zu sein, macht wiederum süchtig nach noch mehr. Um diese Sucht zu befriedigen,
brauchen die Abgeordneten das Mandat: immer wieder. Das Prinzip des Mandats auf Zeit wird infrage gestellt.
Und zweitens wird das Mandat Mittel zu einem persönlichen Zweck: Die Abgeordneten machen sich zum
innerparlamentarischen Agenten für Sachen, zu denen sie sich von gut zahlenden Auftraggebern vertraglich
verpflichtet haben. Dabei geht es immer um „Sachen“, bei denen das Parlament Relevantes entscheiden kann –
sonst hätte das Ganze keinen Sinn. Können jedoch solche Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet für das
ganze Volk arbeiten? Das ist zweifelhaft.
Was ist zu tun? Helfen können Transparenz und Kontrolle.
Transparenz: Mittlerweile sind die Bundestagsabgeordneten verpflichtet, Angaben über außerparlamentarische
Einbindungen zu publizieren. Das ist gut, denn so kommt es gelegentlich heraus, wenn die Metamorphose eines
Mandats in eine Beratungsagentur zu krass ist. Doch wer versteht schon die codierten Angaben mancher
Abgeordneter über ihre sonstigen Verpflichtungen? Die Öffentlichkeit müßte konkret erfahren, in wessen
Auftrag jemand in welcher Sache berät. Das würde sicher die Zahl der Aufträge verringern, was kein Schaden
für das politische System wäre.
Kontrolle: Die nächste Wahl naht. Die Parteien tragen die Verantwortung für ihre Kandidaten. Sie müssen
Sensibilität dafür entwickeln, daß Mandate - jedenfalls im Bundestag - materiell und politisch selbsttragend sind.
„MdB“ zu sein ist ein Wert an sich. Da bedarf es keiner Draufsattlungen. Gerade die ohnehin wenig angesehen
Parteien müssen darauf achten, daß Mandate nicht zum Humus werden, auf dem mächtige Interessenten ihre
Blüten treiben lassen.
d) Direkte Demokratie
1.
100
Seit Jahren mehren sich Stimmen im Lande, die nach direkter Beteiligung der Bürger an Entscheidungen im
politischen System rufen. Volksbegehren und Volksentscheide sollen die Macht der Parlamente begrenzen;
Mitgliederbefragungen bei den politischen Parteien werden als Mittel gegen die Vorherrschaft der Funktionäre
gesehen. In der deutschen Öffentlichkeit gibt es keinen Konsens mehr darüber, daß die Verfassung repräsentativ
sein soll und Plebiszite zu vermeiden seien. Diesem Konsens hatte der Parlamentarische Rat entsprochen als er
unter dem Eindruck der von Nazis herbeigeführten Katastrophe das Grundgesetz schuf.
Nach 1945 war man sich weitgehend einig, daß Strukturfehler der Weimarer Republik es der NSDAP unter
Adolf Hitler erleichtert hatten, die Macht zu ergreifen. Als derartige Strukturfehler wurden die fehlende
Anerkennung der politischen Parteien, die schwache Stellung des Kanzlers gegenüber dem Reichspräsidenten
und die zu weit gehende plebiszitäre Einfärbung der Verfassung - beispielsweise bei der direkten Wahl des
Präsidenten - gesehen. Im Grundgesetz
dagegen wurde ausdrücklich erwähnt, daß die Parteien bei der
politischen Willensbildung mitwirken, der Kanzler die Richtlinien der Politik bestimmen sollte, und der
Präsident des Staates wurde fortan von einem repräsentativen Gremium - der Bundesversammlung - gewählt.
Die Parlamente von Bund und Ländern sollten für die Zeit ihrer Mandate Entscheidungen treffen ohne jeweils
beim Wahlvolk nachfragen zu müssen.
Die repräsentative Struktur des Grundgesetzes war eine der Ursachen für den Erfolg, die politische Stabilität der
Bundesrepublik. Sie bewirkte aber auch, daß sich eine Schicht von Berufspolitikern aller Parteien etablierte, die
Herrschaft als ihr Privileg betrachtete und zusehends verdrängte, daß sie nur auf Zeit in ihre Ämter berufen war.
