Inhalt Vorwort ...............................................................................3 Nils Feindt-Riggers Der Islamismus in Algerien: Geschichte und Gegenwart ....5 Rita Breuer Das weibliche Gesicht des Islamismus .............................99 Tânia Puschnerat Zur Bedeutung ideologischer und sozialer Faktoren in islamistischen Radikalisierungsprozessen – eine Skizze..................................................................129 Siegfried Schwan Soziologische Aspekte des Islamismus ..........................155 Autorenverzeichnis..........................................................181 Vorwort Der vorliegende Band aus der Reihe „Beiträge zur inneren Sicherheit“ beinhaltet eine Aufsatzsammlung zum Themenkomplex Islamismus aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven und Disziplinen. Es wird der Versuch unternommen, Erscheinungsformen des Islamismus aus vertikaler und querschnittsanalytischhorizontaler Sicht zu beschreiben, Ursachen und Kausalbeziehungen aufzuzeigen und zu analysieren und damit zu einem besseren Verständnis des Phänomens beizutragen. Der erste Aufsatz erläutert die Entstehung und Entwicklung des Islamismus am Beispiel Algeriens. Der zweite Beitrag untersucht das weibliche Gesicht des Islamismus. Der daran anschließende Aufsatz skizziert ideologische und soziale Faktoren innerhalb des islamistischen Radikalisierungsprozesses. Die Ausführungen im letzten Teil versuchen, Islamismus als ein religionssoziologisches Phänomen zu beurteilen und dem entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Die Aufsatzsammlung richtet sich in erster Linie an Studierende der FH Bund und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die beruflich mit der Thematik zu tun haben. Daneben verstehen sich die Aufsätze auch als Beitrag im Rahmen einer wissenschaftlichen Diskussion. Brühl, im Januar 2006 Der Herausgeber Nils Feindt-Riggers Der Islamismus in Algerien: Geschichte und Gegenwart 1. Geschichtlicher Abriss 1.1 Einleitung Anhand der Entwicklung des Islamismus1 in Algerien, dem größten Land des Maghreb, kann beispielhaft gezeigt werden, wie die arabisch-islamische Welt im Zeichen der Modernisierung erhebliche gesellschaftliche Verwerfungen durchmachte. Daher soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie der Islamismus in diesem nordafrikanischen Land sich aufgrund der besonderen historischen Gegebenheiten entwickelte, welche Ideologeme und Strukturen er (bislang) hervorbrachte und wie die Zukunft dieser Ideologie in Algerien einzuschätzen ist. Dem geschichtlichen Abriss folgt eine steckbriefartige Aufführung der wichtigsten islamistischen Gruppierungen Algeriens, eine Chronologie sowie ein Abkürzungs- und Literaturverzeichnis. 1.2 Der Islam als Teil der algerischen Identität Algerien wurde seit 1830 von den Franzosen kolonialisiert, die die einheimische, größtenteils muslimische Bevölkerung an den Rand drängte und ihr faktisch in dem christlich geprägten Kolonialregime nur eine marginale Rolle einräumte.2 So wurde der Islam während 1 Unter „Islamismus“ soll hier eine Ideologie verstanden werden, die teils auf der Grundlage selektiver Textausschnitte im Qur’an und Sunna (Überlieferung der Taten und Aussprüche des Propheten Muhammad) und anderer sogenannter „heiliger“ Texte, teils auf eigener Interpretation der jeweiligen relevanten Führungspersönlichkeiten in totalitärer Form dem eigenen Staat – im Idealfall die gesamte islamische Welt – als Fundament der Herrschaft dient. Jegliche Staatsgewalt könne ausschließlich von Gott und seinem im Qur’an offenbarten Willen, nicht (oder zumindest weniger) vom Willen des Volkes abgeleitet werden. Demokratische Prinzipien wie die Volkssouveränität, das Mehrparteiensystem oder das Recht auf Bildung einer parlamentarischen Opposition sind mit diesem Absolutheitsanspruch wenig bis gar nicht vereinbar; sie werden von Islamisten mehr oder weniger abgelehnt (vgl. hierzu variierend Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin (2004), S. 160). 2 Borchardt, Ulrike: Militär in Algerien. In: Brzoska, Michael (Hrsg.): Militarisierungs- und Entwicklungspolitik. Eine Exploration mit Fallbeispielen zu Algerien, Iran, Nigeria und Pakistan (=Schriften des Deutschen Übersee-Instituts Hamburg, Nr. 23). Hamburg (1994), S. 109-111. der französischen Kolonialzeit zum wesentlichen kulturellen Nenner. Aufgrund der stark fragmentarisierten Stammesgesellschaft zu dieser Zeit erschien die althergebrachte Religion als wichtige Grundlage für die seit den 1920er Jahren sich formierenden Nationalisten unter der Führung von Mohamed Messali Hadj. Das Motto seiner 1937 gegründeten Partei Parti du Peuple Algèrien (PPA) lautete: Der Islam ist unsere Religion Algerien ist unsere Nation Das Arabische ist unsere Sprache.3 Auf der anderen Seite gründete 1932 der islamische Gelehrte (cAlim, pl. cUlama) Abdelhamid Ben Badis unter dem Einfluss der salafitischen4 Glaubensrichtung die „Association des Oulémas Réformistes d’Algèrie“ (Vereinigung der reformistischen cUlama Algeriens). Diese Vereinigung machte es sich insbesondere zum Ziel, das islamische (Familien)Recht in Algerien gegenüber französischen Laizisierungsbestrebungen zu erhalten. Während der französischen Kolonialzeit waren die verbliebenen traditionellen islamischen Schulen (Madaris, sg. Madrasa, französiert Medersa) oft die einzigen Bildungseinrichtungen für die muslimischen Algerier. Solche Einrichtungen sollten später grundlegend für eine Schulung islamistischer Kreise dienen. 1.3 Der Unabhängigkeitskrieg und die frühen Vorläufer des Islamismus Anfang 1945 herrschte eine Aufbruchstimmung unter der muslimischen Bevölkerung Algeriens. Die Nationalisten, so der algerische Historiker Mohammed Harbi, versuchten, die im Volk geweckten Hoffnungen auf eine tiefgreifende Veränderung des kolonialen Staates zu kanalisieren. Insbesondere Messali Hadjs PPA verstand es 3 „Al-Islam dinuna, al-Jaza`ir Baladuna, al-arabiyya lughatuna.“ Vgl. Guenaneche, Mohamed / Kaddache, Mahfoud: Le Parti du Peuple Algérien. 1937-1939. Documents et Témoignages pour servor à l’étude du nationalisme algérien. Alger (1993), Einband Rückseite. 4 Unter der Salafiyya (von arab. as-Salaf, die Altvorderen, d.h. die Gefährten des Propheten Muhammad) ist hier die kulturell-religiöse Erneuerungsbewegung des Islams zu verstehen, die von muslimischen Gelehrten wie Jamal alDin al-Afghani, Muhammad Abduh und Rashid Rida seit dem späten 19. Jh. angeregt wurde. Nähere Angaben hierzu siehe Meier, Andreas: Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen – Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal (1994), passim. 6 nach Überzeugung von Mohammed Harbi dabei, die islamische Bilderwelt und Denkweise zu instrumentalisieren; wobei im Mittelpunkt ihrer Agitation die wachsende Delegitimierung der Kolonialherrschaft stand. So soll die städtische Jugend, die Harbi zufolge „aktiver und politischer“ als die Landbevölkerung war, auf diese Linie eingeschwenkt sein. Die internationale Einwicklung (die „Atlantikcharta“ von 1941: u.a. Proklamierung des Selbstbestimmungsrechts der Völker) hatte diese Hoffnungen bestärkt. Alle verfügbaren politischen Mittel wurden aufgeboten, um die Bevölkerung zu mobilisieren. Auf der einen Seite prangerte man Armut und Korruption an, auf der anderen Seite rief man explizit zur Verteidigung der eigenen Religion, des Islams, auf.5 So bemerkt Annie Rey-Goldseigneur: „(...) Die einzige Mole, die allen gesellschaftlichen Schichten offen stand, ist der Hafen der Religion und des Jihad, der mehr als Waffe des Bürgerkrieges denn als Waffe des Religionskrieges anzusehen ist. Der durch diesen Schrei ausgelöste heilige Schrecken ist ganz leicht in kriegerische Energie umzuwandeln. (...)“6 Als dann schließlich am 8. Mai 1945, dem Tag der deutschen Kapitulation, in der mittelalgerischen Stadt Sétif Tausende von Algeriern für nationale Unabhängigkeit demonstrierten, schossen französische Militäreinheiten auf die Demonstranten und töteten Tausende von ihnen. Die genauen Zahlen sind bis heute umstritten. Dieser blutige Tag im Mai gilt bis heute als der eigentliche Beginn des nationalen Unabhängigkeitskampfes, weil aus Sicht der Algerier die französische Kolonialmacht keinerlei Interesse mehr zeigte, sich mit den Nationalisten und deren Anliegen Einvernehmen zu erreichen. Vom 8. Mai 1945 spannte sich also direkt der Bogen zum eigentlichen Beginn des Unabhängigkeitskrieges, dem 1. November 1954.7 Der nationale Befreiungskrieg, unter Führung der FLN, kann Bernhard Schmid zufolge keineswegs als „islamistischer“ Krieg analysiert 5 Harbi, Mohammed: Von den Anfängen des Algerienkriegs. 8. Mai 1945 in Sétif. In: Le Monde Diplomatique – deutsche Ausgabe – vom 14.04.2005, S. 14. 6 Rey-Goldseigneur, Anne: Aux origins de la guerre d’Algérie, 1940-1945, zit. n. Harbi, Mohammed: Von den Anfängen des Algerienkriegs. 8. Mai 1945 in Sétif. In: Le Monde Diplomatique – deutsche Ausgabe – vom 14.04.2005, S. 14. 7 Harbi, Mohammed: Von den Anfängen des Algerienkriegs. 8. Mai 1945 in Sétif. In: Le Monde Diplomatique – deutsche Ausgabe – vom 14.04.2005, S. 14. 7 werden - völlig abgesehen davon, dass der Begriff des Islamismus damals noch nicht gängig war.8 Tatsächlich spielte die Berufung auf die muslimische Religion eine nicht unbedeutende Rolle bei der Mobilisierung größerer Teile der algerischen Bevölkerung zugunsten des Ziels nationaler Unabhängigkeit. 9 Das war insofern beinahe unvermeidlich, als die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Algerien, um den Zeitpunkt des Befreiungskriegs rund eine Million Europäer und acht, nach anderen Angaben 11 Millionen musulmans lebten, eben offiziell durch ihre Religionszugehörigkeit definiert wurden. Um jene Bevölkerungsgruppe zu identifizieren, an welche der Aufruf zum nationalen Befreiungskampf sich vorwiegend richtete und welche im bestehenden System die mit Abstand rechtloseste war, lag es zumindest nahe, die Religion als Kriterium heranzuziehen. Ferner erlaubte es der Appell an die gemeinsame Religion, auch an außerhalb der städtischen Zentren lebende, mit geringem Bildungsstand ausgestattete und wenig politisierte Bevölkerungsschichten heranzutreten. Das einfache Identifikationsmerkmal der gemeinsamen Religion konnte dort greifen, wo komplexere theoretische Begründungen des nationalen Befreiungskampfs und vergleichsweise abstrakte, politische Begrifflichkeiten nicht dieselbe unmittelbare Wirkung entfaltet hätten. 10 Innerhalb der algerischen Nationalbewegung gab es auch Kräfte, die vor allem für die eigene Religion eintreten wollten. In der Regel bildete die Religionszugehörigkeit in ihren Augen weitaus eher ein Merkmal zur Selbstidentifikation des größten Teils der algerischen Bevölkerung, als dass sie für die Idee eines islamischen Staates gekämpft hätten. Daher bezeichneten einige Teilnehmer ihren Kampf 8 Schmid, S. 95. Es ist nicht Thema dieses Aufsatzes, den algerischen Unabhängigkeitskrieg nachzuerzählen. An der Thematik Interessierten sei die Monographie des Briten Alistair Horne „A Savage War of Peace“ (London 1977) sowie das zweibändige Werk von Muhammad Harbi und Benjamin Stora „La Guerre d’Algérie. 1954-2004: La fin de l’amnésie“ (Paris 2004, ND Alger 2004) empfohlen. Eine kurze (10-seitige) Übersicht über die Ereignisse 1954-1962 findet sich im Internet bei „The Free Dictionary“ unter dem Titel „Algerian revolution“. Herunterzuladen unter http://encyclopedia.thefreedictionary.com/ Algerian%20revolution. 9 Im folgenden lehnt sich die Darstellung teilweise an die überzeugende wissenschaftliche Argumentation von Schmid, Bernhard: Algerien. Frontstaat im globalen Krieg? Neoliberalismus, soziale Bewegungen und islamistische Ideologie in einem nordafrikanischen Land. Münster (2005) an. 10 8 Schmid, S. 95. als einen Jihad.11 Und besonders in ländlichen Gegenden war mitunter auch vom Kampf gegen die Rumi (Franzosen) die Rede, womit an noch ältere Überlieferungen des Kollektivgedächtnisses angeknüpft wurde — denn der Begriff kommt von den alten Römern, die dereinst die ältesten, von Norden her einfallenden Invasoren bildeten.12 Die FLN untersagte ebenfalls ihren Kämpfern und der algerischen Bevölkerung, Alkohol zu konsumieren, als Zeichen eines vom Islam her legitimierten Herrschaftsanspruch gegen „unerlaubte“ Genussmittel, das aber auch mit der Kriegssituation, in der es nicht angemessen sei, sich zu amüsieren, gerechtfertigt wurde. So erließ die FLN am 30. Oktober 1955 ein solches Verbot; Zuwiderhandelnden wurde gedroht, ihnen die Nase oder die Lippen oder die Zunge oder die Ohren abzuschneiden, was in einigen Fällen auch passierte.13 Die algerische Nationalbewegung definierte sich im Programm der FLN, das anlässlich des Congrés de la Soummam 1956 in den „befreiten Gebieten“ angenommen wurde, selbst als im Kern laizistisch.14 Dieses Dokument verlor jedoch schon bald faktisch an Bedeutung, nachdem in den späten fünfziger Jahren die Militarisierung der FLN einsetzte und die „politischen“ Elemente der Befreiungsfront zunehmend zugunsten der Militärorganisation zurückgedrängt wurden.15 11 Unter „Jihad“ ist hier der bewaffnete Kampf der Muslime gegen Nichtmuslime zu verstehen. – Im Parteiprogramm der islamistischen FIS (veröffentlicht am 07.03.1989) heißt es darauf anspielend: „(...) Vor allem war die algerische Armee immer eine „Jihad“-Armee, allzeit bereit zur Verteidigung der Religion, der Einheit und der glorreichen unbesiegbaren Gemeinschaft des Islam. Mit einem Wort, die algerische Armee war gefürchtet und ihre Stimme war laut und deutlich.“ (Borchardt, S. 135). 12 Bis heute wachsen algerische Kinder mit folgenden Vers auf: „Qittati saghira, ismuha Namira, sha`ruha tawila, ainuha zarqa, ummuha rumiyya, la ta`rif arabiyya“ („Meine Katze ist klein, sie heißt Namira, hat lange Haare, blaue Augen, ihre Mutter ist Römerin (=Christin), sie kann kein Arabisch“). 13 Schmid, S. 97f. 14 Text des Programms der FLN (sog. „Plattform von Soummam“), das auf dem Kongress von Soummam (d.h. im Forsthaus von Iqbal im Tal von Soummam in der Kabylei) verabschiedet wurde, siehe im Internet unter www.elmouradia. dz/francais/symbole/symbolefr.htm. 15 Schmid, S. 97f. 9 Anlässlich der erreichten nationalen Unabhängigkeit Algeriens 1962 kommt es mancherorts zu Szenen, die von einem religiösislamischen Triumphgefühl zeugen. So begibt sich im ostalgerischen Guelma eine größere Menschenmenge, unter Führung des örtlichen Imam, zu den antiken römischen Tempeln der Stadt, um unter Rufen wie „Keine Götzen mehr“ dort befindliche Statuen zu zerstören. In einer ebenfalls im nordöstlichen Algerien, zwischen Constantine und der Küstenstadt Jijel, liegenden kleineren Stadt namens Mila wird eine Frau wegen „Ehebruchs“ gesteinigt. In der südalgerischen Saharastadt Adrar erhält ein Haschischraucher in der Öffentlichkeit Peitschenhiebe wegen seines „unmoralischen Verhaltens“.16 Aus Sicht der späteren Islamisten endet die Kolonisierung nicht 1962; sie setzt sich vielmehr als permanente kulturelle Aggression des Westens fort, der ständig Einhalt geboten werden muss. 1.4 Die ersten Ansätze und Vorläufer des Islamismus nach der Unabhängigkeit In den frühen Jahren nach der Unabhängigkeit war die gesellschaftliche Realität in Algerien weit von der Vorstellung eines Religionsstaats entfernt; auch wenn der Islam im politischen Diskurs eine große Bedeutung besaß - doch anfangs eher im Sinne einer religiös-kulturellen Abgrenzung vom kolonialen Erbe. Bei den Debatten in den frühen sechziger Jahren, die der Verabschiedung der „Nationalen Charta“ der Nationalen Befreiungsfront (FLN) (der sog. „Charta von Algier“) von 196417 voraus gingen, traten z.B. sehr viele FLNMitglieder dafür ein, den islamischen Fastenmonat Ramadan nicht länger zu respektieren, weil dies dem nationalen Aufbau nach dem Ende des Befreiungskrieges hinderlich sei.18 Auf der anderen Seite gab es zu dieser Zeit jedoch ebenfalls die Forderung, aufgrund des hohen Frauenüberschusses nach dem Befreiungskrieg die rechtliche Möglichkeit für die Männer zu schaffen, statt vier – nach dem 16 Harbi, Muhammad: Le F.L.N. Mirage et réalite. Paris (1980), S. 364; zit. nach Schmid, S. 98. 17 Text der „Charta von Algier“ der FLN von 1964 siehe im Internet unter www.elmouradia.dz/francais/ symbole/symbolefr.htm. 18 Schmid, S. 100. 10 islamischen Recht – nun sogar sechs Frauen zu heiraten. Dieses wurde jedoch bald darauf wieder verworfen.19 Im Laufe der Jahre, und parallel zur Entwicklung der FLN zur immer stärker konservativen und auf reinen Machterhalt ausgerichteten Staatspartei, änderten sich jedoch die Inhalte, mit denen die Begriffe gefüllt wurden. Anfänglich eher eine bloße symbolische Hülle, die sehr materiell begründete Vorstellungen von einer neuen Sozialordnung umgab, wandelten sich die Bezüge auf den Islam und das Arabertum — je mehr die greifbaren sozialen Versprechungen der neuen Staatsmacht an die algerische Bevölkerung abnahmen — immer stärker zum eigentlichen Inhalt des Diskurses. Und die neue islamistische Opposition, die ab den frühen achtziger Jahren unter den oppositionellen Kräften dominierend geworden war, suchte die herrschende Oligarchie auf diesem Gebiet noch zu übertrumpfen.20 Die frühesten Kristallisationskerne für die spätere islamistische Bewegung bilden sich schon ziemlich bald nach der Unabhängigkeit heraus. Am Ende des Jahres 1964 entsteht die Vereinigung AlQiyam (Die Werte). Ihr Gründer ist Al-Hachemi Tijani, doch ihr eigentlicher theoretischer Kopf ist Malik Bennabi (1905 bis 1974). Letzterer war ein wohlhabender Intellektueller mit Ingenieursausbildung, der in seinem Werk sich auch auf die Schriften kulturalistischer oder kulturpessimistischer Autoren der europäischen Rechten wie Oswald Spengler oder den französischen Kultur- und Rassentheoretiker Gustave Le Bon berief.21 Malik Bennabi hat bereits 1954 in einem französischen Verlag sein Buch „Berufung des Islam“ veröffentlicht, das später — 1970 — durch die Universität von Algier neu aufgelegt werden wird. Bennabis These ist jene von der colonisabilité, der „Kolonisierbarkeit“ Algeriens: Da das nordafrikanische Land durch Frankreich unterworfen worden ist, liegt die Schuld — oder zumindest Mitschuld — daran auf der algerischen Seite. Malik Bennabi und die „Werte“Vereinigung kamen auf folgenden Gedanken: Die ursprüngliche „Reinheit“ des Islam sei in jener Zeit „verdorben“ worden, nämlich 19 Kuske, Silvia: Reislamisierung und Familienrecht in Algerien. Der Einfluss des malikitischen Rechts auf den „Code Algérien de la Famille“ (=Islamkundliche Untersuchungen, Bd. 205). Berlin (1996), S. 35f. 20 Schmid, S. 100. 21 Schmid, S. 100f; vgl. Faath, Sigrid: Algerien. Gesellschaftliche Strukturen und politische Reformen zu Beginn der neunziger Jahre. Hamburg (1990), S. 269f. 11 indem man duldete, dass unterschiedliche außerislamische Einflüsse — aus nomadischen Traditionen, aus religiösen Einflüssen im Mittelmeeraum, aus den Praktiken verschiedener Königshäuser — in die religiöse Praxis einfließen konnten. Deswegen sei Algerien so schändlich schwach gewesen, als die kolonialen Eroberer anrückten, habe also seine Unterwerfung geradezu herausgefordert. Im Jahr 1965 schreibt Malik Bennabi seine These in Gegenwart hinein fort und spricht von der neocolonisabiIité, also der Anfälligkeit Algeriens für neokoloniale Einflüsse. Die einzige Rettung bietet, der Sicht von Al-Qiyam, die Rückkehr zu „rein islamischen Werten“, die allen „importierten“ Ideologien — dazu gehört aus ihrer Sicht der Sozialismus, aber auch der Populismus des FLN, aber keinesfalls der Islam selber, der bekanntermaßen nicht in Algerien, sondern auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist - überlegen seien.22 Nach anfänglicher Tolerierung unter Ben Bellah wird unter der Präsidentschaft von Houari Boumedienne Al-Qiyam später verboten. Im September 1966 erlässt der Präfekt von Algier ein Verbotsdekret, doch es scheint auch danach noch — intellektuelle — Aktivitäten der Gruppierung zu geben; im März 1970 erlässt der Innenminister ein neues, endgültiges Verbot. Nichtsdestoweniger können Malik Bennabi und seine Mitstreiter als erste Wegbereiter des Islamismus in Algerien gesehen werden. In ähnlicher Weise wie anfänglich die Vereinigung Al-Qiyam, genossen auch die Religionsvertreter der Ulema in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit eine gewisse Unterstützung oder zumindest Toleranz — um als Gegengewicht zum tatsächlichen oder vermeintlichen „marxistischen Einfluss“ zu wirken. Ihre ideologische Arbeit soll vor allem bewirken, dass die „soziale Frage“ moralisch aufgeladen wird: Soziale Gerechtigkeit, Verteilungsfragen und die Beteiligung aller am nationalen Aufbau nach den Kriegsschäden und der Unabhängigkeit sollen als Probleme der Moral erscheinen — nicht aber unter materialistischen Gesichtspunkten als Klassenbeziehungen erörtert werden.23 Einer der wichtigsten Vertreter dieser Strömung war der FLNMinister Ahmed Taleb Ibrahimi. Es handelte sich um den Sohn eines der wichtigsten Köpfe der Ulema-Geistlichen vor dem Unabhängigkeitskrieg, Bachir Al-Ibrahimi; dieser selbst trat nach dem Kriegsen22 Schmid, S. 101. 23 Schmid, S. 101. 12 de in Opposition zur FLN, indem er sich im August 1964 explizit gegen den „sozialistischen“ Bezug der Staatspartei aussprach. Sein Sohn jedoch erhält, nach dem Militärputsch des 19. Juni 1965, trotz grundsätzlich ähnlicher politischer Orientierungen vom neuen Staatspräsidenten Boumedienne zuerst das Erziehungs-, dann das Kultur- und später das Informationsministerium übertragen. Nach dem Tode Boumediennes wird Ahmed Taleb Ibrahimi dann zunächst Berater des neuen Präsidenten Chadli Bendjedid und anschließend, von 1982 bis 1988, algerischer Außenminister. Er wird also über zwei Jahrzehnte lang als Minister in wechselnden Funktionen amtieren.24 Taleb Ibrahimi macht sich schon früh zum Fürsprecher einer von ihm so genannten „Kulturrevolution“ - eine Revolution, die aber hauptsächlich rückwärts gewandt ist, da er unter ihr „eine Rückkehr zu den Quellen, zur Authentizität, um mit der Vergangenheit wiederanzuknüpfen“ versteht. Als Erziehungsminister leitet er eine Kommission, welche „die Werte, auf denen der Umbau des Bildungswesens beruhen soll“ zu ergründen hat. Bei der Vorstellung ihres Abschlussberichts stellt Ahmed Taleb Ibrahimi klar, dass die islamische Religion dabei im Mittelpunkt zu stehen hat: „Die anderen Werte verdanken ihre Bedeutung, ihre Existenz oder ihre Anerkennung nur (der Tatsache, dass sie) mit dem Islam in Einklang gebracht werden oder dass sie aus ihm abgeleitet werden oder ihm untergeordnet werden.“ Die Einflussnahme solcher „Islamo-Nationalismen“ innerhalb der FLN auf die schulische Erziehungspolitik aber wird nicht ohne Folgen bleiben. Denn schon früh wird algerischen Schülern und Schülerinnen beispielsweise eingetrichtert werden, die ersten, die für die Unabhängigkeit Algeriens gegen den Kolonialismus gekämpft hätten, seien die religiösen Ulema-Geistlichen gewesen. Das ist eine historische Falschbehauptung, doch diese Geschichtsklitterung soll Jahrzehnte lang die Weltsicht von Generationen algerischer Jugendlichen entsprechend beeinflussen.25 Ein Konflikt zwischen sich selbst als „islamisch“ definierenden Strömungen und dem FLN-Staat, der zur Strukturierung einer islamistischen Opposition führt, wird die im November 1971 eingeleitete Agrarreform (Reforme agraire) bilden. Die Bodenreform mit unverkennbar sozialistischer Attitüde und einer in der Praxis weitgehend 24 Schmid, S. 102. 25 Schmid, S. 102f. 13 dilettantischen Umsetzung, die sich ebenfalls gegen Großgrundbesitzer aus dem konservativ-islamischen Bevölkerungsspektrum richtet, inspirierte auch Islamisten zu gewalttätigen Handeln.26 In den 1970er Jahren begannen Personen wie Mahfoud Nahnah mit seinen Gesinnungsgenossen Mohamed Bouslimani und Taher Zetchi Sabotageakte zu verüben. Nachdem beide zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, amnestierte sie der neue Präsident Chadli Benjedid gleich nach seiner Amtsübernahme 1979. Auf der anderen Seite bekamen gerade unter seiner Regierung Islamisten immer stärker die Möglichkeit, die algerische Gesellschaft in ihrem Sinne zu beeinflussen. So wirkten Arabischlehrer, die aus Syrien und Ägypten ins Land geholt wurden und oftmals Anhänger der islamistischen Muslimbruderschaft waren, im Sinne ihrer Ideologie.27 Die Ursachen für das Entstehen des Islamismus hat also die FLNRegierung in erster Linie durch eine fehlgeleitete Bildungs- und Gesellschaftspolitik selbst zu verantworten. Eine weitere Ursache ist in der ebenfalls von Anfang an unüberlegten und kurzsichtigen Wirtschaftspolitik zu sehen. In den ersten 15 Jahren nach der Unabhängigkeit nutzte das Regime die Einnahmen aus den reichen Erdölund Erdgasvorkommen zum Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens und zur Industrialisierung des Landes, doch gleichzeitig sicherten die FLN-Funktionäre sich die Herrschaft über die zahlreichen staatlichen Unternehmen; rentables Wirtschaften war Nebensache. Das Bevölkerungswachstum seit den 1960er Jahren war ausdrücklich gewünscht; so war es bis in die späten 1980er Jahre verboten, Verhütungsmittel nach Algerien einzuführen. Korruption, Unfähigkeit und die Nichteinhaltung von Reformversprechen taten ein Übriges, um den Rückhalt der FLN und den aus dem Militär hervorgegangenen Präsidenten Chadli Benjedid (1979-1992) im Volk zu unterminieren.28 Die strukturelle Krise in Algerien führte seit Mitte der achtziger Jahre zu Massenstreiks und ersten gewalttätigen Protestbewegungen. Die 26 Kebir, Sabine: Zwischen Traum und Alptraum. Algerische Erfahrungen. Düsseldorf u.a. (1992), S.50-62; Schmid, S. 106. 27 Hierzu siehe Kebir, Sabine: Zwischen Traum und Alptraum. Algerische Erfa hrungen. Düsseldorf u.a. (1992), S. 72-76. 28 Grobe, Karl: Unheimliche Machtfaktoren. Noch immer ziehen die Militärs die Fäden in Algerien. In: Frankfurter Rundschau, Frankfurt a.M., 15.05.2003. Herunterzuladen unter http://www.algeria-watch.de/de/artikel/touristen/ militaer_faeden.htm, S. 1. 14 FLN-Führung suchte einen Ausweg in der Verabschiedung einer neuen Verfassung, die zum ersten Mal seit 1963 ein Mehrparteiensystem zuließ. Inzwischen hat das System einen gefährlichen Herausforderer gefunden, der — im Schatten der Ein-ParteienHerrschaft — über die Jahre hinweg beinahe unbemerkt heranwachsen konnte und jetzt erstmals offen seine gesellschaftliche Macht demonstriert. Der radikale Islamismus schwingt sich bis 1988/89 zum politischen Akteur ersten Ranges auf, der nunmehr alsbald die Machtfrage stellen wird. Er tritt in Gestalt mehrerer Organisationen und politischer Parteien auf; doch eine von ihnen wird in naher Zukunft eine dominierende Stellung einnehmen: Die FIS, die am 21. März 1989 gegründet wird.29 Aufgrund des Erdrutschsiegs des FIS bei den ersten pluralistischen Kommunalwahlen am 12. Juni 1990 kann die islamistische Partei die Rathäuser aller größeren Städte erobern. Damit erscheint der FIS nun als Anwärter auf die politische Macht. Aus welchen Gründen konnte der gesellschaftlich reaktionäre politische Islamismus, in den Augen vieler Menschen in Algerien als überzeugende Alternative zum bisherigen „realsozialistischen“ System erscheinen? 30 Im folgenden soll untersucht werden, wie es der FIS gelang, so schnell aufzusteigen. 1.5 (Post-)Koloniales Kollektivgedächtnis und Islamismus Den Ausgangspunkt einer gründlicheren Analyse des Islamismus kann ein Zitat besonders gut umreißen. Vor nunmehr 20 Jahren erklärten der US-Amerikaner afghanischer Herkunft Zalmay Khalilzad und seine Ehefrau Cheryl Bernard in ihrem 1984 in New York publizierten Buch über „The Government of God. Iran‘s Islamic Republic“ (Deutsch: „Gott in Teheran“, Frankfurt a./M. 1988, hier zitiert von S. 38) die islamische Revolution wie folgt: „(...) Pseudo-moderne Eliten (...) sitzen an den Schalthebeln der Macht und arrangieren sich mit den Großmächten und dem internationalen System. Daneben aber existieren die traditionellen Eliten fort und behalten bedeutende Teile ihres Einflusses, sowohl materiell als auch kulturell und ideell. Während sie unter anderen Umständen als die Großgrundbesitzer, die rückständigen Traditionalisten und die privilegierten Eliten, die sie tatsächlich sind, bekämpft werden könnten, hat die Struktur 29 Schmid, S. 91. 30 Schmid, ebd. 15 der Nord-Süd-Beziehungen ihnen eine nationalistische und sogar revolutionäre Note verliehen. Heute streiten sie um die Restauration ihrer Macht und ihrer Privilegien — aber sie bedienen sich des Vokabulars der nationalen und kulturellen Befreiung und Selbstbehauptung und der entsprechenden Volksstimmung.(...)“31 Im hier zu untersuchenden Beispiel Algerien vermag diese Darstellung allein die Situation (noch) nicht hinreichend zu erklären. Denn tatsächlich hat in Algerien seit langem ein Austausch der gesellschaftlichen Eliten stattgefunden, der es verbietet, den dortigen Islamismus einfach als politische Ausdrucksform alter, feudaler Führungsschichten mit lediglich aufgefrischter Legitimation zu interpretieren. Eine der Hauptursachen dafür bildeten die Ergebnisse des Kolonialismus, der auf Algerien — als Siedlungskolonie und juristischen Vollbestandteil des Mutterlands Frankreich — anders einwirkte als auf andere, durch die westlichen Großmächte unterworfene Länder. Der größere Teil der alteingesessenen Eliten ging seiner traditionellen sozialen Positionen, seines Landbesitzes und seines Status verlustig. Der größte Teil der Bewohner seinerseits wurde aus seinen vorherigen gesellschaftlichen Rollen herausgerissen und in eine soziale Schicht verarmter (Sub)Proletarier – auf Zeit beschäftigte Landarbeiter, Tagelöhner und Hausdiener 32 - gedrängt. Eine wichtige Ursache für den Aufstieg des Islamismus liegt darin, dass Werte wie die der Aufklärung, der bürgerlichen Demokratie, des Laizismus dadurch diskreditiert werden konnten, dass die Protagonisten der kolonialen Gesellschaft sie beständig auf den Lippen führten. Besonders im algerischen Beispiel ist der Widerspruch frappierend: Die Devise der Französischen Revolution (Liberté, Egalité, Fraternité) prangte, wie auf alten Fotos zu sehen ist, auf sämtlichen öffentlichen Verwaltungsgebäuden im „französischen Algerien“ (Algérie française). Und der republikanische Laizismus — also die Trennung zwischen Staat und Kirche — war ab 1905 auf dem gesamten französischen Territorium, und damit auch in den drei Départements in Algerien, offizielle Doktrin. Zugleich aber herrschte in dem nordafrikanischen Land weiterhin ein religiös begründetes Apartheidsystem, denn aus der Zugehörigkeit zu einer der konfessi31 Khalilzad, Zalmay / Bernard, Cheryl: Gott in Teheran. Frankfurt a.M. (1988), S. 38, zit. n. Schmid, S. 91f. 32 Schmid, S. 92. 16 onell definierten Gruppen (Christen, Juden, Moslems) leitete sich für den Einzelnen eine je unterschiedliche Rechtsstellung ab. Dabei musste ein „Muslim“ seine hinreichende Assimilation — durch Abschwören gegenüber den „seiner“ Gruppe eigenen sozialen Regeln — beweisen, um in die mit vollen Bürgerrechten ausgestattete Kategorie aufsteigen zu können. Insofern verwundert es nicht, dass in den Augen vieler Bewohner des „französischen Algerien“ die aufklärerischen, republikanischen und laizistischen Staatsideale seitens der Republik als üble Heuchelei erscheinen konnten, hinter der sich ein brutales Unterdrückungsverhältnis verberge.33 Dennoch entstand der moderne politische Islamismus, wie er vor allem seit der Machtübernahme durch Ayatollah Khomeini im Iran 1979 bekannt wurde — mit bedeutenden Unterschieden zwischen seinen jeweiligen nationalen Erscheinungsformen — keineswegs als spontane, unmittelbare Reaktion auf den Kolonialismus.34 1.5 Die Agrarreform und die „islamische“ Opposition Das Hauptziel der Agrarreform, die schon seit langem im Programm des FLN gefordert worden war, besteht in der Auflösung des Großgrundbesitzes, der bereits in der vorkolonialen Epoche einen großen Teil des fruchtbaren Ackerbodens umfasste. Nach anfänglichen Teilerfolgen wurde in den späten siebziger Jahren die Agrarreform zum teilweisen Fiasko. Im Übrigen wird der vom Staat kontrollierte Sektor — er umfasst die kollektiv wirtschaftenden „sozialistischen Dörfer“ und jene von der Bodenreform profitierenden Bauern, die künftig an staatliche Einkaufzentralen verkaufen sollen — durch die Politik der Nomenklatura systematisch ausgetrocknet. Denn die staatlichen Einkaufzentralen werden den Bauern und Agrarbetrieben ihre Preise vorschreiben, die unterhalb der offiziell per Regierungsdekret festgelegten Ankaufpreise liegen, welche im Privatsektor praktiziert werden. Gleichzeitig aber verwenden die durch die nomenklaturistische Bürokratie kontrollierten Handelszentralen die von ihnen erworbenen Agrarprodukte aber oft nicht, um eine preiswerte Ernährung der Bevölkerung zu ermöglichen und um sie an die staatlichen Einkaufsmärkte abzugeben — sondern um sie ihrerseits zu überhöhten Preisen auf parallele Distributionskanäle in die Schattenwirtschaft umzulenken. Diese Entwicklung führte schließlich zu 33 Schmid, S. 92f. 34 Schmid, S. 95. 17 einer weitgehenden Diskreditierung jeglicher staatlicher Administration durch weite Teile der algerischen Bevölkerung.35 Auf der anderen Seite opponierten ehemalige Großgrundbesitzer und andere sozial konservative Kräfte ebenso gegen die Agrarrevolution wie die in Algerien aktiven Muslimbrüder - viele von ihnen waren aus Ägypten und Syrien als Arabischlehrer ins Land geholt worden — und einheimische islamisch-konservative Oppositionskreise. Sie stießen nun auf offene Ohren, auch bei einem Teil der vormaligen armen Landbevölkerung selbst.36 Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass die durch ehemalige Großgrundbesitzer — im Zuge ihrer „Entschädigung“ — vom Staat kassierten, oft beträchtlichen Summen nunmehr reinvestiert werden können. Die FLN-Regierung hatte gewünscht, dass diese in den Aufbau einer Privatindustrie fließen würden. In Wirklichkeit landen die Gelder aber zu einem großen Teil anderswo: Teilweise wurden sie in die politische Propaganda beispielsweise in den Moscheen, deren Anzahl rapide wächst, gesteckt; teilweise fanden sie eine Anlage im Aufbau schatten-wirtschaftlicher Strukturen, oft derselben, die zur Krise des staatlichen Agrarsektors beitragen. Beide „Anlagesphären“ werden im Übrigen miteinander verbunden bleiben; denn später, in den achtziger Jahren, wird die wachsende islamistische Bewegung der Betätigung in der Schattenwirtschaft eine religiöse Legitimation verleihen: Wer auf dem Schwarzmarkt aktiv ist, bezahlt keine Steuern an den verhassten taghout (Götzen), den „gottlosen Staat“.37 1.6 Die „Arabisierung“ Algeriens In den frühen siebziger Jahren rückte der Elan der Agrarreform dann die kulturellen und sprachlichen Arabisierungsbemühungen zunächst ein wenig in den Hintergrund. Doch in mehreren Schüben wird die Sprachpolitik, die auf eine Substituierung des Französischen durch das Arabische hinauslaufen soll, im Laufe der siebziger Jahre (re)aktiviert. Beginnend mit der Hochschulreform von 1971, soll der Unterricht in einer Reihe universitärer Lehrfächer sukzessive auf die arabische Sprache umgestellt werden. Das gilt zunächst nur 35 Schmid, S. 106-108; vgl. hierzu Kebir, S. 50-62. 36 Schmid, S. 109. 37 Schmid, S. 109. 18 für die gesellschafts- und literatur-, nicht aber für die naturwissenschaftlichen Fächer.38 Auch der Grundschulunterricht wird ab 1973/74 bereits ab den ersten beiden Jahren arabisiert, wobei aber das Französische zunächst noch als von Anfang an unterrichtete Fremdsprache präsent bleibt. In den höheren Klassen wird anfänglich der Unterricht in den sprach- und gesellschaftswissenschaftlichen Fächern auf Arabisch, doch in den naturwissenschaftlichen Fächern auf Französisch gehalten. Später wird wiederholt versucht, die französische Sprache aus der Schule zu ver- und in die Universitäten abzudrängen. Doch bis heute bleibt die Sprache der früheren Kolonialmacht als Fremdsprache in allen algerischen Schulen von der Grundschule ab präsent, auch wenn ihr Einfluss im Alltagsleben vor allem in Nordostund Ostalgerien mittlerweile stark abgenommen hat.39 Auch die arabischsprachigen Schulbücher, die z.B. im Geschichtsunterricht den algerischen Kindern den vermeintlich „heroischen“ Befreiungskampf verherrlichen, änderten daran nur wenig.40 Die konkrete Durchführung der Arabisierungspolitik wirft eine Reihe von Problemen auf. So handelt es sich bei dem in Algerien real gesprochenen Maghreb-Arabisch und der nun amtlichen arabischen Hochsprache um zwei doch relativ unterschiedliche Dinge — auch wenn beide aus einer gemeinsamen Wurzel stammen. Der Unterschied war wohl ursprünglich ungefähr so groß wie jener zwischen Hochdeutsch und dem einen oder anderen süddeutschen Dialekt. Dieses sprachliche Spezifikum und das Nebeneinander von Schriftund gesprochenem Arabisch kann man zwar im Prinzip als Bereicherung ansehen, doch wird es zum Problem, wenn es dazu führt, eine neue offizielle Amtssprache einzuführen, die von einem Teil der Bevölkerung — so, wie sie praktiziert werden soll — nicht oder nur unzureichend verstanden wird. Auf diesem Wege kann man, bei fortschreitender Arabisierung des öffentlichen Lebens und der Verwaltung, faktisch ein Zwei-Klassen-System schaffen, in welchem der 38 Schmid, S. 112f. 39 Schmid, S. 113f. 40 Als ein Beispiel für ein solches Geschichtsbuch sei das folgende genannt: alJumhuriyya al-Jaza’iriyya al-Dimuqratiyya al-Sha’abiyya. Wizarat al-Tarbiyya alWataniyya [Demokratische Volksrepublik Algerien. Ministerium für Nationale Volkserziehung]: Kitabi fil-Ta’rikh. al-Sanna al-khamisa min al-ta’lim al-asasi [Mein Geschichtsbuch. Für die fünfte Hauptschulklasse]. al-Jaza’ir [Algier] (2003). 