3. Philharmonisches Konzert Reihe C Freitag, 12. November

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3. Philharmonisches Konzert Reihe C
Freitag, 12. November 2010
20 Uhr Volkshaus
Benjamin Schweitzer (*1973)
Introduktion und Lichtspielszene (1999/2006)
Benjamin Britten (1913-1976)
Konzert für Klavier und Orchester op. 13
Toccata. Allegro molto e con brio
Waltz. Allegretto
Impromptu. Andante lento
March. Allegro moderato, sempre alla marcia
Pause
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975)
Sinfonie Nr. 9 Es-Dur op. 70
Allegro
Moderato
Presto – attacca
Largo – attacca
Allegretto
Dirigent: André de Ridder
Klavier: Eugéne Mursky
Der Dirigent
André de Ridder lebt in Berlin. Er studierte in Wien bei Leopold Hager und in London bei
Sir Colin Davis. Er arbeitet mit den unterschiedlichsten Künstlern und Ensembles wie dem
BBC Symphony Orchestra, der mehrfach ausgezeichneten Cartoon-Band Gorillaz, dem
Jazzmusiker Uri Caine und der MusikFabrik zusammen. Seit 2007/08 ist André de Ridder
Principal Conductor der in England ansässigen Sinfonia Viva und beweist dort immer wieder
die Gabe, außergewöhnliche Programme zu gestalten. Mit seinem weitreichenden Interesse an
unterschiedlichen Musikformen und -stilen verkörpert de Ridder einen neuen Typus Dirigent,
der sich gleichermaßen mit historischer Aufführungspraxis, klassischem und romantischem
Repertoire, zeitgenössischer Musik, aber auch experimentellem Pop und elektronischer
Musik identifiziert und damit zu den interessantesten und faszinierendsten Dirigenten der
heutigen Zeit gehört.
Ein Schwerpunkt seines Wirkens liegt in Großbritannien. Dort arbeitet er regelmäßig mit den
Orchestern der BBC dem Philharmonia Orchestra, dem Scottish Chamber Orchestra, der
Britten Sinfonia, der London Sinfonietta und dem Hallé Orchestra Manchester zusammen.
Letzterem war er von 2003-2006 als Assistenzdirigent von Mark Elder besonders eng
verbunden. Außerdem gestaltete und dirigierte er für das BBC Symphony Orchestra und das
Barbican Centre mehrere Komponistenportraits, u.a. zu Wolfgang Rihm, Judith Weir und dem
legendären amerikanischen Straßenmusiker und Vorreiter der Minimalisten Moondog. 2007
wurde er für den „Young Artist Award“ der Royal Philharmonic Society nominiert. Zudem
arbeitete de Ridder mit namhaften kontinentalen Orchestern, zuletzt tourte er erfolgreich im
Februar 2010 mit den Camerata Salzburg und Martin Grubinger durch Deutschland.
Als Operndirigent hat sich de Ridder mit den Uraufführungen von Gerald Barrys The Bitter
Tears of Petra von Kant sowie Wolfgang Rihms Drei Frauen am Theater Basel einen Namen
gemacht. Außerdem dirigierte er Neuproduktionen von Prokofjews Der Spieler und Janaceks
Das Schlaue Füchslein für die Grange Park Opera und war Gast beim Teatro Real Madrid
sowie bei den Salzburger Festspielen.
Diese Saison dirigiert de Ridder eine Erstaufführung der Australierin Liza Lim beim Holland
Festival, bei der Biennale in Venedig Uraufführungen italienischer Komponisten und arbeitet
mit dem deutschen Duo Mouse on Mars, einer der innovativsten und einflussreichsten Bands
der „intelligent dance music“ Szene zusammen.
Der Solist
Eugéne Mursky wurde 1975 in Taschkent, der Hauptstadt von Usbekistan, geboren. Im Alter
von sechs Jahren erhielt er seinen ersten Klavierunterricht, zwei Jahre später wurde er in die
Klasse der berühmten Klavierpädagogin Tamara Popowitsch am Institut für hochbegabte
Kinder aufgenommen. Als Zwölfjähriger reiste Eugéne Mursky zum ersten Mal nach Moskau
und wurde Schüler bei Prof. Lev Naumov, einem der bekanntesten Klavierlehrer der
Sowjetunion. Ein Jahr später feierte er seinen ersten großen Erfolg in Taschkent mit dem 2.