Dagegen wandten sich Bürgeriniativen und Alternativbewegungen. Die auf diesem Boden ins etablierte
Parteiensystem eingedrungene Partei der Grünen ist mittlerweile nicht nur ebenso verfestigt wie ihre
Konkurrenten, sondern diese haben sich auch der einstigen alternativen und grünen Themen bemächtigt. So
konnte es geschehen, daß die altehrwürdige SPD ihren Kanzlerkandidaten eines Tages per Mitgliederbefragung
erkor und daß die Parlamentspartei par excellence, die FDP, es als angemessen empfand, bei sich
Mitgliederbefragungen abzuhalten.
Daß die Parteien sich auch für ihr eigenes Innenleben plebiszitären Verfahren öffnen, hat mehrere Gründe. So
glauben sie, für die Wähler durch die Spektakel der Befragungen attraktiver zu sein als mit althergebrachten
Parteitags- oder Vorstandsbeschlüssen. Weiterhin können Vorstände sich mit der Mitgliederbefragung als der
Klemme befreien, wenn sie entscheidungsunfähig sind: Auf diesem Wege wurde Rudolf Scharping
Kanzlerkandidat. Oder die Vorstände hebeln mit einer Mitgliederbefragung unliebsame Parteibeschlüsse aus.
Das war bei der Befragung der FDP-Mitglieder über den “großen Lauschangriff” der Fall.
In der allgemeinen Politik sind Volksbefragung oder Volksentscheid schwierige Instrumente. Sie können einmal
zum Erfolg führen, dann wieder nicht. Richard von Weizsäcker und die CDU schafften es 1981 mithilfe der
Alternativen Liste, durch Unterschriftensammlung das Abgeordnetenhaus zur vorzeitigen Auflösung zu
veranlassen. Aber der Nachfolger von Weizsäckers als Regierender Bürgermeister, Eberhard Diepgen, konnte
auch Arm in Arm mit Manfred Stolpe beim Wahlvolk keine ausreichende Mehrheit für ein gemeinsames
Bundesland erzielen.
Das Mißtrauen gegen Plebiszite in der Politik ist gesunken, weil die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus
aller Gedenkkultur zum Trotz ein halbes Jahrhundert nach seinem Ende den politisch prägenden Einfluß
verlieren. Durch die Wiedervereinigung gab es neue plebiszitäre Impulse, weil revolutionsgeprägte Politiker aus
der DDR die repräsentativen Strukturen der alten Bundesrepublik mit eigenen repressiven Erfahrungen
101
verwechselten und weil ihnen die Kultur des Runden Tisches ein noch freieres Deutschland als die alte
Bundesrepublik verhieß.
Daß der Wert verantwortlicher Diskussionen - das Ideal des rationalen Diskurses - mit Entscheidungen in
Parlamenten und Regierungen gesunken ist, haben die politisch Verantwortlichen auch sich selbst
zuzuschreiben, weil sie nach langen Debatten und Diskussionen häufig zu keinen Kompromissen und
Entscheidungen gelangen. So entsteht die merkwürdige Situation, daß die einen nach mehr Demokratie durch
Volksbegeheren und -entscheide rufen und das auch - wie in Brandenburg- in Verfassungstexte schreiben,
während andere durch weniger Parteien sowie weniger Bundesländer schnellere Entscheidungen zur
Deregulierung im Lande herbeiführen wollen. Weil das für die internationale Wettbewerbsfähigkeit notwendig
sei, so wollen es höchste Wirtschaftsführer, soll die Beteiligung zu vieler Parteien und zu vieler Bundesländer an
den Entscheidungen abgeschafft werden.
Während auf der einen Seite der Ruf nach Bürgerbeteiligung und Bürgerentscheid ertönt, kommt von der
anderen Seite die Forderung nach einer Konzentration der Macht. Es wäre gut, beidem mehr Grundgesetztreue
entgegen zu setzen. Bei lokalen Entscheidungen mag es ja hin und wieder sinnvoll sein, die Bürgerschaft direkt
einzubeziehen. Es lassen sich Konflikte vermeiden, wenn bei begrenztem Etat statt der Gemeindevertretung die
Bürgerschaft darüber abstimmt, ob die Schule ausgebaut oder eine Straßenbegradigung vorgenommen wird. In
der Bundespolitik sind Plebiszite unangebracht. Statt des politischen Kalküls, statt des Interessenausgleichs und
der Folgenabschätzung, auch des Experteneinflusses in den Parlamenten wären beim Plebiszit die Vorurteile und
Meinungen, die Stimmungen und Launen relevante Kriterien von Zufallsmehrheiten, die über Fragen der
Ausländerpolitik, des Strafrechts oder des Steuerwesens entschieden. Verantwortlichkeit und Berechenbarkeit in
der Politik würden nicht mehr bestehen, und es ist gut, daß für die Grundfragen der Bundespolitik Plebiszite
nicht möglich sein. Wenn es nur darum geht, die Meinungen der Bürger zu erfahren, steht den Parteien und der
gesamten Öffentlichkeit ohnehin die Umfrageforschung zur Verfügung.