19 Zugang zu Ämtern oder zur Justiz vom Bildungsniveau abhängt. Oder auch von dem Zeitpunkt, zu dem die Bildungskenntnisse erworben wurden: vor oder nach der Arabisierung dieser oder jener Stufe des Ausbildungssystems.41 Ein zweites Problem hängt damit zusammen, dass das unabhängige Algerien aus den genannten Gründen vor allem in der Anfangsphase einen Mangel an qualifizierten Arabischlehrern aufwies. Deswegen werden zahlreiche Lehrkräfte „importiert“, vor allem aus Ägypten und Syrien. Viele dieser Lehrer gehören jedoch der — dort bereits früh entwickelten, aber durch die arabisch-nationalistischen Regime in ihrer Ausbreitung gehemmten oder unterdrückten – islamistischen Bewegung der Muslimbrüder an; die Betreffenden sind froh, ein neues Betätigungsfeld in Algerien vorzufinden, und die Regime ihrer Herkunftsländer sind froh, sie loszuwerden. Entsprechend können ihre Ideen Einfluss auf das Schulwesen nehmen, das sich ohnehin im Visier der Ulema-Vertreter im Erziehungsministerium befindet. „Die algerische Schule als Brutstätte des islamistischen Terrorismus“ ist ein Topos, der bis heute insbesondere von Vertretern kabylischer Parteien vorgetragen wird.42 Oftmals gingen nun diese jungen, oft erwerbslosen oder dieses künftige Schicksal während ihres Studiums vor Augen habenden, Angehörigen einer „Gegenelite“ in die Moscheen oder in neu entstehende, aktivistische islamistische Gruppen, die an den Universitäten ihre Propaganda durchführten. Diese islamistischen Gruppen werden dadurch begünstigt, dass die Regierung ab spätestens 1978 ihnen gegenüber die Zügel locker lässt. Geht es doch darum, so Bernhard Schmid, die lästig gewordenen Partner von gestern — die linksgerichteten Studenten und ihre Sympathisanten, die marxistische Rhetorik benutzenden Anhänger der Agrarreform – zurückzudrängen und ihren Einfluss zu stutzen. 43 1.7 Islamistische Gewalt an den Universitäten Ab Mitte der siebziger Jahre machen sich islamistische Strömungen in wachsendem Maße an den Universitäten bemerkbar. Im Mai 1975 kommt es erstmals zu gewaltsamen Zwischenfällen mit linksgerichteten Studierenden an einer Hochschule in Algier, die mehrere 41 Schmid, S. 113f. 42 Schmid, S. 114. 43 Schmid, S. 114. 20 Schwerverletzte hinterlassen. Dabei überlappen sich der Konflikt zwischen französisch- und arabischsprachigen Studenten und jener zwischen Anhängern und Gegnern der Agrarreform. Vor allem ab dem Tod Boumediennes zum Jahreswechsel 1978/79, nehmen die ersten islamistischen Aktivisten an Bedeutung und Präsenz zu. Auch die zeitliche Parallele zum Sieg der Islamischen Revolution im Iran Anfang 1979, der den Aufbau einer „Islamischen Republik“ zur Folge hatte, spornt viele ihrer Anhänger an. 44 An der Hochschule im ostalgerischen Constantine etwa werden solche Gruppen in den Jahren von 1976 bis 1981 zunehmend die „progressiven“, orthodox-kommunistischen oder sonstigen marxistischen Studentengruppen vom Universitätsgelände verdrängen. Durch aggressives Vorgehen und teils mit Waffengewalt wurden ihnen die Versammlungslokale abgenommen, ohne dass die staatlichen Sicherheitskräfte dagegen einschritten. Die anschließend „gereinigten“ Räumlichkeiten wurden oftmals in Gebetsräume umgewandelt. Im Februar 1981 wird an der Hochschule die „Islamische Buchmesse“ eingeweiht. Dort wird mit Hilfe beispielsweise von Zeitungsausschnitten aus der westlichen Presse über Drogenprobleme, Punkmode, Homosexualität und Transvestiten der „pervertierte und dekadente Charakter“ jener Gesellschaften dokumentiert und angeprangert, die sich fälschlicherweise als kulturell überlegen betrachteten. Um deren drohenden Übeln zu entgehen und nicht mit in den Niedergang gerissen zu werden, bleibe nur die Rückkehr zu wahren islamischen Werten, die allein ein Gedeihen des eigenen Landes gewährleisten könnten.45 Ein weiteres Betätigungsfeld, neben der aggressiven Verdrängung linker Gruppen, bietet die Kampagne für die „Moralisierung“ des Lebens auf dem Campus und, vor allem, in den Studenten- und Studentinnen-Wohnheimen. Es gilt aus ihrer Sicht, der verderblichen mixte- (Geschlechtermischung) Einhalt zu gebieten, zur „Unmoral“ einladende Kontakte zu unterbinden und „untugendhafte“ Kleidungsformen zu verbannen. In den späten siebziger Jahren kommt es zu den ersten spektakulären Gewalttaten: Im April 1979 werden Studentinnen, die angeblich „unanständig bekleidet“ sind, an der Universität von Oran mit chlorhaltiger Säure bespritzt und müssen ins Krankenhaus eingeliefert werden. Im selben Monat ereignen sich 44 Schmid, S. 118f. 45 Schmid, S. 119. 21 ähnliche Zwischenfälle im zentralalgerischen Médéa. Nach weiteren eskalierenden Gewaltaktionen – insbesondere an der Universität von Algier – geht die algerische Polizei schließlich gegen die gewalttätigen Islamisten vor und verhaftet einige von ihnen.46 Doch diese Reaktion der Staatsgewalt wird ihrerseits den symbolkräftigen Gründungsakt der neuen politisch-ideologischen Bewegung auslösen. Denn als Antwort auf die Verhaftungen organisieren die Islamisten am 12. November 1982 eine Großveranstaltung in der Moschee der Zentraluniversität von Algier, an der 5.000 Personen teilnehmen. Aus diesem Anlass wird ein Manifest vorgestellt und durch die Anwesenden verabschiedet, das von drei Personen unterzeichnet und als Petition an die Behörden adressiert wird. Unterschrieben wird der Text von einem 51-jährigen Pädagogikprofessor an der Universität von Algier, Abassi Madani, dem späteren Parteivorsitzenden der „Islamischen Heilsfront“ FIS; dem alten Cheikh Abdellatif Soltani, der bereits 1974 sein Pamphlet „Der Mazdakismus47 ist die Quelle des Sozialismus“ veröffentlicht hatte; und einem weiteren religiösen Würdenträger, dem Cheikh Ahmed Sahnoun. Er kann als Grundlagenmanifest einer politisch-religiösen Bewegung gelten; in dem von Verschwörungstheorien getränkten Manifest heißt es dort wörtlich: „(...) Es besteht nicht der Hauch eines Zweifels daran, dass diese Zwischenfälle durch diejenigen provoziert wurden, das vom internationalen Kommunismus, vom Freimaurertum, von der Judenheit und vom amerikanischen Imperialismus gebildet wird; und mit der Kollaboration seiner Agenten, die den Kommunismus, den Rassismus und den Baathismus (gemeint ist hier: den säkularen Nationalismus) verbreiten. (...)“ 48 Angeprangert wird „(...) die Existenz von Elementen im Inneren des Staatsapparats, die unserer Religion feindlich gegenüber stehen und die nur ausführende Agenten der vom Kolonialismus ausgeheckten Pläne darstellen (...).“ Dazu gehöre die Verdrängung der Gebote Gottes, welche nur die logische Folge des kolonialistischen 46 Schmid, S. 119. 47 „Mazdakismus“ war eine politisch-religiöse Richtung im vorislamischen Persien mit teilweise egalitären Zügen. Für Islamisten ist dieser Begriff hingegen identisch mit Unglaube. 48 Schmid, S. 120f. 22 Eindringens in Algerien darstelle. Weiter heißt es: „(...) Die Politik Frankreichs (in Algerien), die auf die Entartung der familiären Keimzelle und auf das Erlaschen der Sitten abzielt, dauert immer noch an (...). Die in unseren Bildungs-, Verwaltungs- und wirtschaftlichen Institutionen durchgesetzte Geschlechtermischung ist ein alarmierendes Anzeichen für den moralischen und kulturellen Niedergang geworden. (...)“ Als Abhilfe gefordert wird Folgendes: „(....) Es ist unabdingbar, dieses Komplott zu vereiteln, durch eine Säuberung der Staatsinstitutionen von allen verräterischen Elementen auf der einen Seite und durch entschlossenes Handeln, um der Sabotage im eigenen Land ein Ende zu setzen, auf der anderen Seite. (...) Die Bestrafung für diejenigen, die die Würde, den Glauben, das Recht und die Moral der Nation angreifen, gemäß den Vorschriften der islamischen Schari’a (...).“ 49 Es wird deutlich, dass die Protagonisten der Erklärung von 1982 insbesondere die aus ihrer Sicht kulturelle Identität Algeriens bedroht sahen. Damit zeigt sich, dass Islamismus, wie Bernhard Schmid es darstellt, vor allem eine Erklärungshilfe ist, die es erlauben soll zu verstehen, warum die rückblickend verklärte „moralische Ordnung“ der ursprünglichen, reinen islamischen Gesellschaft zerstört wurde und warum „der Westen“ oder „der Kolonialismus“ triumphieren konnte. „Dem Westen“ können dabei wechselnde Vorwürfe gemacht werden, die sein behauptetes Verhalten erklären sollen. Mal wird ihm zur Last gelegt, das „christliche Kreuzfahrertum“ fortzusetzen und arrogant eroberisch aufzutreten; mal wird dem Westen eher vorgeworfen, „glaubenslos“ und „materialistisch“ geworden zu sein und deswegen keine Moral mehr kennen. Und mal wird eher auf den Einfluss „jüdischer“ oder „freimaurerischer Lobbies“ in seinem Inneren abgestellt und daraus seine Unterstützung für „den internationalen Zionismus“ abgeleitet — beim letzten Punkt ist die erkennbare Nähe zu rechtsextremen Ideologien in Europa wohl am größten. Aber das zentrale politische Projekt der Islamisten ist nicht die Vernichtung der „Rassefremden“, wie das besonders beim deutschen Nationalsozialismus der Fall war. Den radikalen Islamisten geht es vielmehr vorrangig um die „Wiedererrichtung der 49 Schmid, S. 121. 23 Moral“ in ihrer eigenen Gesellschaft, damit diese „gesunden“ und der „kulturellen Aggression des Westens“ standhalten kann. 50 Daher kann man von einem reaktionär-totalitären Charakter des (radikalen) Islamismus sprechen. Der Unterschied zum europäischen Faschismus, der ein Produkt von Gesellschaften mit kolonialem Eroberungsanspruch bildet(e) und selbst Weltherrschaftsansprüche erhob, liegt vor allem in seiner Einbettung in die globalen Nord-SüdBeziehungen - d.h. im realen Erlebnis des „Kolonisierungsschocks“ als Erfahrungsgrundlage, die seinen gesellschaftlichen Erfolg mit anderen Faktoren zusammen erklärt. Dagegen teilen beide politischen Phänomene ihren Charakter als von ihrer Form und Funktionsweise her moderne, wenngleich von ihrem Inhalt her reaktionäre Bewegungen, die sich selbst als subjektiven Ausdruck einer „Revolte“ begreifen. Denn auch der politische Islamismus ist kein konservativer Restbestand einer untergehenden Tradition, sondern entstand als eine moderne Massenbewegung.51 Grundsätzlich schwankt das Regime in jenen Jahren permanent zwischen der Aufwertung der Islamisten, zum Zweck ihrer Instrumentalisierung aus „Gegengewicht“ zu linken Strömungen in der Gesellschaft oder staatsozialistischen Tendenzen innerhalb der FLN, und ihrer Niederhaltung oder Kontrolle. Der Unterschied zwischen Regimekräften und Islamisten besteht tatsächlich in folgendem Punkt: Der „islamonationalistische“ Flügel der Islamisten will dem unabhängigen Algerien, statt eines gesellschaftlichen Projekts — wie Sozialismus oder Selbstverwaltung oder Industrialisierungspolitik —, eine eigene kulturalisierte „Identität“ verleihen. Dazu versucht er eine „neue algerische Persönlichkeit“ positiv zu definieren, d.h. mit Identifikationsmerkmalen zu füllen, etwa durch die Arabisierungspolitik oder die Islamisierung des Familiengesetzes. Dagegen definiert der Islamismus dieselbe Identität auf umgekehrte Weise überwiegend „negativ“, nämlich durch Ablehnung der bestehenden „verfremdeten“ Verhältnisse. Daraus folgt die Forderung nach Reinigung der algerischen Identität von fremden Einflüssen, durch Ausgrenzung und Ausschluss aller Elemente, die nicht dazugehören sollen. Das kann auch die herrschenden Eliten oder einen Teil von ihnen treffen.52 50 Schmid, S. 122. 51 Schmid, ebd. 52 Schmid, S. 123. 24 Insbesondere ist dies anhand der Aktivitäten der bewaffneten Untergrundorganisation „Mouvement Islamique Armée“ (MIA) (Bewaffnete Islamische Bewegung), auch „Mouvement Algérienne Islamique Armée“ (MAIA) (Bewaffnete Algerische Islamische Bewegung) zu sehen. Mostapha Bouyali, ein gefeierter Mujahid aus dem Wilayat IV,53 1982 Anführer der islamistischen Untergrundorganisation "Bewaffnete Islamische Bewegung Algeriens", machte zu dieser Zeit durch Anschläge auf Weindepots und Polizeistationen in seiner Heimatregion um Larbaa südöstlich von Algier von sich reden. Während des Ramadan 1982 suchte Bouyali Mahfoud Nahnah, ein ehemaliges „Al Qiyam“-Mitglied und früheren islamistischen Militanten in dessen Wohnung in Blida auf. Er erhoffte sich von Nahnah sowohl Unterstützung für seinen Guerillakampf als auch eine Erhöhung seines Ansehens durch diese Zusammenkunft, denn Nahnah galt damals bereits als einer der angesehensten islamistischen Politiker, die im Lager der vermeintlichen FLN-Gegner zu finden waren. Bouyali wusste jedoch nicht, dass Nahnah und der damalige Präsident Chadli Benjedid sich persönlich und politisch nahestanden. Als kurz nach diesem Treffen einige Angehörige der "Bewaffneten Islamischen Bewegung Algeriens" von staatlichen Sicherheitskräften verhaftet wurden, beschuldigte Bouyalis "Leutnant" Ahmed Merah Nahnah indirekt des Verrats. Bouyali konnte dagegen entkommen und führte seinen Guerillakleinkrieg bis Anfang März 1987 weiter, als er, von seinem Fahrer verraten, bei einem Feuergefecht mit der Gendarmerie ums Leben kam. In der Folge zeigte sich, dass der FLN-Staat stets zwischen Härte und Milde bei der Ahndung solcher Gewalttaten schwankte.54 Ein weiteres Indiz für ein Nachgeben und Einlenken der FLNRegierung gegenüber islamistischen Kräften in der Gesellschaft und innerhalb der eigenen Partei stellt das neue Familiengesetz dar. Im Jahr 1984 verabschiedet das algerische Parlament diesen Code de la familie. Es handelt sich um eine reaktionäre Gesetzgebung, welche der algerischen Frau im Prinzip den rechtlichen Stand einer Minderjährigen verleiht und die härtesten „islamonationalistischen“ Strömungen befriedigen soll. Auf zivilrechtlicher Ebene ist die Gesetzessammlung bezüglich der Frau und der Familie nunmehr zum Teil an der islamischen Schari’a orientiert, wenngleich einige Regeln 53 Biegel, Rainer: Die algerischen Präsidentschaftswahlen vom 19. November 1995. In: Orient 37(1996), S.273. 54 Kebir, S. 283. 25 vom orthodoxen islamischen Recht abweichen. Dagegen finden allerdings deren strafrechtliche Normen – mit körperlichen Züchtigungsstrafen im Falle von Ehebruch oder illegalen sexuellen Beziehungen — keine Anwendung, im Unterschied zum islamischen Recht wie im Iran und in Saudi-Arabien. Damit ähnelt die Situation in Algerien jener in mehreren anderen arabischen Staaten wie Ägypten.55 Durch den Code de la familie bleibt künftig eine Frau, solange sie nicht verheiratet ist, unter der rechtlichen Hoheit ihres Vaters wie eine Minderjährige; dieser kann allerdings rechtlich seine Tochter nicht ohne ihre Einwilligung zu einer Heirat zwingen. Im Prinzip kann ein Mann künftig auf legale Weise mehrere Ehefrauen haben: Er kann nach quranischen Regeln bis zu vier Frauen ehelichen, theoretisch unter dem Vorbehalt, dass er sie alle gleich behandeln kann; in der Praxis ist die Polygamie allerdings in Algerien heute sehr wenig verbreitet, und sei es, weil viele Männer es sich aus sozialen Gründen gar nicht leisten könnten. Eine muslimische Frau kann ferner gesetzlich keinen nicht-muslimischen Mann heiraten. Das Scheidungsrecht steht ohne Hindernisse nur dem Ehemann zu. Dagegen kann die Frau nur unter bestimmten, eng definierten Bedingungen — zum Beispiel wenn sie nachweist, dass der Mann dem Ehebett vier Monate lang ferngeblieben oder dass er impotent ist, was in der Praxis kaum möglich sein dürfte — die Scheidung verlangen; es sei denn, beide Ehepartner sind sich über die Auflösung der Ehe einig. Dennoch weicht das Familiengesetz auch in manchen Punkten von den islamischen Schari’a-Vorschriften ab. So ist nach algerischem Zivilrecht ein Mann erst mit 21 Jahren, die Frau mit 18 Jahren heiratsfähig. Ein Richter kann in begründeten Fällen Abweichungen genehmigen.56 1.8 Die „Arabischen Afghanen“ und der Krieg in Afghanistan Eine deutliche Aufwertung des islamistischen Diskurses in Algerien wurde durch die Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan 1979 geleistet. Gehörte die Demokratische Volksrepublik Algerien als blockfreies Land bis in die 1980er Jahre zu den Freunden der UdSSR,57 so ließ jetzt die Regierung Chadli Benjedid zu, 55 Schmid, S. 123. 56 Schmid, S. 124f. 57 Algerien rüstete bis weit in die 1980er Jahre seine Armee überwiegend mit sowjetischen Waffen aus. 26 dass islamistische Kräfte in den staatlichen Moscheen des Landes58 massive Propaganda für die afghanischen Widerstandskämpfer betrieben und dass Tausende von algerischen Islamisten nach Afghanistan zogen, um dort gegen die Sowjetarmee und ihre afghanischen Verbündeten zu Felde zu ziehen. Bevor diese sogenannten „arabischen Afghanen“ in den Kampf geschickt wurden, unterzog man sie in den Trainingslagern in Pakistan nahe der afghanischen Grenze noch monatelanger politischer und ideologischer Indoktrination, um aus ihnen entsprechend geistig gefestigte Kämpfer zu machen. Diese Aktion, die auf gemeinsame Anregung der Regierungen in Washington und Islamabad durchgeführt wurde und überwiegend mit saudischem Geld finanziert wurde, sollte auch das Ziel haben, ein Betätigungsfeld für die Islamisten in den arabischen Ländern zu eröffnen und sie zu nützlichen Dienern der antikommunistischen Sache zu machen. Neben algerischen Islamisten beteiligten sich außerdem noch viele Ägypter, Libyer, Palästinenser, Saudis, Sudanesen und Jemeniten an diesen ersten „internationalen islamistischen Brigaden“. Nachdem 1989 die Sowjetarmee Afghanistan verlassen hatte, stürzte auch die von ihr installierte Regierung 1992, und die afghanischen Widerstandsgruppen konnten die Herrschaft nun allein im Land ausüben. Während ein Teil der „arabischen Afghanen“ aus Algerien im Land blieb, um sich den Kämpfern von Usama Bin Ladin anzuschließen, kehrte ein anderer Teil wieder in seine Heimat zurück. Sie kamen zurück in ein Algerien im Umbruch, in dem die Einparteienherrschaft zu Ende gegangen war und ihre islamistische Ideologie aus ihrer Sicht reif war, die Macht zu erringen. 1.9 Der Aufstieg der Islamisten Ende der 1980er Jahre: Gründung und Programm der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) Als mit den politischen Unruhen vom Herbst 1988 sich der Volkszorn über jahrelange Misswirtschaft und Korruption der regierenden Einheitspartei (FLN) in gewaltsamen Protesten und Straßenkämpfen mit über 600 Todesopfern, die als „Couscousaufstand“ bekannt ge58 In Algerien unterstehen alle Moscheen (im Jahr 2000 ca. 15.000) und andere islamische Gebäude (Grabbauten, Zaouias u.a.) dem „Ministerium für Religiöse Angelegenheiten und Fromme Stiftungen“, welches diese Liegenschaften zentral verwaltet und kontrolliert (Informationsgespräch des Verfassers mit einem Beamten des Ministerium für Religiöse Angelegenheiten und Fromme Stiftungen, Algier, Mai 2000). 27 worden sind, entladen hatte, schien der FLN-Einparteienstaat zunächst am Ende. Eine neue Verfassung wurde im Februar 1989 verabschiedet, nach der zum ersten Mal seit 1963 jetzt auch unabhängige Vereinigungen gegründet und betrieben worden konnten. Wenige Monate später erlaubte das neues Parteiengesetz auch unabhängige Parteien neben der FLN. Die bereits im Herbst 1988 unmittelbar nach den Unruhen sich formierende „Front Islamique du Salut“ (FIS) konnte in der Folgezeit die neue Parteienpluralität scheinbar am besten für sich nutzen. Die modifizierte algerische Verfassung erlaubte die Einführung eines Mehrparteiensystems, hielt aber am Islam als Staatsreligion fest. Gleichzeitig blieben dem neuen Parteiengesetz zufolge Parteien mit streng islamischer Ausrichtung verboten. Dennoch wurde die FIS, in deren Programm die Umwandlung Algeriens in einen islamischen Staat eine zentrale Rolle spielte, als Partei zugelassen.59 Im folgenden soll das Wirtschaftsprogramm der Islamischen Heilsfront näher vorgestellt und untersucht werden. Das Wirtschaftsprogramm der FIS vom 17. März 1989 entfaltet erwartungsgemäß die Leitvorstellung einer islamischen Gesellschaft, die nach den Kriterien der Schari’a gestaltet ist. Dies entspricht auf grundsätzlicher Ebene dem zu Beginn des Programms gegebenen Begriff der Politik: Diese wird nach dem Muster der klassischen islamischen Staatstheorie ausdrücklich als „politische Verwirklichung der Normen der Schari’a“ definiert. Belegstellen aus Koran, prophetischer Sunna und der Sunna der Prophetengefährten sind in den Text des Parteiprogramms reichlich eingestreut und erweisen, in einem gelehrten Hocharabisch geschrieben, die Verfasser als im Geist der (Neo-)Salafiya gebildete Absolventen der islamischen Wissenschaften. Auf der inhaltlichen Ebene markieren vor allem die Bereiche Soziales, Familie und Kultur/Erziehung das Bemühen um spezifisch islamisch-religiöse Füllungen: Im Fall praktischer Verwirklichung dürften diese auf eine deutliche Islamisierung der entsprechenden gesellschaftlichen Bereiche hinauslaufen.60 Das Programm dokumentiert, wie mit der im Zeichen des Islam stehenden wirtschaftsethischen Begründung das Bemühen um eine 59 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS. Düsseldorf (2003), S. 8f. 60 Meier, Andreas: Der politische Auftrag des Islam. Programme und Kritik zwischen Fundamentalismus und Reformen – Originalstimmen aus der islamischen Welt. Wuppertal (1994), S. 410. 28 realistische Analyse der wirtschaftlichen Situation und gesellschaftlichen Bedingungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene einhergeht: Das Programm reflektiert und forciert den angelaufenen ökonomisch-sozialen Systemwandel in Algerien von sozialistischer Planwirtschaft zu einer liberalen Marktwirtschaft. Obwohl wirtschaftliche Verantwortung des Individuums und privater Sektor anstelle bürokratischem Zentralismus und aufgeblähter Staatswirtschaft betont werden, wird gleichzeitig die sozialpolitische Verantwortung des Staates auch auf wirtschaftlichem Gebiet eingeklagt.61 In anderen Punkten, etwa der Förderung der vernachlässigten Landwirtschaft durch einseitige Forcierung industrieller Großprojekte, richtet sich das Programm gegen maßgebliche Fehler der bisherigen Wirtschaftsplanung. Die regionalen Aufgaben wirtschaftlicher Entwicklung wie die Förderung der arabischen Maghreb-Union wird aufgegriffen. Die distanzierte Haltung gegenüber internationalen Finanzstrukturen wie dem Internationalen Währungsfond beruht nicht darauf, dass jene nicht-islamischen Charakters sind, sondern auf entwicklungspolitischer Sachanalyse. Andererseits unternimmt das Programm einen bemerkenswerten Versuch, die algerischen Emigranten in den nördlichen Industrieländern einzubeziehen: Diese sollen durch das Konzept des „finanziellen Jihad“ dazu motiviert werden, sich an der Förderung der nationalen Wirtschaft Algeriens zu beteiligen. Unmittelbar weist sie auf das soziale Problem der Generationen qualifizierter Akademiker und Facharbeiter hin, die angesichts katastrophaler wirtschaftlicher Verhältnisse in ihrer algerischen Heimat die ausweglose Frustration dauernder Arbeitslosigkeit aushalten müssen:62 „(1) Die Landwirtschaft: Die Landwirtschaft gehört zu den wichtigsten Produktionsquellen des Landes, das Gott mit weiter territorialer Erstreckung, ausgeglichenem Klima und naturräumlicher Vielfalt beschenkt hat Die agrarpolitischen Grundsätze der Islamischen Heilsfront umfassen die folgenden Maßnahmen, mit der Hilfe Gottes und aufgrund des Erfolges, den er verleiht: Die auf der Schari’a basierende gerechte Agrarpolitik beendet die rechtmäßige Enteignung privaten Landes und dessen feudalistische Verteilung; gemäß dem Wort des Propheten: „Wer eine Handbreit 61 Meier, S. 410. 62 Meier, S. 412. 29 raubt, der wird den Zorn Gottes spüren“, überliefert von alBukhari und Muslim nach A‘isha. Zielstrebige Urbarmachung des Landes mit den entwickeltsten technologischen Mitteln und dessen ausschließliche Verteilung an diejenigen, die verdientermaßen dafür in Frage kommen: frei von Günstlingswesen, Korruption und den übrigen Formen von Willkür und Ungerechtigkeit. Das heißt, die Verteilung des Landes muss gerecht erfolgen, gemäß den im Rahmen der Schari’a definierten Kriterien. (...) Sie ist sich dessen bewusst, dass die Umkehr des algerischen Volkes, die ihren spirituellen Ausgangspunkt in der Tiefe seines Gewissens findet, das sie zur Rückkehr zum Islam verpflichtet, von Gott selbst ermöglicht wird. Denn er lässt auf uns seine Wohltaten herabströmen, um uns zu beschenken, gemäß seinen Worten: „Hätten die Bewohner der Städte geglaubt und wären sie gottesfürchtig gewesen, hätten wir ihnen die Segnungen vom Himmel und von der Erde aufgetan“ (Koran 7, 96); „Und ich habe die Jinn und die Menschen nur dazu erschaffen, dass sie mir dienen. Ich will von ihnen keinen Unterhalt, und ich will nicht, dass sie mir zu essen geben. Gott ist es, der Unterhalt beschert und Kraft und Festigkeit besitzt“ (Koran 51, 56-58). Dieses Gottvertrauen darf allerdings keineswegs als blinde Passivität missverstanden werden, die sich der Verantwortung für die aktive Mitwirkung in der Verwirklichung der geeigneten Faktoren entzieht; gemäß dem Wort des Propheten: „Gebraucht zuerst euren Verstand, danach übt Gottvertrauen“. (2) Die Industrie In einem Land, dessen Volk die Beendigung der Abhängigkeit anstrebt, und dessen Religion gebietet, den zeitlichen Umständen entsprechend mit der erforderlichen Stärke auf dem Niveau des höchsten zivilisatorischen Fortschritts gerüstet zu sein — gemäß dem Wort Gottes: „Und rüstet gegen sie, was ihr an Stärke aufbringen könnt!“ (Koran 8,60) —, ist Industrie eine notwendige Voraussetzung für den zivilisatorischen Aufschwung. Allerdings darf die Hochschätzung der Industrie in der Sicht der Islamischen Heilsfront nicht zu Lasten der Landwirtschaft gehen, wie es in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. 30 Vielmehr muss sie jene stützen und sich mit ihr gegenseitig ergänzen. Die Industrie darf nicht auf Kosten des muslimisch verstandenen Menschen leben, indem sein menschlicher Wert und seine seelische Würde herabgesetzt wird, wie es in Amerika und den anderen kapitalistischen Ländern, oder in Russland und den übrigen kommunistischen Ländern, geschieht. Vielmehr muss sie dem Wohl des Menschen dienen, der durch sie seine aktive zivilisatorische Rolle im Rahmen des Universums erfüllt, ob auf zivilem Sektor oder im militärischen Bereich, der für den Schutz derjenigen Nation notwendig ist, die bekennt, dass es keinen Gott gibt außer Gott und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist, sowie zum Schutz von Recht und Freiheit in aller Welt. Die Industrie-Politik umfasst die folgenden Leitlinien: 1) Die industrielle Produktion und die anderen wirtschaftlichen Sektoren müssen in der Industriepolitik Algeriens aufeinander abgestimmt werden. 2) Um den Problemen der Arbeitslosigkeit zu begegnen, müssen die Arbeitsplätze erhöht werden, indem die kleineren und mittleren Industriebetriebe gefördert werden. Diese Zentren müssen zugleich den zur Selbstversorgung führenden Konsumbedürfnissen des Landes dienen, um nicht länger auf den Import von Gütern des Grundbedarfs aus dem Ausland angewiesen zu sein, was dem Prinzip der wirtschaftlichen Unabhängigkeit widerspricht. Mit anderen Worten: Eine Industrie muss aufgebaut werden, deren Produktion in ein gesamtwirtschaftliches Konzept integriert ist, das zugleich ihre Qualität sicherstellt. 3) Um die Industrie unseres Landes in den Stand der Selbstversorgung zu versetzen, muss die strukturelle Aufgliederung der industriellen Funktionsbereiche gefördert werden. Dabei müssen die einzelnen Glieder in einer stabilen Kette miteinander verbunden werden, indem die unterschiedlichen Funktionen aufeinander abgestimmt sind, der Umfang der jeweiligen Produktivitäten im angemessenen Verhältnis steht, und ihre Produktionsmethoden demjenigen Stand des Fortschritts entsprechen, der das Land von der Abhängigkeit vom Ausland befreit. (...) 31 Die Islamische Heilsfront bemüht sich, diese beschriebenen wirtschaftspolitischen Grundlagen, mit der Hilfe und dem Erfolg Gottes, gemäß den zukünftigen Entwicklungen und Erfordernissen in den Bereichen von Produktion und Konsum ständig zu überprüfen und zu verbessern. Auf diese Weise kann sie erkennen, bis zu welchem Umfang die Ziele, Intentionen und Notwendigkeiten, wie sie im Rahmen ihrer umfassenden islamischen Politik auf der Grundlage der Schari’a formuliert werden, verwirklicht worden sind. So kommt es zum angemessenen Gleichgewicht zwischen der Industrie und den anderen Dimensionen des integralen politischen Programms. Die Komplikationen und Hindernisse, die auf dem Feld der praktischen Anwendung auftreten, müssen analysiert werden, um auf sie angemessen zu reagieren und den umfassenden Entwicklungsplan nach Zeit und Ort mit der wissenschaftlichen Präzision und politischen Subtilität zu verwirklichen, wie sie die Heilsfront im Sinn der Schari’a zum Programm erhebt. (3) Der Handel: Der Handel bildet in der Sicht der Islamischen Heilsfront den Blutkreislauf der Wirtschaft, durch das die Produktion reguliert, die Ressourcen verteilt und die unterschiedlichen Interessen ausgeglichen werden. Hierdurch kann jene Ausgewogenheit erreicht werden, die der Neudefinition der materiellen Werte im Rahmen der islamischen Schari’a mit dem Ziel des allgemeinen Interessenausgleichs zugrunde liegt. Dabei darf das Interesse des Produzenten nicht auf Kosten des Konsumenten verwirklicht werden und umgekehrt. Indessen ist der kommerzielle Gewinn die Sache des Verkäufers gegenüber dem Käufer, und nicht umgekehrt; nach dem Wort Gottes: „Und zieht den Menschen nichts ab, was ihnen gehört“ (Koran 7,85); sowie gemäß dem Wort des Propheten: „Keine Schädigung und keinen Zwang.“ Zwecks Verwirklichung dieser Intentionen wird der Handel gemäß der Politik der Islamischen Heilsfront aufgrund der folgenden Prinzipien organisiert: 1) Das Handelssystem muss durch Beseitigung von Monopolismus (Ihtikar), Wucher (Riba) und ungerechtem Zwischenhandel reformiert werden, sowie durch Abschaffung sämtlicher Formen von wirtschaftlichem Parasitismus wie offener Täu- 32 schung und absichtlichem Betrug, gemäß dem Wort des Propheten: „Wer uns betrügt, gehört nicht zu uns“. 2) Die Wege der Verteilung müssen reorganisiert werden; zugleich sind Maßnahmen zu ergreifen, um die Dezentralisierung der Betriebe zu verwirklichen. 3) Die Politik der Vermarktung (Kommerzialisierung) muss umgestaltet werden, um die Dezentralisierung zu verwirklichen, den Schwarzmarkt zu beseitigen und den Wettbewerb zwecks Ausweitung des Angebotes zu fördern. Die Nachfrage im Bereich der primären Bedürfnisse muss vorrangig befriedigt werden; ebenso muss in der Verteilung der nationalen Erzeugnisse der Inlandsmarkt die Priorität gegenüber den ausländischen Märkten erhalten. 4) Die Preispolitik muss im Blick auf das Verhältnis von Preisanstieg und Inflation neugestaltet werden; gemäß der Regel: „Keine Schädigung und kein Zwang". 5) Die Relation von Verkauf und Kauf muss auf der Grundlage der Bestimmungen der islamischen Schari’a, die der Sicherung des öffentlichen Interesses und dem Schutz der ethischen Werte dienen, abgestimmt werden. 6) Neubelebung des Aktienwesens und Förderung der Bildung freier Handelsgesellschaften, um die Wirtschaft in Gang zu bringen, die Wege der Verteilung zu lenken und ein reichhaltiges Angebot zu verwirklichen. 7) Die Inhalte des islamischen Rechts (Schari’a) und die Methoden der islamischen Rechtswissenschaft (Fiqh) müssen im Blick auf Ratifizierung der Handelsverträge, Organisation der Firmen und Regelung des geschäftlichen Rechtsverkehrs auf allen Ebenen erneut angewandt werden, um das öffentliche I nteresse zu wahren und den Schutz der entsprechenden Rechte einschließlich der daraus entspringenden Pflichten zu garantieren. 8) Einrichtung von Institutionen zum wirtschaftlichen und kommerziellen Informationsaustausch, um Händlern, Produzenten und Konsumenten zu ermöglichen, sich über Waren und Konsumgüter sowie Zentren ihrer Verteilung und jeweilige Wege des Zugangs zu informieren. Dem liegt die Absicht zugrunde, den Handelsaustausch zwischen Konsument und 33 Produzent zu erleichtern, so dass jeder Mensch seine spezifischen Bedürfnisse realisieren kann. (4) Das Finanzwesen: (...) Dabei unterliegen die entsprechenden Maßnahmen den Vorschriften der islamischen Schari’a für die Finanzpolitik. Die Währungspolitik im Inland und Ausland muss neuorientiert werden, um die in- und ausländische Kaufkraft der Bürger zu wahren, den Einsatz des Produzenten zu motivieren und die Wirtschaft vor Wertverfall zu schützen. Um die politische Entscheidungsfähigkeit (Stabilität) im Inneren und Äußeren zu garantieren, stützt sich das Staatsbudget auf die folgenden Quellen: 1. Die natürlichen Ressourcen. 2. Die landwirtschaftlichen, industriellen und kommerziellen Produkte. Es ist unerlässlich, sich auf die Verwirklichung der Voraussetzungen der wirtschaftlichen Selbstversorgung zu konzentrieren, anstatt sich leichtfertig auf andere zu verlassen. In jedem Fall muss die Gerechtigkeit gewahrt bleiben. Auf dieser Grundlage ist die Neugestaltung der folgenden Bereiche notwendig: Steuerpolitik und Zollpolitik. Sozialsteuer (Zakat) und islamische Stiftungen (Awqaf) fallen unter die legalen Finanzquellen des Staates, sofern dessen Politik auf der islamischen Schari’a beruht. In Zeiten der wirtschaftlichen oder sozialen Krise wird ein Fond für soziale Solidarität (at-Takaful al-Ijtima‘i) und Schari’agemäße Kreditvergabe eingerichtet. Ein Staat, der bei seinen Bürgern Kredit aufnimmt, um Gerechtigkeit herzustellen, ist in jedem Fall besser als ein Staat, der das Gut der Bürger in räuberischer Absicht an sich reißt; und er ist ebenfalls besser als der Staat, der sich auf Inflation oder Auslandsverschuldung stützt. Vermögende Algerier und übrige Muslime im Ausland, einschließlich der Emigranten, sollen motiviert werden, ihre Finanzmittel zugunsten der Ankurbelung der nationalen Wirtschaft zu verwenden, so dass die unverzichtbare Selbstver- 34 sorgung verwirklicht werden kann. Dies ist eine Form des finanziellen Jihad (al-Jihad bi‘l-Mal): Sie kann auf dem Weg von Darlehen, Spenden oder Investitionen erfolgen. Dabei muss der Staat sämtliche Garantien abgeben, um den Schutz des Vermögens der Bürger zu gewährleisten. Die politische Gestaltung des Bankwesens muss neuorientiert werden mit dem Ziel, die Ressourcen des Staates, das Vermögen der Bürger und alle diejenigen zu schützen, die sich auf dem Weg der Investition an der finanziellen Belebung des Landes beteiligen. So wird die Freiheit der politischen Entscheidung im Inneren und Äußeren gewährleistet. Einrichtung von islamischen Banken, Kredit- und Sparfonds, die von Wucher (Riba) in allen seinen Formen befreit sind, um das öffentliche Interesse zu schützen. So wird der Geist von Solidarität, Kooperation, sozialem Fortschritt und wirtschaftlichem Wachstum gewährleistet. Auf der Grundlage dieser Prinzipien erfolgt jährlich die Festlegung des Staatshaushaltes entsprechend kurzfristigen bzw. langfristigen Bedürfnissen. Die Planung des Staatshaushalts hat die kontinuierliche Verbesserung und das Wachstum der Wirtschaft in der erforderlichen Schnelligkeit zu gewährleisten. Dabei müssen die Bedingungen der politischen Entwicklungen und geschichtlichen Ereignisse im Inland und Ausland in Rechnung gezogen werden. Der Staat ist in seiner Haushaltspolitik dazu verpflichtet, die Prioritätenliste für die Verwendung der Finanzen entsprechend der aktuellen Entwicklungen zu gestalten. Die Ausnahme bilden die Einkünfte der Sozialsteuer (Zakat), deren Verwendung gemäß den vom göttlichen Gesetzgeber festgelegten Bestimmungen erfolgt. Das System der Besteuerung muss geändert werden, das die finanzielle Leistungskraft der Bürger überschritten und ein Faktor der verhängnisvollen Teuerung und Inflation geworden ist. Im übrigen hat sich daraus eine Politik entwickelt, um den Bürger zu berauben und sein Eigentum im Namen von Gesetz und öffentlichem Interesse auszuplündern: Als ob letzteres darin liegen würde, dem Bürger zu schaden und ihn mit einer unerfüllbaren Verpflichtung zu belasten. Somit muss dieser 35 Willkür ein Ende gemacht werden, um Wachstum und Gerechtigkeit gedeihen zu lassen.