Klavierkonzert von Chopin. 1989 wurde ihm der 1. Preis beim Nationalen Klavierwettbewerb
der Republik Usbekistan verliehen, 1990 der Grand Prix beim 5. Klavierwettbewerb der
Zentralasiatischen Republiken.
1993 kam Mursky nach Deutschland und begann ein künstlerisches Studium bei Reinhard
Becker an der Musikhochschule Trossingen. Während dieses Studiums erhielt er zahlreiche
Auszeichnungen, darunter ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes
und der Kunststiftung Baden-Württemberg. Ein Höhepunkt im künstlerischen Werdegang des
Pianisten war 1994 die Verleihung des 1. Preises der World Piano Competition in London,
verbunden mit dem Preis für die beste Chopin-Interpretation. Nach diesem großen Erfolg
wurde Eugéne Mursky eingeladen, auf renommierten Bühnen in Großbritannien,
Deutschland, Italien, Japan und in den USA mit einer Reihe bekannter Orchester zu
konzertieren. 1997 und 1998 setzte Mursky sein Studium an der Musikhochschule Hannover
bei Prof. Einar Steen-Nökleberg fort. In den folgenden Jahren gewann er weitere
internationale Wettbewerbe, so 2000 den Edvard Grieg Wettbewerb in Oslo, 2001 den
Bremer Klavierwettbewerb und 2002 den Internationalen Denza Klavierwettbewerb in
Neapel. Hinzu kam eine umfangreiche kammermusikalische Tätigkeit, u. a. mit dem MelosQuartett und dem Vogler-Quartett. Von 1998 bis 2002 studierte Mursky in Salzburg und
erhielt den Förderpreis des Mozarteums. Dort nahm er die Gelegenheit wahr, unter der
Betreuung von Prof. Hans Leygraf sein Repertoire zu vertiefen und zu erweitern.
Auch zahlreiche CD-Aufnahmen liegen bereits von ihm vor, darunter Schostakowitschs
Klavierkonzert Nr. 1, Solowerke von Schumann und Beethoven, Werke von Rachmaninow,
Skriabin und Prokofjew. Zudem entsteht bei Hänssler mit Eugéne Mursky eine Frédéric
Chopin Edition, von der bereits fünf Einspielungen erschienen sind.
Die Komponisten und ihre Werke
Benjamin Schweitzer wurde 1973 in Marburg geboren. Nach einem Vorstudium an der
Musikhochschule Lübeck studierte er Komposition, Musiktheorie und Dirigieren an der
Hochschule für Musik Dresden und bei Paavo Heininen an der Sibelius-Akademie Helsinki.
Er lebt heute als freischaffender Komponist in Berlin und zeitweilig in Finnland.
Neben Lehraufträgen, Vortragstätigkeit und Publikationen zu Themen der Musikästhetik und
Analyse erhielt er Einladungen als Dozent zum Kammermusikkurs des Deutschen Musikrates,
zur Akademie „Choreographen und Komponisten“ der Akademie der Künste Berlin, zu
Jeunesse Moderne und zur Kompositionswerkstatt Weikersheim. Schweitzer war zudem
Mitbegründer und bis 2005 künstlerischer Leiter des ensemble courage Dresden.
Schweitzers Werke werden regelmäßig in ganz Deutschland und im Ausland aufgeführt und
gesendet. Renommierte Institutionen und Interpreten haben ihm Kompositionsaufträge erteilt.
Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Förderungen für seine Arbeit, darunter den
Förderpreis des Sächsischen Musikbundes und das Wilfried-Steinbrenner-Stipendium, ein
Kompositionsstipendium des Berliner Senats sowie Aufenthaltsstipendien für das
Künstlerhaus Stein am Rhein, die „Cité Internationale des Arts“ Paris, das Deutsche
Studienzentrum Venedig, den Künstlerhof Schreyahn und das Herrenhaus Edenkoben. 2010
wurde er in das EHF-Trustee-Programm der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgenommen.