Aber innerhalb der Parteien kommt es immer wieder zu problematischen Mitgliederbefragungen - in Sach- und
Personalfragen. Dabei weiß jeder, daß die Parteimitgliederschaft nur ein kleiner Ausschnitt aus der Bevölkerung
ist: Die rund vier Prozent organisierten Parteimitglieder in Deutschland rekrutieren sich aus den höheren
Mittelschichten und sind keineswegs repräsentativ. Was würde es also bedeuten, wenn - um an die
Größenordnung des letzten Mitgliederentscheids dieser Partei anzuknüpfen - sich von den rund
80.000
Mitgliedern der FDP 35.000 an einer Abstimmung für oder gegen die Abschaffung der Wehrpflicht beteiligten
und 20.000 von ihnen votierten für die Berufsarmee? Niemand wüßte, nach welchen Kriterien die einzelnen
Mitglieder sich entschieden haben, und diese selbst würden auch keinerlei Konsequenzen aus dem
Abstimmungsverhalten zu ziehen haben. Die Entscheidung wäre urwüchsig da: Parteitag, Fraktion und auch das
Parlament müßten sie als Tatsache hinnehmen ohne sie eigentlich diskutiert zu haben. Das unrepräsentative und
verantwortungsfreie Votum von 20.000 Bürgern hätte den Mitgliedern dieser Gremien ein Stück ihres Mandats
genommen.
Die Mitgliederbefragung in politischen Parteien verwischt die Verantwortlichkeit der Abgeordneten. Sie ist eine
überflüssige PR-Maßnahme, denn sie lockt - wie sich gezeigt hat -keine neuen Mitglieder in die Parteien.
Nirgendwo ist geregelt, ob und wie aus dem Ergebnis einer solchen Befragung konkrete Politik werden soll. Die
Sache paßt nicht zum politischen System der Bundesrepublik. Besonders bedenklich ist, daß die
Mitgliederbefragung bei etablierten politischen Parteien das Plebiszit hoffähig macht, mithin einen Weg der
102
Entscheidungsfindung, von dem der Parlamentarische Rat nach 1945 erkannt hatte, daß er zum Untergang der
Weimarer Republik beigetragen hatte!
Das innerparteiliche Plebiszit bringt nicht mehr Demokratie, sondern durch die Verwischung von
Verantwortlichkeit weniger. Es ist daher Wasser auf den Mühlen derjenigen Wirtschaftslenker, denen unser
politisches System ohnehin zuviel Parteiendiskussion und zuviel Föderalismus enthält.
Diese Propagandisten für mehr Entscheidungsklarheit übersehen, daß es Ausdruck politischer Klugheit war, dem
starken Kanzler und dem mächtigen Bund Gegengewichte in der herausgehobenen Stellung der Parteien sowie in
der föderalistischen Gewalt der Länder entgegen zu setzen. Allmacht ist demgegenüber eindeutig weniger
Demokratie und sie zu fordern, damit Entscheidungen schneller getroffen werden, ist gefährlich in einem Lande
mit der Geschichte Deutschlands. Das Gerede vom Parlament als “Quasselbude” und das Gejammer über das
entzweiende “Parteiengezänk” haben der Weimarer Republik die demokratische Substanz entzogen. Demokratie
als zeitlich und institutionell begrenzte Macht sollte seitdem als Wert anerkannt sein und nicht zugunsten
vermeintlicher Effektivität infrage gestellt werden.