“63 Das Parteiprogramm verband, wie zuvor gezeigt, marktwirtschaftliche Ideen mit traditionell islamischen Vorstellungen. Deutlich dabei ist, dass das islamische Recht, die Schari’a, einen hervorragenden Platz einnimmt. Dies ist als ein Indiz zu werten, dass die FIS von Anfang an als festes Ziel die Errichtung eines islamistischen Staates im Auge hatte. Diese Politik musste in einen – letztlich bewaffneten – Konflikt mit der algerischen Staatsmacht führen. 1.10 Der Beginn bewaffneter Auseinandersetzungen Während sich Mitglieder der FIS auf politischer Ebene auffallend moderat gaben, operierten FIS-Propagandisten an der Basis mit großer Radikalität. 64 Gerade arbeitslose Jugendliche wurden mit totalitären Parolen gegen Verwestlichung, Laizismus und Demokratie in großer Zahl mobilisiert. Gleichzeitig machte sich die FIS bei erheblichen Teilen der Gesellschaft durch unentgeltliche Gesundheitsleistungen und den Verkauf verbilligter Lebensmittel „unverzichtbar“. Die geschickten Wahlkampfmanöver der Partei zeigten ihre Wirkung: Bei den Kommunalwahlen am 12. Juni 1990 erlangte die FIS in 32 von 48 Provinzversammlungen die Mehrheit. Dadurch war das Selbstbewusstsein der Islamisten erheblich gestärkt worden. Sie sprachen nun auch öffentlich von der unmittelbar bevorstehenden Ausrufung eines islamischen Staates in Algerien.65 Die offene Konfrontation mit der Staatsmacht war damit vorprogrammiert. So konzentrierte sich die Argumentation in einem Artikel der algerischen Armeezeitung „El Djeich“ (dt. „Die Armee“) vom April 1991 einzig auf die politische Zielsetzung des FIS, die die Einheit und Unabhängigkeit Algeriens aufs höchste gefährde. So wird auf das widersprüchliche Agieren der FIS während des Golfkriegs 1991 hingewiesen und betont, dass „(...) die religiösen Extremisten den Zielen der westlichen Strategie dienten, der Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwi63 Meier, S. 412-423. 64 Wöhler-Khalfallah, Khadija Katja: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Algerien und Tunesien: Das Scheitern postkolonialer „Entwicklungsmodelle“ und das Streben nach einem ethischen Leitfaden für Politik und Gesellschaft. Wiesbaden (1994), S. 183-185. 65 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 9. 36 schen den Monarchien und nationalistischen arabischen Regimen zur Verhinderung einer arabischen Einheit (...).“ „El-Djeich“ erklärt daraufhin die algerischen Armee zur eigentlichen Verteidigerin der Landes und des Islams sowie zur Garantin der Unterbindung aller möglichen Spaltungstendenzen: „(...) Zu den dringlichsten Herausforderungen gehört die Rückkehr zu den Quellen des Islam. Der Islam hat Algerien erlaubt, seinen Glauben zu behalten, seine fundamentalen Werte und seine Persönlichkeit in einem unermüdlichen Jihad, über Jahrhunderte hinweg und vor allem während der Kolonialzeit. Der Islam enthält langfristige Orientierungen, die, recht verstanden, die Alternative zum moribunden Materialismus und zum geistig ohnmächtigen Kapitalismus darstellen. Der Islam ist jedoch gleichzeitig der Weg zur Abwehr jeglicher Bewegung oder Doktrin, die auf die Spaltung der Mitglieder der nationalen Gesellschaft zielt. Dies ist der authentische Islam, den wir zu verteidigen haben und in dem unsere nationale Persönlichkeit tief verwurzelt ist. (...)“ 66 Präsident Bendjedid hatte noch vor den Parlamentswahlen ein neues Wahlgesetzes eingeführt, das seine Regierungspartei FLN bevorzugte. Damit versucht er, die Oberhand über die Islamisten zu behalten. Die Folge waren ein Generalstreik und Massenunruhen, weshalb die Regierung den Ausnahmezustand ausrief. Die beiden Führer der FIS, Madani und Belhadj, wurden mitsamt vielen Funktionsträgern ihrer Partei verhaftet, die Partei somit personell geschwächt. Als sich nach dem ersten Wahlgang am 26. Dezember 1991 dennoch ein Sieg der FIS abzeichnete und die Errichtung einer islamistischen Diktatur nicht mehr aufzuhalten schien, wurden die Wahlen kurzerhand annulliert und das Militär ergriff die Macht. Nach der Auflösung des Parlaments veranlassten die Militärs den Präsidenten zum Rücktritt, holten Mohamed Boudiaf, einen angesehenen Veteranen des Unabhängigkeitskampfes, aus dem marokkanischen Exil zurück und machten ihn zum Vorsitzenden des ,Hohen Staatsrates‘, dem zentralen Machtgremium des Landes. Ein Gericht erklärte die FIS am 19. März 1992 für aufgelöst, Tausende ihrer Anhänger wurden verhaftet und teils in Internierungslager in der algerischen Sahara untergebracht. Die FIS sah sich damit um ihren Wahlsieg betrogen. In der Folgezeit wurden Versuche der FIS, die Bevölke66 Borchardt, S. 135f. 37 rung auf ihre Seite zu ziehen und gegen das Regime zu mobilisieren, seitens der Militärregierung mit aller Härte unterbunden. Radikale FIS-Führer erklärten der Staatsführung schließlich den „Heiligen Krieg“. Es war der Beginn des bewaffneten Kampfes.67 Auf Seiten der militanten Islamisten, die sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlen und auf staatliche Repression mit Terror antworten, sind es zwei Organisationen, die insbesondere in die Kämpfe mit den staatlichen Sicherheitskräften verwickelt sind: zum einen die Mitglieder der Organisation Mouvement Islamique Arme (MIA), die als bewaffneter Arm der verbotenen FIS angesehen wird und die sich seit dem Frühjahr 1994 Armee Islamique du Salut (AIS) nennt. Die zweite intensiv an der militärischen Auseinandersetzung mit dem Staatsapparat beteiligte Organisation ist die Groupe Islamique Arme (GIA), die im Sommer des Jahres 1992 infolge der Ermordung und Verhaftung zahlreicher islamistischer Untergrundführer entstand.68 Über die Anzahl der Mitglieder dieser Organisationen existieren stark divergierende Angaben. Einige Schätzungen gehen von etwa 2.500 Mitgliedern der verschiedenen islamistischen Untergrundorganisationen aus, andere reichen bis zu 20.000. Ihnen stehen 40.000 Militärs gegenüber, die aus der insgesamt 130.000 Mann starken Armee speziell zu Terrorismusbekämpfung bereitgestellt wurden.69 1.11 Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA, AIS und HDS Seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts zwischen Staatsmacht und Islamisten in Algerien im Jahre 1992 wird das Regime von einer Vielzahl islamisch-extremistischer Gruppierungen bekämpft. Im Folgenden sollen die vier bedeutendsten Gruppierungen GSPC, GIA, AIS und HDS vorgestellt werden. Die GSPC Eine zentrale Rolle spielt die Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat, Salafiyya-Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC). Sie gilt als die mitgliederstärkste und aktivste Terror-Gruppe in Algerien. Die 67 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 9. 68 Schmid, S. 10; Wöhler-Khalfallah, S. 196. 69 Schmid, S. 10. 38 GSPC verfügt mit großer Sicherheit über Verbindungen ins Terrornetzwerk der Al-Qaida. Die GSPC spaltete sich 1997 von der ebenfalls terroristischen Groupes Islamique Armée - Bewaffnete Islamische Gruppe (GIA) ab. Heute ist die GSPC der GIA an Kampfstärke deutlich überlegen. Das Hauptziel der GSPC ist es, den algerischen Staat in seiner heutigen Form abzuschaffen und eine islamistische Diktatur an seiner Stelle zu errichten. Im Kampf gegen die Regierung in Algier richtet die GSPC ihre Operationen vor allem gegen den algerischen Militärapparat und die vom Militär unterstützten zivilen Milizen. Am stärksten vertreten ist die GSPC im Gebiet zwischen Algier und der Kabylei. Ein Haupteinflussgebiet ist jedoch kaum auszumachen, da zahlreiche Einzelgruppen der GSPC über das ganze Land verstreut sind und je nach individueller Interessenlage den Anweisungen ihres Führers Hassan Hattab oder auch der GIA folgen.70 Nach dem Amnestieangebot der algerischen Regierung im Jahre 2000 hat sich ein Teil der GSPC-Aktivisten den Behörden gestellt. Andere, insbesondere solche, die sich schwerer Verbrechen schuldig gemacht hatten, blieben von den Amnestieregelungen ausgeschlossen. Die GSPC zeigte sich in der Vergangenheit Friedensangeboten der algerischen Regierung gegenüber verschlossen. Im Gegensatz zur FIS lehnt sie eine Aussöhnung mit dem Regime in Algier strikt ab. Ein offizielles Aussöhnungsangebot der Regierung hat die GSPC letztmalig im Jahre 2001 zurückgewiesen; stattdessen hat sie zur Fortführung des Kampfes aufgerufen und damit ein erneutes Aufflammen der Gewalt verursacht. Durch Gewaltakte islamistischer Terrorgruppen starben in Algerien allein im Ramadan — dem muslimischen Fastenmonat — 2002 über 90 Menschen. Der Ramadan gilt den islamistischen Kämpfern als ein besonders für den Jihad geeigneter Monat: In dieser Zeit können die bewaffneten Gruppen von häufigen großen Menschenansammlungen ebenso ausgehen wie von einer generell höheren emotionalen Empfänglichkeit der Bevölkerung für ihre Terror-Botschaften. So existiert unter den algerischen Islamisten die Vorstellung, dass ein sogenannter „Märtyrertod“ im Ramadan noch größeren Lohn im Jenseits bereitet. Wer die Schlagkraft der GSPC in den letzten Jahren in Frage gestellt hat, wurde angesichts zahlreicher Angriffe und Massaker eines anderen belehrt. Die GSPC ist unverändert zu relativ aufwendigen 70 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 8-10. 39 Operationen in der Lage und schreckt auch nicht vor Angriffen auf Streit- und Sicherheitskräfte zurück. An ihr ursprüngliches Versprechen, die Zivilbevölkerung zu schonen, hält sich die GSPC schon lange nicht mehr und mit der Entführung europäischer Touristen im Jahr 2003 haben die Terrorakte der GSPC eine neue Dimension bekommen. Der ideologische Bezugspunkt der GSPC ist die Salafiyya (vergleiche dazu: „Ideologische Hintergründe der Al-Qaida“, herunterzuladen unter: www.im.nrw.de/sch/doks/vs/ hintergruende/alqaida.pdf). Der Aufbau der GSPC ist schwer durchschaubar. Sie ist eine heterogene, dezentral geführte Terror-Gruppe und besteht aus unzähligen Klein- und Kleinstgruppen. Da die GSPC zu Anfang ausschließlich gegen den algerischen Sicherheitsapparat vorging und die Zivilbevölkerung verschonte, genoss sie unter der algerischen Bevölkerung sowie unter algerischen Oppositionellen im Ausland (insbesondere bei Anhängern der FIS) große Anerkennung. Aufgrund ihrer deutlich erkennbaren Radikalisierung und unzähliger Massaker an Zivilisten ist sie heute mit einem massiven Vertrauensverlust innerhalb der Bevölkerung konfrontiert. Hinzu kommen seit Ende der neunziger Jahre interne Führungsstreitigkeiten über den zukünftigen Kurs. Die GSPC ist europaweit aktiv. Unter den salafistischen Gruppierungen, die in Europa in zunehmendem Maße kooperieren, nimmt sie eine herausragende Position ein. Hassan Hattab, der zentralen Führungsfigur, ist es in den letzten Jahren gelungen, eine beträchtliche Zahl der in Europa lebenden GIA-Anhänger in seine Gruppe einzubinden. Die Aktivitäten der GSPC in Westeuropa zielen in erster Linie auf die finanzielle und logistische Unterstützung der Gruppenstrukturen im Heimatland. Ein wesentlicher Teil der Hilfsleistungen hat einen kriminellen Charakter. So stammt ein Großteil der von der GSPC beschafften Gelder aus Diebstählen und Erpressungen. Logistische Hilfsleistungen für Mitglieder der Gruppe beziehen sich im wesentlichen auf die Beschaffung von gefälschten Papieren. Sie ermöglichen GSPC-Mitgliedem einen sicheren Aufenthalt in Europa und ungehindertes Reisen. Ein weiterer zentraler Bestandteil der Unterstützungsaktivitäten sind Materiallieferungen nach Algerien.71 71 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 8-10. 40 GSPC und arabische Mujahedin — das Beispiel „Straßburger Weihnachtsmarkt“ zeigt, wie Kleingruppen und einzelne Mitglieder der GSPC mit dem weltweiten Netzwerk der arabischen Mujahedin verknüpft sind. Innerhalb des nordafrikanischen Unterstützer-Netzwerkes der Al-Qaida spielt die GSPC mit einiger Sicherheit sogar eine herausragende Rolle. Ein Beispiel für Verbindungen der Gruppe zum Terrornetzwerk der arabischen Mujahedin sind die Aktivitäten der Meliani-Gruppe, deren Fall in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Meliani-Gruppe wird den so genannten non-aligned Mujahedin zugerechnet, also islamistischen Kämpfern, die unabhängig vom Terror-Netzwerk der Al-Qaida operieren, über vielfältige Kontakte aber zumindest mittelbar mit ihm verbunden sind. Vier Mitglieder dieser Gruppe sind in einem Prozess vor dem Frankfurter Oberlandesgericht am 10. März 2003 wegen der Vorbereitung eines Terroranschlages zu Haftstrafen zwischen zehn und zwölf Jahren verurteilt worden. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass die Männer ein Attentat auf den Straßburger Weihnachtsmarkt im Dezember 2000 geplant hatten. Zunächst waren vier Mitglieder der Gruppe im Dezember 2000 in Frankreich gestellt worden. Im April 2001 erfolgten im Zusammenhang mit der Festnahme von Mitgliedern der Varese-Gruppe in Italien weitere Verhaftungen in Frankfurt und München. Der Anführer der Gruppe, Mohamed Bensakhria (alias Meliani), wurde dann im Juni desselben Jahres in Spanien verhaftet. In den Wohnungen der Festgenommenen (allesamt Algerier) wurden unter anderem Waffen, 20 Kilo Kaliumpermanganat zur Herstellung von Sprengstoff und eine Videokassette mit Aufnahmen von Straßburg zur Weihnachtszeit gefunden.72 Bedeutung der GSPC in Deutschland In Deutschland sind vereinzelte Personen der GSPC zuzurechnen. Eine Exil-Struktur im eigentlichen Sinne ist nicht erkennbar. Der überwiegende Teil der GSPC-Anhänger ist aber in europaweit agierende Netzwerke zur finanziellen und logistischen Unterstützung der in Algerien operierenden und der im Ausland ansässigen Gesinnungsgenossen eingebunden.73 72 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 8-10. 73 ebd. 41 Die GIA Die Groupe Islamiques Armé— Islamische bewaffnete Gruppe (GIA) (auch abweichend dazu Groupes Islamiques Armée genannt) ist aus einer Abspaltung radikaler Mitglieder der Front Islamique du Salut — Islamische Heilsfront (FIS) sowie der Armée Islamique du Salut — Islamische Heilsarmee (AIS) hervorgegangen. Gründer der GIA ist Mansour Meliani. Der Ursprung der GIA kann zeitlich nicht exakt nachvollzogen werden. Er liegt unterschiedlichen Angaben zufolge in der Zeit zwischen den algerischen Parlamentswahlen im Dezember 1991 und der offiziellen gerichtlichen Auflösung der FIS im März 1992. Unter ihrem Namen agiert die Gruppe seit 1994. Ihre Aktivitäten der GIA richten sich vornehmlich auf den bewaffneten Kampf gegen die algerische Regierung. Im Ringen um die Macht in Algerien zielt die GIA mit ihren blutigen Anschlägen nicht nur auf Regierungsvertreter und —einrichtungen, sondern auch auf andere islamistische Gruppierungen, Ausländer und die eigene Zivilbevölkerung. Hochburgen der GIA sind im Nordwesten Algiers. In den ersten Jahren war die GIA vor allem in den städtischen Räumen stark vertreten. Später wich sie vor dem staatlichen Verfolgungsdruck mehr und mehr in ländliche Gebiete zurück. Außerdem rekrutierte sie dort zunehmend ihre Mitglieder. Der erste Anschlag, der der GIA zugerechnet wird, war ein Überfall auf einen Militärposten an der algerisch-tunesischen Grenze Ende 1991. Seit Dezember 1993 machte die GIA immer wieder und bis in die heutige Zeit durch blutige Attentate von sich reden.74 Die GIA beschränkt den gewaltsamen Kampf nicht auf das Staatsgebiet Algeriens. Zielscheibe von Anschlägen und Bombenattentaten der Gruppe war in den zurückliegenden Jahren vor allem Frankreich, das von Anhängern der Gruppe als Hauptverbündeter des algerischen Regimes gesehen wird. In Frankreich tötete die GIA im Jahre 1995 nach der gescheiterten Entführung einer Air FranceMaschine von Algier nach Marseille in einer Anschlagsserie (u. a. auf die Metro in Paris), insgesamt acht und verletzte etwa 150 Menschen. Im Juni 1999 rief sie in einem von der Presse veröffentlichten Drohbrief den Jihad gegen Frankreich aus. Die GIA hat in Algerien neben Anschlagsserien auf Transportsysteme, Kommunikationszentren und die Infrastruktur des Landes unzählige Racheakte ge74 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 5. 42 gen Zivilpersonen verübt und zum Teil ganze Dörfer ausgelöscht. In dem bereits seit zehn Jahren andauernden Bürgerkrieg zwischen der Regierung und den Kräften des militanten Islamismus sind allein in der ersten Hälfte des Jahres 2002 über 700 Menschen umgekommen. Seit 1992 (bis 2003) verloren mehr als hunderttausend Menschen ihr Leben. Es gab zwar in den vergangenen Jahren — abgesehen von einem kurzen Aufflammen der Gewalt zur Zeit der Berberunruhen im Jahre 2001 — einen quantitativen Rückgang der Gewalttaten. Ein Ende des bewaffneten Kampfes der GIA ist jedoch nicht abzusehen.75 Das Ziel der GIA ist der Sturz der algerischen Regierung, die Überwindung des bestehenden algerischen Staatssystems und die Errichtung eines islamischen Staats auf der Grundlage der Schari’a. Als Fernziel strebt die GIA die Errichtung eines weltweiten Kalifats an. Die Mitglieder der GIA bezeichnen sich selbst als streng gläubige Salafisten. Die religiöse Fundierung ihrer Operationen scheint in der Praxis aber eine eher untergeordnete Rolle zu spielen. Ebenso wenig ersichtlich ist ein politisches Programm. Von ihrer politischen Grundhaltung her lässt sich die GIA aber als antisäkularistisch, antiwestlich und anti-demokratisch beschreiben. Hinter der Vorgehensweise der Gruppe steht eine besonders radikale Ideologie, die jedes Mittel im Kampf gegen denjenigen erlaubt, der sich ihrer zerstörerischen Vision von der Befreiung Algeriens von „unislamisehen“ Einflüssen entgegenstellt. Gewalt und Terror sind elementare Bestandteile dieses Konzepts.76 Wahllose Gewalt, auch gegen Zivilpersonen, rechtfertigt die GIA als „gerechten Kampf gegen die Ungläubigen“. Ein Rechtsgelehrter der GIA bezeichnete in einer Fatwa des Jahres 1997 die Tötung von Frauen und Kindern als erlaubt, wenn diese mit den „Feinden des Islam“ in Kontakt stünden. Diese Erklärung bildete den Ausgangspunkt einer weiteren Welle von Gräueltaten gegen die algerische Bevölkerung im gleichen Jahr. Die besondere Brutalität in der Vorgehensweise der Gruppe ist zum Teil auf ihre Zusammensetzung zurückzuführen. Sie besteht zum Teil aus den sogenannten „Arabischen Afghanen“, also Kämpfern des Afghanistan-Krieges, von denen die meisten in den Techniken des Terror-Kampfes ausgebildet 75 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 6. 76 ebd. 43 wurden. Andere stammen aus den Elendsvierteln Algiers, wieder andere sind von der Armee desertiert und besetzen heute Kommandeursposten. Ein Wesensmerkmal der GIA ist ihre Unversöhnlichkeit. Im Unterschied zur AIS, die im Jahre 2000 das AmnestieAngebot der algerischen Regierung angenommen hat, lehnt die GIA jeglichen Dialog mit der Regierung ab. Als Zeichen ihrer Unbeugsamkeit prägten Anhänger der Gruppe die Parole: „Kein Dialog, keine Versöhnung, keine Waffenruhe“.77 Die Struktur der GIA ist heterogen, zerstückelt und dezentralistisch. Konkret handelt es sich bei dieser Extremistengruppe um einen losen Zusammenschluss von Gruppen mit jeweils unterschiedlicher Mitgliederstärke. Die Gruppen agieren regional und weitgehend unabhängig voneinander. Eine gemeinsame Führung mit politischem Konzept sowie eine übergeordnete Kommandostruktur existieren offenbar nicht mehr. Die Einzelgruppen werden von lokalen Warlords geführt, die entgegen der ursprünglichen Zielsetzung der GIA vor allem persönliche Interessen verfolgen. Seit den 90er Jahren sind wachsende Rivalitäten zwischen den verschiedenen Gruppen um Einflusssphären und Finanzierungsmöglichkeiten erkennbar.78 Die Anhänger der GIA sind in der Mehrzahl Kleinkriminelle. In den vergangenen Jahren ist die GIA dazu übergegangen, immer jüngere Männer anzuwerben, die kaum noch politische Überzeugungen haben oder über Bildung verfügen. Die Anbindung an die Gruppe geschieht bei diesen jungen Aktivisten weniger aus einem bestimmten politischen Bewusstsein heraus, sondern um sich durch kriminelle Machenschaften persönliche Vorteile zu verschaffen. Über Kommandostrukturen innerhalb der GIA gibt es nur sehr wenige Erkenntnisse, ebenso über die maßgeblichen Führungsfiguren innerhalb der Gruppe. Führer der GIA soll von 1996 bis zu seiner Tötung durch algerische Sicherheitsbeamte am 9. April 2002 Antar Zouabri gewesen sein. Auch der als sein Nachfolger bekannt gewordene Rashid Abu Turab sei, so berichteten algerische Medien, von algerischen Sicherheitskräften zusammen mit weiteren 14 Mitgliedern der GIA im Juli 2002 getötet worden.79 77 ebd. 78 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 7. 79 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, ebd. 44 Insgesamt stützt sich die GIA in Algerien auf schätzungsweise 1.500 Kämpfer. Daneben verfügt die Gruppe über ein ausgedehntes Unterstützernetzwerk in Frankreich. Erkennbare GIA-Strukturen gibt es daneben in Belgien, Großbritannien, Italien und Schweden. Einzelne GIA-Mitglieder operieren heute innerhalb des Terrornetzwerkes Usama Bin Ladins. Mitglieder der GIA sind mit islamistischen Gruppen im gesamten Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentral- und Südost-Asien vernetzt und unterhalten auch Kontakte zum Terrornetzwerk Usama Bin Ladins. Es muss sogar davon ausgegangen werde, dass es enge Verflechtungen zwischen der GIA und der AlQaida gibt. Darüber hinaus sollen ehemalige GIA-Anhänger heute ausschließlich innerhalb des Netzwerkes von Usama Bin Ladin operieren. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Meliani-Gruppe, die im Frühjahr 2002 im Mittelpunkt des Prozesses um einen geplanten Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt stand.80 Bedeutung der GIA in Deutschland In Deutschland sind bisher nur einige wenige Personen bekannt geworden, die der GIA zuzurechnen sind oder Kontakte zu ihr unterhalten. Eine wie auch immer geartete Struktur der GIA existiert in Deutschland nicht. Von den in Deutschland lebenden GIAAnhängern gingen bisher keine nennenswerten extremistischen Aktivitäten aus. Einige von ihnen sind in der Vergangenheit aber kriminell auffällig geworden. Die Gewaltbereitschaft der GIA-Anhänger birgt eine nicht zu unterschätzende Gefahr in sich. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an einen GIA-Aktivisten, der 1999 bei einer Fahrzeugkontrolle in Frankfurt/M. einen Polizisten niederschoss.81 Generell wird Deutschland von Personen aus dem Spektrum der GIA vor allem als Ruhe- und Rückzugsraum genutzt. Es gilt dennoch als sicher, dass die in Deutschland lebenden Angehörigen der GIA in europaweit agierende Netzwerke eingebunden sind, die mit der logistischen Unterstützung der in Algerien gewalttätig operierenden Gruppen befasst sind. Dabei werden GIA-Strukturen im Ausland von Deutschland aus etwa durch Geldsammlungen und Passfälschungen unterstützt. Andere Straftaten von GIA-Mitgliedern sind bisher nicht bekannt geworden. Anzeichen dafür, dass der bewaff- 80 ebd. 81 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 8. 45 nete Kampf der Gruppe auch auf Ziele in Deutschland ausgedehnt werden soll, gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. 82 Die AIS Die Armée Islamique du Salut — Islamische Heilsarmee (AIS) ging aus der 1988 von Abassi Madani und Ali Belhadj, zwei Mitgliedern des nationalen algerischen Zweigs der Muslimbruderschaft, gegründeten FIS hervor. Nach einem Jahr im Untergrund gründete die FIS 1993 die Armée Islamique du Salut — Islamische Heilsarmee (AIS) . Diese sollte fortan als bewaffneter Arm der FIS mit Gewalt gegen das algerische Regime vorgehen. Die AIS setzte sich aus unterschiedlichen Gruppierungen der FIS zusammen, unter anderem aus dem Mouvement Islamique Armée (MIA). Sie war Schätzungen zufolge zwischen 5.000 und 10.000 Mann stark und hatte ihre Hochburg in Nord-Ostalgerien; zeitweise beherrschte sie auch größere Landgebiete im Westen des Landes. Die AIS schuf sich eine funktionierende finanzielle und logistische Basis im Land. Waffen, Sprengstoff, Funkgeräte und sonstige Ausrüstung wurden durch Überfälle auf Kasernen und Arsenale der Armee sowie auf teils illegalen Märkten im Ausland beschafft. Sie richtet ihre guerillaähnlichen Angriffe überwiegend gegen militärische Einrichtungen und den staatlichen Sicherheitsapparat. Seit 1994 verübte sie auch gezielt Sabotageakte gegen lebenswichtige Versorgungsstrukturen des Landes. In der 1991/1992 entstandenen GIA hatte sie einen terroristischen „Konkurrenten“, der im Kampf gegen das verhasste Regime auch vor Anschlägen gegen die Zivilbevölkerung nicht zurückschreckte. Nach gescheiterten Dialogen zwischen beiden Gruppierungen entluden sich die Rivalitäten in gewaltsamen Auseinandersetzungen, in denen sich der Anspruch jeder Gruppe auf die exklusive Legitimität ihres bewaffneten Kampfes manifestierte. Sie schreckten dabei auch vor gegenseitigen Morden nicht zurück. Die AlS erkannte in den Folgejahren die Aussichtslosigkeit ihres militärischen Kampfes gegen die Staatsmacht und verkündete im Oktober 1997 einen einseitigen Waffenstillstand, der im Juni 1999 von der Regierung in Algier offiziell anerkannt wurde.83 Der neue Präsident Abdelaziz Bouteflika erließ 1999 ein sogenanntes „Gesetz zur Nati- 82 ebd. 83 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 10. 46 onalen Eintracht“, das in Algerien als Symbol der nationalen Aussöhnungspolitik gilt.84 In Folge der Generalamnestie vom 11.01.2000, die ihren Anhängern ausdrücklich Straffreiheit gewährte, gab die AIS am folgenden Tag ihre Selbstauflösung bekannt. Ein Führer der AIS erklärte dazu: „Angesichts der von Tragödien und Zerstörung geprägten Situation des Landes und seiner Bürger, die die Gesellschaft in ihrer Existenz bedrohen, beschließt die AlS ihre Auflösung nach Erscheinen dieser Mitteilung.“ Der privaten algerischen Presse zufolge sollten die zu ihren Familien zurückkehrenden Terroristen staatlicherseits eine beachtliche monatliche Unterstützung erhalten. Ob die Regierung dieses Versprechen einlöste, ist nicht bekannt. Mehrere Hundert ehemalige AIS-Miglieder wurden in einer der Armee unterstellten Freiwilligentruppe zum Kampf gegen die GIA eingesetzt. Während sich die Kampftruppen der AIS auflösten, hatten sich aber mit der GIA und der GSPC längst noch radikalere Terrorgruppen formiert, deren Brutalität die algerische Bevölkerung lange Jahre in Angst und Schrecken versetzte und bis heute hinein an die Hunderttausend Todesopfer gefordert hat. 85 Die Terrorgruppe HDS Eine weitere Abspaltung der GIA wurde unter dem Namen „Houmat daawa salafiya“ (Schutz der salafitischen Mission) (HDS) bekannt. Die Gruppierung wurde 1998 von Kada Ben Chiha, der 1999 getötet wurde, gegründet. Sie soll etwa über 450 Militante verfügen und vor allem westlich der Hauptstadt Algier, insbesondere in den Ouarsenis-Bergen im Wilayat (Bezirk) von Relizane und Tissemsilt aktiv sein. Sie wurde vor allem für Überfälle auf abgelegene Kleindörfer verantwortlich gemacht; ihr Kommandeur, Mohammed Slim, war wegen seiner Kampftätigkeiten in Afghanistan als „Slim, der Afghane“ bekannt. In den 1990er Jahren bildeten sich indes weitere kleinere bewaffnete Gruppierungen heraus, die weniger politischideologische denn ökonomische Interessen verfolgten und in verschiedenste Kampfhandlungen verwickelt waren. 86 84 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 10f. 85 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 11. 86 Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF): Das Kriegsgeschehen 2003. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte. He- 47 Bedeutung der HDS in Deutschland Es liegen keine Erkenntnisse über Strukturen oder Einzelmitglieder dieser Gruppierung in Deutschland vor. In den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder wird die HDS nicht erwähnt. 1.12 Die illegale FIS seit den 1990er Jahren: Ideologie und Strukt uren Staat und Gesellschaft sollen der FIS-Ideologie zufolge strikt an der Schari’a ausgerichtet sein. Laizismus und Pluralismus werden als Widerspruch zum „wahren, authentischen“ Islam abgelehnt, ebenso die Demokratie, die in älteren Grundsatzpapieren der FIS mit Atheismus gleichgesetzt wurde. Im Falle eines Sieges der FIS im Rahmen der Parlamentswahlen von 1991 hatten einige ihrer Anhänger das Verbot laizistischer und sozialistischer Parteien in Algerien angekündigt. Die FIS ist ideologisch in zwei Lager geteilt: Den „Jazaristen“ als Vertreter eines dialogbereiten Islam und Fürsprecher einer allmählichen Islamisierung der algerischen Gesellschaft stehen die „Salafisten“ gegenüber, die für einen kompromisslosen und radikalen Wandel Algeriens in einen islamischen Staat eintreten. Zu den Zielen der FIS äußerte sich Ali Belhadj, der zu den „Salafisten“ gerechnet wird, seinerzeit im FIS-Organ „Al-Munqidh“. Darin erteilte er der Idee der Volkssouveränität eine scharfe Absage: Wo das Volk herrsche, könne nicht Gott herrschen - so seine Auffassung. Gleichzeitig kritisierte er den Liberalismus als politische Ideologie: Der Begriff der Freiheit bringe das Volk gegen jede Form von Autorität auf, sogar gegen Gott und die Sunna. Freiheit im Islam hingegen sei an die Schari’a gebunden. Zur Religionsfreiheit führte er beispielsweise aus, sie beinhalte seiner Ansieht nach nur die Freiheit zum Islam hin, gebe aber nicht die Freiheit, sich vom Islam abzuwenden. Auch die Freiheit der Meinungsäußerung sei nicht uneingeschränkt: So habe der Muslim nicht das Recht, Gott zu lästern, seine Religion in Frage zu stellen oder sich gegen deren Normen zu erheben.87 rausgegeben von Wolfgang Schreiber. Wiesbaden (2004), S. 183; Roberts, Hugh: Political Issues and Developments in Algeria. Edited by The United Kingdom Parliament. Select Committee on Foreign Affairs Minutes of Evidence. London (2005). Herunterzuladen unter www.parliament.the-stationaryoffice.co.uk/pa/cm200405/cmselect/smfaff/36/5020105.htm, S. 3. 87 Innenmi nisterium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 11f. 48 Politische Leitlinien der FIS Im „Grundlagendokument“ der FIS vom 19. Juni 1995 wird die Gratwanderung zwischen der Bindung an ein strenges IslamVerständnis einerseits und dem Erfordernis seiner politischen Umsetzbarkeit andererseits deutlich. An erster Stelle der politischen Forderungen der FIS steht nach wie vor die Umwandlung Algeriens in einen an Koran und Schari’a ausgerichteten islamischen Staat. Dabei sollen die islamischen, arabischen und berberischen Elemente, die als Grundlage des „Fundaments und der Einheit dieser Staatsgemeinschaft“ gesehen werden, erhalten bleiben. Ferner soll das Land von westlichen Einflüssen befreit werden. Die wesentlichen Forderungen der FIS sind: ?? Der Islam soll die Religion des Staates und die Quelle seines Glaubens, seiner Moral und seiner Gesetzgebung sein. ?? Der algerische Charakter soll im Rahmen seiner nationenbildenden islamischen, arabischen und berberischen Elemente erhalten bleiben. ?? Die Regierung soll gemäß der Verfassung vom 21. Februar 1989 arbeiten, bis diese durch den freien Willen des Volkes auf legalem Wege ersetzt oder geändert wird. ?? Das Mehrparteiensystems soll akzeptiert bleiben. ?? Die Menschenrechte und die Freiheiten aller Personen und Gemeinschaften hinsichtlich ihrer politischen, sozialen und religiösen Merkmale sollen beachtet werden. ?? Das Recht des Volkes auf die freie Wahl seiner Regierung, die Garantie des Prinzips des politischen Machtwechsels durch den Willen des Volkes sowie das Recht des Volkes, seine Wahl mit legalen Mitteln zu verteidigen soll anerkannt werden. ?? Das Militär soll aus allen innenpolitischen Ereignissen und parteipolitischen Auseinandersetzungen herausgehalten werden.88 Ungeachtet dieser relativ moderaten politischen Forderungen haben FIS-Propagandisten viele arbeitslose Jugendliche seinerzeit vor allem mit totalitären Parolen gegen Verwestlichung, Demokratie und Laizismus als Anhänger gewonnen. Eine grundlegende Ideologie oder verbindende Absichten sind bei der algerischen FIS sowie bei 88 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 12. 49 den FIS-Anhängern im Ausland nur noch in Umrissen zu erkennen. Dabei ist weniger das langfristige Ziel umstritten, einen algerischen Gottesstaat zu errichten. Streitig ist vielmehr der Weg dorthin. Dazu haben sich innerhalb der FIS im Ausland zwei konträre Ansätze entwickelt. Während eine Fraktion der FIS eine Verständigung mit der algerischen Regierung anstrebt, setzt die andere auf Konfrontation und Abgrenzung vom algerischen Versöhnungskurs.89 Die Auslandsorganisation der FIS Die FIS agierte in Algerien seit ihrem Verbot 1992 überwiegend im Untergrund und setzte ihren politischen Kampf gleichzeitig außerhalb der Staatsgrenzen fort. Hierfür gründete sie im September 1993 die „Instance Executive du FIS à l’Etranger“ — „Exekutivinstanz der FIS im Ausland“ (IEFE), die die FIS seither im Ausland repräsentiert. Der organisatorische Schwerpunkt der ,Exekutivinstanz‘ liegt in Deutschland und hier vor allem in NRW. Leiter der IEFE ist der in Köln ansässige FIS-Funktionär Rabah Kebir. Die ,Exekutivinstanz‘ versuchte in der Vergangenheit, unterschiedliche Strömungen innerhalb der FIS zusammenzuführen, um die Kommunikation der Exilalgerier untereinander und die Darstellung gegenüber westlichen Medien effektiver zu gestalten. Zur IEFE gehört ein Informationsbüro in Brüssel, ein beratender Ausschuss sowie ein politischer Ausschuss. Seit ihrer Gründung ist die ,Exekutivinstanz‘ von zwei unterschiedlichen ideologischen Lagern geprägt: den Salafisten und den Jazaristen. Während sich die Salafisten der salafitischen Tradition verpflichtet sehen und eine Internationalisierung des „Heiligen Kampfes“ anstreben, verfolgen die Jazaristen (von arab. Jaza‘ ir; zu deutsch: Algerien) vor allem nationale algerische Ziele.90 Für den jazaristischen Kurs steht unter anderem Mourad Dhina, der heutige Leiter des CCFIS. In Algerien hatten sich die Jazaristen bereits 1991 der FIS angeschlossen, mit ihr im gleichen Jahr die Parlamentswahl bestritten und dabei den Großteil der erlangten 188 Parlamentssitze besetzt. Die Spannungen zwischen dem panislamisch ausgerichteten Lager der Salafisten und dem der nationalistisch denkenden Jazaristen traten jedoch schon kurz nach der Gründung der IEFE deutlich zu Tage. Im Juni 1997 wurde der Grün89 ebd. 90 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 13. 50 der und erste Präsident der FIS, Abassi Madani, vorzeitig aus der Haft entlassen, wenige Monate später aber unter Hausarrest gestellt; Belhadj, der ehemalige Vizepräsident der FIS, dagegen blieb weiterhin in Haft. Im September des gleichen Jahres rief die AIS zum Waffenstillstand auf. Die Befürwortung des Gewaltverzichts durch Rabah Kebir führte zu einer Spaltung der FIS-Aktivisten im Ausland. Der gemäßigte, kompromissbereite Kurs, wie er sich zwischenzeitlich bei seinen Gefolgsleuten durchgesetzt hat, steht im Widerspruch zu radikaleren Positionen der inneralgerischen FIS.91 Mitglieder der „Exekutivinstanz“ (in der Mehrzahl Jazaristen), die die algerische Friedenspolitik aus diesen und anderen Gründen als Fehlschlag und Täuschung bewerteten und Kebir Kumpanei mit der Regierung in Algier vorwarfen, gründeten im Oktober 1997 den „Conseil de Coordination à l’Etranger“ — „Koordinationsrat der FIS im Ausland“ (CCFIS). Der CCFIS-Führer Ahmed Zaoui sprach in einer in London veröffentlichten Erklärung der IEFE die Kompetenz als Sprachrohr der FIS im Ausland ab und gab die Gründung der neuen Auslandsvertretung bekannt. 92 Der CCFIS fordert die Rückkehr zur kompromisslosen Durchsetzung der politischen Ziele der FIS. Dieser Splittergruppe ist es allen anderslautenden Ankündigungen zum Trotz bisher nicht gelungen, politisch an Einfluss zu gewinnen. Die mangelnde Durchschlagkraft ihrer politischen Überzeugungen führten Anhänger des CCFIS von Beginn an auf veraltete Strukturen innerhalb der Auslands-FIS zurück. Abhilfe versprachen sich die Aktivisten des CCFIS von einem Europakongresses, auf dem die Zukunft der Exil-Front und ihrer Anhänger erörtert, ein neuer Handlungsrahmen festgelegt und die exklusive Legitimität des CCFIS als Interessensvertretung der algerischen FIS im Ausland vereinbart werden sollte. Auch der Fortbestand der IEFE und die Führungsposition Rabah Kebirs standen zur Disposition. Organisatorische Probleme und interne Personal- und Richtungsstreitigkeiten verzögerten den Kongress jedoch ständig. Unter dem Mono „Konferenz zu Ehren des Märtyrers Abdul Qader Hachani“ (dieser war Nachfolger von Madani als Präsident nach dessen Verhaftung im Sommer 1991, bis er 1999 bei einem Anschlag getötet wurde) wandte sich schließlich im Juni 2001 - unter 91 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 13f. 92 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 14. 