Introduktion und Lichtspielszene entstand 1999 im Auftrag des Gymnasiums Johanneum
Lübeck und wurde im folgenden Jahr in der örtlichen St. Petri Kirche uraufgeführt. Wenig
später kam das Werk auch bei der Expo Hannover zur Aufführung. Einige Jahre darauf
überarbeitete es Schweitzer nochmals für ein Konzert des Sinfonieorchesters des Hessischen
Rundfunks unter Peter Ruzicka.
Als ein Stück avancierter Musik für den Konzertsaal orientiert sich Introduktion und
Lichtspielszene an Vorbildern wie Arnold Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene,
von der auch der Titel entliehen ist. Für den Komponisten ist es „Filmmusik ohne Film, ein
Bilderbogen mit streckenweise reißerischen Zügen.“ Trotzdem spielt auch Filmmusik á la
Hollywood eine nicht unbedeutende Rolle in Schweitzers kompositorischem Denken:
„Filmmusik ... hat mich schon immer fasziniert. Die Direktheit, mit der in diesem Genre
Geschichten erzählt und Bilder erzeugt werden, hat ihren unwiderstehlichen Reiz, ebenso wie
die innere Spannung zwischen äußerlichen Effekten und Klischees und oft hochklassiger
kompositorischer Arbeit, die sich hinter den klingenden Kulissen verbirgt.“
Die Partitur des Werkes und damit seine Klanggestalt zeigt jedoch in ihrem Detailreichtum
und den Verarbeitungstechniken eher eine Verwandtschaft zur neuen Musik. Nach Aussage
des Komponisten „lebt auch Introduktion und Lichtspielszene von rasch wechselnden, jeweils
deutlich gezeichneten Stimmungen, wuchtigen Steigerungen und sattem, farbigen
Orchesterklang. Doch zugleich liegt dem Stück eine durchaus komplexe, mit großer Sorgfalt
im Detail ausgearbeitete formale Anlage zugrunde. Der erste, langsame Abschnitt des Stückes
bildet gleichsam eine Materialsammlung, deren Elemente in den folgenden, raschen
Sektionen wieder aufgegriffen und ausgesponnen werden. Zu Beginn des schnellen Teils gibt
es eine Art Exposition richtiggehend 'thematischer' Gestalten, die in modifizierter Form im
weiteren Verlauf immer wieder aufscheinen. Doch über weite Strecken ist die Gestik des
Stückes eher abstrakt, und den standardisierten, süffigen Hollywood-Sound wird man darin
nicht finden.“
Die zweite Hälfte der 1930er Jahre war beruflich wie privat richtungsweisend für Benjamin
Britten. Besonders eindrücklich wurde für ihn die Zusammenarbeit mit dem Dichter W.H.
Auden für die BBC. Britten schrieb dort Musik für Radioprogramme, die ihn als Komponisten
zur festen Größe machten. Auden beeindruckte ihn mit seiner künstlerischen Souveränität und
dem freien Ausleben seiner homosexuellen Neigungen. Britten, der von Natur aus scheu und
zurückhaltend war, wurde stärker mit seiner eigenen Sexualität konfrontiert und verkehrte
zunehmend in homo- bzw. bisexuellen Kreisen, zu denen neben Auden auch Christopher
Isherwood, Aaron Copland und Lennox Berkeley gehörten. Gerade letzterer war als
Komponist, Freund und Bewunderer Brittens wichtig für dessen Entwicklung. 1937 lernte
Britten auch Peter Pears, seinen späteren Lebenspartner, kennen. Durch Britten verfolgte
Pears seine sängerische Karriere zielstrebiger und der Komponist fand über die Jahre in dem
Sänger eine starke Inspirationsquelle für vokale Werke. Der nahezu zeitgleiche Verlust seiner
Mutter traf Britten zutiefst, da sie bis dahin sein wichtigster Orientierungspunkt war. Einige
Biographen vermuten sogar einen Zusammenhang zwischen der intensiven Beziehung
Brittens mit seiner Mutter und seiner Homosexualität. Nach den Theorien Freuds suchte der
Sohn eine gleichermaßen starke Beziehung bei meist jüngeren Männern.