Das entbindet die politischen Verantwortlichen freilich nicht davon, notwendige Entscheidungen auch
tatsächlich zu treffen. Sie haben ihr Mandat, um politische Fragen öffentlich zu erörtern, aber auch zu
entscheiden und diese Entscheidungen dann bei der nächsten Wahl zu verantworten. Darum drücken sich
mittlerweile zu viele, weil sie permanent dran bleiben wollen und verdrängen, daß sie für die Bürger da sind und
nicht umgekehrt. Wir brauchen keine bundespolitischen Plebiszite, wir müssen auch keine Parteien und nicht die
Länder abschaffen, sondern auf allen Ebenen mehr Verantwortlichkeit und eine dienende Einstellung zum
Gemeinwesen entwickeln. Dann werden wir mit unserem Grundgesetz - das immer noch die beste Verfassung
der deutschen Geschichte ist - weiterhin gut fahren.
Auch die Wirtschaft wird dabei profitieren..
2.
Vor allem die Politiker sind noch nicht reif für die direkte Demokratie. Das Volk soll gefragt werden. Alle
Parteien haben sich mittlerweile dazu durchgerungen, der direkten Demokratie in der Bundespolitik irgendeine
Bresche zu schlagen. Die Parteien tun das, weil die Forderungen nach direkter Demokratie in der Öffentlichkeit
lauter werden und weil sie zurecht um ihren Rückhalt im Volke fürchten. Findet eine Wahl des
Bundespräsidenten statt, ertönt von vielen Seiten der Ruf nach Direktwahl des Staatsoberhauptes. Soll eine
europäische Verfassung kommen, verlangen nicht wenige, das Volk solle darüber abstimmen. Geht es um den
Türkei-Beitritt zur EU, fordern vor allem Gegner dieses Projektes Unterschriftenaktionen oder ein Referendum.
Auffällig ist, daß sich Befürworter und Gegner direkter Demokratie in der Bundespolitik jeweils danach
sortieren, welche politische Rolle sie gerade einnehmen: Regierung oder Opposition.
So sind die SPD und besonders die Grünen von ihrer politischen Grundausrichtung her eher Befürworter direkter
Demokratie, während die „Bürgerlichen" - Union und FDP – eigentlich Verteidiger der repräsentativen
Demokratie sein müßten. Aber als Regierungsparteien haben Rot und Grün da so ihre Bedenken im Einzelnen:
„Jetzt den Bundespräsidenten vom Volke wählen zu lassen, wäre wohl etwas überstürzt!“ – „ Eine Abstimmung
über die europäische Verfassung läßt das Grundgesetz nicht zu!“ -
„Über den Türkei-Beitritt kann man
vielleicht in 15 Jahren abstimmen!“
In der CDU/CSU dagegen kann man sich ein Erforschen des Volkswillens speziell in der Türkei-Politik
durchaus schon früher vorstellen. Da macht es gar nichts, daß man eigentlich von direkter Demokratie wenig zu
halten vorgibt: Die Aktion könnte nach hessischem Muster Wählerstimmen bringen.
103
Die FDP machte sich geradezu zur Lobbyistin für die Direktwahl des Bundespräsidenten. Mit treuem
Augenaufschlag wird bei der vereinigten Opposition darüber diskutiert, wie es wäre, wenn man forderte, die
europäische Verfassung vom Volke legitimieren zu lassen: Das könnte doch der Regierung lästig werden...
Da es mittlerweile zur politischen Korrektheit gehört, für direkte Demokratie zu sein, sinken auch die Parteien
dahin: im Prinzip haben sie immer weniger dagegen. Aber jede Partei denkt taktisch. Die Union könnte mit einer
„privaten“ Befragung – „Unterschriftensammlung“ genannt - der Regierung in der Türkei -Politik eins
auswischen. Die Regierung fürchtet sich in dieser Frage vor Volkes Meinung: Also verteufelt die neu-alte
Parteivorsitzende der Grünen eine mögliche Unterschriftenaktion. Der Herr Westerwelle mußte vor der
Bundespräsidentenwahl 2004 wissen, daß die Bundesversammlung kurzfristig gar nicht durch das Volk ersetzt
werden konnte. Gerade wegen der zu erwartenden Folgenlosigkeit seiner Reden konnte Westerwelle sich daher
ruhig auf die allgemeine Popularitätswoge setzen und die Direktwahl des Präsidenten fordern.
Das Problem ist: Die Politiker denken, Volksabstimmungen und -Befragungen seien mittlerweile „in", also reden
sie dafür, bringen Gesetzesentwürfe im Bundestag ein. Aber ihre Politik wollen sie sich durch Volkes Meinung
nicht nehmen lassen. Also gehen sie mit den Plebisziten in der Theorie großzügig um, bei Abstimmungen im
einzelnen aber sind sie pingelig. Ihre Haltung ist: „Wasch mir den Pelz, aber mach` mich nicht naß!"