51 anderem über das Internet - ein Vorbereitungskomitee an Anhänger der FIS innerhalb und außerhalb Algeriens. Die Mitglieder des Komitees vertraten die Auffassung, die algerische Regierung nähere sich ihrem Ende, was eine „Reform an der Front“ erfordere. Auf der Homepage des Vorbereitungskomitees wurden als Ziele des Kongresses genannt: ?? die Wiederherstellung der FIS und die Vereinigung ihrer Mitglieder, ?? die Erklärung der politischen Ansicht der FIS bezüglich der algerischen Krise und ?? die Wahl der FIS-Vertreter im In- und Ausland gemäß Satzung, womit alle Organisationen innerhalb der FIS wie das Exekutivkomitee, der Koordinierungsrat und die parlamentarische Vertretung als aufgelöst gelten sollen.93 Durchgeführt wurde der Kongress, der ursprünglich in Deutschland stattfinden sollte, schließlich vom 3. bis 4. August 2002 in einer belgischen Kleinstadt. Kernpunkte der Veranstaltung waren die Verabschiedung des aktualisierten Parteiprogramms und die Überarbeitung des vom CCFIS im Januar 1999 veröffentlichten „Manifests der FIS über Gerechtigkeit und Frieden in Algerien“ („Manifeste du Front Islamique du Salut pour la Justice et la Paix en Algérie“). Der Kongress stieß vor allem bei der algerischen FIS auf große Kritik, denn er soll ohne offizielle Autorisierung stattgefunden haben.94 Die aktuelle Lage der Auslands-FIS ist unklar. Wahrnehmbar ist sie derzeit, wenn überhaupt, fast ausschließlich in der Person des Führers des CCFIS, Dr. Mourad Dhina. Rabah Kebir verfügt innerhalb der Auslands-FIS kaum mehr über Rückhalt; sein politisches Engagement ist nur noch sehr gering. An der Spitze seiner Kritiker stehen die Söhne des Abassi Madani. Sie und viele andere, frühere Anhänger Kebirs haben sich wegen der in ihren Augen enttäuschenden algerischen Aussöhnungspolitik dem in seinen Ansichten radikaleren CCFIS-Kreis zugewandt.95 93 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, ebd. 94 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 15. 95 ebd. 52 Die algerische Regierung hat die Freilassung von Madani und Belhadj im Sommer 2003 an eine Reihe von Bedingungen geknüpft. So dürfen sie in Zukunft weder Versammlungen abhalten, noch sich in einer Partei engagieren, wählen oder an Demonstrationen teilnehmen. Die Aberkennung dieser Bürgerrechte wird allgemein als Versuch des algerischen Regimes gewertet, jedwede politische Betätigung der beiden zu unterbinden und sie auf diese Weise von ihrer Anhängerschaft zu trennen. Es ist derzeit nicht abzusehen, welche Auswirkungen die Haftentlassung der beiden FIS-Führer auf die islamistische Bewegung in Algerien haben wird. Unklar ist auch, in welcher Weise sie die weiteren Entwicklungen innerhalb der Auslands-FIS beeinflussen wird. Belhadj hatte im Vorfeld seiner Haftentlassung bereits angekündigt, die beiden existierenden Lager um Kebir einerseits und den CCFIS andererseits wieder zu vereinen.96 Nach der langjährigen Haft bzw. Hausarrest von Ali Belhadj und Abassi Madani ist die algerische FIS heute weitgehend paralysiert. Die unter den Anhängern der FIS seit längerem bestehende Tendenz, sich anderen, legal tätigen islamistischen Parteien oder Bewegungen anzuschließen, wurde nach dem Sieg der FLN bei den Parlamentswahlen 2002 weiter verstärkt. Einen Teil der FISAnhängerschaft zog in der Vergangenheit vor allem die Mouvement pour le Rénouveau National - Bewegung für die Nationale Erneuerung (MRN von Abdallah Djaballah) zu sich. Bei den letzten Parlamentswahlen stellte die MRN vielerorts ehemalige Funktionsträger der FIS auf. Mit dieser Strategie gelang es Djabballah, aus seiner Bewegung die stärkste Kraft im islamistischen Lager zu machen.97 Bedeutung der FIS in Deutschland Nicht zuletzt weil Rabah Kebir in Köln wohnt, ist Deutschland ein strategischer Schwerpunkt der FIS im Ausland. Wegen fortgesetzter radikal-politischer Äußerungen ist ihm in Deutschland seit 1994 jedoch eine politische Betätigung verboten. Die Zahl der FISAktivisten wird vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz bundesweit auf etwa 30098, vom Bundesamt für Verfassungsschutz 96 ebd. 97 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 15f. 98 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 16. 53 mit ca. 35099 geschätzt; in NRW sind es rund 70 Personen. Kebir gilt trotz der aktuellen Umbruchsituation in der Auslands-FIS noch immer als ihr ranghöchster Vertreter. Innerhalb der FIS-Anhänger im Ausland hat Kebir in den vergangenen Jahren aber erheblich an Rückhalt eingebüßt.100 Eine offene, vereinsähnliche Struktur der FIS existiert in Deutschland nicht. FIS-Anhänger sind hier vielmehr in regionalen Gruppierungen zusammen geschlossen, die sich in Moscheen bzw. „Islamischen Zentren“, die teilweise der Muslimbruderschaft zuzurechnen sind, treffen. Die in Deutschland aktiven FIS-Anhänger sind in eine informelle, durch persönliche Verbindungen gekennzeichnete Struktur eingebunden, die über die Grenzen Deutschlands hinausreicht. Besonders intensiv sind die Kontakte zu FIS-Aktivisten in Belgien, Frankreich und der Schweiz. Von FIS-Anhängern in Deutschland gehen derzeit keine nennenswerten extremistischen Aktivitäten aus. Zwar werden innerhalb des FIS-Spektrums auch radikale politische Positionen (meist in Bezug auf das Heimatland) vertreten, doch Fanatiker sind offenbar in der Minderzahl. Deutschland wird von den hiesigen Mitgliedern der FIS vor allem als Rückzugs- und Ruheraum gesehen. Gravierende Straftaten von FIS-Anhängern in Deutschland, im Zusammenhang mit der Unterstützung der Heimatorganisation sind selten. Der Kampf gegen das algerische Regime wird hierzulande vor allem durch Geldsammlungen in Moscheen und den Verkauf von Propagandamaterial unterstützt. Geldspenden werden durch Kuriere auf dem Land- oder Seeweg an ihre Bestimmungsorte nach Algerien gebracht.101 1.13 Algerien zwischen islamistischem Terror und Friedensinitiat iven in den 1990er Jahren Weder die zwischen der FIS, der FLN und der Front des Forces Socialistes (FFS) im Januar des Jahres 1995 im Rahmen der „Plattform von Rom“ verabschiedete „Nationale Charta“, die der Wiederherstellung eines souveränen, demokratischen und sozialen Algeriens im Sinne der Prinzipien des Islam dienen sollte, noch die Präsidentschaftswahlen vom November des selben Jahres, aus denen 99 Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin (2004), S. 174. 100 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 16. 101 54 ebd. der seit Januar 1994 amtierende Staatschef General Liamine Zeroual als deutlicher Sieger hervorging, führten zu einem Rückgang der Intensität der militärischen Auseinandersetzungen. Dies gilt auch für das Referendum über eine neue Verfassung, in der u.a. die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten erheblich erweitert und politische Parteien, die sich als religiös definieren, verboten wurden sowie für die Parlamentswahlen vom Juni 1997, die dem Staatschef Zeroual nahestehende Rassemblement National Démocratique (RND) gewann. Sie erhielt 156 von 380 Parlamentssitzen. Zweitstärkste Kraft wurde die Mouvement de la Société pour la Paix (MSP), die Nachfolgeorganisation der algerischen MSI-Hamas.102 Die Tatsache, dass die Intensität der bewaffneten Auseinandersetzungen gleich blieb, obwohl sich die Regierung um eine höhere Legitimation bemühte, liegt zum einen darin begründet, dass insbesondere die GIA jegliche Form des Dialogs mit der algerischen Regierung ablehnt. Zum anderen - und dies ist von entscheidender Bedeutung - wurde die islamistische Opposition von der Regierung vollkommen aus dem politischen Prozess ausgeschlossen. Dies ist z.B. in Ägypten anders. Prägnanteste Parallelen in beiden bewaffneten Konflikten sind sicherlich die diesen zugrundeliegenden Hauptkonfliktlinien und Ursachen sowie die Konstellation der Konfliktparteien. Beide Konflikte sind Folgen einer als illegitim empfundenen staatlichen Regierung.103 In beiden Fällen wird ein korruptes und mehr oder minder autoritäres Regime durch reformorientierte Organisationen - in Ägypten ist dies insbesondere die Muslimbruderschaft, in Algerien die FIS - oder militante islamistische Gruppierungen herausgefordert. Die Artikulation des Protests und die Legitimation des bewaffneten Widerstandes geschieht jeweils unter Rückgriff auf den Islam, der zugleich als Programm für die angestrebte Gesellschaftsform dargestellt wird: al-Islam huwa al-hall (der Islam ist die Lösung). Sowohl in Ägypten als auch in Algerien soll das von den militanten islamistischen Organisationen als unislamisch perzipierte politische System durch ein an den Idealen der medinensischen Umma zu Lebzeiten Muhammads ausgerichtetes System ersetzt werden, das auf dem Koran und der Sunna des Propheten Muhammad basieren soll. Den säkularen Gesellschafts- und 102 Endres, Jürgen: Militanter Islamismus in Algerien und Ägypten. Das Kriegsgeschehen in Nordafrika. In: W & F Wissenschaft & Frieden. Herunterzuladen von: www.uni-muenster.de/Peacon/wwf/wf-97/9730207m.htm, S. 1. 103 ebd., S. 3. 55 Staatsmodellen der Moderne wird ein an traditionalen Elementen orientiertes islamistisches Modell entgegengesetzt, von dem man sich eine Form einer autochthonen Moderne verspricht und das an die Hochzeit der islamischen Kultur anknüpfen soll.104 Weitere Parallelen weist die Mitgliederstruktur der militanten islamistischen Organisationen Ägyptens und Algeriens auf. In beiden Staaten rekrutieren sich diese Organisationen vorwiegend aus jungen Erwachsenen, die nur über wenig formale Bildung verfügen und aus ruralen Gebieten oder den Armutsvierteln urbaner Zentren stammen. Des weiteren werden an den Universitäten Studenten rekrutiert, deren Zukunft trotz ihrer formalen Ausbildung meist ungesichert ist. Angesichts des Scheiterns säkularer Strategien perzipieren diese den Rückgriff auf traditionelle Bezugssysteme (hier der Islam) als einzig wahre Alternative und erfahren zudem in den islamistischen Organisationen ein Gefühl der Zugehörigkeit und Gemeinschaft. Die Unterschiede in der Größe der Konfliktparteien und der Zahl der Opfer der bewaffneten Auseinandersetzungen lassen sich u.a. durch das unterschiedliche Maß an politischen und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten erklären. Während in Algerien der islamistischen Opposition eine politische Partizipation an den bestehenden Strukturen vollkommen verwehrt wird, bleiben der islamistischen Opposition in Ägypten dazu - wenn auch geringer werdende Möglichkeiten. Sie resultieren aber auch aus den verschiedenen historischen Verläufen der Modernisierung Ägyptens und Algeriens. Im Vergleich zu Algerien ist die ägyptische Gesellschaft deutlich stärker mit Momenten moderner kapitalistischer Gesellschaft durchdrungen, wie auch die Staatlichkeit Ägyptens auf eine deutlich ältere Tradition zurückblicken kann. Beide Faktoren sind für die unterschiedlichen Entwicklungen der bewaffneten Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung.105 Sabine Kebir merkt an, dass seit die algerische Armee im Januar 1992 den zweiten Wahlgang verhindert, ein Militärregime errichtet hatte und kurz darauf die FIS verbot, viele tausend FIS-Kader und einfache Anhänger Duldung, teilweise auch Asyl in Europa, insbesondere in Schweden, England, Belgien und Deutschland, genossen. Die Eskalation der Gewalt in Algerien, der Massenmord an 104 ebd., S. 4. 105 ebd. 56 Bürger- und FrauenrechtlerInnen, an mehreren tausend einfachen Polizisten und Gefreiten konsternierte die Europäer zwar. Aber da die Neigung besteht, die Nordafrikaner für eine ethnische Subspezies mit eigener ,Identität‘ zu halten, glaubte man den beiden von der Exil-FIS vorgeschlagenen Interpretationen, wonach diese Gewalt - soweit sie tatsächlich von ihren Anhängern ausging - lediglich eine Folge des Abbruchs der demokratischen Wahlen sei und ein Großteil dieser Gewalt gar nicht von ihren Anhängern, sondern von den staatlichen Ordnungskräften ausginge, die die FIS oder gar den Islam diskreditieren wollten.106 Die Plattform von Rom Ein weiteres Beispiel für eine kurzsichtige und einseitige Sichtweise der Europäer zeigt sich in der Initiative des katholischen Laienordens St. Aegidius. Anfang 1995 kam auf Initiative des katholischen Ordens St. Aegidius und mit Unterstützung der USA sowie der Europäischen Union in Rom ein Treffen von im Ausland lebenden prominenten FIS-Führern mit Oppositionsparteien aus Algerien zustande, die sich durch eine politische Rehabilitierung der FIS ein Ende der Gewalt versprachen. Diese forderte zahlreiche Opfer nicht mehr nur unter den Ordnungskräften und Intellektuellen, sondern vor allem auch unter der Zivilbevölkerung. Neben der Nahda (Wiedergeburtspartei), einer legalen islamistischen Partei, nahmen an dem Treffen in Rom auch die der trotzkistischen Internationale angehörende Arbeiterpartei und die FFS (Front des Forces Socialistes / Front der Sozialistischen Kräfte) teil, die - ähnlich wie der Westen insgesamt - das Programm der Islamisten zwar nicht teilten, ihren Aufstand aber dennoch als legitimes Widerstandsrecht des algerischen Volkes ansahen. Am spektakulärsten war die Teilnahme der FLN in Rom, die einen Großteil ihrer Mitglieder - vor allem Funktionäre des Staates - an die vom Militärregime gegründete RND verloren hatte und neues politisches Profil suchte. Für Kenner Algeriens war es nie ein Geheimnis gewesen, dass die FLN schon zu Boumedienes Zeiten und verstärkt seit Beginn der achtziger Jahre die Islamisten gegen demokratische und linke Bewegungen instrumentalisiert hatte und selbst immer mehr islamistisches Gedankengut offizialisierte. So wurde kein Lehrer in den staatlichen Schulen gemaßregelt, wenn er üble antisemitische Propaganda betrieb. Der Schrift106 Kebir, Sabine: Politische Bilanz der Krise in Algerien. In: die herforder, Ausgabe Mai 2000. Internetversion (www.die-herforder.de/printversionen/ algerien.html), S. 1. 57 steller Rachid Mimouni erklärte noch Anfang der neunziger Jahre, dass der Lehrer seines Sohnes erzählt habe, dass Juden ihr Brot mit dem Blut von Muslimen backen würden.107 Die Unterstützer der Guerilla werden zu ihren Opfern Die Parteien, die die Plattform von Rom unterschrieben hatten, bestritten wie die FIS - oder bezweifelten zumindest - dass die Massaker unter der Zivilbevölkerung von bewaffneten islamistischen Gruppen ausging. Die GIA (Groupe Islamique Armé), die die meisten und die grausamsten Massaker verübte, sollte angeblich von der algerischen Armee unterwandert und manipuliert sein. Außerdem kritisierten Trotzkisten und FFS besonders, dass der Staat in den vielen abgelegenen Dörfern Selbstverteidigungsmilizen erlaubt und bewaffnet hatte: diese trugen angeblich zur Gewalteskalation bei. Dass die Plattform von Rom in Algerien selbst kaum die Gemüter erregte, obwohl das Land seit Ende der achtziger Jahre zahlreiche freie Presseorgane hat und die Unterzeichner von Rom - außer die verbotene FIS - die Plattform auch bekannt machen konnten, wies darauf hin, dass die betroffene Bevölkerung die eigentlichen Urheber der Gewalt nicht im Staat, sondern bei islamistischen Gruppen wusste und nicht glaubte, dass die FIS diese Gruppen überhaupt kontrollierte. Die terroristischen Gruppen hatten entscheidend an Unterstützung verloren, seit sie 1994 zum Schulstreik aufgerufen und den Terror in die Schulen getragen hatten, weil die meisten Eltern, auch in den sogenannten befreiten Zonen, ihre Kinder weiterhin in die Schule schickten. Befolgt wurde der Streik lediglich in der Kabylei, wo die FFS gleichzeitig zum Schulstreik aufgerufen hatte, wenn auch nicht mit der Ziel der radikaleren Islamisierung des Unterrichts (Schleier für Schülerinnen und Lehrerinnen, Abschaffung des Französisch- und des Musikunterrichts sowie des Sportunterrichts für Mädchen), sondern mit dem Ziel der Durchsetzung des Berberischen als Unterrichtssprache. In den Einflussgebieten der FFS kam es auch nicht zur Bildung von Bürgermilizen. Es waren teilweise Rückzugs- und Ruhegebiete für die Guerilla. Noch entscheidender für deren Prestigeverlust waren Entführungen und Vergewaltigungen von Frauen, die u.a. ebenfalls bereits als Druckmittel 107 Kebir, Sabine: Politische Bilanz der Krise in Algerien. In: die herforder, Ausgabe Mai 2000. Internetversion (www.die-herforder.de/printversionen/ algerien.html), S. 3. 58 gegenüber Familien verwendet wurden, die sich neutral oder abweisend verhielten.108 Ein prägnantes Beispiel für eine aus dem islamistischen Milieu stammende Realitätsverfälschung erfuhr Kebir nach eigenen Angaben bei einer Reise in die besetzten palästinensische Gebiete; überall sei man der Ansicht gewesen, dass der algerische Staat die Massaker an der Zivilbevölkerung anrichte, um der Islam zu diskreditieren. Dies obwohl die palästinensischen Zeitungen die Massaker der Guerilla und nicht dem Staat zuschrieben. Interessant war jedoch, dass die offensichtlich von der (palästinensischen) HAMAS gestreute Propaganda kein legitimes Widerstandsrecht der islamistischen Guerilla mehr konstatierte. Das, was in Algerien geschah, konnte und durfte nicht von Muslimen ausgehen. Auf so elegante Weise ist der islamistische Terror in Algerien in wichtigen Teilen der islamischen Welt nicht nur aus der Legitimität, sondern auch aus der Diskussion gebracht worden: Für viele einfache Menschen hat er überhaupt nicht existiert oder bedarf keiner weiteren Reflexion, weil er eben in Wirklichkeit von der Armee ausgegangen sein soll, bzw. manipuliert war. 109 Wichtiger für die allmählich einsetzende Degenerierung der Guerilla - was indes ihre Gefährlichkeit, insbesondere in abgelegenen Gebieten, keinesfalls minderte - waren die seit Mitte der neunziger Jahre offenbar nachlassende Unterstützung an Geld und Waffen aus dem Ausland. Der US-Präsident Clinton versuchte, islamistische Konten weltweit zu sperren. Anouar Haddam, der Vertreter der FIS in Rom, wurde in den Vereinigten Staaten wegen Verwicklung in terroristische Aktivitäten verurteilt. Nachdem Frankreich 1995 und 1996 Opfer von schweren Attentaten und einer Flugzeugentführung geworden war, arbeitete auch die Europäische Union hinsichtlich der Unterbindung von Waffentransporten mit der algerischen Regierung zusammen. Die 1998 verübten, dem in Afghanistan lebenden Saudi Usama Bin Ladin und seinem Terrornetzwerk Al-Qa’ida angelasteten Anschläge auf amerikanische Botschaften stärkten auch im Westen die Erkenntnis, dass ein Teil der Islamisten ihre eigentlich nur für die ungebildete Anhängerschaft konstruierte antiwestliche Ideologie ernst nimmt und in Taten umsetzt. Der Zeitfaktor wirkte 108 Kebir, Sabine: Politische Bilanz der Krise in Algerien. In: die herforder, Ausgabe Mai 2000. Internetversion (www.die-herforder.de/printversionen/ algerien.html), S. 5. 109 Kebir, ebd. 59 ebenfalls positiv für die nichtislamistischen Kräfte in Algerien. Der Eindruck, den der Wahlsieg der FIS 1991 im Ausland gemacht hatte, begann zu verblassen hinter der nicht mehr zu leugnenden Tatsache, dass sich auch große Teile der Bevölkerung gegen deren Herrschaft sträubten. Die vielen Flüchtlinge aus dem demokratischen Lager, die Frankreich aufnehmen musste, zeigten, dass ein islamistischer Staat vor den Toren Europas mehr Probleme geschaffen als gelöst hätte.110 1.14 Der neue Präsident Bouteflika und der Niedergang des Islamismus Der Präsidentschaftswahlkampf 1999, in dem alle Kandidaten versprachen, einen baldigen Frieden herbeizuführen, war geprägt von einem gleichzeitig stattfindenden anderen Konflikt. Schon lange war erkannt, dass die schlechte soziale Lage der Familien und der Hinterbliebenen der islamistischen Kämpfer ein wesentliches Hindernis der Befriedung geworden war. Es schien, dass viele Kämpfer nur deshalb weiter an Massakern und Straßenraub teilnahmen, um ihre Familien zu ernähren. Deshalb haderte das Parlament monatelang gleichermaßen um die Höhe staatlicher Entschädigungen für die Opfer der Terroristen wie auch um soziale Unterstützung für die Familien der Terroristen. Nur knapp wurde die Entscheidung abgewendet, für alle eine gleiche Unterstützung zu zahlen - was besonders für die Hinterbliebenen der bewusst für Demokratisierung eintretenden Opfer inakzeptabel schien. Andererseits machten diese Diskussionen klar, dass in vielen Fällen die Grenze zwischen „Täterfamilien“ und „Opferfamilien“ schwer zu ziehen ist, insbesondere im Falle von Dörfern, die die Guerilla unterstützt hatten und nach Entzug dieser Unterstützung angegriffen worden waren. 111 Nach seiner Wahl 1999 überraschte der neue Präsident: so brach er ein erst kurz zuvor erlassenes Gesetz über die Arabisierung und hielt Reden - je nach Publikum - auch in französischer Sprache. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er auch jenen offiziellen Islamismus bekämpfen wolle, der Schulen und Universitäten des Landes seit 25 Jahren niedergewirtschaftet hat. Auch kündigte er eine Revision des Familienrechts an. Weitgehende Kritik übte er am Justizwesen, um 110 111 ebd., S. 8f. Kebir, Sabine: Politische Bilanz der Krise in Algerien. In: die herforder, Ausgabe Mai 2000. Internetversion (www.die-herforder.de/printversionen/ algerien.html), S. 9f. 60 einen entscheidenden Fortschritt bei der Installierung des Rechtsstaats einzuleiten. Obwohl er die Forderung der Radikaldemokraten, einen laizistischen Staat zu errichten, nicht erfüllen wollte, hat doch keine bisherige Regierung so konkret den Weg des Laizismus beschritten.112 Die ,Concorde Civile‘ Im Juni 1999 wurde ein Brief Madani Mezrags, des Führers der AIS, veröffentlicht, in dem er die Aushandlung eines annehmbaren Friedens für die AIS anbot, der seiner Überzeugung nach einen Frieden auch mit der GIA nach sich ziehen würde. Kernpunkte waren: weitgehende Amnestie sowie die Berücksichtigung der sozialen Belange der Heimkehrer und ihrer Familien. Der Präsident antwortete sofort, dass er einen entsprechenden Gesetzesentwurf ausarbeiten lassen wolle. Die demokratischen Kräfte einschließlich der wichtigsten Organe der unabhängigen Presse wiesen schärfstens darauf hin, dass sie ein solches Gesetz nur dann hinnähmen, wenn es keine politische Rehabilitierung der Guerilla oder der FIS beinhalten würde. Weil er nicht nur diese Bedingung erfüllte, sondern durch seine Maßnahmen und Haltungen glaubwürdig gemacht hatte, dass er auch den Staatsislamismus und die Korruption bekämpfte, erlangte Bouteflika die Unterstützung seiner ehemaligen Gegner für die am 16. September anberaumte Volksabstimmung über die ,Concorde Civile‘. Das Gesetz sah praktisch eine Amnestie für einfache Kämpfer vor, für Gewalttäter bedeutende Strafnachlässe. Auch für sie sollte es keine Todesurteile oder lebenslängliche Gefängnisstrafen geben, wenn sie sich bis zum 13. Januar 2000 ergeben würden.113 Die Ergebnisse des Referendums vom 16. September 1999: bei 85% Wahlbeteiligung 98,6% Zustimmung, wurden von keiner Opposition mehr angezweifelt. Sofort nach dem Referendum wurden die Gefangenen freigelassen. Und am Tag nach dem Ablaufen der Frist für die Begnadigungen wurden die Kämpfer der AIS amnestiert. Zugleich löste sich diese Organisation selbst auf. Zwischen September und Januar sollen sich 6000 Kämpfer ergeben haben. Unklar ist, ob es sich hier nur um GIA-Kämpfer handelte oder ob darin auch die bereits im Waffenstillstand stehenden Männer der AIS enthalten 112 Kebir, Sabine: Politische Bilanz der Krise in Algerien. In: die herforder, Ausgabe Mai 2000. Internetversion (www.die-herforder.de/printversionen/ algerien.html), S. 10f. 113 ebd., S. 11f. 61 sind. Obwohl dieser Gnadenakt zweifellos als Erfolg zu werten ist, hatte sich das Volk durch das Referendum Frieden versprochen. Aber weder die Massaker noch individuelle Attentate hörten endgültig auf. Im November 1999 wurde Abdelkader Hachani ermordet, der eher gemäßigte junge FIS-Führer, der die Partei 1991 in die Wahlen geführt hatte, weil ihre Führer Abassi Madani und Ali Belhadj bereits inhaftiert waren (beide gehörten zu den erklärten Gegnern von Wahlen und Demokratie). Hachani war zweifellos auch ein wichtiger Unterhändler in Fragen der Concorde Civile gewesen, wenngleich er das Ziel der politischen Rehabilitierung nicht aufgegeben hatte.114 Das neue „Gesetz über die innere Eintracht“ („concorde civile“) vom 13. Juli 1999 hatte eine sechsmonatige Laufzeit: Jene „Reuigen“ aus den Reihen der bewaffneten Gruppen, die ihren Kampf vor dem 13. Januar 2000 aufgaben, sollten von dem Amnestieangebot profitieren können. Danach sollte erneut mit militärischer Härte gegen die verbleibenden Reste der bewaffneten Gruppen vorgegangen werden.115 Für die zahlreichen islamistischen Gruppen sah das Gesetz jedoch einen unterschiedlichen Umgang vor: Artikel 41 des Gesetzes besagte, dass eine kollektive Pauschalamnestierung (unter Ausschluss jeder Strafverfolgung und Beibehaltung der politischen Bürgerrechte) für die Mitglieder einer Gruppierung gelte, die dem Kampf gegen den Staat entsagten und von den Behörden „zugelassen wurden, um im Rahmen des Staates an der Bekämpfung des Terrorismus teilzunehmen“. Damit war nach allgemeiner Auffassung die AIS gemeint, so dass mehrere Monate lang darüber spekuliert wurde, ob diese ihre eigenen Strukturen beibehalten und eventuell gar als eigenständige Organisation in die algerische Armee integriert werden sollte um im Gegenzug gegen die Reste der GIA zu kämpfen. Daraus wurde jedoch nichts: Die AIS löste sich zum 13. Januar 2000 nach eigenem Bekunden ersatzlos auf. Statt der Aufrechterhaltung der „Islamischen Heilsarmee“ gab es hingegen individuelle finanzielle Hilfsmaßnahmen für deren Mitglieder, und vor allem für die Angehörigen ihrer Führung.116 114 ebd., S. 12f. 115 Schmid, Bernhard: Profiteure des Bürgerkrieges (2005). Herunterzuladen unter www.qantara.de/webcom/ show_article.php/_c-468/nr-266/_p-1/i.html? PHPSE..., S. 3. 116 62 Schmid, Profiteure, S. 3. 1.15 Profiteure des Bürgerkrieges Eine andere Seite des Krieges ist die des finanziellen Gewinns bestimmter Personen und Kreise. So wurde über einen Weg ins saudische Exil für den „Emir“ der AIS, Madani Mezrag spekuliert. Schließlich wurde Mezrag jedoch eine Mineralwasserfabrik zugesichert; in Algerien ein lukratives Unternehmen. Hierfür sollte er sich künftig dankbar gegenüber dem Regime erweisen. Vor der Wiederwahl Präsident Bouteflikas rief Mezrag dann auch im April 2004 zu dessen aktiver Unterstützung auf. Die Mitglieder anderer islamistischer Organisationen erfuhren eine weniger privilegierte Behandlung als die AIS: Sie sollten einer drei bis l2 -jährigen „Prüfungsphase“ unterzogen werden, in der sie kein aktives oder passives Wahlrecht haben sollten. Zudem wurde ihnen keine Pauschalamnestierung garantiert. Vielmehr sollten die einzelnen Mitglieder dieser bewaffneten Gruppen einer administrativen Prüfungskommission vorgeführt werden, was ihnen allerdings den Weg vors Gericht ersparte. Straffreiheit wurde dabei all jenen ehemals bewaffneten Islamisten zugesichert, die nicht persönlich für Morde oder Sprengstoffanschläge auf öffentlichen Plätzen verantwortlich waren. De facto ist allerdings in der Folgezeit nichts über eine spätere Verurteilung eines der Islamisten, die im Rahmen der „concorde civile“ ihre Waffen niederlegten, bekannt geworden. Das mag an den Schwierigkeiten liegen, Taten - wie jene der GIA - bestimmten Mitgliedern zuzuordnen.117 Nach behördlichen Angaben nutzten insgesamt 6.000 ehemals bewaffnete Islamisten das Amnestieangebot von 1999/2000. Offiziell werden sie als Reuige („Repentis“) bezeichnet. Doch diese Bezeichnung wird nicht von allen Betroffenen akzeptiert. So erklärte der ehemalige Anführer einer lokalen GIA-Gruppe aus dem Umland von Médéa, Ali Benyahia, in einem französischen Dokumentarfilm vor laufender Kamera: „Wir sind keine Reuigen, denn wir erkennen keinerlei Fehler an.“ Einige vermeintliche „Aussteiger“ bewaffneter Islamistengruppen haben das Amnestieangebot wohl hauptsächlich dazu genutzt, um zeitweise in die Legalität zurückzukehren und um neue Aktivisten zu rekrutieren. Tatsächlich gab es im Zeitraum zwischen 2000 bis 2002 Fälle neuer Mitgliedschaften jüngerer Sympathisanten innerhalb der bewaffneten Gruppen.118 117 ebd. 118 Schmid, Profiteure, S. 4. 63 Andere „Reuige“ wiederum hatten angesichts der Aussichtslosigkeit ihres Kampfes das Amnestieangebot wirklich als Gelegenheit zur Rückkehr ins zivile Leben genutzt. Für gesellschaftlichen Neid und auch politische Opposition sorgten die materiellen Privilegien, die zumindest ein Teil dieser „Reuigen“ genoss: Zwecks Wiedereingliederung wurde ihnen eine Unterhaltungszahlung und Hilfe bei der Jobsuche gewährt. In einem Land, das 2000 mit einer offiziellen Arbeitslosenrate von 30 Prozent auf dem Höhepunkt der Erwerbslosigkeit angelangt war und wo es noch immer keine funktionierende Arbeitslosenversicherung gibt, ist das nicht für alle Bürger nachvollziehbar. So gab es auch deutlichen Widerstand gegen das Amnestieangebot: Ein Teil der Armee sowie ehemalige Kommunisten, die sich vor allem als Opposition zu den Islamisten begriffen, warnten vor einer „Kapitulation des Staates“ und einer „Vorstufe des politischen Kompromisses“ mit den Islamisten. Ferner opponierten auch einige Vereinigungen von Terrorismusopfern gegen die in der Praxis sehr pauschale Amnestierung von Mitgliedern der bewaffneten Gruppen, die u.a. für Kollektivmassaker verantwortlich waren. Sie schlossen sich, mit Unterstützung eines Teils der Presse, zum „Nationalkomitee gegen das Vergessen und den Verrat“ (CNOT) zusammen. Ihre Wirkung blieb jedoch begrenzt, da die Regierung – sowie Teile der Bevölkerung – rasch einen „Schlussstrich“ ziehen wollten.119 Am 15.04.2003 verkündete Bouteflika, den seit 1992 bestehenden Ausnahmezustand auf unbegrenzte Zeit zu verlegen, was eher für ein Fortdauern des bewaffneten Kampfes sprechen würde.120 Kurz nach seiner Wiederwahl zum Präsidenten im April 2004 regte Bouteflika erneut eine befristete Amnestie an. Dieses Angebot wurde von rund 100 Mitglieder der Reste von GIA und GSPC wahrgenommen. In seiner viel beachteten Rede zum 50. Jahrestag des Beginns des algerischen Befreiungskrieges gegen die Kolonialmacht Frankreich sprach sich Bouteflika schließlich erstmals für eine Generalamnestie der im Bürgerkrieg bewaffneten Gruppen aus. Alle ehemalige Kämpfer“ - ob verurteilt oder nicht - sollten hiervon profitieren, um die „Zerrissenheit des Landes“ zu überwinden. Und derzeit spricht vieles dafür, dass sich diese Initiative auch innerhalb des ge- 119 Schmidt, ebd. 120 Arbeitsgemeinschaft, S. 186. 64 samten Staatsapparates durchsetzen könnte.121 Seine Gegner warfen ihm darauf vor, eine allzu große Nähe zu den Islamisten eingenommen zu haben. „Die Aussöhnung führt in den Abgrund“, kritisierte der ehemalige Verteidigungsminister Khaled Nezzar die Regierung.122 Präsident Bouteflika hat im Herbst 2004 eine Generalamnestie vorgeschlagen, über den die algerische Bevölkerung abstimmen soll. Die Algerier erwarten, dass er bald Einzelheiten mitteilen wird. Für Menschenrechtsorganisationen wie „SOS Disparues“ (SOS Verschwundene), die für Angehörige der Opfer des Kriegs eintreten, bedeutet eine Amnestie lediglich nur eine von oben verordnete „kollektive Amnestie“. Oftmals sind die Entführer und Mörder sogar bekannt - sie dürften nicht straffrei ausgehen, so Verwandte von Verschwundenen und Menschenrechtler.123 Die Bilanz des Bürgerkrieges ist erschreckend: nahezu 150.000 Tote, dazu 200.000 Kriegswaisen und eine Million traumatisierte Kinder.124 Auf der anderen Seite ist jedoch festzuhalten, dass die Islamisten diese blutige Machtprobe verloren haben. Ohne heute noch einen bedeutenden Rückhalt in der Bevölkerung zu haben, sind ihnen lediglich kleinere Rückzugsgefechte zuzutrauen. Auf absehbare Zeit werden sie keine Chance mehr bekommen, die politische Macht in dem Maghrebstaat zu erringen. 1.16 Algerien heute: Rückzugsgefechte der Islamisten Im Stadtbild von Algier im Frühjahr 2005 sind nach Angaben des FAZ-Reporters Hans-Christian Rößler die langen Bärte der Islamisten verschwunden. Lediglich in Polizeiberichten tauchen noch die militanten Islamisten auf; immer seltener gelingt es ihnen, Anschläge zu verüben. Rößler zufolge sollen heute (April 2005) wenige hundert noch aktiv sein, im Vergleich zu mehr als 20.000 Mitte der neunziger Jahre.125 121 Schmid, Profiteure, S. 5. 122 Schicho, Walter: Handbuch Afrika. Bd.3: Nord- und Ostafrika. Frankfurt a.M. (2004), S. 102f. 123 Schmid, Profiteure, S. 5. 124 Schicho, S. 103. 125 Rößler, Hans-Christian: Die Vergangenheit hinter sich lassen. Algeriens Alltag wird europäischer – die Islamisten schlagen nur noch Rückzugsgefechte. In: FAZ v. 14.04.2005, S. 3. 65 In Politik und Gesellschaft führen die Islamisten nur noch Rückzugsgefechte, wenngleich sie eines im April 2005 im Parlament gewannen. Sie verhinderten, dass das neue Familiengesetz, das seinen umstrittenen Vorgänger von 1984 ablöst, zu modern ausfiel – gegen den angeblichen Willen des Präsidenten und der Bevölkerung.126 Algerierinnen können zwar Ministerinnen oder Vorstandsvorsitzende werden, aber ohne männlichen Vormund weiterhin nicht heiraten. Die Regierung gab zumindest vor, diesen Paragraphen ursprünglich ganz streichen zu wollen; im Parlament gab es jedoch dafür keine Mehrheit. Auch das neue Familienrecht gesteht dem Mann nach wie vor das Recht zu, gleichzeitig mit bis zu vier Frauen verheiratet zu sein, wenngleich im algerischen Alltag die Polygamie kaum verbreitet ist. Lediglich in folgender Hinsicht wurde die Stellung der Frau verbessert: sie hat nach der Scheidung Anspruch auf Unterhalt von ihrem bisherigen Ehemann (bisher gab es keinen solchen Anspruch), der jedoch im Falle einer erneuten Heirat der Frau wegfällt; ebenfalls bekommt sie das Recht auf Erziehung der Kinder, die nach der Scheidung ausschließlich bei der Mutter bleiben (bisher bekam der Vater nach der Scheidung ausschließlich das Sorgerecht).127 Im Alltag wendet sich das Land immer mehr europäischen Verhältnissen zu, welches keineswegs Ergebnis einer Modernisierungspolitik „von oben“, sondern Ausdruck des Willens breiter Volksschichten ist. Dies gibt Islamisten immer weniger Möglichkeiten einer erfolgversprechenden politischen Agitation. Selbst die im Parlament noch vertretenden „gemäßigt“ islamistischen Parteien, die ohnehin nur einen kleinen Teil der algerischen Bevölkerung repräsentieren, sind eher Ausdruck politisch-kultureller Rückzugsgefechte einer vergangenen Epoche. 1.17 Schlusswort Der Islamismus in Algerien – in seiner eigentlichen Form vor kaum 20 Jahren entstanden – steht heute (2005) faktisch vor dem Aus. Eine bemerkenswerte Entwicklung, bedenkt man, dass in nahezu allen islamisch geprägten Ländern sowie in den muslimischen Migrantengesellschaften westlicher Industrieländer, konservativislamische bis islamistische Gedanken und Überzeugungen eindeu126 Amir, Nabila: Les codes de la famille et de nationalité adopté à la majorité. In: El Watan v. 15.03.2005. Herunterzuladen unter www.elwatan.com. 127 66 Rößler, S. 3. tig auf dem Vormarsch sind. Prägnante Beispiele dafür finden sich in Ägypten, Palästina, der Türkei, Bosnien-Herzegowina, Albanien, dem Irak, dem Iran, Saudi-Arabien, Pakistan, Malaysia, Indonesien, den überwiegend muslimischen Südphilippinen und in nahezu ganz Westafrika (insbesondere dort im muslimisch dominierten Norden Nigerias). Die Zukunft wird zeigen, ob Algerien weiterhin eine „Sonderrolle“ spielen wird. Das Land, mit 132 Jahren länger als alle anderen islamisch geprägten Regionen unter europäischer Kolonialherrschaft, stellt somit auch in Bezug auf seine islamische (und bisher: islamistische) Seite einen Sonderfall dar, der weiterhin eine genaue und intensive Beobachtung verdient. 