Um den Jahreswechsel 1937/38 begann Benjamin Britten seine Ideen für ein Klavierkonzert
auszuarbeiten. Auf eigenen Vorschlag erhielt er den Auftrag für das Werk von der BBC für
die Promenadenkonzerte des nächsten Sommers. So entstand das Konzert für Klavier und
Orchester mit einigen Rückschlägen und Zweifeln in der ersten Jahreshälfte 1938. Auf den
Höhepunkten der Arbeit fühlte sich Britten nach eigener Aussage „mit der Muse auf Du und
Du“. Mit dem Herannahen des Konzerttermins musste der Komponist auch intensiv am
Solopart üben, schrieb er sich das Werk doch in die eigenen Hände. Am 18. August 1938 fand
die Uraufführung in der Londoner Queen's Hall unter der Leitung von Henry Wood, dem
Begründer der Promenadenkonzerte, statt. Die Aufnahme des „populären“ Konzerts war
weitestgehend positiv, doch gerade einige der engsten Vertrauten Brittens hatten ein etwas
gewichtigeres Werk erwartet und äußerten Kritik. Britten widmete das Werk Lennox
Berkeley, der – auf Brittens derzeitige Romanze mit Wulff Scherchen anspielend – anmerkte:
„Sollte die Musik tatsächlich Nahrung der Liebe sein, hast Du, glaube ich, sehr gute
Chancen.“
Der ursprüngliche dritte Satz trug den Titel Recitative and Aria. Britten akzeptierte die
Meinung seiner Kritiker insofern, dass er diesen 1945 durch das heutige Impromptus ersetzte.
Das Konzert erhielt dadurch einen stärkeren thematischen wie dramaturgischen
Zusammenhang, der dazu führte, dass die Neufassung sich im Konzertsaal durchsetzte. Zur
Zeit der Komposition bezeichnete Britten sein Werk übrigens als sein 1. Klavierkonzert, doch
folgte diesem später kein zweites.
Das Konzert beginnt – dem Charakter einer Toccata angemessen – mit perkussiver
Begleitung der Bläser und Schlaginstrumente. Der brillante, stellenweise überschwängliche
Solopart lässt keinen Zweifel bestehen, dass es sich hier um ein Bravurakonzert handelt.
Gelegentliche schwelgerische Abschnitte in den Streichern sorgen für Kontraste und in der
Kadenz klingen impressionistische Farben an. Danach scheint der Satz zu versickern, doch
das Klavier nimmt den Anfangscharakter wieder auf und leitet zu einem furiosen Abschluss
hin.
Der Walzer des zweiten Satzes wirkt nie tänzerisch, obwohl der Grundgestus immer zu
erkennen bleibt. Zunächst schwankend und immer wieder unterbrochen, nimmt er im
schnelleren Tempo bedrohliche Züge an. Verschiedene Soloinstrumente sorgen für
klangfarbliche Vielfalt. Dem Impromptu liegt mit der Passacaglia eine Variationsform
zugrunde, die diesem Satz einen rituellen Charakter verleiht. Abhängig von Dynamik und
Artikulation erscheinen die chromatischen Rückungen des Themas schwer, bedrohlich oder
resignierend. Für diesen Satz griff Britten auf Motive seiner Begleitmusik zu King Arthur
zurück, die zeitgleich zum Klavierkonzert entstand.
Der Marsch des Finales nimmt in seiner rhythmischen Schärfung fast parodistische Züge an,
die den Komponisten als Zeit- und Geistesgenossen von Schostakowitsch ausweisen.
Zwischenzeitlich ermüdet und verschwimmt der Marschcharakter, doch am Ende kehrt die
Kraft und Brillanz zurück und das Konzert klingt triumphierend und bestimmt aus.
Nach den großen vaterländischen Sinfonien der Zeit des Zweiten Weltkriegs waren die
Erwartungen an ein neues sinfonisches Werk von Dmitri Schostakowitsch groß. Er selbst
hatte ambitionierte Pläne für seine 9. Sinfonie: „Ich möchte sie nicht nur für Orchester,
sondern auch für Solisten und Chor komponieren, wenn ich nur einen passenden Text fände.