Das Volk soll abstimmen, aber die Parteipolitiker wollen weiterhin entscheiden. Sie wollen alles in der Hand
behalten. Da war nach 1945 der Schöpfer des Grundgesetzes - der Parlamentarische Rat – in seiner Art weiser.
Nach Diskussionen über dieses Thema entschied er sich konsequent gegen direkte und für repräsentative
Demokratie: Das auf Zeit vom Volk gewählte Parlament sollte Ort der Entscheidungen sein. Daß die Weimarer
Republik in die Hitler-Diktatur gerutscht war, habe auch mit einem Zuviel an direkter Demokratie zu tun gehabt,
glaubte man damals. Und man hatte vor Augen, wie die Nazis die Zusammenlegung der Ämter des
Reichskanzlers und des Reichspräsidenten ebenso wie den „Anschluß" Österreichs plebiszitär untermauert
hatten.
Schlecht ist die alte Bundesrepublik mit ihrer repräsentativen Ausrichtung nicht gefahren. Erst in den 80er
Jahren und dann im Zuge der Wiedervereinigung wurde der Ruf nach direkter Demokratie lauter. Drei
Argumente wurden dafür angeführt:
- Das Volk sei mittlerweile reif genug, wichtige Fragen der Nation verantwortlich zu entscheiden.
- Bürgerrechtler aus der DDR schütteten das Kind mit dem Bade aus und meinten 1990, das „Bonner"
System sei ebenso wenig zeitgemäß wie die abgewirtschaftete Gerontokratie Ostberlins. Die „friedliche
Revolution" habe mit direkter Demokratie und runden Tischen den Weg in die Zukunft gewiesen, auch bei den
politischen Verfahren.
- Schließlich gab es in der alten Bundesrepublik auf Länder- und Kommunalebene bereits direkte
Demokratie - interessanter Weise vor allem im „CSU-Staat" Bayern.
Es sei dahin gestellt, ob das medienabhängige Volk 2004 wirklich politisch um vieles reifer ist als 1949. Auch ist
es evident, daß sich ein großer Industriestaat auf die Dauer nicht mit runden Tischen organisieren läßt.
Schließlich sind die Erfahrungen mit der direkten Demokratie in Ländern und Kommunen nicht durchweg so,
daß das Volk seine Möglichkeiten tatsächlich wahrnähme und dichter dran wäre an der Politik als im Bund.
Daß in der Bundespolitik über direkte Demokratie viel geredet, sie aber nicht praktiziert wird, liegt jedoch vor
allem daran, daß die führenden Politiker dafür nicht reif sind. Sie fürchten um ihre Macht. Wenn sie sicher sein
könnten, daß sie jedes Referendum über den Beitritt der Türkei zur EU bestehen würden, wären die leitenden
Damen und Herren von Rot-Grün für eine Volksabstimmung. So sind sie dagegen – zum jetzigen Zeitpunkt
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jedenfalls, wie sie sagen. Wenn er erwarten müßte, eine Flut direkter Demokratie komme auf die Bundesrepublik
zu, würde der Vorsitzende der FDP aus Eigeninteresse vorsichtiger sein bei seinem Rufen nach Volkes Stimme.
Wenn ihr jemand garantieren könnte, daß die politischen Gegner der CDU keine Unterschriftenaktion gegen ihre
Gesundheitspolitik in Gang setzen, würde sie Unterschriftensammlungen vielleicht nicht nur fordern, sondern
auch praktizieren. Und wenn sie wüßten, daß das Volk einer EU-Verfassung sein Plazet geben würde, wären
auch die Grünen für eine Volksabstimmung hierüber.
Die Parteien und die Parlamente in Deutschland haben mittlerweile ein Legitimationsproblem. Höchstens zwei
Prozent der Bevölkerung beteiligen sich aktiv an der Arbeit in den Parteien. Zu allgemeinen Wahlen gehen
manchmal mehr als 50% der Berechtigen gar nicht hin, und wenn eine Wahlbeteiligung bei 70% liegt, dann gilt
das als guter Wert. Der Parlamentarismus braucht eine Ergänzung und Auffrischung durch direkte Demokratie,
durch Volkes Wort auch während der Legislaturperioden. Wenn alle Bereiche der Gesellschaft sich reformieren
müssen, dann auch die Parlamente und die Parteien. Davor fürchten sich die führenden Politiker.