2. Die wichtigsten islamistischen Gruppierungen Algeriens (in alphabetischer Reihenfolge) Al Qiyam Name: Al Qiyam [Die Werte] Gründung: 1964 Vorstand: (1964-1970) Vorsitzender Al-Hachemi Tijani; eigentlicher theoretischer Kopf Malik Bennabi128 Sitz: Algier (1964-1970) Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Als islamistische Organisation mit deutlichen ideologischen Bezügen zur Muslimbruderschaft gegründet. Forderte die Rückkehr Algeriens zu „rein islamischen Werten“, die allen „importierten Ideologien“ – dazu gehört aus ihrer Sicht auch der Sozialismus, aber auch der Populismus der FLN – überlegen seien. Im September 1966 vom Präfekten von Algier mit einem Betätigungsverbot belegt. Die Gruppierung hatte kurz zuvor die im Mai 1966 erfolgte Hinrichtung des Ideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft Sayyid Qutb durch die Regierung in Kairo heftig kritisiert.129 Im März 1970 wurde die Organisation von der algerischen Regierung offiziell 128 Malik Bennabi (1905-1974) war Islamgelehrter an der Universität Constanti- ne. 129 Biegel, Rainer: Die algerischen Präsidentschaftswahlen vom 16. November 1995. In: Orient 37(1996), S.272. 67 verboten.130 Auch der spätere FIS-Gründer Abassi Madani gehörte dieser Gruppierung an. 131 Armée Islamique du Salut (AIS) Name: Armée Islamique du Salut (AIS) [Islamische Heilsarmee, Islamische Rettungsarmee] Gründung: 1992 Vorstand: unbekannt Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt; um 1995 vermutlich mehrere Hundert Kämpfer Werdegang: 1992 von Teilen der verbotenen Front Islamique du Salut (FIS) gegründeten Untergrundorganisation, die den Kampf gegen das algerische Regime und seine Vertreter aufnahm. Hierbei in Opposition zu anderen islamistischen Untergrundorganisationen wie der „Groupe Islamique Armé“ (GIA) stehend, gegen die sie in zahlreiche verlustreiche Kämpfe verwickelt war. Zeichnete für zahlreiche Terroranschläge – insbesondere an der algerischen Zivilbevölkerung – verantwortlich. Die AIS hat 2000 offiziell den bewaffneten Kampf gegen die algerische Regierung aufgegeben und sich nach eigenen Angaben aufgelöst. Association Al-Irchad wal-Islah Name: Association Al-Irchad wal-Islah / Jami‘at alIrshad wal-Islah (JII) [Vereinigung für Orientierung und Reform] Gründung: 1989 Vorstand: (1989-90) nah132 130 Schmid, S. 100f; Faath, S. 269f. 131 Schmid, S. 101f. 132 Vorsitzender Mahfoud Nah- Zu Mahfoud Nahnah siehe folgendes von einem seiner Anhänger verfasstes (und tendenziell geschöntes) Werk: Ibrahim Bin Umar: al-Ustadh Mahfoudh Nahnah. Rajul al-Hiwar [Professor Mahfoudh Nahnah. Mann des Dialogs]. alJaza’ir [Algier] (1995). Ein weiteres, ebenfalls von einem seiner Anhänger ent- 68 Sitz: Algier Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: El-Irchad Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Die Jami‘at al-Irchad wal-Islah (JII), eine gemäßigt is lamistische Vereinigung, wurde Ende 1988 von Cheikh Mahfoudh Nahnah, einem Professor aus Blida gegründet und am 11.09.1989 als „kulturelle Vereinigung“ zugelassen.133 Ziel der Organisation war – nach eigenen Angaben – die „moralische Erziehung“ des Volkes im islamischen Sinne. Die JII vertritt gegenüber radikaleren Organisationen wie der FIS gemäßigtere Positionen; so wird die Mitarbeit von Frauen in dem Verband ausdrücklich begrüßt und gefördert; der Verein besitzt auch eine eigene Frauensektion. Ziel der JII ist jedoch auch - wie alle anderen islamistischen Parteien oder Vereine Algeriens - die Errichtung eines „islamischen Staates“ auf Basis der islamischen Rechtsordnung (Shari‘a). 134 Im September 1989 rief die Organisation dazu auf, gemeinsam mit anderen islamistischen Gruppierungen eine „Islamische Allianz“ zu bilden, die zur „Stärkung der Reihen der Muslime“ und der „Vereinheitlichung des Diskurses“ beitragen soll. In diesem Aufruf wurde unterstrichen, dass im Mittelpunkt der eigenen politischen Zielsetzung die Achtung der Grundfreiheiten, die Ehrung der Frau sowie die „Erlaubnis“ stehe, ihr beim Aufbau des islamischen Gemeinwesens eine aktive Rolle zuzugestehen. Gemäß der JII solle die „Förderung des Bildes der islamistischen Frau“ im Vordergrund ihrer Aktivitäten stehen.135 Der Verband besaß ein eigenes Organ, die Zeitschrift El-Irchad, deren Nullnummer im Dezember 1989 erschienen war. 136 sprechend unkritisch geschriebenes Buch behandelt neben seiner Biographie seinen politischen Werdegang: Hamas al-Jaza’ir [Die Hamas (-Partei) Algeriens]. al-Jaza’ir [Algier] (1995). 133 Faath, S.351. Mahfoudh Nahnah, 1941 in Blida geboren, galt seit den 1960er Jahren als „Repräsentant“ der Muslimbruderschaft in Algerien (Schmid, S. 130). 134 Faath, S.351. 135 Faath, ebd. 136 Faath, ebd. 69 Die JII, die stets zum herrschenden Regime eine wohlwollende Haltung eingenommen hat, wurde durch staatliche Maßnahmen nicht wesentlich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Im Dezember 1990 ging die Gruppierung in der neuen politischen Partei unter dem Namen Harakat al-Mujtama‘ al-Islami (MSI-Hamas) [Bewegung für die islamische Gesellschaft] auf.137 Association Ennahda (AN) Name: Association Ennahda (AN) Gründung: 1989 Vorstand: (1989-90) Abdallah Djaballah Sitz: Algier Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Die Association Ennahda (arab. Mujtama` an-Nahdha / AN) wurde 1989 als kulturelle Vereinigung gegründet. Gründungsmitglied und Vorsitzender war Cheikh Abdallah Djaballah. Der Verband definiert sich selbst als eine „erzieherische und kulturelle Maßnahmen fördernde Vereinigung“. Die wissenschaftliche, politische und kulturelle Arbeit der AN wird in Positionen eingebettet, die nach Angaben der Organisation sich an die Lehre der Muslimbrüder anlehnen. Wie die FIS, JII und andere islamistische Organisationen lehnt die Gruppierung die Frankophonie und die Berberbewegung ab.138 Die Organisation hielt ihr erstes internationales Symposium im Sommer 1990 (31.07-03.08.1990) ab, wo sie ihre „gemäßigt“ islamistischen Positionen auf breiter Front darlegte.139 1990 wurde sie in die Partei Mouvement de la Nahdha Islamique umgewandelt. Front Islamique du Salut (FIS) Name: Front Islamique du Salut (FIS) / al-Jabha al-Islamiyya lil-Inqadh [Islamische Heilsfront] Gründung: 1989 137 Schmid, S. 165. 138 Faath, S.350. 139 Faath, ebd. 70 Vorstand: (1989-1991) Präsident Abassi Madani,140 Vizepräsident Ali Belhadj141; (1991-1992) Präsident Abdelkader Hachani 142; Sitz: Algier (1989-1992); seitdem im Untergrund (u.a. Auslandsvertretungen in Deutschland und in den USA) Deutschland-Vertretung: Bis 2002 sog. „Exekutivinstanz der FIS im Ausland“ (Leiter: Rabah Kebir). Vorsitzender des 2002 gegründeten „Nationalen Exekutivkomitees der FIS im Ausland“ Dr. Mourad Dhina (Schweiz). 143 Die Aktivitäten der in Deutschland lebenden Mitglieder und Sympathisanten der FIS sind überwiegend auf finanzielle Hilfsleistungen an die FIS im Heimatland gerichtet. Publikationsorgane: El-Mounqidh [der Heiler, der Retter]; verschiedene Publikationen im Untergrund, u.a. „Al-Ribat“ [Das Band / Die Verbindung]; Internetseite www.ccfis.org Mitgliederzahl: um 1990 ca. 3 Millionen; heute unbekannt, 2003 ca. 350 Mitglieder / Anhänger in Deutschland 144 140 Abassi Madani war Professor für Soziologie an der Universität Algier. Nähere biographische Angaben siehe Wöhler-Khalfallah, Khadija Katja: Der islamische Fundamentalismus, der Islam und die Demokratie. Algerien und Tunesien: Das Scheitern postkolonialer „Entwicklungsmodelle“ und das Streben nach einem ethischen Leitfaden für Politik und Gesellschaft. Wiesbaden (1994), S. 175f. 141 Ali Belhadj war seit jungen Jahren Moscheeprediger an diversen Moscheen in Algier. Nähere biographische Angaben siehe Wöhler-Khalfallah, S. 176-178. 142 Abdelkader Hachani war ein arbeitsloser Bauingenieur, der nach der Verhaftung von Madani und Belhadj zum neue n Präsidenten der FIS berufen wurde. Ende November 1999 wurde er – unter bis heute ungeklärten Umständen – ermordet (Schmid, S. 260). 143 Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin (2004), S. 174. 144 Bundesministerium des Innern, ebd. 71 Werdegang: Die FIS wurde am 18.02.1989 (Ankündigung der Parteigründung in der Moschee as-Sunna im „Arme Leute“-Stadtteil Bab al-Oued von Algier) ins Leben gerufen. Als offizielles Gründungsdatum der Front gilt der 10.03.1989, als in der Moschee Ibn Badis im weniger problembehafteten Stadtteil Kouba die Partei gegründet wurde.145 Nachdem das Dossier am 22.08.1989 bei der staatlichen Parteigenehmigungsbehörde eingereicht worden war, wurde bereits 3 Wochen später am 06.09.1989 die FIS legalisiert.146 Erster Präsident der FIS wurde der Universitätsprofessor Cheikh Abassi Madani. Weitere Führungspersönlichkeiten im ersten Vorstand waren: Imam Ali Belhadj (Sekundarschullehrer), Zebda Ben Azzouz (Imam), Othmane Amokrane (Journalist beim Regionalsender Constantine). Die FIS besaß als oberstes Führungsgremium einen 13-köpfigen Rat, der die oberste Exekutivinstanz der Partei darstellte.147 Seit Oktober 1989 erschien zweimal im Monat die französischarabische Zeitschrift El-Mounqidh (Der Heiler, der Retter), zunächst in einer Auflage 250.000 Exemplare. Die Anzahl ihrer Mitglieder gab Parteivorsitzender Madani für Frühjahr 1990 mit 3 Millionen an.148 Seitdem die Partei 1992 in Algerien verboten und lediglich noch im Untergrund aktiv ist, gibt sie die Publikation Al-Ribat (Das Band) auf Arabisch im unregelmäßigen Abständen heraus.149 Die politisch-ideologische Ausrichtung der Partei war von Anfang an islamistisch; so wurde bereits im ersten Parteiprogramm die Einheit von Religion und Politik beschworen. Der islamische Religion sollte eine Dominanz in Politik und Gesellschaft zukommen; alle Gesetze wären auf der Grundlage der Shari‘a, der islamischen Rechtsordnung, zu beschließen. Im Sinne dieses islamischen Rechts sollten alle politischen Prinzipien wie Demokratie, Toleranz und soziale Gerechtigkeit - im heutigen Algerien wichtige politische Desiderate umgesetzt werden.150 145 Faath, S.692; Napoleoni, Loretta; Die Ökonomie des Terrors. Auf den Spuren der Dollars hinter dem Terrorismus. München (2004), S. 331. 146 Faath, S.692. 147 Faath, ebd. 148 Faath, ebd. 149 BMI: Verfassungsschutzbericht 2000, S. 210. 150 Faath, S.692. 72 Der Sozialismus als Gesellschaftsordnung wurde abgelehnt; so sollte die Wirtschaft weitgehend privatisiert werden und die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre verstaatlichten Ländereien an ihre früheren Eigentümer zurückgegeben werden.151 Den Forderungen der überwiegend säkular ausgerichteten Berber nach kultureller Selbstbestimmung und eigener Identität erteilt(e) die FIS eine klare Absage; die arabische Kultur und Identität Algeriens wird kompromisslos befürwortet. Folgerichtig fordert die Partei ebenfalls eine konsequente Arabisierung des öffentlichen Lebens in Algerien; ein Punkt, der besonders die francophonen Berber in der Kabylei zur Kritik reizt. 152 Die Rechte der Frau wurden ausschließlich aufgrund einer konservativen Auslegung islamischer Texte wie Koran und Sunna definiert. Die Partei lehnt (wie die ehemalige Staatspartei FLN) eine Gleichberechtigung von Mann und Frau kategorisch ab, da sie angeblich nicht mit dem Islam vereinbar sei. Auch wird das in Algerien ohnehin nicht sehr verbreitete Prinzip der Koedukation in den Schulen von der FIS abgelehnt. Der 1984 von der FLN-Einheitspartei erlassene Code de la Famille, der die algerische Frau de jure ein Leben lang von einem Mann (Vater, Ehemann, Bruder oder gar Sohn) abhängig macht, wird ausdrücklich befürwortet. Auch bejaht man den (1992 abgeschafften) Passus im algerischen Wahlgesetz, dass der „Vormund“ einer algerischen Frau (in der Regel der Vater oder der Ehemann) als Bevollmächtigter für die weibliche Verwandte oder Ehefrau das aktive Wahlrecht ausübt und für die Frau den Stimmzettel ausfüllt und abgibt.153 Die FIS votiert für die Beibehaltung des Islam als Staatsreligion in Algerien und lehnt Religionsfreiheit im europäischen Sinne ab.154 Nach dem Aufruf von Madani und Belhadj zum Generalstreik am 30.06.1991 wurden beide FIS-Führer wegen „Aufrufs zum bewaffneten Kampf“ mitsamt 6.000 bis 9.000 weiterer Funktionäre und Mitglieder ihrer Partei verhaftet und 1992 zu einer 12-jährigen Haftstrafe verurteilt. Im April 1992 wurde die FIS vom Verwaltungsgericht Algier verboten; ein Teil ihrer Funktionäre wurde verhaftet und in 151 Faath, ebd. 152 Faath, ebd. 153 Faath, ebd. 154 Faath, ebd. 73 Lagern in der Sahara interniert. Ein anderer Teil ihrer Anhängerschaft ging in den bewaffneten Untergrund und kämpfte als „Armée Islamique du Salut“ (AIS) bis 2002 gegen das Regime. Die AIS hatte, bevor sie im Januar 2002 ihre Selbstauflösung bekannt gab, bereits seit 1997 einen selbst erklärten Waffenstillstand eingehalten. Die FIS wurde im März 1992 per Gerichtsbeschluss verboten und aufgelöst. Radikale FIS-Anhänger erklärten der Staatsführung daraufhin den Krieg. Es war der Anfang der bis heute andauernden, gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen radikalen islamistischen Kräften und der Staatsführung, denen seit Ausbruch des Konflikts mehr als 150.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Ziele der seither im Untergrund agierenden FIS sind neben der Abschaffung des algerischen Regimes die Durchsetzung eines strengen, puritanistischen Islams in Algerien. Staat und Gesellschaft sollen der FISIdeologie zufolge strikt an der Schari’a ausgerichtet sein. Mit der 1993 gegründeten „Islamische Heilsarmee“ AIS (Arme lslamique du Salut) verfügte die FIS bis 2002 über einen bewaffneten Arm. Während die FIS unterdessen weitgehend auf den „Aussöhnungskurs“ des Staatspräsidenten Bouteflikas eingeschwenkt ist, setzen vor allem die beiden radikalen Abspaltungen GIA (Groupes Islamiques Armés; s. u.) und GSPC (Groupe Salafiste pour la Prédication et le Combat; s.u.) den gewaltsamen Kampf fort. Außerhalb der algerischen Staatsgrenzen wird die FIS von der im September 1993 gegründeten „Instance Exécutive du FIS à l`Etranger“ (IEFE, ,Exekutivinstanz der FIS im Ausland‘), repräsentiert. Der organisatorische Schwerpunkt der IEFE liegt in Deutschland. Mitglieder der Exekutivinstanz, die die Aussöhnungspolitik mit der algerischen Regierung als Fehlschlag betrachten und für die Umkehr zu einer „kompromisslosen“ Linie plädieren, gründeten im Oktober 1997 den „Conseil de Coordination à l‘Etranger‘ (CCFIS, Koordinationsrat der FIS im Ausland‘). Im August 2002 haben Mitglieder des CCFIS die beiden Auslandsflügel für aufgelöst erklärt und im Nachgang das „Nationale Exekutivbüro der FIS im Ausland“ gegründet, das aber im Oktober 2004 aufgrund mangelnder Akzeptanz von Seiten der algerischen wie der Auslands-FIS wieder aufgelöst wurde. Auch die algerische FIS scheint in die politische Bedeutungslosigkeit herabzusinken. Viele FIS-Anhänger tendieren seit längerem dazu, sich anderen, in Algerien zugelassenen islamistischen Parteien oder Bewegungen (MRN) anzuschließen. Daran konnte auch die Entlassung der beiden FIS-Führer Belhadj und Ma- 74 dani aus langjähriger Haft bzw. aus einem Hausarrest am 2. Juli 2003 nichts ändern. Beiden wurden im Zuge ihrer Freilassung bestimmte Bürgerrechte aberkannt, um sie an jeglichem politischem Engagement zu hindern..155 Madani ging daraufhin ins Ausland und soll heute in Katar leben, während Belhadj ein Geschäft in Algier betreibt.156 Die FIS verweilt bis heute in Algerien in der Illegalität. Groupe Islamique Armé; auch: Groupes Islamiques Armés (GIA) Name: Groupe Islamique Armé [Bewaffnete Islamische Gruppe; GIA]; auch: Groupes Islamiques Armés [Bewaffnete Islamische Gruppen; GIA] Gründung: 1991 / 92 Vorstand: Rachid Ukali 157 Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt; 2003 schätzungsweise etwa 1.500 Kämpfer Werdegang: Die GIA ist 1991/1992 aus einer Abspaltung radikaler Mitglieder der FIS und der AIS hervorgegangen. Ziele der GIA sind der Sturz der algerischen Regierung und die Errichtung eines islamischen Staates auf der Grundlage der Schari’a. Als Fernziel strebt die GIA die Errichtung eines weltweiten Gottesstaates an. Seit Dezember 1993 macht die GIA immer wieder als Urheberin blutiger Attentate von sich reden, wobei sie sich auch gegen die FIS und ihre Anhänger wendet. Sie richtet ihre Anschläge nicht nur gegen Regierungsvertreter und -einrichtungen sondern auch gegen andere islamistische Gruppierungen sowie gegen Ausländer und die eigene Zivilbevölkerung. Im Unterschied zur FIS lehnt die GIA jeglichen Dialog mit der Regierung ab. Die GIA verfügt über keine einheitliche Organisationsstruktur. Sie ist ein loser Zusammenschluss von un155 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Front Islamique du Salut – Islamische Heilsfront. Herunterzuladen unter http://www.im.nrw.de/ psch/569.htm. 156 Schmid, S. 266, Anm. 26. 157 Bundesministerium des Innern: Verfassungsschutzbericht 2003. Berlin (2004), S. 174. 75 terschiedlich großen und regional unabhängig voneinander agierenden Gruppen. Die Anhänger der GIA in Algerien und im Ausland sind in der Mehrzahl Kleinkriminelle ohne bestimmte politische Visionen. In Algerien stützt sich die GIA derzeit auf schätzungsweise 1.500 Kämpfer. Mitglieder der GIA sind mit islamistischen Gruppen im gesamten Nahen und Mittleren Osten sowie in Zentral- und Südost-Asien vernetzt und unterhalten auch Kontakte zum Terrornetzwerk Usama Bin Ladins. In Deutschland gibt es einzelne Mitglieder, feste Strukturen existieren jedoch nicht. Es gilt aber als sicher, dass die in Deutschland lebenden Angehörigen der GIA in europaweit agierende Netzwerke eingebunden sind, die mit der logistischen Unterstützung der in Algerien gewalttätig operierenden Gruppen befasst sind.158 Groupe Salafiste de la Prédication et le Combat (GSPC) Name: Groupe Salafiste de la Prédication et le Combat (GSPC) [Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf] Gründung: 1997 Vorstand: (1997-2003) Hassan Hattab (2003-2004) Nabil Sahraoui alias Abu Ibrahim Mustapha Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: In Deutschland gibt es vereinzelt Personen, die der GSPC zuzurechnen sind. Eine Exil-Struktur im eigentlichen Sinne ist nicht erkennbar. Publikationsorgane: Internetseite www.jihad-algeria.com (zur Zeit nicht mehr aufrufbar) Mitgliederzahl: etwa 400 Kämpfer Werdegang: Die GSPC gilt als die mitgliederstärkste und aktivste Terrorgruppe in Algerien. Sie spaltete sich 1997 von der GIA ab. Das Hauptziel der GSPC ist die Abschaffung des algerischen Staa158 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Groupes Islamiques Armés – Islamische bewaffnete Gruppen. Herunterzuladen unter http://www.im.nrw.de/psch/570.htm ;Thamm, Berndt Georg: Terrorismus. Ein Handbuch über Täter und Opfer. Hilden (2002), S. 304; ausführlich zur Ideologie und Strategie der GIA siehe Wöhler-Khalfallah, S. 226-234. 76 tes in seiner heutigen Form und die Errichtung eines islamischen Staates mit Gott als oberstem Souverän. Zentrale Führungsfigur der GSPC war bis Herbst 2003 Hassan Hattab, der dann von Nabil Sahraoui alias Abu Ibrahim Mustapha abgelöst wurde. Im Sommer 2004 wurde Sahraoui mit 40 seiner Kämpfer von algerischen Sicherheitskräften getötet. 2003 machte die GSPC Schlagzeilen, als sie eine Gruppe von größtenteils aus Deutschen bestehenden Saharatouristen entführte.159 Im Kampf gegen das Regime in Algier richtet die GSPC ihre Operationen vor allem gegen den algerischen Militärapparat, schont aber auch die Zivilbevölkerung entgegen anfänglicher Versprechungen nicht. Wie die GIA lehnt die GSPC eine Aussöhnung mit dem Regime in Algier strikt ab und setzt ihren gewaltsamen Kampf unvermindert fort. Die GSPC ist eine heterogene, dezentral geführte Terrorgruppe. Sie besteht aus unzähligen Kleinund Kleinstgruppen, die nicht nur in Algerien, sondern auch europaweit aktiv sind. Dort zielen die Aktivitäten der GSPC in erster Linie auf die finanzielle und logistische Unterstützung der Gruppenstrukturen im Heimatland. Ein Großteil der von der GSPC beschafften Gelder stammt aus Diebstählen und Erpressungen. Kleingruppen und einzelne Mitglieder der GSPC sind mit dem weltweiten Netzwerk der Arabischen Mujahedin verknüpft. Innerhalb des nordafrikanischen Unterstützer-Netzwerkes der Al-Qaida spielt die GSPC mit einiger Sicherheit sogar eine herausragende Rolle. Ein Beispiel für Verbindungen der Gruppe zum Terrornetzwerk der Arabischen Mujahedin sind die Aktivitäten der Meliani-Gruppe, deren Fall in Deutschland für Schlagzeilen gesorgt hat. Die Meliani-Gruppe wird den so genannten „non-aligned Mujahedin“ zugerechnet, also islamistischen Kämpfern, die unabhängig vom Terror-Netzwerk der Al-Qaida operieren, über vielfältige Kontakte verfügen und zumindest mittelbar mit ihm verbunden sind.160 159 Wandler, Reiner / Johnson, Dominic: Wüstenjagd auf das Al-QaidaPhantom. In: TAZ v. 10.07.2004. 160 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Groupe salafiste pour la Prédication et Combat (GSPC). Herunterzuladen unter http://www.im.nrw.de/ psch/571.htm. 77 Harakat al-Ikhwan al-Muslimin (algerische Richtung) [Bewegung der Muslimbrüder – algerische Richtung] Name: Harakat al-Ikhwan al-Muslimin (algerische Richtung) [Bewegung der Muslimbrüder – algerische Richtung] Gründung: 1927 (in Ägypten); in Algerien unbekannt Vorstand: „Sprecher“ Mahfoudh Nahnah (st. 2003) Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Wenig ist über den algerischen Flügel der Muslimbrüder – unter dieser Bezeichnung – bekannt. Reinhard Schulze zufolge verbot die französische Regierung den Muslimbrüdern 1946, ein Büro in Algerien zu eröffnen.161 Nach der Unabhängigkeit Algeriens wird nach Angaben von Bernhard Schmid 162 der 2003 verstorbene Mahfoudh Nahnah als „Sprecher“ der Muslimbruderschaft in Algerien bezeichnet. Die islamistischen Gruppierungen und Parteien Al Qiyam, FIS und MSI-Hamas / MSP mit ihrer teils (neo-)salafitischen Ideologie stehen ideologisch – nicht organisatorisch – in einer engen Beziehung zur (ägyptischen) Muslimbruderschaft. Houmat daawa salafiya (HDS) Name: Houmat daawa salafiya [Schutz der salafitischen Mission] (HDS) Gründung: späte 1990er Jahre Vorstand: Mohammed Slim („Slim, der Afghane“) Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt 161 Schulze, Reinhard: Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhundert. Studien zur Islamischen Weltliga. Leiden (1990), S. 105. 162 Schmid, S. 130; vgl. Al-Ahnaf / Botiveau / Frégosi, S. 64f, weiter zum M. Nahnah ebd., S. 38, 37f, 64-68. 78 Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Eine weitere Abspaltung der GIA; sie soll etwa über 450 Militante verfügen und vor allem westlich der Hauptstadt Algier in der gleichen Region wie die GIA aktiv sein. Sie wurde vor allem für Überfälle auf abgelegene Kleindörfer verantwortlich gemacht; ihr Kommandeur, Mohammed Slim, wurde wegen seiner Kampftätigkeiten in Afghanistan „Slim, der Afghane“ genannt. Über diese Gruppierung ist nur wenig bekannt. 163 Erkenntnisse über Strukturen oder Einzelmitglieder dieser Gruppierung in Deutschland liegen nicht vor. In den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder wird die HDS nicht erwähnt. Mouvement Islamique Algérien (MIA) Name: Mouvement Islamique Algerien (MIA) Gründung: um 1982 Vorstand: (1982-1987) Moustapha Bouyali Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Islamistische Untergrundorganisation, die in den 1980er Jahren durch Überfälle auf Polizeistationen und Weindepots in der Gegend von Bouira (westliche Kabylei) von sich reden machte. Nachdem ihr Anführer Moustapha Bouyali 1987 durch Verrat an die Polizei liquidiert worden war, konnte der Rest der Gruppe verhaftet und vor Gericht gestellt werden.164 Damit war die Gruppierung faktisch beseitigt. 163 Arbeitsgemeinschaft Kriegsursachenforschung (AKUF): Das Kriegsgeschehen 2003. Daten und Tendenzen der Kriege und bewaffneten Konflikte. Herausgegeben von Wolfgang Schreiber. Wiesbaden (2004), S. 183; Roberts, Hugh: Political Issues and Developments in Algeria. Edited by The United Kingdom Parliament. Select Committee on Foreign Affairs Minutes of Evidence. London (2005). Herunterzuladen unter www.parliament.the-stationaryoffice.co.uk/pa/cm200405/cmselect/smfaff/36/5020105.htm, S. 3. 164 Zur MIA siehe u.a. Schmid, S. 129-131. 79 Mouvement de la Nahda Islamique (MNI); seit 1997: Mouvement Ennahda (MN) Name: Mouvement de la Nahda Islamique (MNI); seit 1997: Mouvement Ennahda (MN) Gründung: 1990 Vorstand: (1990-1999) Abdallah Djaballah (seit 1999) Lahbib Adami Sitz: unbekannt Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Wie aus der JII die MSI-Hamas hervorging, so entstand aus den Reihen der AN ebenfalls eine politische Partei, die Mouvement de la Nahda Islamique (arab. Harakat an-Nahdha al-Islamiyya / MNI). Im Sommer 1990 wurde die neue Partei gegründet, deren politische Zielsetzung sich an die der AN weitgehend anlehnte. Nach dem Putsch der Militärführung von 1991/92 wurde die MNI nicht wie die FIS verboten, sondern distanzierte sich ausdrücklich von den Anhängern der FIS, die in den bewaffneten Widerstand gingen und rückte in der Folgezeit näher an die Machthaber heran und bot offen der Regierung ihre Zusammenarbeit an. Nach dem Auszug des Parteigründers Djaballah und vieler seiner Anhänger 1999 konnte der neue Parteivorsitzende Lahbib Adami das relativ gute Wahlergebnis der Partei nicht halten: bei den algerischen Parlamentswahlen vom 30.05.2002 gewann sie nunmehr weniger als 2 % der Stimmen und verlor von bisher 34 Sitzen alle bis auf ein einziges Mandat.165 Mouvement pour le Rénouveau Nationale (MRN) / Harakat al-Islah alWatani Name: Mouvement pour le Rénouveau Nationale / Harakat al-Islah al-Watani [Bewegung für die Nationale Erneuerung] (MRN) Gründung: 1999 165 Roberts, Hugh: The Battlefield Algeria 1988-2002. Studies in a Broken Polity. London (2003), S. 347. 80 Vorstand: Abdallah Djaballah Sitz: Algier Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederanzahl: unbekannt Werdegang: 1999 verließ der Ennahda-Vorsitzende Abdallah Djaballah nach parteiinternen Streitereien mit dem größten Teil seiner Anhänger seine bisherige Partei und gründete die Mouvement pour le Rénouveau Nationale (MRN). 166 Wie die Ennahda ist MRN „gemäßigt islamistisch“ ausgerichtet; d.h. politische Veränderungen sollen ausschließlich auf legalistischem Weg ohne Anwendung von Gewalt erreicht werden.167 Auch ein Teil der FIS-Anhängerschaft wanderte zur MRN ab; so stellte die Partei bei den letzten Parlamentswahlen vielerorts ehemalige Funktionsträger der FIS auf. Djaballah gelang es, aus seiner Bewegung die zur Zeit stärkste Kraft im (legalen) islamistischen Lager zu machen.168 Bei den Parlamentswahlen 2002 bekam die Partei 9,5 % der Stimmen und gewann 43 Sitze.169 Der Algerienexperte Hugh Roberts bezeichnet die MRN als die derzeit am meisten ernstzunehmende unter den islamistischen Parteien Algeriens. Ihre Stärke, so Roberts, beruhe auch auf einer tiefen Verankerung im algerischen Nationalismus.170 Bei den letzten Präsidentschaftswahlen am 08.04.2004 bekam Abdallah Djaballah 511.526 Stimmen (5,0%) und damit das drittbeste Ergebnis.171 Hinsichtlich der Reform des frauen- 166 Roberts, S. 264. 167 Roberts, S.264, 267. 168 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen: Die algerischen Terrorgruppen GSPC, GIA und FIS, S. 15f. 169 Roberts, S. 347. 170 Roberts, S. 347f. 171 Die Wahlen gingen nach dem amtlichen Endergebnis wie folgt aus: Registrierte Wähler 18.097.255; gezählte Stimmen 10.508.777 (58,1%); ungültige Stimmen 329.075 (3,1%); gültige Stimmen 10.179.702. Die sechs Kandidaten schnitten wie folgt ab: Ali Benflis 653.951 (6,4%); Abdelaziz Bouteflika 8.651.723 (85,0%); Abdallah Djaballah 511.526 (5,0%); Louiza Hanoune 101.630 (1,0%); Fawzi Rebaine 63.761 (0,6%); Said Sadi 197.111 (1,9%) (siehe The Free Dictionary: Algerian presidential election, 2004. Herunterzuladen 81 feindlichen „Code de la Famille“ nahm Djaballah eine reservierte Haltung ein und lehnte getreu seiner islamistischen Einstellung eine Gleichberechtigung von Mann und Frau ab.172 In der zweiten Jahreshälfte 2004 hatte der MRN-Vorsitzende mit parteiinternen Gegnern um den Dissidenten Mohamed-Djahid Younsi zu kämpfen.173 Auf dem Kongress seiner Partei Ende Dezember 2004 konnte Djaballah sich – wenngleich mit Mühe – gegen seine Kritiker durchsetzen und wurde erneut zum Präsidenten der MRN gewählt. 174 Auf eine Wiederzulassung der FIS als Partei angesprochen, erklärte der MRN-Vorsitzende gegenüber der algerischen Tageszeitung L’Expression im Oktober 2004, dass für ihn eine erneute Legalisierung dieser Partei derzeit nicht auf der Tagesordnung stehe. Das Algerien von 2004 sei nicht dasjenige von 1989.175 Mouvement de la Société Islamique (MSI-Hamas); seit 1997: Mouvement de la Société pour la Paix (MSP) Name: Mouvement de la Société Islamique (MSIHamas); seit 1997: Mouvement de la Société pour la Paix (MSP) Gründung: 1990 Vorstand: (1990-2003) Mahfoud Nahnah (seit 2003) Bouguerra Soltani Sitz: Algier unter http://encyclopedia.the 20election,%202004. freedictionary.com/Algerian%20presidential% 172 Ouarabi, Mokrane Ait: Le President d’El Islah amorce sa rentée politique. In: El Watan, Alger, v. 09.09.2004. Herunterzuladen unter www.elwatan.com; Belgiche, Tayeb: Encore l’obscurantisme! In: El Watan, Alger, v. 09.09.2004. Herunterzuladen unter www.elwatan.com. 173 Ouarabi, Mokrane Ait: El Islah en crise. In: El Watan, Alger, v. 24.10.2004. Herunterzuladen unter www.elwatan.com; Ouarabi, Mokrane Ait: Crise interne à El Islah. In: El Watan, Alger, v. 09.11.2004. Herunterzuladen unter www.elwatan.com. 174 Ouarabi, Mokrane Ait: Djaballah crie au „complot“. In: El Watan, Alger, v. 02.01.2005. Herunterzuladen unter www.elwatan.com; Anonymus: Djaballah à Annaba. In: El Watan, Alger, v. 08.01.2005. Herunterzuladen unter www.elwatan.com. 175 Djaballah, Abdallah: „Je suis dans le collimateur du pouvoir.“ In: L’Expression, Alger, v. 26.10.2004. Herunterzuladen unter www.algeriawatch.de/fr/article/pol/partis/djaballah_collimateur.htm, S. 6. 82 Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Aus den Reihen der JII hervorgegangen ist die Mouvement de la Société Islamique (arab. Harakat al-Mujtama` al-Islami / MSI-Hamas). Im Zuge der zunehmenden Entfremdung der Nahnah-Anhänger mit der FIS gründeten JII-Mitglieder am 06.12.1990 die Partei Mouvement de la Société Islamique.176 Mahfoud Nahnah, Parteigründer und Vorsitzender der MSI-Hamas / MSP bis 2003, bezeichnete die neue Partei als „dritte Kraft“ zwischen der militanten FIS und der verbrauchten FLN.177 Nahnah sah seine politische Aufgabe zudem in der Verwirklichung der Ziele der Revolution vom 1. November 1954, die seiner Meinung zufolge die Errichtung eines islamischen und demokratischen Staates in Algerien zum Ziel gehabt hätten. Daran hätten Nahnah und seine Partei nach eigenem Bekunden stets festgehalten.178 Die MSI-Hamas erreichte beim ersten Wahlgang der (suspendierten) Parlamentswahlen 5,35 % Stimmanteil; das nach der FIS, FLN und FFS viertbeste Ergebnis. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts gewann er kein Mandat.179 Nachdem der zweite Wahlgang von der Militärführung abgesetzt worden war und Algerien in mehrjährige bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen geriet, gingen von der MSI-Hamas mehrmals verschiedene Aktivitäten zur Beilegung des Konfliktes aus, die jedoch stets Regimenähe zeigten.180 So lehnte er auch – wie die Machthaber in Algier – die Friedensgespräche der 176 at-Tahari, Nur ad-Din: al-Jaza‘ir bayna al-Khayyar al-Islami wal-Khayyar alAskari [Algerien zwischen Islam und Militär]. ad-Dar al-Bayda [Casablanca) (1992), S.130f; Akram, Muhammad: Hamas al-Jaza‘ir. Tarikh Da‘wat waMasirat Harakat wa -Mawaqif Shahidat [Die Hamas (-Partei) Algeriens. Die Geschichte ihres Gründungsaufrufs, des Werdegangs der Bewegung und ihrer Märtyrer]. al-Jaza‘ir [Algier] (1995), S.15. 177 Akram, S.15. 178 Akram, ebd. 179 Herzog, Werner: Algerien. Zwischen Demokratie (=Beck‘sche Reihe; 859; Länder). München (1995), S.177. und Gottesstaat 180 Zu den verschiedenen Friedensinitiativen Mahfoudh Nahnahs siehe al-Liqa‘, Alger, Nr. 35 vom 25.-31.12.1996, S.3. Zur grundsätzlichen Kritik an diesen Aktionen siehe Le Quotidien d‘Oran, Oran, Nr. 632 vom 23.01.1997, S.2. 83 sogenannten „Plattform von Rom“ Mitte der 1990er Jahre ab.181 Bei den algerischen Präsidentschaftswahlen am 16.11.1995 erreichte Nahnah mit rund 25% der Stimmen das zweitbeste Ergebnis.182 Zu dieser Zeit befand sich Nahnah auf dem Höhepunkt seiner Macht; einer seiner Anhänger verfasste über den MSI-Hamas-Vorsitzenden eine Biographie unter dem Titel: „Der Weg zur Präsidentschaft.“ 183 Nahnahs Partei war zuerst seit Dezember 1995 an der algerischen Regierung beteiligt; in das Kabinett des damaligen (und heutigen) neuen Ministerpräsidenten Ahmed Ouyahia wurde der MSI-HamasPolitiker Abdelkader Hamidou als Minister für Klein- und Mittelindustrie aufgenommen.184 Die MSI-Hamas unterhielt ebenfalls Kontakte zu islamistischen Gruppen in Europa und der Türkei. So nahm Nahnah im November 1996 am Kongress des der damaligen Refah Partisi (RP) nahestehenden türkischen Unternehmerverbandes MÜSIAD (Müstakil Sanayici ve Isadamlari Dernegi) in Ankara teil, wo er u.a. mit Ministerpräsident Necmettin Erbakan und MÜSIAD-Präsident Erol Yarar zusammentraf.185 Auch mit führenden Vertretern der (damals) RPnahen Europaorganisation AMGT (Avrupa Milli Görüs Teskilatlari) unterhielt Nahnah Kontakte. So besuchte er im Frühjahr 1995 die AMGT-Zentrale in Köln, wo er u.a. mit dem damaligen AMGTGeneralsekretär Ali Yüksel zusammentraf.186 1997 wurde die MSI-Hamas bei den Parlamentswahlen vom 6. Juni mit 18,15 % und 69 Mandaten zur drittstärksten politischen Kraft in Algerien; um zur Wahl zugelassen zu werden, musste der Parteiname jedoch seinen islamischen Bezug ablegen. Die Partei nennt sich seitdem Movement de la Société pour la Paix (MSP). Nach der Wahl bildete die MSP eine Koalition mit den beiden größten Parteien, der präsidentennahen RND (Rassemblement National181 Biegel, S. 273. 182 Biegel, S. 274. 183 Siehe Abbasi, Ibrahim: Hutwa nahw al-Ri‘asa. Ala masharif al-qarn al-wahid wal-ishrin [Der Weg zur Präsidentschaft. Zur Spitze im 21. Jahrhundert]. alJaza‘ir [Algier] (1996), insbes. S.3f. 184 Biegel, S.277. 185 Erbakan: Istakbal Müslümanlarin. In: Milli Gazete, Neu-Isenburg, Nr.7834 vom 22.11.1996, S.10. 186 Mahfuz Nahnah Cezayir‘i anlatti. In: AMGT Aylikhaber Bülteni & Perspektive, Köln, Nr. 4 vom April 1995, S.7. 84 Démocratique) und der ehemaligen Einheitspartei FLN unter dem bisherigen Ministerpräsidenten Ouyahia. 187 Bei dem im Oktober 1997 stattgefundenen Kommunalwahlen büßte die MSP gegenüber RND und FLN jedoch an Wählerstimmen ein, blieb jedoch drittstärkste politische Kraft in Algerien.188 Nach den 1999 erfolgten Präsidentschaftswahlen, die der MSP-Vorsitzende wie alle anderen Kandidaten außer dem designierten neuen Amtsinhaber Abdelaziz Bouteflika wegen angeblich massiver Behinderungen im Wahlkampf boykottierte, wurde in der neuen Regierung die MSP nicht mehr berücksichtigt. Die Partei verlor in den letzten Jahren an Einfluss.189 Bei den Parlamentswahlen von 2002 verlor die Partei viele ihrer Mandate; in das neugewählte Parlament zogen nunmehr 38 (statt bisher 69) Abgeordnete ein.190 2003 verstarb Mahfoud Nahnah, sein Nachfolger in der Parteiführung wurde Bouguerra Soltani.191 Rabitat ad-Da‘wa al-Islamiyya (RDA) Name: Rabitat ad-Da‘wa al-Islamiyya (RDA) [Ligue de la Dawa Islamique / Liga der Islamischen Mission] Gründung: 1989 Vorstand: (1989-1991) Ahmed Sahnoun Sitz: Algier 187 Partei des Präsidenten siegt in Algerien. In: Süddeutsche Zeitung, München, Nr. 128 vom 7./8.06.1997, S.1f; Veiel, Axel: Algeriens Machthaber sonnen sich im „respektablen Erfolg.“‘ In: Frankfurter Rundschau, Frankfurt a.M., Nr. 129/33 vom 7.06.1997, S.2. 188 Wahlen ohne Frieden. In: Der Spiegel, Hamburg, Nr. 44 vom 27.10.1997, S. 167. 189 Mahfoudh Nahnah und seine Partei gelten vielen Algeriern als Parteigänger des Regimes, denen seitens der Machthaber die Aufgabe zugeteilt worden ist, die „Alibi-Islamisten“ zu verkörpern, um ehemalige FIS -Anhänger wieder ins Regierungslager zu holen, ohne jedoch diesen Gruppen ein wirkliches Mitspracherecht im politischen Diskurs einzuräumen. Auch wird kritisiert, dass Nahnah sich nie deutlich zu den Vorwürfen, er sei ein Agent des algerischen Geheimdienstes „Securité militaire“, geäußert habe (Gespräch des Verfassers mit Algeriern, Mai 2000) 190 Roberts, S. 347. 191 Schmid, S. 140, Anm. 72. 