Doch fürchte ich, man könnte mir dann unbescheidene Analogien unterstellen.“ Ein Freund
des Komponisten, Isaak Glikman, berichtet vom April des Jahres 1945: „Eines Abends
gedachte er, mir die Entwürfe für den ersten Satz vorzuführen, der erhaben in seiner Wucht,
seinem Pathos und seiner atemberaubenden Entwicklung war. Er spielte etwa zehn Minuten
lang und sagte dann, daß ihn vieles an dieser Symphonie störe, insbesondere ihre laufende
Nummer“. Zum Anspruch des Beethovenschen Modells mit einer Apotheose des siegreich
Ringenden kam mit dem absehbaren Kriegsende auch die noch stärkere, machtpolitisch
propagierte Verehrung Stalins als Erlöserfigur. Schostakowitsch sah sich als prominenter
sowjetischer Komponist zwangsläufig mit solchen Erwartungen konfrontiert: „Ich wurde
sozusagen in diesen unheiligen Reigen mit einbezogen“. Trotzdem warf er seine bereits
gefassten Entwürfe über den Haufen und wandte sich mit seiner Musik in eine völlig andere
Richtung: „Ich versuchte zu lügen und das wandte sich gegen mich ... Ich konnte keine
Apotheose auf Stalin schreiben, ich konnte es einfach nicht.“
Entsprechend dürfen die Reaktionen auf die Uraufführung der 9. Sinfonie Es-Dur am 3.
November 1945 in Leningrad nicht überraschen. David Rabinowitsch berichtete: „Wir
erwarteten alle ein neues monumentales sinfonisches Fresko, und vorgestellt wurde und etwas
ganz anders, etwas, was im ersten Augenblick durch seine Ausgefallenheit schockierte.“
Natürlich wurde das Ergebnis Schostakowitschs fehlender vaterländischer Gesinnung
zugeschrieben, die ihm schon im Falle seiner Oper Lady Macbeth von Mzensk fast zum
Verhängnis geworden wäre. Laut Israil Nestjew hatte „der Komponist den ironischen
Skeptizismus und die Stilisierung noch nicht überwunden“. Die Kampagne gegen
Schostakowitsch, die nach Kriegsende wieder an Intensität gewann, gipfelte 1948 in der
Ächtung des Komponisten, als subjektiv-modernistische Tendenzen stärker kritisiert wurden
als zuvor: „Dies ist dem sowjetischen realistischen Schaffen fremd, es ist purer
Expressionismus, ein Sichversenken in die Welt scheußlich, abstoßender, pathologischer
Erscheinungen. ... Eines der Mittel zur Flucht vor der Wirklichkeit sind die
neoklassizistischen Tendenzen ..., die hier in dekadenter Absicht benutzt werden.“
Entsprechend verschwand Schostakowitsch bis zum Tode Stalins weitgehend von der
sowjetischen Musikszene.
Die Sinfonie beginnt, als hätte der Komponist keine Zeit zu verlieren. Ein schelmischgepfiffener Gassenhauer etabliert den unbeschwerten Charakter des Satzes. Das
Schostakowitsch auf klassische Formen zurückgreift, zeigt sich hier in der für eine Sinfonie
dieser Zeit ungewöhnlichen Wiederholung des Expositionsteils. Durch stellenweise
Verfremdung seines thematischen Materials zeigt er aber auch, wie schmal der Grat zu
negativen Ausdrucksebenen ist. Der zweite Satz Moderato ist von fahler, unperiodischer
Thematik geprägt, die zuerst in der Klarinette, nur von den tiefen Streichern begleitet,
vorgestellt wird und dann die gesamten Holzbläser ergreift. Der Eindruck des fast
ausweglosen Wartens wird von einer gepressten Schwerfälligkeit abgelöst, wenn Streicher
und Hörner das Geschehen an sich reißen.
Das folgende Presto stellt eine virtuose Herausforderung für die Holzbläser dar, die getrieben
dahinfliegen. Von einer Fanfare unterbrochen, beruhigt sich der kurze Satz schon bald und
führt zum anschließenden Largo hin. Hier stehen sich gewichtig-imposante Blechbläser und
ein klagendes Fagottsolo gegenüber, die symbolisch den Widerspruch zwischen kollektiver
Macht und dem Bedürfnis des Individuums darstellen könnten. Wiederum ohne Pause setzt
das Finale ein, indem das Fagott sein Solo fortsetzt, jedoch nun lapidar-ironischer Thematik.
Anknüpfungen an den ersten Satz, vor allem rhythmisch, sind unverkennbar. Immer
intensiver und dichter erfasst der Strudel das gesamte Orchester, so dass die Sinfonie in einer
veritablen Zirkusvorstellung endet.
Frank Meier
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