Es wird ihnen nichts helfen. Früher oder später werden Referenden zur Demokratie in Deutschland gehören wie
in Frankreich, in Skandinavien und sogar gelegentlich im Mutterland des Parlaments, Großbritannien. Die
Politiker hierzulande müssen ihre taktische Einstellung zu den Plebisziten aufgeben und von ihren Kollegen in
Westeuropa lernen, daß die Kunst des Politikers nicht nur aus Kungeln in kleinen Runden besteht, sondern daß
auch die Fähigkeit zum Dialog mit dem Volk dazu gehört – auch zwischen den Wahlen.
Wenn Rot-Grün von der eigenen Türkei-Politik überzeugt ist, muß es den Willen zeigen, die Bevölkerung direkt
davon zu überzeugen. Wenn die FDP wirklich die Direktwahl des Bundespräsidenten will, muß sie jetzt,
spätestens 2006 eine große Verfassungsreform anregen, bei der die Gewichte zwischen Präsident, Kanzler und
Bundestag neu justiert werden. Und wenn die CDU eine Gesundheitsreform mit „Kopfpauschalen“ durchsetzen
will, dann muß sie im Volke so viele Anhänger dafür werben, daß sie ein Referendum hierüber nicht fürchten
brauchte.
Die Zeit ist reif für Dialoge der Politik mit dem Volke auch über Angelegenheiten von nationaler Bedeutung.
Dazu müssen die Politiker eine neue Dimension ihres Beruf erschließen: Die Dimension des bundesweiten
Gesprächs mit denen, die in ihrem Jargon immer noch die „Menschen draußen im Lande“ genannt werden.
Wenn diese Menschen da draußen reinkommen in die Politik, werden auch sie dadurch hinzulernen, „reifer“
werden eben.
Eines allerdings ist klar: Bei keinem Referendum wird es eine Erfolgsgarantie für irgendjemand geben. Man
kann eine Abstimmung gewinnen, aber auch verlieren. Das muß ein Politiker akzeptieren. Deswegen sollte
Politik ja das Geschäft von verantwortlichen und wegweisenden Persönlichkeiten sein und nicht von nach
Sicherheit suchenden Karrieristen.
12. Flucht vor der Verantwortung
Wenn wir selbst aus der Nachkriegsgeschichte nicht lernen können, wie sollen wir überhaupt aus der Geschichte
lernen?
Im Mai 1991 wurde bekannt, dass in Ravensbrück an der „Straße der Nationen“, die von
Häftlingsfrauen errichtet worden war, ein Supermarkt der Firmengruppe „Tengelmann“ eröffnet werden sollte.
Die „Straße der Nationen“ führt zur Gedenkstätte Ravensbrück auf dem Gelände des nationalsozialistischen
Frauen-KZ Ravensbrück. Der Protest schwoll an. Er kam aus dem In- und Ausland. Der brandenburgische
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Ministerpräsident Manfred Stolpe eilte nach Fürstenberg - jener Stadt, von der Ravensbrück ein Ortsteil ist.
Stolpe schwor die Politiker der Stadt und des Landkreises ein: An jenem Ort kann der Supermarkt – den die
Fürstenberger sich kurz nach der Wende so sehr gewünscht hatten – nicht eröffnet werden. In einer Besprechung
tags darauf mit allen Beteiligten in Potsdam wurde festgelegt, dass Fürstenberg am anderen Ende des Orts einen
Supermarkt bekommen sollte. So geschah es. Alle Welt konnte sehen: Eine Gedenkstätte und ihr Umfeld sind
tabu für Profannutzungen.
Im Januar 2005 wurde bekannt, dass in Berlin nördlich des Bahnhofs Grunewald auf dem ehemaligen
Gütergelände der Bahn Luxushäuser errichtet werden sollen, um so die Villenkolonie Grunewald an die
Bahntrasse und die AVUS heran zu ziehen. Die Zugangsstraße werde direkt jenen Ort passieren, von dem aus
zwischen 1941 und 1945 Zehntausende Berliner Juden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert wurden.
Der Güterbahnhof Grunewald, für so viele damals das Tor zur Todesfahrt nach Auschwitz, wird als Grund und
Boden vorgesehen für das traute Heim betuchter Berliner im wiedervereinigten Deutschland!