85 Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: Die Ligue de la Da‘wa Islamique (arab. Rabitat adDa‘wa al-Islamiyya) wurde 1989 von Cheikh Ahmed Sahnoun, dem damaligen ältesten Rechtsgelehrten Algeriens, ins Leben gerufen und geleitet. Zu ihrer Gründerzeit waren in ihr viele prominente religiöse Persönlichkeiten organisiert.192 Ziel des Verbandes war vor allem die Vereinheitlichung der islamistischen Bewegung in Algerien, die damals (wie heute) in viele einzelne Gruppierungen aufgespalten war. In ihrem höchsten Rat saßen 12 Vertreter islamistischer Organisationen und Prediger wie Cheikh Mahfoud Nahnah (Organisation Irchad wal-Islah), Cheikh Abassi Madani (Präsident der FIS) neben Cheikh Sahnoun, der FISFunktionär Mohamed Said (damals Lehrkraft am Institut für Islamische Wissenschaften), Ait Aldjat (Imam im Algierer Ministerien- und Botschaftenstadtteil Hydra) und Cheikh Abdallah Djaballah (Ennahdha). Nachdem die FIS sich bereits im Februar 1989 zu einer eigenen Partei ausgerufen hatte, wurde der Anspruch der Liga, Sammelbecken für alle islamistischen Strömungen Algeriens und auf eine „Vereinheitlichung der islamistischen Bewegung im Land hinzuarbeiten, immer mehr konterkariert, da die FIS nur noch die Entscheidungen akzeptierte, die in ihrem eigenen Vorstand gefällt worden waren.193 1989/90 führte die Liga zwei Seminare durch: das erste im Juni 1989 zum Thema „Islamische Mission (Da‘wa)“ und das zweite am 29.05.1990 zum Thema „Islamische Zukunft“. Beide Veranstaltungen sollten den Zuhörern nahe legen, den Islam als die Lösung für alle Probleme Algeriens und der Welt anzusehen. Cheikh Sahnoun rief vor den ersten freien algerischen Kommunalwahlen dazu auf, FIS zu wählen. 194 Nach dem Staatsstreich vom Dezember 1991 wurde auch die Arbeit der Liga faktisch suspendiert, und bis heute hat sie keine nennenswerte Tätigkeiten wieder aufgenommen. 192 Faath, S.351. 193 Faath, ebd.; Labat, Severine: Les islamistes algériens. Entre les urnes et le maquis. Paris (1995), S. 82. 194 86 Faath, S. 351. Wafa Parti Name: Wafa Parti [Vertrauenspartei] Gründung: 1999 Vorstand: Ahmed Taleb Ibrahimi Sitz: Algier Deutschland-Vertretung: unbekannt Publikationsorgane: unbekannt Mitgliederzahl: unbekannt Werdegang: 1999 durch den ehemaligen FLN-Politiker Ahmed Taleb Ibrahimi gegründete islamistische Partei; sie wurde indes nicht zugelassen, da nach Angaben des algerischen Innenministers 17 der 40 Gründungsmitglieder „aktive Mitglieder der (verbotenen) FIS“ wären. Im November 2000 erklärte Ibrahimi sein Parteiprojekt (vorerst) begraben.195 195 Schmid, S. 135, Anm. 25. 87 3. Der Islamismus in Algerien – Modell einer gescheiterten Machtübernahme: Chronologie und grobes Entwicklungsraster 1970/80er Jahre Um die propagierte arabisch-islamische Identität des Landes mit Leben zu füllen, holt die algerische Regierung Arabischlehrer aus Ägypten und Syrien, die oftmals aus den Reihen der Muslimbruderschaft stammen. Sie werden ihre islamistische Ideologie ihren Schülern (und Schülerinnen) vermitteln. Dies verdeutlicht die Schlüsselstellung des Bildungssektors für die islamistische Ideologisierung von Teilen der Bevölkerung. In anderen islamisch geprägten Staaten wie Marokko, Ägypten, Palästina, Syrien, Saudi-Arabien, Türkei und Pakistan ist dies ebenfalls festzustellen. 1980er Jahre Im Zuge der zunehmenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes nutzen die Islamisten die sich ihnen bietenden Möglichkeiten politischer Einflussnahme über ein breitgefächertes soziales Netz in den Moscheen des Landes, die seit der Unabhängigkeit dem konservativ geprägten Religionsministerium unterstehen, insbesondere in neugegründeten sogenannten „wilden“ (d.h. ohne Baugenehmigung errichteten) Moscheen sowie in (zunächst noch illegalen) Vereinigungen. 1988/89 Nach dem sogenannten „Couscous-Aufstand“ größtenteils jugendlicher Revoltierender in Algier und anderen Städten des Landes wird ein politischer Reformprozess von der Regierung in Gang gesetzt. Eine neue Verfassung, die wiederum, wie zuletzt in den 1960er Jahren, unabhängige „Kulturvereine“ zuließ, sowie ein neues Parteiengesetz von 1989, das zum ersten Mal seit 1963 neben der bisherigen Einheitspartei FLN weitere politische Parteien zuließ, kam wegen des hohen Organisierungs- und Mobilisierungsgrades vor allem den Islamisten entgegen. Der Gründung der islamistischen Massenpartei FIS folgte im Frühjahr 1990 ein überragender Sieg bei den ersten algerischen Kommunalwahlen. Die Mobilisierung großer Teile der algerischen 88 Bevölkerung durch soziales Engagement und islamistische Propaganda trug damit erste Früchte. Parallelen hierzu sind auch in anderen islamisch geprägten Ländern (Marokko, Palästina, Türkei, Pakistan) sichtbar. 1990/91 Nach dem Wahlsieg der FIS stellte sich bald eine erste Ernüchterung ein. Die algerischen Wähler mussten erkennen, dass die neuen Machthaber in den Kommunen ähnlich korrupte Aktivitäten entfalteten wie ihre FLN-Vorgänger. Klientelwirtschaft und Korruption fanden weiterhin auch unter den Islamisten eine Fortsetzung. Auf der anderen Seite zeigten die Anhänger der FIS durch teils offenen Terror gegen Frauen sowie gegen alle Personen, die sich gegen den islamischen „Moralkodex“ stellten, nun ihr wahres Gesicht. Erste Enttäuschungen (u.a. durch die Unfähigkeit der FISgeführten Kommunen im Herbst 1990, der damaligen Flutkatastrophe Herr zu werden) konnten die Islamisten durch eine propagandistische Ausnutzung der seit dem Golfkrieg 1991 aufgeladenen nationalistischen Stimmung wieder Anhänger zurückgewinnen. Die verlorene Kraftprobe mit dem Regime im Frühjahr / Sommer 1991 mit einem reine politisch motivierten Generalstreik hätte indes der FIS die Grenzen der eigenen Möglichkeiten aufzeigen können: Das Regime verhaftete die beiden FIS-Führer Madani und Belhadj und mit ihnen mehrere Tausend Funktionäre – ein erheblicher Aderlass, der der Partei kostbare Substanz raubte. Die algerische Regierung zeigte hier zum ersten Mal seit 1988 Entschlossenheit und ihre nach wie vor tatsächliche Macht im Land durch nahezu uneingeschränkte Verfügbarkeit über den gut eingespielten und funktionierenden internen Sicherheitsapparat (Geheimdienst, Gendarmerie, Polizei- und Sonderbereitschaftseinheiten, bis zum Militär), der bisher von den Anhängern der FIS kaum „unterwandert“ worden war. Ähnliche Parallelen sind in Staaten wie Marokko, Ägypten, Jordanien, der Türkei und Pakistan (mit Abstrichen) festzustellen; auch hier verfügt das jeweilige Regime über gut eingearbeitete und effiziente interne Si- 89 cherheitsdienste, auf die sich die Herrscher im Falle von Unruhen verlassen können. 1991/92 Nachdem sich im ersten Wahlgang der Parlamentswahlen im Dezember 1991 nach Auszählung der Stimmen ein haushoher Sieg der FIS abzeichnete, konnte ein Teil der Militärführung den Fortgang der Wahl verhindern. Präsident Chadli Benjedid wurde zum Rücktritt gezwungen und ein diesen Militärs genehmer „Hoher Staatsrat“ eingesetzt. Im März 1992 verbot das Verwaltungsgericht Algier die FIS als Partei. Viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und in Internierungslager in die Sahara verbracht. Die FIS – eine Partei, die kurz zuvor noch vor einem vermeintlich sicheren Wahlsieg stand – wurde mitsamt ihrer Strukturen im Land innerhalb weniger Tage zerschlagen. Hier zeigte sich deutlich, dass islamistische Parteien, die in diktatorischen oder zumindest autoritären Staaten versuchen, die Macht zu erringen, stets mit einer mehr oder weniger harten „Notbremse“ des Regimes rechnen müssen. Eine Parallele hierzu in einem anderen islamischen Land ist kürzlich – allerdings weniger ausgeprägt – in Jordanien zu ziehen, als der König aufgrund von Meinungsverschiedenheiten eine jahrelange „Cohabitation“ von haschemitischer Monarchie mit den Muslimbrüdern ein Ende bereitete. 1993-2005 90 Der von verschiedenen islamistischen Untergrundgruppen geführte mörderische Terrorkrieg, der Algerien bis heute über 100.000 Tote kostete, führte schließlich zu einer weitgehenden Diskreditierung des Islamismus unter der algerischen Bevölkerung, deren heutige bewaffnete Vertreter wie die GSPC lediglich noch zu Rückzugsgefechten in der Lage sind. Die zahlreichen Massaker und Terrorexzesse – vornehmlich gegen die wehrlose Zivilbevölkerung – zeigte den Menschen in Algerien überdeutlich, was sie von einem islamistischen Regime an der Macht zu erwarten hätten. Dadurch ist dem politischen Islam als Herrschaftsalterna- tive in Algerien aufs erste der Boden entzogen worden. Nicht zuletzt deshalb konnte der algerische Nationalismus in Gestalt des Wahlsiegs der ehemaligen Einheitspartei FLN bei den letzten Parlamentswahlen eine Renaissance erfahren. Dies muss in einer islamischen Welt von Casablanca bis Jakarta, wo (fast überall) islamistische Bewegungen auf dem Vormarsch sind, als eine – wenn auch bemerkenswerte – Ausnahme gelten.196 196 Quelle: Eigene Zusammenstellung. 91 4. Abkürzungen AIS Armée Islamique du Salut AMGT Avrupa Milli Görüs Teskilatlari FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FFS Front des Forces Socialistes FIS Front Islamique du Salut FLN Front de la Libération Nationale GIA Groupe Islamique Armé (auch: Groupes Islamiques Armés) GSPC Groupe Salafiste de la Prédication et le Combat HDS Houmat daawat salifiyya MIA Mouvement Islamique Armé MRN Mouvement pour le Rénoveau Nationale MSI-HAMAS Mouvement de la Société pour la Paix – Harakat Mujtama as-Silm MSP Mouvement pour la Société de la Paix 92 PPS Parti du Peuple Algérien RDA Rabitat ad-Da’wa al-Islamiyya RND Rassemblement National-Démocratique RP Refah Partisi 93 5. Literaturübersicht Anmerkung: Artikel aus Tageszeitungen sind in diese Übersicht nicht mit aufgenommen. Abbasi, Ibrahim: Hutwa nahw al-Ri‘asa. Ala masharif al-qarn alwahid wal-ishrin [Der Weg zur Präsidentschaft. Zur Spitze im 21. Jahrhundert]. al-Jaza‘ir [Algier] (1996) Akram, Muhammad: Hamas al-Jaza’ir. 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Was sich vor dem Hintergrund westeuropäisch geprägter Wahrnehmung und Werthaltung geradezu anstößig liest, entspricht exakt dem Selbstbild des orthodoxen Islams sowie des Islamismus zur Rolle der Frau. Er versteht sich – häufig mit enormer argumentativer Schützenhilfe von weiblicher Seite – als einziger Garant für Würde und Schutz der Frau, für Erfüllung und recht verstandene Freiheit. Die Grenzziehung zwischen orthodoxem oder traditionellem Islam und Islamismus – seinerseits Sammelbegriff für zahlreiche Spielarten von gemäßigt bis radikal oder gar militant – ist immer mit einem Rest von Willkür behaftet; dies gilt in besonderer Weise auch für den Diskurs über die si lamgemäße Stellung der Frau im beginnenden 21. Jahrhundert. Zunächst ist der Islam grundsätzlich – ähnlich dem Judentum und im Unterschied zum Christentum – eine Gesetzesreligion; ihn zu leben ist mit der Erfüllung zahlreicher Vorschriften und Regeln verbunden, die teilweise die religiösen Pflichten Gott gegenüber (ibadat, z.B. Beten, Fasten), teilweise aber auch die Regeln des menschlichen Zusammenlebens (mu’amalat, z.B. Zulassung der Polygamie, Zinsverbot) betreffen. Nach klassischem Verständnis gehören der religiöse und der weltliche Bereich untrennbar zusammen, und der islamische Staat hat dafür Sorge zu tragen, dass die Gläubigen ihre Religion in allen Lebensbereichen praktizieren können. Die religiösen Pflichten sind nach breitem innerislamischem Konsens ewig gültig und stehen nicht zur Disposition. Diskutiert wird hingegen, inwieweit die Regeln, die das menschliche Zusammenleben betreffen, für alle Zeit wörtlich zu nehmen sind oder aber – so die Forderung innerislamischer Reformbewegungen – im Lichte veränderter Rahmenbedingungen überdacht und gegebenenfalls neu interpretiert werden müssen. Diese Bereitschaft zur Veränderung wird heute von einem Großteil der Muslime mit Skepsis gesehen bzw. abgelehnt; aber ist das bereits Islamismus? 99 Islamismus bedeutet zunächst ganz allgemein die Forderung nach kompromissloser Anwendung islamischer Rechtsnormen wie sie aus den Rechtsquellen des Islams abgeleitet wurden, und zwar ohne Rücksicht auf veränderte Rahmenbedingungen und ohne spitzfindige Interpretation, vor allem aber ohne jegliche Anpassung an nicht genuin-islamische Werte, seien sie westlicher oder heimischer oppositioneller Provenienz. Dabei gelten die Situation und das Verhalten der Frauen als wichtiger Gradmesser für die islamische Orientierung einer Gesellschaft, dem weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als der Einhaltung anderer religiöser Prinzipien. In besonderer Weise gilt dies für die Einhaltung der islamischen Kleidervorschriften, die im positiven Falle Frömmigkeit und moralische Makellosigkeit der Gesellschaft signalisieren, andernfalls aber als Zeichen moralischen Verfalls und ernsthafter Bedrohung der Sitten wahrgenommen werden. Im folgenden wollen wir ‚das weibliche Gesicht des Islamismus‘ unter zwei Aspekten beleuchten: Was bedeutet Islamismus als konsequente und von Gesellschaft und Obrigkeit kontrollierte Anwendung islamischer Normen nach ihrem herkömmlichen Verständnis für das Leben von Frauen und welche Rolle spielen Frauen selbst im Kampf für und gegen den Islamismus? 1. Der religiöse Lebensbereich 1.1 Wert und Würde der Frau nach dem Koran Der Koran, der den Muslimen als das reine Wort Gottes und Brücke zwischen Gott und Mensch gilt, regelt neben dem Verhältnis des Menschen zu Gott das Zusammenleben der Menschen untereinander und spricht so auch bezüglich der Wertschätzung von Mann und Frau und ihrer jeweiligen Rollen in Religion, Familie und Gesellschaft eine klare Sprache, die zweierlei deutlich macht: entgegen der hierzulande weit verbreiteten Ansicht, die Frau sei im Islam rechtlos, hat sie eine Reihe von klar formulierten Rechten, die ihr nur durch eine wahre Vergewaltigung der religiösen Quellen vorenthalten werden können. Ihre Rechte und Pflichten unterscheiden sich aber fast durchgängig quantitativ und qualitativ von denen des Mannes, so dass auch eine andere, häufig von muslimischer Seite geäußerte Ansicht, Mann und Frau seien im Islam gleichberechtigt, 100 zumindest nach dem herkömmlichen Verständnis der Schari’a197 falsch ist. Die unterschiedliche rechtliche und soziale Stellung der Geschlechter im Koran legt nach islamischer Auffassung den Schluss nahe, dass Gott Mann und Frau unterschiedlich erschaffen und gemeint habe. Beide unterscheiden sich nach Gottes Willen in ihren körperlichen, geistigen und seelischen Anlagen und daher in ihren Möglichkeiten und Aufgaben. Von muslimischer Seite wird gern und wohl auch zu Recht auf die Aufwertung und Besserstellung der Frau durch den Islam hingewiesen. Die Ansichten über die Gesellschaftsordnung auf der arabischen Halbinsel vor dem Islam sind zwar nicht ganz einhellig, doch kann man wohl davon ausgehen, dass es sich um eine streng patriarchalisch geordnete Stammesgesellschaft handelte, in der Frauen häufig als rechtloser Besitz ihrer Männer galten. Die Identität des Individuums und sein Wert gründeten vor allem in der Familienbzw. Stammeszugehörigkeit, und Wert und Ansehen eines Menschen hingen wesentlich von seiner genealogischen Herkunft ab. Durch den Islam wurde die politische und soziale Organisation der Gesellschaft nachhaltig verändert und die Situation der Frauen verbessert, ohne dass aber die patriarchalische Gesellschaftsordnung an sich in Frage gestellt wurde. Nunmehr wurde die Religionszugehörigkeit zum wesentlichen Identifikationsmerkmal eines jeden Menschen, und das religiöse Bewusstsein trat – zumindest theoretisch – an die Stelle des Stammesbewusstseins. Das im Islam grundgelegte Ideal der Gleichheit aller Gläubigen über Stammes- und auch Geschlechtergrenzen hinweg erklärt, dass vor allem unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen wie Frauen und Sklaven zu den ersten Anhängern der neuen Religion gehörten. Der Koran spricht sich deutlich für die Wertschätzung weiblichen Lebens aus und gibt uns so einen Hinweis darauf, dass diese offensichtlich vor dem Islam nicht gegeben war. So war es zumindest in einigen Regionen der Arabischen Halbinsel üblich, neugeborene Mädchen zu begraben, wenn man keine Möglichkeit sah, diese gleichzeitig mit den bevorzugten Söhnen zu ernähren. Der Koran hat diese Sitte verboten und den Groll der Menschen über eine 197 Die Schari’a bezeichnet die von Gott gesetzte, verbindliche Ordnung des menschlichen Lebens in all seinen Bereichen und stellt so den Rahmen für Ethik, religiöses Leben und Rechtsprechung im Islam dar. 101 Mädchengeburt scharf verurteilt. Dazu heißt es: "Wenn einer von ihnen von der Geburt eines Mädchens benachrichtigt wird, bleibt sein Gesicht finster, und er unterdrückt (seinen Groll). Er verbirgt sich vor den Leuten wegen der schlimmen Nachricht. Solle er es nun trotz der Schmach behalten oder es im Boden verscharren. Übel ist, wie sie da urteilen.“ (16:58f) Der Prophet Mohammed, von dessen Kindern lediglich vier Töchter das Erwachsenenalter erreichten, versprach denen das Paradies, die ihre Töchter gut behandeln. Dass trotz dieser deutlichen Worte in weiten Teilen der si lamischen Welt bis heute die Geburt eines Sohnes größere Freude auslöst als die eines Mädchens ist in erster Linie auf wirtschaftliche und soziale Faktoren, nicht aber auf den Islam zurückzuführen. Ohne Unterschied sind Mann und Frau nach dem Koran eigenverantwortliche Wesen, die zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Als Geschöpfe Gottes haben sie gleichermaßen die Pflicht, seine Gebote zu erfüllen und an der Gestaltung der Welt auf eine islamische Ordnung hin mitzuwirken. Sie werden Rechenschaft ablegen müssen am Jüngsten Tag und schließlich jenseitigen Lohn oder Verdammnis ernten. Im Koran heißt es dazu: „Da erhörte sie ihr Herr: „Ich lasse keine Tat verloren gehen, die einer von euch getan hat, ob Mann oder Weib. Die einen stammen ja von den anderen.“ (3:195)198 An anderer Stelle: "Diejenigen, die etwas von den guten Werken tun, ob Mann oder Weib, und dabei gläubig sind, werden ins Paradies eingehen, und ihnen wird nicht ein Dattelgrübchen Unrecht getan." (4:124) Der Koran richtet sich auch sprachlich unmissverständlich an Frauen und Männer gleichermaßen. So werden viele Verse eingeleitet mit ‚Oh ihr Musliminnen und ihr Muslime...‘ Der Anruf Gottes gilt so ohne Unterschied Mann und Frau, die sich nach dem Tod unabhängig voneinander vor Gott verantworten müssen. Weder kann dort der Mann der Frau helfen, noch umgekehrt, eine Würdigung der Frau, die auch vom islamistischen Schrifttum und insbesondere von Frauen gerne hervorgehoben wird. „Gegenüber dem Propheten und als Adressaten der Offenbarung sind Frau und Mann genau gleich... Abgesehen von den Situationen, für die das jeweilige Wesen von 198 Die Koranzitate in diesem Beitrag sind – soweit nicht anders gekennzeichnet aus: Khoury, Adel Theodor: Der Koran. Gütersloh (2) 1992. 102 Frau und Mann es erforderlich macht, macht der Koran keinen Unterschied zwischen ihnen als Menschen.“ 199 1.2 Frauen in ihrer Verantwortung vor Gott Entsprechend ihrer gleichwertigen Verantwortung vor Gott sind Frauen ebenso wie Männer an die Erfüllung der religiösen Pflichten gebunden, die ihr Leben strukturieren und in hohem Maße prägen. Bereits kleine Kinder werden ihren Möglichkeiten entsprechend und im Rahmen des religiös geprägten Familienlebens in die Rituale eingeführt; als Altersgrenze für die volle Ausübung der Religion gilt je nach Lehrmeinung 9-13 Jahre bei Mädchen und 11-15 Jahre bei Jungen. Die ‚fünf Säulen der Religion‘ sind das Glaubensbekenntnis „Ich bekenne, dass es keinen Gott gibt außer Gott und dass Muhammad der Gesandte Gottes ist“, das Ritualgebet fünfmal am Tag, die Almosensteuer, das Fasten im Monat Ramadan und die Pilgerfahrt nach Mekka einmal im Leben. Während der Menstruation, sowie 40 Tage nach der Geburt eines Kindes gilt die Frau als rituell unrein; sie darf keinen Koran berühren und weder beten noch fasten, eine Regelung, die von Muslimen häufig als Erleichterung in Zeiten besonderer körperlicher und gegebenenfalls auch seelischer Belastung verstanden wird. Ferner sind Frauen während der Schwangerschaft ausgenommen vom Fastengebot und im Unterschied zu Männern und mit Rücksicht auf ihre familiären Aufgaben nicht verpflichtet, zum Freitagsgebet die Moschee aufzusuchen. Die meisten Moscheen verfügen heute über einen separaten Frauenbereich, sei es seitlich oder ganz hinten, der gewährleisten soll, dass es beim Gebet nicht zum unerlaubten Umgang der Geschlechter kommt. Beim Ritualgebet kann die Frau lediglich einer Gruppe betender Frauen vorstehen, da andernfalls die Männer gedanklich abzuirren drohen. Im Zusammenhang mit dem provokanten Auftritt der muslimischen Professorin und Frauenrechtlerin Amina Wadud, die in New York ein gemischtes Gebet von Männern und Frauen leitete, wurde die ablehnende Position der muslimischen Gelehrten in breiter Allianz erneut bekräftigt.200 199 So Meryem Sanal in: IGMG Perspektive. Monatliche Zeitschrift der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs Nr. 124. April 2005. S. 22 200 vgl. http://www.spiegel.de 19. März 2005 Erschwerend kam in diesem Fall hinzu, dass das Gebet in einer Kirche stattfand, nachdem mehrere Moscheen ihre Kooperation verweigert hatten. 103 Der Islam ist – ebenso wie Judentum und Christentum – in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaftsordnung entstanden und weiter entwickelt bzw. interpretiert worden. So haben Frauen in der Auslegungsgeschichte der islamischen Quellen – sei es als Theologinnen, Korankommentatorinnen oder Rechtsgutachterinnen – allenfalls eine marginale Rolle gespielt. Zum Amt des religiösen Richters (qadi) sind sie mit Hinweis auf Koranvers 2:282, der der Zeugenaussage einer Frau halb so viel Gewicht beimisst wie der eines Mannes, sowie aufgrund der wiederkehrenden Phasen der rituellen Unreinheit nicht zugelassen. 2. Der private Lebensbereich 2.1 Kleiderordnung und Geschlechtertrennung Mit dem Eintreten der Geschlechtsreife unterstehen die Kinder den islamischen Kleidervorschriften und der Geschlechtertrennung. Die heute übliche Verschleierung islamischer Frauen ist so im Koran nicht beschrieben. An zwei Stellen ist hier von der Kleidung der Frauen die Rede, die züchtig sein und sie vor Übergriffen schützen soll. Die Frage, wie diese Verse konkret auszulegen sind, hat die Gemüter der Gelehrten lange und immer wieder bewegt.201 In der islamischen Tradition hat sich schließlich die Auffassung durchgesetzt, dass nur Gesicht, Hände und Füße der Frau unbedeckt bleiben dürfen, ihr ganzer Körper und die Haare aber verhüllt sein sollen, und zwar in einer Form, die keine körperlichen Konturen erkennen lässt. Auch der Prophet soll sich dahingehend geäußert haben. Die Tendenz zur Verschleierung nimmt vor allem seit Beginn der 1980er Jahre wieder deutlich zu, häufig unterstützt von staatlich verbürgten Religionsvorschriften und umfangreicher Propaganda. Im islamistischen Beritt zeigen sich hier teilweise deutliche Abstufungen gegenüber der traditionellen Auffassung, vom Gebrauch von Handschuhen bis zum Gesichtsschleier und teilweise der Verdeckung der Augen durch einen schwarzen, transparenten Gaze-Stoff. Islamistinnen, die häufig ausgehend von einem traditionellen, gelegentlich auch säkularen Elternhaus ihren Weg zur islamistischen Lesart und Lebensart der Religion finden, beschreiben ihre Entdeckung der islamischen Kleidung als Meilenstein und vielschichtiges Symbol ihres Bekenntnisses. Die islamische Kleidung ist Teil der strikten Observanz religiöser Regeln und wird als bewusste Abgrenzung ver201 Eine Gegenüberstellung der verschiedenen Übersetzungs- und damit Interpretationsmöglichkeite n der einschlägigen Koranverse zur Bekleidung der Frau findet sich bei Schröter, S. 241-261 104 standen, sowohl gegenüber westlich gekleideten Musliminnen als auch gegenüber solchen, die sich in weniger strenger Form islamisch kleiden. Ein kleineres oder auch farbiges Kopftuch wird hier gelegentlich abwertend als ‚amerikanischer Schleier‘ (hijab amriki) bezeichnet.202 Der Umgang mit weniger gestrengen Musliminnen wird nicht grundsätzlich abgelehnt, ist aber häufig mit missionarischem Eifer behaftet. „Natürlich habe ich auch Freundinnen, die mutabarrigat (unverschleiert) sind. Im Semester bin ich die einzige munaqqaba (mit Gesichtsschleier). Aber sie kommen nicht zu mir nach Hause. Wir helfen einander im Institut, und ich will ihnen auch beibringen, was die richtige Religion ist.“ 203 Die Kleidervorschriften sind einzuhalten, sobald Mann und Frau zusammentreffen, die nicht so eng miteinander verwandt sind, dass eine Ehe ausgeschlossen wäre, in jedem Falle also außer Haus, aber nicht unbedingt zu Hause im engeren Familienkreis. Für muslimische Minderheiten bspw. in Deutschland ist die islamische Kleiderordnung nicht unproblematisch, wie erst kürzlich der Kopftuchstreit gezeigt hat. Gleichzeitig verbindet die Kleidung die Musliminnen in besonderer Weise untereinander und vermittelt so ein Zugehörigkeitsgefühl, das andernorts nicht entwickelt werden kann. „Das Kopftuch verstärkt ihre Gleichheit, demonstriert ihre Einheit, verschafft ihr die Anerkennung der Zugehörigkeit und gibt ihr ein Gefühl der Stärke und des Wohlbefindens... Das Kopftuch ist Kompensation für die Nichtanerkennung in der deutschen Gesellschaft. Es verschafft ihr das Gefühl der Zugehörigkeit zur Umma, zur islamischen Gemeinschaft.“ 204 Zeitgleich mit den islamischen Kleidervorschriften tritt auch das Verbot des Umgangs mit dem anderen Geschlecht – außer bei enger Verwandtschaft – in Kraft. Auf den Koran ist diese Regel nicht eindeutig zurückzuführen, denn hier heißt es lediglich, man solle sich den Frauen des Propheten nicht nähern, und wenn man sie um etwas bitten will, dies hinter einem Vorhang tun (33,53 ff). Gern beruft man sich hingegen auf einen Ausspruch des Propheten, der gesagt haben soll "Wo ein Mann und eine Frau unbeobachtet zusammen sind, da ist der Teufel der Dritte." Als legitime Beziehungen zwischen Mann und Frau anerkennt der Islam neben enger Verwandt202 vgl. Reuter S. 94 203 vgl. Reuter S. 88-132, Zitat S. 95 204 Schröter S. 34 105 schaft nur die Ehe. Die sexuelle Anziehung zwischen den Geschlechtern gilt als so stark, dass alle anderen Beziehungsformen wie bspw. Freundschaft gar nicht möglich erscheinen, und auch die medizinische Behandlung durch das andere Geschlecht abzulehnen, im Notfall allerdings erlaubt ist. Das Verbot vor- und außerehelicher Sexualität gilt für beide Geschlechter und findet auch in den Gesetzbüchern islamischer Länder seinen Niederschlag. So steht z.B. in Marokko auf sexuelle Kontakte zwischen Unverheirateten ohne Unterscheidung des Geschlechtes eine Gefängnisstrafe von einem Monat bis zu einem Jahr. Für Frauen ist dieses Tabu selbstverständlich folgenschwerer, da ein Verstoß durch den Verlust der Jungfräulichkeit nachweisbar ist und der Erhalt ihrer Keuschheit traditionell als eine Aufgabe der ganzen Familie angesehen wird. Auch das Verhalten des Mannes unterliegt aber in diesem Punkt enger sozialer Kontrolle. Das Verbot des Umgangs der Geschlechter miteinander gilt in jedem Fall für jede Form des unbeobachteten Zusammenseins, wird aber häufig auf den Umgang in der Öffentlichkeit ausgedehnt und hat so weitreichende Konsequenzen für die Bewegungsfreiheit der Frau und ihre mögliche Teilnahme am öffentlichen Leben in Schule, Verkehrsmitteln, Beruf, Geschäftsleben usw. Eigene Frauenabteilungen in Moschee und Universität, Verkehrsmitteln und Cafes, sowie mancherorts Frauenstunden in Schwimmbädern und an Bankschaltern sind in diesem Zusammenhang zu sehen. 2.2 Die Fr au in Ehe und Familie Da die Ehe als einzig legitimer Rahmen für den gottgewollten und an sich positiven Geschlechtstrieb des Menschen gilt, empfiehlt der Koran dem Menschen zu heiraten, solange er aber hierzu nicht in der Lage ist, sich zu enthalten. "Und verheiratet die Ledigen unter euch und die Rechtschaffenen von euren Sklaven und euren Sklavinnen! Wenn sie arm sind, wird Gott sie durch seine Huld reich machen. Und Gott umfasst und weiß alles. Diejenigen, die keine Möglichkeit zum Heiraten finden, sollen keusch bleiben, bis Gott sie durch seine Huld reich macht." (24:32f). Ehe und Familie werden im Islam ganz selbstverständlich als die natürliche Bestimmung eines jeden Menschen angesehen. So widmen der Koran und das islamische Recht dieser Form des menschlichen Zusammenlebens große Aufmerksamkeit. Ehe- oder Kinderlosigkeit gelten dagegen als widernatürlich und der göttlichen 106 Schöpfungsordnung nicht gemäß, und es ist Männern wie Frauen in der islamischen Welt – bis auf wenige Ausnahmen in der städtischen Oberschicht – fast unmöglich, sich frei für oder gegen diese Lebensform zu entscheiden. 2.2.1 Eheschließung Da die Ehe eine solch zentrale Rolle spielt und den einzig legitimen Rahmen menschlicher Sexualität darstellt, wird in der islamischen Welt bis heute relativ jung geheiratet. Zwar wurde vielerorts staatlicherseits ein Mindestheiratsalter verordnet, das etwa bei 16 Jahren für Mädchen und 18 Jahren für Jungen liegt, in der Realität aber häufig umgangen wird. Ebenso häufig führt allerdings die miserable wirtschaftliche Lage junger heiratswilliger Männer zu einer verspäteten Eheschließung. Die Ehe ist häufig auch ein wichtiges Band zwischen Großfamilien. Deshalb und weil der Umgang der Geschlechter gerne begrenzt wird, halten häufig Angehörige und Freunde der Familie Ausschau nach geeigneten Heiratskandidaten. Dabei hat die Frau das Recht, einen ihr vorgeschlagenen Ehemann abzulehnen, wobei im Einzelfall offen bleibt, in welcher Form sie diesen Protest wirksam ausdrücken kann. Nach der Schari’a darf ein muslimischer Mann auch eine Christin oder eine Jüdin heiraten, eine muslimische Frau aber nur einen Muslim. Dieser Regelung liegt zugrunde, dass sich die Religion der Kinder nach dem Vater richtet und in jedem Fall sicher gestellt sein muss, dass die Kinder einer gemischt-religiösen Verbindung Muslime werden. Gelegentlich wird aber auch die innere Standfestigkeit der Frau angezweifelt, die in einer solchen Situation möglicherweise beeinflussbar wäre und vom Islam abirren könnte. Seit einigen Jahren wird dieses Problem verstärkt auch im Kontext der islamischen Minderheiten in westlichen Ländern als ‚Katastrophe‘ wahrgenommen und mit mangelhafter Kenntnis der Schari’a und damit verbunden Anfälligkeit für westliches Gedankengut erklärt. 205 Die Verlobten sollen sich dann vor der Eheschließung kennen lernen, natürlich ohne unbeobachtet zusammenzusein. Die Heirat erfolgt traditionell – insbesondere wenn es sich für die Frau um die erste Eheschließung handelt – durch Abschluss eines Vertrages zwischen dem Bräutigam und dem Vater der Braut oder einem anderen hierfür bestimmten Vormund. Bestandteil dieses Vertrages ist 205 ar-Ra’id Nr. 197 3/1998 S. 64 107 die Festlegung des Brautpreises, den in der Regel die Eltern der Braut aushandeln und den der Bräutigam dieser auszuhändigen hat. Im Falle einer Scheidung soll die Frau hierdurch sozial abgesichert sein. Das islamische Recht sieht die freie Verfügungsgewalt der Frau über dieses Vermögen vor; sie kann in keiner Weise zu einem Beitrag zu den gemeinsamen Haushaltskosten verpflichtet werden. Es ist allein Aufgabe des Ehemannes, neben dem Brautpreis für Wohnungseinrichtung, Kleidung und Unterhalt der Familie aufzukommen, und zwar unabhängig von der Vermögenslage der Frau. Angesichts der Armutssituation weiter Teile der islamischen Welt ist dieses Ideal heute nicht mehr immer durchzuhalten, und die jungen Männer befinden sich unter enormem Erwartungsdruck, da sie einerseits heiraten müssen, andererseits dieser Schritt für sie unbezahlbar wird. So ist es beispielsweise üblich geworden, nur einen Teil des Brautpreises bei der Eheschließung zu entrichten, wohingegen der Rest erst im Falle einer Scheidung fällig wird. Auch tragen viele Frauen freiwillig von ihrem Vermögen zum gemeinsamen Hausstand bei, was wiederum nicht unproblematisch ist, da die Vormachtstellung des Mannes vom Koran wesentlich mit seiner Rolle als Versorger der Frau begründet wird. Nach koranischem Ideal sollen die Eheleute einander in Liebe und gegenseitigem Erbarmen zugetan sein. Dazu heißt es: "Und es gehört zu seinen Zeichen, dass Er euch aus euch selbst Gattinnen erschaffen hat, damit ihr bei ihnen wohnet. Und er hat Liebe und Barmherzigkeit zwischen euch gemacht. Darin sind Zeichen für Leute, die nachdenken." (30:21) In diesem Sinne sind die Eheleute gehalten, Probleme miteinander zu besprechen und jederzeit zu versuchen, zu einer gütlichen Lösung zu gelangen. "Behandelt die Frauen gut", so die Forderung des Propheten an seine Anhänger. 2.2.2 Rechte und Pflichten in der Ehe Jenseits der ideellen Ebene hat die muslimische Ehe den Charakter einer Vertragsgemeinschaft, in der Rechte und Pflichten klar geregelt sind. Die Frau hat das Recht, dass ihr Mann sie mit allem Notwendigen an Nahrung, Kleidung, Wohnung etc. versorgt, und zwar nach dem Lebensstandard , den sie von Haus aus gewohnt ist. Dieses Unterhaltsrecht der Frau gilt unabhängig von ihren eigenen Vermögensverhältnissen. Als Ausgleich erhält sie im Erbfall nur die Hälfte von dem, was ein Mann desselben Verwandtschaftsgrades erhält. "Gott trägt euch in bezug auf eure Kinder (folgendes) auf: Ei- 108 nem männlichen Kind steht soviel wie der Anteil von zwei weiblichen zu.“ (4:11) Wiederum ist der Mann gehalten, sein Erbe im Sinne von Familie und Gesellschaft einzusetzen, wohingegen die Frau frei darüber verfügen darf. Beide Ehepartner haben ein Recht auf sexuelle Befriedigung in der Ehe und sollen sich einander nicht grundlos entziehen. Im Falle einer Mehrehe haben die Ehefrauen das Recht auf materielle und sexuelle Gleichbehandlung. Der Mann hat seinerseits ein Recht darauf, über der Frau zu stehen, wie es im Koran vorgesehen ist. In diesem Zusammenhang schuldet die Frau ihrem Mann Gehorsam, den er notfalls erzwingen darf. Die Frau hat ihrerseits nur dann das Recht, den Gehorsam zu verweigern, wenn Gehorsam gegenüber ihrem Mann Ungehorsam gegen Gott bedeuten würde, er sie also zur Sünde auffordert. Für den Fall, dass es bei einem Streit zu keiner Einigung kommt, weist der Koran den Mann an, seine Frau zunächst zu ermahnen. Kommt sie nicht zur Vernunft, soll er sie im Ehebett meiden und wenn auch das nichts nützt schlagen. Sobald sie ihm wieder gehorcht, darf er nichts weiter gegen sie unternehmen. Der Koran sagt dazu unmissverständlich: "Die Männer haben Vollmacht und Verantwortung gegenüber den Frauen, weil Gott die einen vor den anderen bevorzugt hat und weil sie von ihrem Vermögen (für die Frauen) ausgeben. Die rechtschaffenen Frauen sind demütig ergeben, und bewahren das, was geheimgehalten werden soll, da Gott es geheimhält. Ermahnt diejenigen, von denen ihr Widerspenstigkeit befürchtet, und entfernt euch von ihnen in den Schlafgemächern und schlagt sie. Wenn sie euch gehorchen, dann wendet nichts Weiteres gegen sie an. Gott ist erhaben und groß.“ (4:34)206 Die Korankommentare der verschiedenen Jahrhunderte belegen durchweg die Ansicht, dass der Mann der Frau an Wissen, Verstand und Rechtsvollmacht überlegen sei und insofern Anspruch auf ihren Gehorsam erheben könne. Im Tafsir al-Manar, dem maßgeblichen Korankommentar der theologischen Hochschule al-Azhar in Kairo heißt es gar, der Mann verhalte sich zur Frau wie der Kopf zum Körper. Jede Gemeinschaft – so auch die Ehe – brauche einen Führer, der in Zweifels- und Streitfällen das letzte Wort hat. Dabei – so al206 Paret übersetzt: „Die Männer stehen über den Frauen...“ vgl. Rudi Paret: Der Koran. Stuttgart (9) 2004. 109 Manar – komme diese Rolle unweigerlich dem Manne zu, da er besser wisse, was für die Familie gut sei als die Frau (a‘lam bi'-lmaslaha).207 Diese Vormachtstellung des Mannes ist also in seinem vermeintlichen Wesen begründet und erhält durch die von ihm zu entrichtende Morgengabe sowie die Unterhaltspflicht lediglich eine zusätzliche Legitimation. Jede Gruppe – und sei sie auch noch kleiner und wesentlich unbedeutender als die Familie – braucht in Anlehnung an eine Prophetenüberlieferung eine Leitung, die die Richtung vorgibt und das Gefüge zusammenhält.208 Diese Einschätzung wird in tendenziell islamistischem Schriftgut auch der grundsätzlich erlaubten Eheschließung von Muslimen mit Europäerinnen entgegen gehalten, da diese die Vormachtstellung des Mannes möglicherweise nicht akzeptieren würden und somit die Stabilität von Ehe und Familie von vornherein gefährdet sei.209 Die Auflehnung der Frau, gegen die der Mann sich nach dem oben zitierten Koranvers verwahren und gegebenenfalls mit maßvollen Schlägen vorgehen soll, wird interpretiert als Gehorsamsverweigerung, aber auch als Gefährdung der familiären Ordnung, die – wenn kein Einhalt geboten wird – unabsehbare Folgen nach sich ziehen kann. Von islamischer Seite wird gerne darauf hingewiesen, dass es sich hier um eine Maßregelung des Mannes handele, der angemessen und wohl überlegt handeln soll, anstatt in blinder Wut zuzuschlagen. Diese Tendenz prägt auch das islamistische Schrifttum, allerdings ohne das Züchtigungsrecht des Mannes an sich in Frage zu stellen oder zu thematisieren, wie die Frau sich gegen übertriebene Schläge und Gewalt wehren kann. Der amtierende Generalsekretär der Muslimbruderschaft Muhammad Mahdi Akif führt hierzu aus: „Wir geben zu, dass viele Ehemänner diesbezüglich Missbrauch treiben, ein negatives Resultat der Unzulänglichkeit, mit der sie den Islam befolgen, verstehen und danach erzogen sind. Manche Frauen zeigen auch ein Verhalten, das die Nerven reizt und Zorn hervorruft. Abgesehen davon sind beide - Mann und Frau – in herrschenden tyrannischen Systemen und fest etablierter gesellschaftlicher Verderbtheit Gewalt, Schrecken und Unterdrückung ausgesetzt... im 207 Tafsir al-Qur’an al-hakim ash-shahir bi tafsir al-Manar, Beirut o.J., Band 5, S. 67f 208 ar-Ra’id Nr 251 2004, S. 5f 209 ar-Ra’id Nr. 248 4/2004, S. 54 110 Wesen des Islams, in seiner Barmherzigkeit und seiner Schari’a liegt die Heilung all dessen.“ 210 2.2.3 Polygamie Dem Mann wird vom Koran prinzipiell das Recht zugestanden, bis zu vier Frauen gleichzeitig zu heiraten, wobei vor allem die Heirat von Witwen und Waisen empfohlen wird, die in frühislamischer Zeit durch die Kriege zahlreich und häufig nicht angemessen versorgt waren: „Und wenn ihr fürchtet, gegenüber den Waisen nicht gerecht zu sein, dann heiratet, was euch an Frauen beliebt, zwei, drei oder vier. Wenn ihr aber fürchtet, (sie) nicht gleich zu behandeln, dann nur eine, oder was eure rechte Hand (an Sklavinnen) besitzt. Das bewirkt es eher, dass ihr euch vor Ungerechtigkeit bewahrt.“ (4:3). Der Mann ist seinerseits allen Frauen gegenüber unterhaltspflichtig und muss sie wie im Text gefordert gerecht behandeln. In derselben Sure des Koran heißt es allerdings, diese gerechte Behandlung mehrerer Frauen sei gar nicht möglich: „Und ihr werdet es nicht schaffen, die Frauen gleich zu behandeln, ihr mögt euch noch so sehr bemühen" (4:129). Vielfach wurde dieser Zusatz dahingehend verstanden, die Pflicht zur Gleichbehandlung gelte nur im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten – eine Interpretation, die auch der weitere Verlauf der Sure nahe legt – andere sahen hierin ein immanentes Verbot der Polygamie und wollten diese auch juristisch auf wenige Ausnahmefälle beschränken. Wo immer aber solche Schritte erwogen werden, tritt die islamische Opposition auf den Plan. Nur in einer Gesellschaft, die Polygamie dulde – so die Argumentation – könne die ordnungsgemäße Versorgung aller Frauen auch in Zeiten kriegsbedingten Männermangels gewährleistet werden, um Verelendung, Promiskuität und Prostitution entgegenzuwirken und allen Frauen die Tür zu ihrer natürlichen Bestimmung und ihrem Recht – einem Leben als Ehefrau und Mutter ehelicher Kinder – zu öffnen. In diesem Kontext finden sich gelegentlich Hinweise auf die vielen Frauen in Europa, denen dieser Lebensinhalt als Folge des Monogamiegebotes vorenthalten blieb,211 insbesondere nach dem 2. Weltkrieg. Schließlich sei – so ein weiteres Argument – die in einer Einehe erzwungene sexuelle Enthaltsamkeit des Mannes während der Menst210 Risalat al-Ikhwan Nr. 407, 11.3.2005, S.2) 211 Tafsir al-Qur’an al-hakim ash-shahir bi tafsir al-Manar, Beirut o.J., Band 4, S. 360f 111 ruation und 40 Tage nach der Geburt eines Kindes vielen Männern nicht zuzumuten. Auch werde die Scheidungsrate gesenkt, wenn die Heirat einer zweiten Frau bspw. wegen Kinderlosigkeit nicht gleich die Verstoßung der ersten nach sich ziehe. Die Polygamie wird so als ein von Gott gegebenes Recht des Mannes verstanden, das Menschen ihm nicht nehmen dürfen. Bis heute ist sie in nahezu allen islamischen Ländern erlaubt. Ein lediglich in Tunesien und der Türkei bestehendes diesbezügliches Verbot wird häufig umgangen und von der islamischen Opposition scharf kritisiert. Die soziale Realität weicht allerdings stark von den hierzulande virulenten Haremsphantasien ab. In Ländern mit relativ ausgewogener weiblicher und männlicher Bevölkerung ist die Monogamie zwangsläufig der Regelfall, die Polygamie aber zu einem Privileg weniger Reicher geworden. 2.2.4 Scheidung Im Fall eines Zerwürfnisses zwischen den Eheleuten soll zunächst alles unternommen werden, um eine Trennung zu vermeiden: „Und wenn ihr ein Zerwürfnis zwischen beiden (Ehepartnern) befürchtet, dann bestellt einen Schiedsrichter aus ihrer Familie. Wenn sie sich aussöhnen wollen, wird Gott ihnen Eintracht schenken. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem." (4:35). Erst als letzter Ausweg kommt die Scheidung in Betracht. Dabei kann die traditionelle islamische Scheidung nur vom Mann erwirkt werden, der hierfür weder einen Grund noch einen Richter braucht. Spricht der Mann dreimal hintereinander die Scheidungsformel 'Du bist geschieden' aus, ist die Scheidung rechtskräftig. Spricht er sie nur einmal aus, hat er während einer Wartezeit von drei Monaten die Möglichkeit, seine Frau wieder zurückzunehmen. Tut er dies nicht, ist die Scheidung nach Ablauf der Wartezeit rechtskräftig. Die Frau muss in jedem Fall eine Wartezeit einhalten, um festzustellen, ob sie schwanger ist. Diese Zeit, während derer sie nicht erneut heiraten darf, endet nach Ablauf von drei Monaten bzw. im Falle einer Schwangerschaft mit der Geburt. Die einseitige islamische Scheidung ist in den meisten Ländern bis heute üblich, teilweise uneingeschränkt, teilweise mit zusätzlichen Bedingungen wie bspw. in Syrien, wo der Mann sein Anliegen bei Gericht vortragen muss. Lediglich die Türkei und Tunesien haben die Verstoßung gesetzlich verboten; inwieweit sie in der Realität nicht trotzdem praktiziert wird, ist eine andere Frage. Statistiken zeigen, dass die Scheidungsraten in Ländern, die die traditionelle isla- 112 mische Scheidung ohne jede Einschränkung erlauben, wesentlich höher liegen als anderswo, allerdings immer noch deutlich unter denen westlicher Großstädte. Das Scheidungsrecht der Frau ist dem des Mannes gegenüber äußerst beschränkt und wird in den einzelnen Lehrmeinungen unterschiedlich beurteilt. Die Frau kann in bestimmten Fällen die Scheidung durch den Richter verlangen, so bei Impotenz oder schwerer Krankheit des Mannes, bei mangelnder Versorgung und schlechter Behandlung. Ferner hat sie wenigstens theoretisch die Möglichkeit, bestimmte Bedingungen wie den Verzicht auf weitere Heiraten in den Ehevertrag aufzunehmen und bei deren Missachtung die Scheidung zu fordern. Schließlich kann die Frau sich aus der Ehe loskaufen, in der Regel dadurch, dass sie ganz oder teilweise auf den Brautpreis verzichtet. In der Realität wird nur selten von Frauen die Scheidung erwirkt. Zunächst sind nur sozial und wirtschaftlich privilegierte Frauen in der Lage, ein Verfahren anzustrengen, auf den Brautpreis zu verzichten oder dem Ehemann Bedingungen zu stellen. Auch die Vorstellung, nach einer Scheidung in die Herkunftsfamilie zurückkehren zu müssen und von dieser möglicherweise als Belastung empfunden und mit Vorwürfen überhäuft zu werden, ist zweifellos abschreckend. Hinzu kommt, dass im Falle einer Scheidung der Vater grundsätzlich die juristische Vormundschaft über die Kinder erhält, die im Falle seines Todes auf den nächsten männlichen Verwandten, nicht aber auf die Frau übergeht. Die Frau erhält bestenfalls das Recht zur Versorgung der Kinder bis zu einem gewissen Lebensalter, bei Jungen meist 7-10 Jahre, bei Mädchen bis zu 14 Jahre, häufig darüber hinaus bis zur Eheschließung. 3. Der öffentliche Lebensbereich 3.1 Mädchen/Frauen und Bildung Ein Grundrecht auf Bildung bzw. Schulbildung wird Mädchen und Jungen im Islam gleichermaßen zugestanden, und das Streben nach Wissen wird den Gläubigen ohne Unterscheidung des Geschlechtes empfohlen. De facto sieht aber die Erziehung von Mädchen und Jungen auf islamischer Grundlage sehr unterschiedlich aus und orientiert sie auf die traditionelle Aufgabenteilung in der patriarchalischen Gesellschaft hin. Ausgehend von der späteren Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter gilt die Erziehung von Mädchen von klein auf weiblichen Idealen. So stehen neben Elementarkennt- 113 nissen in allgemeinbildenden Fächern religiöse Fragen und praktische Fächer wie Handarbeit, Kochen, Ernährungslehre und Kinderpflege auf dem Lehrplan islamisch geprägter Mädchenschulen sowie außerschulischer Bildungsprogramme. Dabei verbieten die Quellen des Islams Mädchen und Frauen mit keinem Wort die Beschäftigung mit anderen Bildungsinhalten, seien es Fremdsprachen, Natur- und Sozialwissenschaften oder technische Fächer. Auch haben traditionelle islamische Universitäten in der Regel eigene Mädchenfakultäten, zumindest aber getrennte Hörsäle, in denen junge Frauen eine Vielzahl an Fächern studieren können. Im Rahmen meist begrenzter wirtschaftlicher Möglichkeiten wird in der islamischen Welt allerdings vielfach größerer Wert auf die schulische und berufliche Ausbildung von Jungen gelegt, die später eine Familie zu versorgen haben. Dass in weiten, vor allem ländlichen Gebieten der islamischen Welt bis heute ein hoher Prozentsatz von Mädchen keine Schule besucht, hat insofern weniger religiöse als vielmehr wirtschaftliche und soziale Gründe. Mädchen werden häufig für die häusliche Arbeit gebraucht, und es erregt das Misstrauen der traditionellen Eltern, wenn sie zum Schulbesuch das Haus verlassen. Hinzu kommt, dass vielerorts Schulgebühren zu entrichten sind – sei es direkt oder indirekt über die obligatorische Beschaffung von Schuluniformen und Material – so dass unter den zahlreichen Kindern einer Familie eine Auswahl getroffen werden muss, die im Zweifel zugunsten der Jungen ausfällt, von denen erwartet wird, dass sie später eine Familie ernähren können. Auch die vermeintlich fortschrittliche Einführung der Koedukation bedeutet hier häufig einen Rückschritt; wenn die Geschlechtertrennung nicht mehr gewährleistet ist, sinkt die Bereitschaft muslimischer Eltern, ihre Töchter Schule und Universität besuchen zu lassen. Wenngleich die Analphabetenrate der Frauen in der islamischen Welt auch heute erheblich über der der Männer liegt, ist die Repräsentanz von Mädchen auf allen Ebenen bspw. des ägyptischen Bildungswesens beachtlich und die Entwicklung der letzten Jahrzehnte durchaus mit der westlicher Industriestaaten zu vergleichen. So hat sich das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Studierenden an den großen Universitäten des Landes von 13,2:1 im Studienjahr 1952/3 zu 1,3:1 im Studienjahr 1994/5 entwickelt. Wenn der erste Schritt in das formale Bildungswesen erst vollzogen ist, sind die Grenzen nach oben offenbar relativ offen.212 212 vgl. Reuter S. 132-146 114 Auch das islamistische Schrifttum unterstützt im allgemeinen das uneingeschränkte Recht der Mädchen und Frauen auf Bildung, wenngleich gelegentlich in Frage gestellt wird, wie sinnhaft die Beschäftigung mit Fremdsprachen oder Rechtswissenschaften ist, Kenntnissen also, die die Frau nach dem islamistischen Lebensentwurf kaum wird anwenden können. Entscheidend ist in jedem Fall die Einhaltung religiöser Vorschriften und moralischer Grenzen. Mädchen jede Art von außerhäusiger Bildung vorzuenthalten, wie es über Jahre Praxis der Taliban in Afghanistan war, lässt sich keinesfalls aus den Quellen des Islams ableiten. 3.2 Frauen im Beruf Im klassischen islamischen Denken wird zunächst davon ausgegangen, dass die Frau alle genuin weiblichen Bedürfnisse in Ehe und Mutterschaft ausleben kann. Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung, Haushaltsführung und gegebenenfalls die Sorge um ältere oder kranke Angehörige gelten als ihre natürlichen Aufgaben und dienen insofern ihrer Selbstverwirklichung im eigentlichen Sinne des Wortes. Anders gelagerte Fähigkeiten der Frau werden mit gewissen Unterschieden nicht grundsätzlich geleugnet, sie zu entfalten aber weder als Bedürfnis noch als Recht der Frau thematisiert. Erwerbsarbeit der Frau wird dort geduldet oder gar begrüßt, wo sie unabdingbar ist, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern oder aber größeres moralisches Übel zu verhindern. So werden gerade in traditionalistisch geprägten Gesellschaften, die die Geschlechtertrennung so konsequent wie möglich in allen Lebensbereichen durchziehen, Lehrerinnen zum Unterrichten von Mädchen ebenso gebraucht wie Krankenschwestern und Ärztinnen zur Pflege und Behandlung von Frauen. Gleichzeitig wird im muslimischen Kontext immer wieder Kritik an der Frauenarbeit laut, in der es heißt, die berufstätige Frau würde Mann und Kinder vernachlässigen, sei den moralischen Anfechtungen in Öffentlichkeit und Arbeitswelt nicht gewachsen und verweigere am Ende ihrem Ehemann den Gehorsam. Akzeptable Gründe für die Berufstätigkeit der Frau sind nach einhelliger Meinung islamistischer Gruppierungen die Vermeidung unerlaubten Kontaktes der Geschlechter im Bildungs- und Gesundheitswesen und die zwingende wirtschaftliche Notwendigkeit, wenn das Anspruchsniveau der Familie so niedrig wie möglich angesetzt wird. Der ökonomische Nutzen der Erwerbstätigkeit von Frauen wird in diesem Kontext gerne in Frage gestellt: „Die Frau hat ein Recht zu arbeiten, aber sie verliert Geld für Verkehrsmittel, Klei- 115 dung – denn sie muss schicke Kleidung tragen –, und ihre Kinder brauchen jemanden, der ihnen Privatstunden gibt. Hier liegt der Fehler: Wenn sie zu Hause bliebe, könnte sie sie unterrichten, sich um sie kümmern. Sie könnte immer mit ihnen lernen. Sie werden nicht gezwungen sein, Privatstunden zu nehmen, und sie wird nicht viel Kleidung kaufen und kein Geld für Verkehrsmittel ausgeben müssen.“ 213 Die Quote von Frauen, die außerhalb von Haushalt und Landwirtschaft erwerbstätig sind, liegt heute in islamischen Ländern zwischen 0,5 und 8%, in Indonesien erreicht sie sogar 10%. In anderen Ländern vergleichbaren Entwicklungs-Niveaus und ähnlicher wirtschaftlicher Rahmenbedingungen liegt die Frauenquote an der Erwerbsarbeit mit bis zu 40% erheblich höher. In einer Gesellschaft, in der vom traditionellen Rollenverständnis an sich ganz abgesehen die Vormachtstellung des Mannes wesentlich mit dessen Rolle als Versorger der Familie begründet wird, zeigt die Erwerbsarbeit der Frau den Mann als Versager, der die Familie nicht ernähren kann und so der Aufgabe, die Religion und Gesellschaft ihm stellen, nicht gewachsen ist. Nicht genug damit, könnte er auch sein Recht auf Gehorsam und Unterordnung der Frau de facto verwirken. Der psychische und soziale Druck, unter den vor allem junge Männer in einer solchen Situation gelangen, ist kaum zu ermessen. 3.3 Frauen in öffentlichen Ämtern? Die Übernahme politischer und anderer öffentlicher Funktionen durch Frauen ist im Islam nicht vorgesehen. Dies stützt sich im wesentlichen auf einen Koranvers, der regelt, dass in juristischen Streitfällen die Zeugenaussagen von zwei Frauen soviel wert sind wie die eines Mannes. "Und lasst zwei Zeugen aus den Reihen eurer Männer (es) bezeugen. Wenn es aber keine zwei Männer gibt, dann sollen es ein Mann und zwei Frauen sein aus den Reihen der Zeugen, mit denen ihr einverstanden seid, so dass, wenn eine der beiden sich irrt, die eine von ihnen die andere erinnern kann.“ (2:282) Die Mehrheit muslimischer Denker interpretiert diesen Vers dahingehend, dass die Frau emotional, vergesslich und subjektiv sei und daher für das Richteramt ebenso ungeeignet wie für politische Funktionen. Besonders kommt dies offenbar während der Menstruation 213 vgl. Reuter S. 132-146, Zitat S. 143f 116 zum Tragen, in der die Frau sehr anfällig und nicht belastbar sei. Auch wird in diesem Zusammenhang auf ein Wort des Propheten verwiesen, der gesagt haben soll: "Kein Volk wird gedeihen, das eine Frau anführt." Die frühislamische Historiographie belegt, dass es vereinzelt Frauen in sehr exponierten Stellungen gegeben hat, so die Ehefrauen des Propheten Chadija, die ein Handelsunternehmen führte, und Aischa, die eine sehr aktive politische Rolle gespielt hat. In diesem Zusammenhang wurde aber immer gerne auf die Sonderstellung der Frauen des Propheten verwiesen, die der durchschnittlichen Muslimin eben nicht in allen Bereichen als Vorbild dienen können. Eine Handvoll 'Alibifrauen' gehört in den Parlamenten muslimischer Länder heute in aller Regel zum guten Ton; vereinzelt wie in Pakistan oder Bangladesh haben sie es sogar an die Staatsspitze gebracht. Von religiöser Seite wird dies oftmals scharf kritisiert mit dem Hinweis auf die mangelhafte Eignung von Frauen für Verantwortung dieser Art, sowie den unerlaubten Umgang der Geschlechter, der zwangsläufig damit verbunden ist. Als die ägyptische Ärztin und Frauenrechtlerin Nawal as-Saadawi unlängst ihre Kandidatur für die Parlamentschaftswahlen im Herbst 2005 ankündigte, erfuhr die Diskussion einen neuen Höhepunkt – und eine für viele überraschende Wende. Der Scheich der einflussreichen und keinesfalls modernistisch ausgerichteten theologischen Hochschule al-Azhar in Kairo, Dr. Muhammad Said at-Tantawi, ließ in einer Fatwa (Rechtsgutachten) wissen, dass aus islamischer Sicht auch eine Frau Präsidentin der Arabischen Republik Ägypten werden könne. Der Protest ließ nicht lange auf sich warten: unter der Führung von Großmufti Ali Jum’ah sowie Yusuf al-Qaradawi, einem der großen Ideengeber der Muslimbruderschaft, artikulierte sich – auch mit weiblicher Unterstützung – erbitterter Widerstand gegen diese Verlautbarung des Scheichs. Wenngleich die Kandidatur als solche dadurch nicht in Frage gestellt werden kann, wird dem Thema so doch in der öffentlichen Diskussion ein großer Stellenwert beigemessen und frommen Muslimen erneut die mangelnde Eignung einer Frau für ein hohes politisches Amt suggeriert.214 214 vgl. Berichterstattung in der arabischen Tageszeitung al-Hayat, 30.12.2004, Nr. 15250 S. 117 4. Für und Wider den Islamismus 4.1 Reform- und Frauenbewegungen Der Zahn der Zeit nagt an jeder Gesellschaft, und auch im islamischen Raum ist sozialer Wandel vielerorts spürbar. So hat es auch im theologischen Diskurs Versuche zu einer Neuinterpretation der religiösen Quellen gegeben, die unter anderem auf mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern abzielten. Reformer waren insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Ansicht, dass nur diejenigen Weisungen des Koran, die das Verhältnis des Menschen Gott gegenüber und die religiösen Pflichten betreffen, ewig gültig seien. Demgegenüber wären die Verse, die das Zusammenleben der Menschen und auch das Verhältnis der Geschlechter regeln und wesentliche Grundlage des islamischen Rechts bilden, aus ihrer Zeit heraus zu verstehen und gemäß dem ihnen zugrundeliegenden Geist neu zu interpretieren. Die Verbesserungen, die der Koran den Frauen im Verhältnis zur vorislamischen Zeit brachte – so die Beschränkung der Zahl legitimer Ehefrauen auf vier, die Erbberechtigung u.a. – sollten nach dieser Vorstellung als Impuls zu einer Entwicklung verstanden werden, deren Ziel letztlich Gleichberechtigung wäre. Insofern wären die konkreten Regelungen des Koran als Übergang zu verstehen zwischen der Rechtlosigkeit der Frau in vorislamischer Zeit und dem – so die Argumentation – vom Islam immanent vorgegebenen Ziel der Gleichberechtigung. Ein anderer Zugang, der von verschiedenen Reformtheologen gesucht wurde, war das zeitbezogene Verständnis der einschlägigen Koranverse. So mache bspw. die Polygamie Sinn in einer Gesellschaft, in der Frauen nicht selbst für sich sorgen können, was aber heute eben sehr wohl der Fall ist. Die Benachteiligung der Frauen beim Erbrecht, begründet mit der alleinigen Verantwortung des Mannes für den Unterhalt der Familie, könnte hinfällig sein, wenn die Frau allein schon aus wirtschaftlicher Notwendigkeit von ihrem Vermögen oder durch Erwerbsarbeit zum Lebensunterhalt beiträgt. Stimmen dieser Art hat es immer wieder gegeben, allerdings ohne dass sie das islamische Rechtsempfinden oder gar die soziale Wirklichkeit nachhaltig hätten beeinflussen können. Der sudanesische Reformdenker Mahmud Muhammad Taha wurde 1984 als „Apostat und Ketzer“ hingerichtet, weil er neue Ansätze in der Koranausle- 118 gung propagierte und unter anderem die absolute Gleichstellung von Mann und Frau forderte.215 Zeitgleich mit der Blüte des reformtheologischen Diskurses im frühen 20. Jahrhundert nahm in Ägypten die erste große Frauenbewegung unter Malak Hifni Nasif und Huda Sha’rawi ihren Anfang. Organisationen und Zeitschriften wurden in der Folgezeit gegründet, sowie sukzessive das Frauenwahlrecht, die Besserstellung der Frauen im Eherecht und die Umsetzung des im Koran grundgelegten Rechtes der Frau auf Bildung auf allen Ebenen gefordert. Vieles wurde erreicht. In der Tradition dieser Bewegungen stehen heute einige besonders markante Aktivistinnen, stellvertretend für Bewegungen von Frauen in der islamischen Welt, die für eine Verbesserung ihrer Lebensumstände eintreten: Nawal as-Saadawi in Ägypten, Fatima Mernissi in Marokko, Sahar Khalifah in Palästina, Laila al-Osman in Kuwait, Assia Djebar in Algerien, um nur einige Namen zu nennen. 216 Ihnen gemeinsam ist die Empörung über zutiefst patriarchalische und ebenso undemokratische Gesellschaftsstrukturen und eine einseitige, von männlichen Interessen dominierte Interpretation der religiösen Quellen. Hier liegt das Problem, nicht etwa in der Religion selbst, die den Frauen ganz andere Möglichkeiten einräumen würde. In diesem Sinne argumentieren Frauenrechtlerinnen – wenn überhaupt mit religiösen Bezügen – eher mit dem Koran als gegen den Koran. Von Regimen, die eine konservativere Auslegung der Religion befördern oder davon profitieren, werden sie aber oftmals ausgegrenzt, zensiert und auf vielfältige Art und Weise bedrängt. 4.2 Die islamische Reaktion Reformbemühungen – seien sie nun von Männern oder von Frauen betrieben worden – stießen bald auf massiven Protest aus den eigenen Reihen bis zum Vorwurf der Abkehr vom rechten Islam und der Ketzerei. Jeglicher Hinweis auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen wird von traditionalistischen und islamisti215 vgl. Nasr Hamid Abu Zaid: Der Islam – neu gedacht. Drei Ansätze zur Integration moderner Werte. In: Neue Züricher Zeitung 29.4.05, S. 35 Tahas Schüler Abdullah an-Na’im lehrt heute seine Theorien zur Versöhnung der Schari’a mit international geltenden Rechtsnormen und den Menschenrechten außer Landes in Atlanta. 216 Zu diesen und anderen Aktivistinnen der modernen arabischen Frauenbewegungen vgl. Szostak/Taufiq: Der wahre Schleier ist das Schweigen 119 schen Strömungen mit dem Hinweis abgetan, der Koran müsse als allgemein und ewig gültiges Lebenskonzept Subjekt gesellschaftlicher Veränderung sein, diese also induzieren, wenn die Realität vom Ideal des Islams abweicht, er könne aber nicht Objekt gesellschaftlichen Wandels sein und im Lichte desselben uminterpretiert werden. Der Koran wird so in all seinen Aspekten – also auch den juristischen und unmittelbar das Zusammenleben der Menschen regelnden Versen – verstanden als Abbild der göttlichen Schöpfungsordnung, die aber ihrerseits keinem Wandel unterworfen sein kann. Bezogen auf die Stellung von Mann und Frau bedeutet das, dass aus den einschlägigen Koranversen Rückschlüsse auf die vermeintlich zugrundeliegende Wesensart von Mann und Frau gezogen werden, die ihrerseits als Teil des göttlichen Schöpfungsgedankens unveränderlich ist. Der Koran trägt so gesehen der unterschiedlichen, von Gott gegebenen Natur beider Geschlechter Rechnung und muss insofern völlig unabhängig von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gelten. Die Vormachtstellung des Mannes in der Ehe beispielsweise kann nicht letztlich auf seine finanzielle Verantwortung für die Familie zurückgeführt und schon gar nicht von ihr abhängig gemacht werden, sondern entspricht der von Gott gegebenen Natur von Mann und Frau. Wenn die Frau durch eigene Erwerbstätigkeit zum Familienunterhalt beiträgt, kann sie aufgrund dessen also nicht die Vormachtstellung ihres Mannes in Frage stellen oder dasselbe Erbe verlangen; tut sie es doch, dann darf sie eben nicht arbeiten. Die traditionelle Aufgabenteilung der patriarchalischen Gesellschaft wird vom islamischen Denken nicht in Frage gestellt. Die hierzulande modern gewordene Tendenz zum Rollentausch, zumindest aber einer Verwischung der klaren Geschlechtergrenzen sowie zur Entdeckung des ‚Männlichen in der Frau‘ und des ‚Weiblichen im Mann‘ erscheint Muslimen in aller Regel äußerst suspekt und geradezu absurd. "Und wünscht euch nicht das, womit Gott die einen von euch vor den anderen bevorzugt hat! Die Männer erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben, und die Frauen erhalten einen Anteil von dem, was sie erworben haben. Und bittet Gott um etwas von seiner Huld. Gott weiß über alle Dinge Bescheid." (4:32) Nach europäischem Verständnis bedeutet die konsequente Anwendung islamischer Ethik und Rechtsnormen eine enorme Freiheitsbeschränkung der Frauen auf der einen Seite, aber auch eine klare Orientierung auf der anderen Seite, die den Islam hier und da auch 120 für Nicht-Muslime attraktiv erscheinen lässt. In unserer modernen, pluralistischen Gesellschaft, in der mehr und mehr Tabus fallen und allmählich alles möglich erscheint, ergibt sich kaum ein Schritt in der Lebensplanung mehr selbstverständlich. Dies gilt in besonderem Maße für Frauen, deren Selbstverständnis sich im Laufe der letzten Jahrzehnte stärker gewandelt hat als das des Mannes. Alles, was einst vorgezeichnet war, muss heute entschieden und abgewogen werden: welche Berufsausbildung, welche Lebensform, Kinder ja oder nein, Kinder oder Karriere oder beides, religiöse Orientierung ja oder nein und wenn ja mit welcher praktischen Umsetzung usw. Im islamischen Kulturraum stellen sich aus verschiedenen, zumeist wenigstens islamisch geprägten Gründen diese Fragen nicht. Mit Selbstverständlichkeit gilt weiterhin die Ehe mit dem Ziel der Zeugung von Nachkommenschaft als angemessene Lebensform und die Religion als Werterahmen, der – unabhängig davon, wie ernsthaft sie praktiziert wird – nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. Islamisten schlagen genau in diese Kerbe, indem sie völlige Haltund Zügellosigkeit des Westens als (einzige) Alternative zur strengen Befolgung der Schari’a darstellen: uneheliche Kinder, sexuelle Freizügigkeit mit ständig wechselnden Beziehungen, Abtreibung, Homosexualität, Kriminalität allenthalben, so lautet zum Beispiel das Schreckensszenario, wenn man die Familie nicht mehr als Grundbaustein der Gesellschaft ansieht, sondern als (historisches) soziales Gefüge, das überwunden werden kann. 217 Wenn Freiheit für uns ein im Rahmen sozialer Regeln mögliches hohes Maß an Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit bedeutet, zeigt sich im Islam allgemein und mehr noch in der islamistischen Strömung die Einordnung des Freiheitsbegriffes in das göttliche Gesetz. Dies zu befolgen ist eigentliche Freiheit, ihm zuwider zu handeln ist trügerische Freiheit, weil es im Widerspruch steht zur ureigenen Natur des Menschen, der Gottes Gesetze entsprechen. Der Islamismus versteht sich als Inbegriff ihrer Würde und ihres Schutzes, ihrer Erfüllung und ihrer recht verstandenen Freiheit. Die (einzige) Alternative gleicht scheinbar Sodom und Gomorra. So äußert Muhammad Mahdi Akif, amtierender Generalsekretär der Muslimbruderschaft: „Wir wollen, dass die muslimische Frau ihre Rechte vollständig erhält und ihre Pflichten und ihre himmlische Sendung in Familie, Gesellschaft und der ganzen Welt wahrnimmt. Wir wollen, dass die muslimische Frau mit ihrer Seele und ihrer Wesensart, ihrem Wissen und Denken, ih217 Risalat al-ikhwan Nr. 407, 11.3.2005 S. 2 121 rem Gewissen und ihren Gefühlen hervortritt in ihren religiösen, nationalen und menschlichen Aufgaben, und dass sie ihre große Rolle auf allen ihr möglichen Ebenen wahrnimmt; nicht aber dass sie – wie es heute häufig der Fall ist – nur ein Körper ist, der gehandelt und herausgeputzt, verkauft und gekauft wird auf den Märkten von Sex und Vergnügen, Plakaten und Medien.“ 218 Mit allen Mitteln – so die Wahrnehmung des Autors und vieler Islamisten – versucht der Westen, die arabisch-islamische Welt mit seinen Werten zu überziehen. Besonders berufen fühle man sich in der Frauenfrage und versuche sogar, durch materielle Unterstützung feministischer Organisationen westlicher Prägung Einfluss zu nehmen, politischen Druck auszuüben und Gesetzesänderungen voranzutreiben. 219 4.3 Frauen für die islamische Ordnung Die islamistischen Bewegungen, die an frühere Denker anknüpfen, vor allem aber ab Mitte des 20. Jahrhunderts an Einfluss gewannen, betonen die universelle Gültigkeit des Islams, der jeder anderen Lehre und jedem anderen Gesellschaftsentwurf überlegen sei und dessen konsequente und wortgetreue Umsetzung als von Gott gegebene Pflicht die Menschen zur höchstmöglichen Erfüllung ihres Lebens führe. Ihre Aktivitäten galten bald der politischen Einflussnahme, insbesondere bezüglich der Stellung der islamischen Schari’a als maßgebliche Quelle der Gesetzgebung, der innerislamischen Mission und – insbesondere als Reaktion auf den Kolonialismus mit seiner kulturellen Überfremdung der islamischen Welt – der Abwehr nicht-islamischer Einflüsse und Modelle in allen Lebensbereichen. Dabei wird Mitte des 20. Jahrhunderts von Sayyid Qutb, einem der herausragenden Denker der Muslimbruderschaft, die rechtliche Ungleichheit von Mann und Frau festgeschrieben, der Islam aber gleichzeitig als Vorreiter von Gleichberechtigung und Emanzipation gefeiert, von der der Westen nur träumen könne.220 Frauen waren von Anfang an dabei und vertraten auf unterschiedliche Art und Weise den Islam in seiner konservativen Lesart als Inbegriff weiblicher Würde und Freiheit. Bereits 1933 – fünf Jahre nach Gründung der Muslimbruderschaft durch Hasan al-Banna in Ägypten – entstand das ‚Institut für die Mütter der Gläubigen‘ als Vorläuferin der ‚Muslimschwestern‘. Zainab al-Ghazzali, eine der 218 ar-Ra’id Nr. 252, 2/05 219 Risalat al-ikhwan Nr. 407, 11.3.2005, S.2 220 Damir-Geilsdorf S. 136 122 Hauptaktivistinnen der Bewegung, die sechs Jahre lang aus politischen Gründen inhaftiert war, löste gar ihre erste Ehe, weil der Gatte ihre Tätigkeit als Predigerin und Aktivistin nicht unterstützen wollte, und machte es dem zweiten Ehemann zur Auflage, ihr keine Steine in den Weg zu legen, dies obgleich sie kompromisslos die Vorherrschaft des Mannes in der Ehe und die Gehorsamspflicht der Frau vertrat. Nach ihrer Amnestie durch Sadat blieb Zainab alGhazzali bis zu ihrem Tod im August 2005 publizistisch und lehrend tätig. 221 Nach ihrem Beispiel sind heute zahlreiche Frauen im und für den Islamismus tätig, sei es durch ihre persönliche Lebensführung und den damit verbundenen missionarischen Eifer, als unterstützende oder aktive Mitglieder einschlägiger Organisationen oder im Jihad. Bekenntnisse und Lebensentwürfe von Islamistinnen, die häufig ursprünglich aus einem nicht-islamistischen Milieu stammen, lassen neben großer Leidenschaft für die Sache ein deutliches Überlegenheitsgefühl erkennen, das sich aus der strikten Anwendung der religiösen Vorschriften herleitet und mit einem deutlichen Sendungsbewusstsein einhergeht.222 Mit großer Vehemenz bestehen viele Frauen darauf, dass der Koran ihnen alle Rechte gibt und sie in ihrer einzigartigen Würde und den daraus resultierenden Aufgaben anerkennt; gleichzeitig wehren sie sich gegen pseudo-islamische Abwertungen ihrer Anlagen und Fähigkeiten: „Der Koran anerkennt die anatomische Verschiedenheit von Frau und Mann und gleichzeitig die unterschiedlichen sozialen Rollen, die sie traditionellerweise innehaben. Davon abgesehen haben Frau und Mann bei Gott denselben Wert. Im Koran gibt es nichts, das die Frau erniedrigt oder herabwürdigt, sie schwach oder mangelhaft zeigt.“ 223 In die Tätigkeit islamistischer Organisationen sind Frauen – neben ihrer klassischen unterstützenden Tätigkeit im Hintergrund – zum Teil eingebunden durch die Teilnahme an gemeinsamen Veranstaltungen für Männer und Frauen und die Repräsentanz in Gremien. Auch verfügen islamistische Verbände inzwischen durchweg über eigene Organisationsformen sowie Angebote für Frauen. Einschlägige Veranstaltungen und Zeitschriften haben häufig klassische Frauenthemen wie Kindererziehung, Haushalt und Küche zum Ge221 Reuter S. 251-259 222 vgl. Reuter sowie zum Thema Konvertitinnen Hofmann 223 So Meryem Sanal in IGMG Perspektive, 3/2005 S. 23 123 genstand, ferner die islamische Gesellschaftslehre, die durch die Maßnahmen verfestigt werden soll, sowie theologische Fragestellungen und Koranunterricht. Auch in Deutschland sind Frauengruppen in islamistischen Organisationen sowie Moscheen teilweise sehr umtriebig; ihre Repräsentanz zu stärken gehört häufig zu den ausgewiesenen Zielen. Zahlenmäßig bleibt sie bisher begrenzt: so kann die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs derzeit etwa 10% weibliche Mitglieder verzeichnen.224 Die Relevanz der Frauen für die Stärkung und Verbreitung muslimischen und islamistischen Gedankengutes dürfte aber mit solchen Zahlen keinesfalls angemessen erfasst sein. 4.4 Frauen im Jihad Die klassische Rolle der muslimischen Frau für den Jihad liegt – wie könnte es anders sein – im Gebären und Erziehen der Kämpfer von morgen, denn „... sie ist es, die für uns Tausende Helden, Märtyrer und Mujahidin225 aufzieht und die die Nachricht von ihrem Opfer und Märtyrertod mit Geduld, Glaubensgewissheit und in der Hoffnung auf Gottes Lohn aufnimmt.“ 226 Die aktive Beteiligung von Frauen am bewaffneten Kampf für den islamischen Staat und an terroristischen Aktionen war bislang die Ausnahme: nach Palästinensern und Tschetschenen kamen unlängst auch in Ägypten Frauen zum Einsatz. Nach Einschätzung von Hassan Nafaa von der Universität Kairo bedeutet das nicht nur eine ‚Abkehr von der traditionellen ägyptischen Gesellschaft‘, sondern stellt aufgrund der meist vollständigen Verschleierung islamistischer Täterinnen auch die ermittelnden Behörden vor zusätzliche Probleme.227 Yusuf al-Ayiri, ehemaliger Propagandist von al-Qaida, der 2003 von saudischen Sicherheitskräften getötet wurde, propagierte die traditionelle, unterstützende Rolle der Frau im Jihad, wohingegen die aktive Teilnahme am Kampf moralische Risiken in sich berge. Gerade aufgrund des anerkannt großen Einflusses, den eine Frau, die von einer Sache fest überzeugt ist, auf ihren Mann und gegebenenfalls auch auf ihre Söhne ausüben kann, sollte sie den Mann zum aktiven Jihad ermutigen und in dieser Mission unterstützen, sowie die eigenen Kinder nach diesem Ideal erziehen. Einen 224 Berliner Morgenpost 28.5.05, S. B2 225 Kämpfer im Jihad 226 Risalat al-Ikhwan Nr. 407, 11.3.2005, S.3 227 vgl. Stuttgarter Zeitung 3.5.05, S.4 124 Mann vom Jihad abzuhalten bedeutet dagegen Abkehr vom Weg Gottes und ist schwere Sünde.228 Im Rahmen des online erscheinenden al-Qaida–Frauenmagazins alKhansa229 wird neben der unterstützenden auch die aktive Rolle von Frauen im Jihad propagiert. „We stand shoulder to shoulder with our men, supporting them, helping them and backing them up. Wie educate their sons and we prepare ourselves... We will stand covered by our veils and wrapped in our robes, weapons in hand, our children in our lap’s, with the Koran and the Sunna of the Prophet of Allah directing and guiding us. The blood of our husbands and the body parts of our children are the sacrifice by means of which we draw closer to Allah, so that through us, Allah will cause the Shahada for His sake to succeed.“ 230 Von einer Autorin, die sich selbst in Anlehnung an die siegreiche Schlacht der Muslime bei Badr 624 n.Chr. Umm Badr nennt, wird ‚Kämpferin im Jihad‘ als selbstverständliche Eigenschaft der Frau genannt, die ansonsten in der Familie Mutter, Ehefrau, Schwester und Tochter ist, in der Gesellschaft Erzieherin, Propagandistin und Predigerin für den Islam. Hindernisse auf dem Weg zur JihadKämpferin soll sie ausräumen: durch Studium von Koran, Prophetentradition und Schari’a ist die Kenntnis des Jihad zu vertiefen. In einem Kontext werden Glaubensschwäche und enge Verbindung zur diesseitigen Welt genannt, die die Frau oft zurückhalten und zögern lassen, ihre Betroffenheit über das Schicksal der Muslime in vielen Ländern der Welt in Taten umzusetzen. Der Jihad bedarf der Vorbereitung auf drei Ebenen: emotional muss die Frau die Angst vor dem Jihad überwinden. Im militärischen Bereich muss sie den Umgang mit der Waffe lernen, was für jede Frau auch außerhalb des Jihad verdienstvoll ist zur Verteidigung ihrer Ehre. Die physische Vorbereitung schließlich erfolgt durch zweckdienliche Ernährung, freiwilliges Fasten, ausreichend Schlaf, sowie Körperübungen, für die auf ein eigenes Kapitel verwiesen wird. Hinderlich sind ferner zwei Irrtümer: der, dass für den Jihad nur Männer zuständig seien und der, dass Jihad sich nur mit Waffen und im direkten Konflikt mit 228 http://siteinstitute.org/bin/articles.cgi 23.2.05 229 Der Name geht auf eine arabische Dichterin des 7. Jahrhunderts zurück, die ihre Söhne nach ihrer Konversion zum Islam freimütig in den Jihad zur Ausbreitung des Glaubens schickte und dafür große Verehrung genießt. 