Diese Planungen wurden ausgearbeitet in Kenntnis der historischen Belastung des Ortes: Am Bahnhof
Grunewald selber befindet sich seit 1987 eine Bronzetafel mit hebräischer Überschrift: „Zum Gedenken an die
Opfer der Vernichtung. Zum Gedenken an Zehntausende jüdischer Bürger Berlins, die ab Oktober 1941 bis
Februar 1945 von hier aus durch die Nazi-Henker in die Todeslager transportiert und ermordet wurden.“ Neben
dem Bahnhof wurde 1991 eine Betonmauer mit Negativabdrücken von menschlichen Körpern errichtet: ein
beeindruckendes Mahnmal. Und die Deutsche Bahn AG hatte 1998 auf den Verladebahnsteigen rechts und links
der Gleise Metallplatten anbringen lassen, auf denen Zielorte und Daten der Deportationszüge dokumentiert
sind.
Die gesamte Mahnstätte Grunewald ist so zu einem sakrosankten Ort geworden. Nach jüdischem Brauch liegen
Steine auf der Rampe - wie auf Friedhöfen. Blumen werden niedergelegt. Es kommen Besucher und verharren.
Von den Verladebahnsteigen aus blicken sie auf das überwucherte Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs. Es
erinnert an jene Landschaften, in welche die Todeslager eingebettet waren und bedrückt mit dem Widerspruch
zum pittoresken Gebäude des Bahnhofs Grunewald. Ein Eindruck entsteht von Bildern, welche die hierher
getriebenen Opfer der Nationalsozialisten in den letzten Tagen ihres Lebens gesehen haben.
Dieser Ort in Grunewald, wie er sich 2005 präsentiert, ist tabu. Hier soll der Mensch nichts mehr verändern.
Doch die Energie der Planer ist groß. Aus einer Brache soll eine Geldquelle werden. Das täte auch der Bahn gut.
Den Parteien des Bezirks wird eingeredet, dass diejenigen, die hier herziehen werden, Stabilität und Wohlstand
in den Ortsteil bringen würden. In den bürgerlichen Parteien macht sich manch einer Hoffnung auf Zulauf bei
künftigen Wahlen. Bei solchen Aussichten verdrängen viele den Wohnungsleerstand in der Stadt. Die Enge der
Straßen in der Villenkolonie wird ebenfalls verdrängt: Ein Verkehrschaos sei nicht zu erwarten. Das Leben
neben Bahntrasse und AVUS könne dank eines Schutzzaunes zum Vergnügen werden. Den Platz vor dem
Bahnhof werde der Projektentwickler neu gestalten – auf „eigene“ Kosten! - , und das beliebte Restaurant „Floh“
– ja, das muss eben weichen. Schließlich das noch: Auch ein Supermarkt wird entstehen!
Die Planer tun, als hätten sie es mit einem beliebigen Bismarckdenkmal zu tun. Doch es ist ein authentischer Ort
der Schoa. Der Bezirk muss den Plänen erst noch zustimmen. Dort hält man sich für klug und „sieht das
politische Problem“. Also, sagen einige Kommunalpolitiker, werde man mit „der Jüdischen Gemeinde“ reden.
Die soll das Wohnungsprojekt quasi „koscher schreiben“. Welch eine Flucht vor der Verantwortung!
Die Nachfolger der Opfer sollen Politikern sagen, wie nahe sie einem Ort des Erinnerns an die Schoa kommen
dürfen. Bedarf es eines klareren Beweises dafür, dass selbst „Führungskräfte“ in Deutschland kein Gefühl dafür
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haben, welche Verantwortung für das Geschehene auf diesem Land lastet? Alle eingespielten Gedenkrituale
bewirken offenbar wenig. Nach dem 27. Januar 2005 geht man zur Tagesordnung über und werkelt an dem Plan,
an einem Ort des Erinnerns an den Tod Zehntausender Kapital zu schöpfen.
Warum gibt es so viele in Deutschland, die verdrängen und vorbei manövrieren wollen, wenn sich Zeugen der
Naziverbrechen ihren Planungen in den Weg stellen? Warum geschieht das immer wieder: 1991 und 2005? Dass
nicht stille Trauer und innere Scham die Haltung der meisten „Leistungsträger“ hierzulande ist, erscheint
alarmierender als dumme Sprüche parlamentarischer NPDler in Sachsen.
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