230 Al Qa’ida’s Arabian Peninsula Women’s Information Bureau, Special Dispatch Series No 779, Sept. 7,2004, in http://memri.org/bin/articles 125 dem Feind vollziehe. Ursprünglich erging der Aufruf zum Jihad an Männer, wo er aber als persönliche Verpflichtung angesehen wird gilt diese für jeden, und die Frau braucht weder die Erlaubnis ihres Mannes noch ihres Vormundes!231 Schlussbemerkung An der ‚Frauenfrage‘ wird einmal mehr deutlich, wie konträr die Weltbilder von Islamisten und Europäern sind, die in der geistigpolitischen Auseinandersetzung oder auch im Zusammenleben aufeinander prallen. Dabei konnte das Thema im Rahmen dieser Ausarbeitung nur im Ansatz mit der gebührenden Differenziertheit betrachtet werden. Drei Dinge gebe ich daher abschließend zu bedenken: Die Lebensrealität von Frauen in der islamischen Welt ist bei über einer Milliarde Muslime weltweit ebenso vielfältig wie die Theorie. Sie unterscheidet sich eklatant von einer Region zur anderen, mehr aber noch zwischen Stadt und Land sowie den einzelnen sozialen Schichten. Die offizielle Bindung der einzelnen Länder an den Islam ist ebenso unterschiedlich wie die jeweilige Stärke einzelner islamischer Richtungen. Die Lebensrealität von Frauen – und mit Einschränkungen auch von Männern – in der islamischen Welt ist aufgrund einer Fülle von Faktoren – darunter Armut, politische Willkür, Unterdrückung und allgemeine Unterentwicklung – eher desolat. In einer patriarchalisch, hierarchisch strukturierten Gesellschaft sind Frauen hiervon immer stärker betroffen als Männer. Die oftmals traurige Realität allein auf den Islam zurückzuführen wäre dabei ebenso absurd wie die Behauptung, mit dem Islam habe das alles nichts zu tun. Die Vorgaben der Schari’a zur Rechtsstellung der Frau, deren wortgetreue Beibehaltung und Umsetzung Islamisten aller Couleur fordern, sind nicht das, was in Europa unter dem Gleichheitsgrundsatz verstanden wird. Dennoch – dies sollte die Darstellung gezeigt haben – gibt es kein banales Wechselspiel zwischen ‚männlichen Tätern‘ und ‚weiblichen Opfern‘; vielmehr treten auch Männer für die modernistische Auslegung einschlägiger Koranverse ein und ernten gelegentlich den Protest von Frauen, die hierin den Verrat am Glauben und an ihrer persönlichen Lebensweise sehen. Mit welcher inneren Freiheit Islamistinnen zur ihrer Überzeugung gelangt sind, 231 ebenda 126 darf man in aller Vorsicht hinterfragen; vorschnelle Urteile sind weniger hilfreich. Die Diskrepanz zwischen traditionell-islamischen oder gar islamistischen und westlichen Lebensentwürfen ist erheblich und bezogen auf den Lebensbereich der Frau noch stärker ausgeprägt als auf den des Mannes. Konflikte zwischen den Generationen muslimischer Einwandererfamilien und ein hohes Maß an innerer Zerrissenheit sind nicht selten die Folge.232 Die Beachtung aller einschlägigen Vorschriften im Zusammenspiel mit der für Islamisten typischen Angst vor westlichen Einflüssen reduziert die Integrationschancen muslimischer Frauen in Europa auf ein Minimum. Aus diesem Spannungsfeld resultiert ein enormes Radikalisierungspotenzial, das die Rolle der Frauen im und für den Islamismus möglicherweise in den kommenden Jahren noch klarer zutage treten lässt. Frauen wurden ja immer schon gerne unterschätzt, das ist eben ein Fehler. 232 vgl. hierzu auch Schröter, Hiltrud: Mohammeds deutsche Töchter 127 Literaturübersicht Akashe-Böhme, Farideh: Die islamische Frau ist anders. Vorurteile und Realitäten. Gütersloh 1997. Badran, Margot: Feminists, Islam and Nation. Gender and the Making of Modern Egypt. Princeton 1995. Breuer, Rita: Familienleben im Islam. Traditionen, Konflikte, Vorurteile. 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Schirrmacher, Christine und Ursula Spuler-Stegemann: Frauen und die Schari’a. Die Menschenrechte im Islam. München 2004. Schröter, Hiltrud: Mohammeds deutsche Töchter. Königstein/Taunus 2002. Szostak, Jutta und Suleman Taufiq: Der wahre Schleier ist das Schweigen. Arabische Autorinnen melden sich zu Wort. Frankfurt a.M. (2) 2002. Walther, Wiebke: Die Frau im Islam. Leipzig (3) 1997. 128 Tânia Puschnerat Zur Bedeutung ideologischer und sozialer Faktoren in islamistischen Radikalisierungsprozessen – eine Skizze 1. Problemaufriss Die Anschläge einer islamistischen Gruppierung auf Vorortzüge in Madrid am 11. März 2004 und die Ermordung des niederländischen Filmemachers und Publizisten Theo van Gogh durch einen islamistischen Attentäter in Amsterdam im November 2004 haben das öffentliche Bewusstsein dafür geschärft, dass auch Europa Schauplatz eines „home grown terrorism“ und indigener islamistischer Radikalisierungsprozesse geworden ist. Nach allen bisher bekannten Erkenntnissen über die Attentäter von London am 7. und 21. Juli wird man diese Aufzählung um Großbritannien erweitern müssen. Angesichts der Reaktionen in den Niederlanden nach dem van Gogh-Mord und der Verfahren gegen die sog. „Hofstad“-Gruppe, zuletzt im Blick auf den Werdegang der Londoner Attentäter wurde auch in Deutschland erneut die Frage aufgeworfen, ob und bis zu welchem Eskalationsgrad islamistische Radikalisierung unter formal, aber eben nur vordergründig integrierten muslimischen Jugendlichen bzw. jungen Muslimen um sich greift. Ist nunmehr eine selbstgemachte, nicht mehr nur importierte Bedrohung der inneren Sicherheit und der demokratischen Institutionen der europäischen Staaten durch einen indigenen Islamismus zu befürchten? Die in den Medien wie im politischen Raum formulierte Sorge um die Stabilität der europäischen Gesellschaften gilt dabei zuvorderst der unmittelbaren Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus. Gleichwohl steht auch die Frage nach den Zielen und Strategien des nicht-gewaltbereiten „politischen Islam“ – in der Terminologie der Verfassungsschutzbehörden des „legalistischen Islamismus“ – zur Debatte. Die Diskussion über Scheitern oder Chancen der europäischen Integrationsmodelle kreist um gesellschafts- und sicherheitspolitische Kernfragen: Ist die formalrechtliche Verleihung von Staatsbürgerrechten eine hinreichende Garantie für gelingende Integration vor allem der 2. und 3. Generation hier lebender Muslime? Sind in der Bundesrepublik Deutschland islamische oder gar islamistische Parallelgesellschaften im Entstehen begriffen, die Radikalisierung begünstigen? Welchen Einfluss üben islamistische Organisationen auf 129 hier lebende Muslime aus oder in welchem Ausmaß sind sie an der Ausprägung islamistischer Milieus beteiligt? Welche Gefahren für den sozialen Frieden, für den zivilgesellschaftlich unaufgebbaren Grundkonsens über Rechte und Pflichten der Bürger, für die Institutionen des demokratischen Gemeinwesens und die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland gehen von ihnen aus? Diese Fragen werden zu Recht auch an die Verfassungsschutzbehörden, nicht zuletzt in ihrer Eigenschaft als „Frühwarnsystem der Demokratie“, gerichtet. Islamistische Radikalisierungsprozesse – in ihrer terroristischen und ihrer legalistischen Variante – werden auch in Zukunft zentrale Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden der europäischen Staaten darstellen. Vertieftes Wissen über den Verlauf islamistischer Karrieren bildet nicht nur die Grundlage geeigneter sicherheitspolitischer und exekutiver Gegenmaßnahmen. Sie ist auch die Basis für die notwendige geistig-politische Auseinandersetzung mit diesem Phänomen i.S. eines ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes, der auch den kritischen Dialog mit dem Islam und dem Islamismus einschließt. So klar die Problemstellung zu umreißen ist, so schwierig gestaltet sich die Beantwortung. Einfache Erklärungen und Rezepte wird es nicht geben. „Islamismus“ als modernes ideologisches Konstrukt und zugleich sozial vielschichtige Bewegung ist ein komplexes Phänomen, seine Erscheinungsformen und Ursachen sind vielfältig. Islamistische Terrororganisationen unterscheiden sich in ideologischer Ausrichtung und modus operandi von Gruppierungen, deren Islamismusvariante den gewaltfreien „langen Marsch durch die Institutionen“ vorsieht. Die zuletzt genannte Islamismusvariante – der sog. legalistische Islamismus - agiert unter Ausnutzung der von der Verfassung gebotenen politischen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten mit dem Ziel der Überwindung der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Die Berichte und Analysen der Verfassungsschutzbehörden zum Phänomen „Islamismus“ treffen häufig auf grundsätzliche Kritik, die im Generalvorwurf einer behördlichen „Islamfeindlichkeit“ kulminiert. Diese Kritik erfolgt überwiegend in Unkenntnis der Begrenzung des gesetzlichen Auftrags und in falscher Einschätzung der Arbeitsweise der Verfassungsschutzbehörden. Den Ausführungen zum Thema ist daher – um den methodischen und begrifflichen Bezug der folgenden Ausführungen abzustecken – ein kurzer Exkurs über Kompetenzen und Begrifflichkeiten vorauszuschicken. Das empfiehlt sich 130 auch deshalb, weil in der politischen und auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Islamismus“ nach wie vor Definitionsdefizite offenkundig werden, die Missverständnissen Vorschub leisten. Gegenstand der Beobachtung der Verfassungsschutzbehörden ist nicht der Islam als Religion und sind nicht die Muslime. Der persönliche Glaube der Muslime sowie ihre religiöse Praxis sind durch das in Art. 4 GG verbriefte Recht auf Religionsfreiheit geschützt. Die Verfassungsschutzbehörden sammeln und bewerten Informationen über die Bestrebungen islamistischer Organisationen und über islamistische Einflussnahme auf muslimische Einrichtungen. Voraussetzung für die Sammlung und Auswertung dieser Informationen ist das Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte für solche Bestrebungen. Nur wenn diese vorliegen, ist der Auftrag der Verfassungsschutzbehörden eröffnet, die Aktivitäten und Absichten dieser Bestrebungen aufzuklären. Kenntnisse über das soziale Umfeld der beobachteten Bestrebungen fallen bei der Tätigkeit der Verfassungsschutzbehörden in gewissem Rahmen zwar auch an, dies geschieht aber nur am Rande der eigentlichen Aufklärungstätigkeit. Ausgangspunkt kann insofern immer nur die konkret beobachtete extremistische Struktur sein, nicht die muslimische Klientel, auf die sich ihre Bestrebungen richten. Die Verfassungsschutzbehörden orientieren sich an einer begrifflichen Unterscheidung von „Islam“ und „Islamismus“ bzw. von „Muslimen“ und „Islamisten“. In diesem Sprachgebrauch bezeichnet der Begriff „Islamismus“ eine religiös motivierte und (vorgeblich) legitimierte Form des politischen Extremismus. Islamisten bzw. islamistische Organisationen sehen in den Schriften und Geboten des Islam nicht nur Weisungen für die Beziehung zwischen Mensch und Gott, sondern zwingende politische Handlungsanweisungen, häufig auch die Befugnis, als „islamisch“ definierte politische Ziele mit Gewalt zu verfolgen. Islamismus bezeichnet mithin eine Herrschaftsideologie, deren Elemente per se mit einem demokratischen Gemeinwesen und rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar sind. Der in der Öffentlichkeit häufig bedeutungsgleich gebrauchte Begriff „islamischer Fundamentalismus“/“Radikalismus“ bezeichnet demgegenüber lediglich die Ausrichtung des persönlichen Lebens nach islamischen Glaubensfundamenten. Die Grenze zum Extremismus – hier: dem Islamismus – ist dort überschritten, wo zu den fundamentalistischen Überzeugungen politisch bestimmte Verhaltensweisen hinzutreten, 131 die auf die vollständige oder teilweise Verwirklichung einer angeblich vom Islam verpflichtend vorgegebenen Gesellschaftsordnung gerichtet sind. Relevant sind dabei Verhaltensweisen, die geeignet sind, die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland oder ein anderes der in § 3 Abs. 1 BVerfSchG bezeichneten Schutzgüter zu beeinträchtigen. Es liegt auf der Hand, dass die Verfassungsschutzbehörden wissenschaftliche Studien über den Islam in Deutschland und über das islamische Milieu zur Kenntnis nehmen und fachwissenschaftliche – überwiegend bislang islamwissenschaftliche - Expertise in ihre Arbeit einfließt. Dies geschieht jedoch gleichsam „anwendungsbezogen“, d.h. zu dem Zweck, Ausmaß und Chancen extremistischer, in diesem Fall islamistischer Bestrebungen gewichten und bewerten zu können. Die in diesem Beitrag dargelegten Erkenntnisse über islamistische Radikalisierungsverläufe, den Einfluss islamistischer Propaganda und islamistischer Organisationen sind daher grundsätzlich vom dargelegten „point of view“ der Verfassungsschutzbehörden her zu verstehen. Die zentrale Frage, ob ein indigener „europäischer Islamismus“ im Entstehen begriffen oder bereits entstanden ist, der sich nicht mehr hinreichend als Import islamistischen Gedankenguts von außerhalb speist und nicht mehr ausschließlich durch die Krisen im Irak, in Palästina, in Tschetschenien oder im Kaschmir motiviert wird bzw. auf diese hin orientiert ist, lässt sich nur unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Resonanzraums bzw. der Klientel beantworten, die allen vorliegenden Erkenntnissen zu Folge das Radikalisierungsund Rekrutierungspotenzial islamistischer Akteure – seien es Einzelpersonen oder Organisationen – bildet. Fundiertes sozialwissenschaftliches, sozialpsychologisches und nicht zuletzt ethnologisches Wissen über die Rolle und Bedeutung ethnisch-religiöser Segregation von muslimischen Migranten in den westeuropäischen Gesellschaften, über die Entstehung islamistischer Parallelgesellschaften/Milieus, über die Gemengelage von Integrationsdefiziten, sozialen Verwerfungen, Marginalisierungserfahrungen, kollektiver Identitätsproblematik und ethnisch tradierter, gleichwohl auch religiös legitimierter Gewaltakzeptanz ist unverzichtbar, um den Funktionsmechanismen und Erfolgsaussichten islamistischer Radikalisierungsangebote und –bestrebungen auf die Spur zu kommen. Mit anderen Worten: Ideologische und soziale Faktoren müssen bei der Analyse 132 islamistischer Radikalisierungsprozesse stärker berücksichtigt werden.233 Zu den dafür erforderlichen breitangelegten Studien des „islamischen Milieus“ sind die Verfassungsschutzbehörden aus den dargelegten gesetzlichen Gründen nicht ermächtigt; sie sind und bleiben vorrangig Aufgabe der wissenschaftlichen Forschung. Es bedarf angesichts der Problemstellung daher wohl kaum eines Plädoyers für den intensivierten Dialog von Sicherheitsbehörden und wissenschaftlicher Forschung, den das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) seit einigen Jahren – u.a. durch das jährliche BfV-Symposion sowie durch Vortrags- und Publikationstätigkeit von BfV-Mitarbeitern - verstärkt betreibt. Mit den folgenden Ausführungen wird auch der Versuch unternommen, Argumente für eine interdisziplinäre Vorgehensweise und den graduellen Perspektivenwechsel zugunsten einer systematischen, prozessorientierten Sichtweise auf die Phänomene „islamistischer Terrorismus“ und „legalistischer Islamismus“ vorzutragen.234 In der Terrorismusbekämpfung arbeiten Polizeibehörden, aber auch die Nachrichtendienste, in der Regel im wesentlichen „target“-, d.h. zielpersonenorientiert. Die Notwendigkeit und Legitimität dieser Arbeitsweise steht außer Frage, vor allem dann, wenn es um unmittelbare Verhinderung terroristischer Anschläge, d.h. um schnelle und effiziente Maßnahmen gegen terroristische Netzwerke geht. Dennoch darf die Konzentration auf terroristische Akteure nicht zu einer Vernachlässigung des Blicks auf extremistische Umfelder bzw. radikalisierungsbegünstigende Milieus und zum Verzicht auf systematisierende Ansätze in der Aufklärung von Radikalisierungs- und Rekrutierungsprozessen im terroristischen Milieu führen. Die ausschließliche Konzentration auf individuelle Einzelfälle, auf Personen, die bereits einen Radikalisierungsprozess durchlaufen und für den gewaltsamen Jihad rekrutiert wurden, würde den Sicherheitsbehör233 Vgl. Friedrich Heckmann, Islamische Milieus: Rekrutierungsfelder für islamistische Organisationen? Vortrag auf dem 1. Symposion des Bundesamtes für Verfassungsschutz, „Politischer Extremismus in der Ära der Globalisierung“, am 20. Juni 2002. 234 Zu diesem Ansatz vgl. Michael Kowalski, Dawa und Jihad als Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaates – Analyse, Hintergründe und Handlungsperspektiven, in: Radikalisierungsprozesse und extremistische Milieus. Ein Symposion des Bundesamtes für Verfassungsschutz, 4. Oktober 2004, Köln 2005, S. 77-82. 133 den den Blick auf ein möglicherweise nachwachsendes terroristisches Potential bzw. auf prinzipielle Funktionsweisen und Schauplätze islamistischer Radikalisierung verstellen, dies mit der Konsequenz, ihre Aktionen auf rein reaktive Maßnahmen zu reduzieren. Als „Frühwarnsystem der Demokratie“ müssen vor allem die Verfassungsschutzbehörden ihr Augenmerk darüber hinaus auch weiterhin auf die langfristige Bedrohung richten, die der legalistische Islamismus und seine Protagonisten wie Sympathisanten für eine demokratische Gesellschaft und für den sozialen Frieden darstellen. Auch im nicht-gewaltbereiten islamistischen Milieu sind Radikalisierungsprozesse erkennbar, die zwar in der Regel nicht in terroristische Aktivitäten münden, dennoch zur Bildung islamistischer Parallelgesellschaften beitragen und das gesellschaftliche Konfliktpotenzial auch in Deutschland erhöhen. Aus diesen Überlegungen heraus widmete sich das 3. BfV-Symposion im Oktober 2004 dem Thema „Radikalisierungsprozesse und extremistische Milieus“. 2. Ein Modell islamistischer Radikalisierungs- und Rekrutierungsverläufe Angesichts der Bedeutung individueller (sozialer und psychologischer) Faktoren und Bedingungsgefüge in extremistischen Radikalisierungskarrieren muss jeder Versuch einer modellhaften, also generalisierenden Beschreibung der Stufen eines solchen Prozesses defizitär bleiben. Eine jeden einzelnen Fall erklärende Typologie, aus der sich im Sinne der Prävention idealiter ein konkretes Profil des islamistischen Terroristen oder Extremisten und seiner Karriere ableiten ließe, kann seriöser Weise nicht geboten werden. Gleichwohl lässt sich aus der Fülle bekannter Einzelfälle ein typisiertes Verlaufsmodell extrahieren, in dem die Stadien, Akteure und Faktoren islamistischer Radikalisierung beschrieben werden können. Die daraus abzuleitenden, im Zusammenhang dieses Beitrags nicht weiter auszuführenden Gegenmaßnahmen gegen islamistische Radikalisierungsprozesse umfassen entsprechend das gesamte Spektrum der rechtsstaatlichen Instrumente, reichen jedoch auch weit in das Feld der geistig-politischen Auseinandersetzung mit dem Islamismus als gesamtgesellschaftlicher – nicht vorrangig sicherheitsbehördlicher – Aufgabe hinein. Radikalisierung soll hier als umfassender Prozess einer – mehr oder minder zügigen –, in der Regel von islamistischen Multiplikatoren/Akteuren geleiteten ideologisch-politischen Sozialisation ver- 134 standen werden, der über eine sich verfestigende Segregation von der westlichen Mehrheitsgesellschaft zunächst zur „islamisch“ begründeten Ablehnung der Institutionen und Werte des demokratischen Staats- und Gesellschaftssystems führt. Der islamistische Radikalisierungsprozess kann – muss jedoch nicht – auf einer weiteren Stufe zur Verfestigung dieser Ablehnung zu offener Feindseligkeit und zur zunehmenden Bereitschaft führen, das verurteilte System mit gewaltsamen Mitteln zu bekämpfen, sich also aktiv am Jihad zu beteiligen oder ihn zu unterstützen. Damit wäre ein Stadium der Rekrutierungsreife des Kandidaten für den „Heiligen Krieg“ erreicht; ein Stadium, in dem er anfällig wird für die Werbung durch islamistische Rekruteure oder „talent-spotter“, über die eine vertiefte jihadistische Ideologisierung erfolgt und die Kontakte in die terroristischen Netzwerke und/oder die Vermittlung an die Schauplätze des Jihad – etwa im Irak – hergestellt werden. Häufig wurde im Fall islamistischer Terroristen von einem diesem Rekrutierungsstadium vorausgehenden islamistischen „Erweckungserlebnis“ berichtet: Die Kandidaten durchlaufen einen tiefgreifenden psychologischen Wandlungsprozess, in dessen Verlauf sie zum vermeintlich „wahren“ Islam finden, aus dem die ebenso vermeintliche Pflicht zur Teilnahme am gewaltsamen Jihad erwächst. Bekannt sind die zuerst von der „Hamburger Zelle“, aber auch von anderen späteren Attentätern berichteten massiven Veränderungen in Einstellung, Verhalten und äußerem Erscheinungsbild, die zunehmende Isolation von Familie, Freunden und Bekanntenkreis bei gleichzeitiger ausschließlicher Konzentration des gesamten Lebensvollzugs auf die neue (totale) Bezugsgruppe der „Brüder“ und die in der klandestinen terroristischen Zelle geltenden rigiden Verhaltensmuster, Wert- und Loyalitätsvorstellungen. Im Kern bezeichnet der islamistische Radikalisierungsprozess die schrittweise Integration in eine „subkulturelle“ soziale Gruppe. Die ideologisch konstituierte Gemeinschaft bietet emotionale Geborgenheit, Selbstvergewisserung und eindeutige, nicht zuletzt auch stark ritualisierte Verhaltensstandards, ein geschlossenes ideologisches Sinn- und Welterklärungssystem sowie klare Handlungsorientierungen. Die Vergemeinschaftung in diesen auf persönlichen Verbindungen und Jihad-Erfahrungen beruhenden Netzwerken und Zellen hat zuletzt Marc Sageman in einer umfassenden Studie beschrieben. U.a. kam er zu dem Ergebnis, dass soziale Bindungen in der Clique oder „peer-group“ bei der Wandlung vom potenziellen Unterstützer jiha- 135 distischer Gruppen zum „full-fledged mujahedin“ eine größere Rolle spielen als ideologische Komponenten.235 Kaum eine wissenschaftliche Analyse beschreibt diese Gruppenprozesse anschaulicher als der vom britischen Fernsehsender Channel 4 produzierte und 2004 ausgestrahlte dokumentarische Spielfilm „The Hamburg Cell“. Rekrutierung für den gewaltsamen Jihad – also der Weg in den islamistischen Terrorismus - bezeichnet mithin die Spitze eines umfassenden Radikalisierungsprozesses. Islamistische Radikalisierungsverläufe müssen durchaus nicht automatisch in ein Rekrutierungsstadium münden. Letztere setzen allerdings einen Vorlauf is lamistischer Radikalisierung voraus. Dabei dürfte das Ergebnis entscheidend davon abhängen, mit welchen islamistischen Akteuren bzw. welchen islamistischen Ideologievarianten (gewaltbereit-terroristisch oder legalistisch) zumal junge Muslime (auch Konvertiten) in einem frühen Stadium – auf der Suche nach Ich-Identität, Sinnstiftung und sozialer Akzeptanz - in Berührung kommen. Legalistisch agierende islamistische Organisationen wie die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ (IGMG) oder die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.“ (IGD) rekrutieren nicht für den Jihad; sie könnten vielmehr sogar für sich beanspruchen, junge Muslime durch ein alternatives ideologisches Identifikationsangebot und die Integration in mit legalen politischen Mitteln agierende Organisationen gegen jihadistische Indoktrination zu immunisieren. Gleichwohl bleibt ihnen vorzuhalten, dass ihre anti-integrativen „Identitätspolitiken“ (Johannes Kandel) die Entstehung islamistischer Parallelgesellschaften und Radikalisierung i.S. einer Sozialisation in den politischen Extremismus – Islamismus – hinein befördern. Radikalisierungsschauplätze können Moscheen, Haftanstalten und Asylbewerberheime, aber auch Universitäten, Schulen, durch parallelgesellschaftliche Strukturen geprägte Stadtteile oder virtuelle Gemeinschaftsräume wie chatrooms und Diskussionsforen im Internet sein. Über Erziehungs- und Bildungsangebote islamistischer Organisationen, schriftliches und audio-visuelles Propagandamaterial, auch nach Europa ausgestrahlte Programme zumal arabischer Fernsehsender, über verschiedene Medien verbreitete Predigten radikaler Imame oder über das Internet wird islamistisches Gedankengut als ideologischer Gehalt islamistischer Radikalisierungsprozesse transportiert. Es ist immer und überall verfügbar; seine Verbreitung ist kaum zu kontrollieren. 235 Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004. 136 3. Kernelemente islamistischer Ideologie im Blick auf ihre Bedeutung im islamistischen Radikalisierungsprozess Es liegt auf der Hand, dass die Vermittlung bzw. Akzeptanz ideologischer Positionen ein wesentlicher Faktor islamistischer Radikalisierung ist. Wesentliche Voraussetzung für die gelingende Rezeption islamistischer Ideologie vor allem in den westeuropäischen Ländern ist dabei, dass islamistische Propaganda die Ideologie weitgehend auf wenige Basisbotschaften oder Grundpositionen reduziert, die damit um so leichter, d.h. ohne größere Sprachkompetenz oder ideengeschichtliches Hintergrundwissen angenommen werden können. In dieser „didaktisierten“ Form gewinnt islamistische Ideologie (etwa im Unterschied zum Marxismus-Leninismus, der allerdings in den studentischen Zirkeln der 70er und 80er Jahre auch weitgehend auf simplifizierter Schwundstufe rezipiert wurde) eine größere „konsumentenorientierte“ Attraktivität für die Zielgruppe junger, teilweise bildungsferner Muslime, an deren Bedürfnis- und Motivationsstruktur das islamistische Ideologiesubstrat angepasst ist. Zum ideologischen Kernbestand islamistischer Propaganda gleich welcher Ausprägung – also zunächst unabhängig von der terroristisch-gewalttätigen (jihadistischen) oder legalistischen Ausrichtung der jeweiligen Organisationen oder Gruppierungen – gehört generell die Auffassung, dass sich staatliche Gesetzgebung und hoheitliches Handeln nicht auf den Willen des Volkes oder Mehrheitsentscheidungen gründen dürfen, sondern allein aus der Schari’a, dem islamischen Gesetz, abgeleitet werden können. In der islamistischen Auslegung wird dem si lamischen Gesetz umfassende Geltung als einer vorgeblich von Gott gesetzten verbindlichen Ordnung des menschlichen Lebens in all seinen Aspekten zugemessen. Im französischen Sprachgebrauch wird diese totalitäre Dimension des Islamismus daher mit dem Begriff „Integrismus“ gekennzeichnet. Damit ist ein eindeutiger, religiös legitimierter (und also autoritativer) Ordnungs- und Handlungsrahmen vorgegeben.236 Das islamistische Axiom von der alleinigen Souveränität Gottes sowie der umfassende Geltungsanspruch des islamischen Gesetzes zeitigen zwei Konsequenzen durchaus nicht theoretischer Natur: In der islamistischen Deutungslogik werden erstens Säkularität und Demokratie (jedenfalls das westeuropäisch-amerikanische Modell) 236 Vgl. Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus. „Heiliger Krieg“ und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004. 137 abgelehnt. Die westlichen Demokratien, also auch die Staats- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland, lassen sich in diesem Kontext mehr oder minder offen als dem islamischen Gesetz widersprechend bzw. als dekadent und unmoralisch verurteilen. Der totale Geltungsanspruch der aus dem islamischen Gesetz abgeleiteten „islamischen Ordnung“ zieht de facto die Ablehnung demokratischer und rechtsstaatlicher Grundprinzipien nach sich; das gilt insbesondere für das Prinzip der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität, das Mehrparteiensystem und das Recht auf Ausübung einer parlamentarischen Opposition. In diesem Zusammenhang wird auch die universale Geltung der Menschenrechte, denen die Idee vorbzw. überstaatlicher, dem Menschen von Natur aus gegebener unveräußerlicher Grundrechte zugrunde liegt, negiert oder eingeschränkt. Das demokratiefeindliche Kernelement islamistischer Ideologie ist im Blick auf den Erfahrungshorizont der jüngeren muslimischen Einwanderergeneration um so leichter zu vermitteln, als es an soziale Marginalisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen und/oder wirtschaftliche Erfolglosigkeit, die Nicht-Teilhabe an politischer Willensbildung und gesellschaftlicher Gestaltung, kurz: an Frust und Aggression anzuknüpfen und diese zu ideologisieren vermag. Dem Negativbild permissiver westlicher Gesellschaften setzt islamistische Propaganda – das ist die zweite Konsequenz – die Utopie einer gottgewollten „islamischen Ordnung“ und einer solidarischen und gottgefälligen islamischen Gemeinschaft (umma) entgegen. Die is lamistische Version der islamischen Gemeinschaft birgt Attraktivität als dezidierter Gegenentwurf zum negativ erfahrenen westlichen Individualismus und Materialismus, zur gesellschaftlichen Ent-Solidarisierung und zum diagnostizierten Werterelativismus und Werteverfall der säkularen Mehrheitsgesellschaft. Es ist im Blick auf Radikalisierungsprozesse dabei mutmaßlich nicht ausschlaggebend, dass islamistische Konzepte über die institutionelle Verfassung eines „islamischen Systems“ hinreichend unkonkret sind. Das Spektrum der Vorstellungen über die „islamische Ordnung“ reicht von der Utopie eines (weltweiten) Kalifats (d.h. einer der Theokratie vergleichbaren Staatsform, in der die Trennung von säkularer und religiöser Herrschaft aufgehoben wäre) bis hin zu verschiedenen Kon- 138 zeptionen einer sog. „islamischen Demokratie“.237 Ausschlaggebend dürfte sein, dass die Propagierung der islamistisch interpretierten umma ein verlockendes Vergemeinschaftungsangebot238 in Abgrenzung zu „dem Westen“ darstellt, der weniger als geographischer Raum, denn als politisch-weltanschauliches Substrat einer Summe abzulehnender, weil „unislamischer“ Werte und Verhaltensweisen suggeriert wird. Die islamistische „In-Group“ bietet eine religiös autorisierte Realitäts- und Selbstdeutung, eindeutige Wertorientierungen, individuelle Sinnstiftung und nicht zuletzt ein umfassendes Regelwerk für den alltäglichen Lebensvollzug. Mit der Abwertung der westlichen Werte und Lebensweise werden zugleich eine „islamische Identität“ und damit ein religiös-moralisch begründeter Überlegenheitsanspruch vermittelt, der negative Alltagserfahrungen zu kompensieren vermag und darum gerade für viele junge Muslime anziehend sein dürfte. Konstitutiv für islamistische Radikalisierungsprozesse, besonders im Blick auf den Motivationshorizont muslimischer Jugendlicher der 2. und 3. Migrantengeneration, dürfte in diesem Zusammenhang das ausgeprägt polarisierte Weltbild islamistischer Ideologie sein. Die ontologische Einteilung der Welt in „Gut“ und „Böse“ zeitigt – vielfach verschwörungstheoretisch durchfärbte – Feindbildkonstruktionen. An erster Stelle der islamistischen Feindbildliste stehen die USA, die als Inbegriff westlicher Dekadenz gelten und denen eine gegen die islamische Welt gerichtete imperialistische Politik bzw. Krieg gegen den Islam unterstellt werden. Zu den klassischen Feindbildern islamistischer Organisationen und Bewegungen gehören des Weiteren der Staat Israel bzw. „die Juden“, denen – je nach Standort im ideologischen Spektrum des Islamismus – die komplotthafte Manipulation westlicher Staaten, vor allem der USA, zugeschrieben wird. Der islamistische Antizionismus ist stark antijüdisch gefärbt, insofern auf eine prinzipielle, nach Auffassung von Islamisten im Koran evidente und durch die islamistische Geschichtsinterpretation gestützte, unversöhnliche und ewig währende Feindschaft „der Juden“ gegen die Muslime bzw. den Islam Bezug genommen wird. Die antizionistischen Positionen islamistischer Propaganda tragen des weiteren stark antisemitische Züge; in den letz237 Im konzeptionellen Rahmen der „islamischen Demokratie“ wären m.E. auch Bestrebungen zur Etablierung autonomer „islamischer“ Rechts- und Lebensinseln innerhalb der westlichen demokratischen Gesellschaften zu verorten. 238 Im Sinne Max Webers (als Pendant zur Vergesellschaftung). 139 ten Jahren ist die verstärkte Propagierung eines islamistischen Antisemitismus zu beobachten, in dem die Begriffsgrenzen von „Zionist“, „Israeli“ und „Jude“ verschwimmen. Den Juden werden kollektiv negative soziale, kulturelle, religiöse und politische Eigenschaften gleichsam biologischer Qualität zugeschrieben, die ihre Ablehnung, Bekämpfung oder gar Vernichtung als Volk rechtfertigen sollen.239 Wie wirksam diese ideologischen Konstrukte sind, zeigten in den letzten Jahren die gewalttätigen Übergriffe auf jüdische Bürger nicht nur in den französischen „banlieue“, sondern europaweit nach dem Beginn der sog. „Al Aqsa“-Intifada im Herbst 2000. Die motivierende Kraft zumal von antisemitischen Verschwörungstheorien wurde zuletzt durch den Ritualmord an Theo van Gogh belegt. Wie in der Presse vielfach berichtet, hatte der islamistische Attentäter – ein niederländischer Staatsbürger marokkanischer Herkunft, der das niederländische Bildungssystem recht erfolgreich durchlaufen hatte und der niederländischen Sprache durchaus mächtig war – an der Leiche des Filmemachers einen Brief hinterlassen, der von verschwörungstheoretisch argumentierenden antisemitischen Phrasen durchzogen war und in diesem Zusammenhang eine explizite Todesdrohung gegen die als Apostatin und als Marionette der jüdischen Verschwörung apostrophierte niederländische Parlamentsabgeordnete Ayaan Hirsi Ali enthielt. Die Funktion dieser Feindbildkonstruktionen in islamistischen Radikalisierungsprozessen liegt auf der Hand: Das dichotome islamistische Weltbild, vermeintlich islamisch autorisiert, vereinfacht für die Rezipienten die Zuordnung politischer Ereignisse weltweit und vor Ort und liefert eine simple Erklärung der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme des größten Teils der islamischen Staatenwelt. Die islamistische Weltauslegung geißelt die „imperialistische“ Politik des Westens, zugleich den Abfall der Muslime selbst vom wahren Glauben als Ursachen dieser Probleme. Die mit der Feindbildpropaganda einhergehende muslimische Selbst-Viktimisierung unterbreitet ein Entlastungsangebot für Ohnmachts-, Demütigungsund Versagenserfahrungen in Deutschland lebender junger Muslime, denen ein kollektives Selbstverständnis als Opfer „antiislamischer“ Machenschaften und Politikstrategien nahegelegt wird, 239 Vgl. dazu die Beiträge von E. Jesse, A. Pfahl-Traughber, Th. Meyer und mir zum 2. BfV-Symposion am 1. Oktober 2003 („Feindbilder im politischen Extremismus. Gegensätze, Gemeinsamkeiten und ihre Auswirkungen auf die Innere Sicherheit“, Köln 2004). 140 das sie von selbstkritischer Ursachenanalyse entlastet. Das polarisierte Weltbild und die projizierten Feindbilder erleichtern die individuelle Entscheidung für die vermeintlich „richtige“ Seite und die Entstehung von Loyalitätsvorstellungen und Solidarisierungsverpflichtungen für die vermeintlich beständig bedrohte islamische Gemeinschaft auch „vor Ort“. Die islamistische Feindbildpropaganda will eine Wagenburgmentalität erzeugen, die die Abwendung der islamistischen „In-Group“ von der feindlichen westlichen Umwelt befördert und – im Fall der jihadistisch-gewaltbereiten Denkschule - zur Beteiligung am aktiven „Widerstand“ gegen die „Feinde des Islam“ motivieren soll. In diesem Verständnis- und Deutungszusammenhang reichen die politischen Krisenherde im Irak, in Palästina, im Kaschmir oder in Tschetschenien tief in die muslimischen Gemeinschaften auch in Westeuropa hinein. Diese Schauplätze des weltweiten Jihad mögen weit abseits der Alltagswelt junger Muslime in Deutschland und in anderen europäischen Ländern liegen. Ihre motivierende Kraft beziehen sie dessen ungeachtet aus ihrer islamistischen Interpretation der Konflikte im Nahen Osten und im Kaukasus als aktuelle Belege für den ewigen Kampf der „Juden und Kreuzfahrer“ gegen „den Islam“ und „die Muslime“. Mohammed Sidique Khan, Anführer der Attentätergruppe vom 7. Juli in London, war geborener Brite pakistanischer Herkunft. Er ist ein gutes Beispiel für die Funktionsweise dieser Mechanismen. Der verheiratete 30jährige Vater einer Tochter arbeitete als Hilfslehrer in Grundschulen in Leeds und engagierte sich u.a. für die Integration von Einwandererkindern. Seine am 1. September über den arabischen Fernsehsender „Al Jazeera“ ausgestrahlte Bekennung belegt die unmittelbare Durchschlagskraft eines massiven islamistischen Opferdiskurses, der daraus resultierenden Belagerungsmentalität und Handlungsmotivation. Khan führt in dieser Videobotschaft u.a. aus: „Eure demokratisch gewählten Regierungen begehen kontinuierlich Gräueltaten gegen mein Volk [sic!] überall in der Welt und Eure Unterstützung macht Euch direkt verantwortlich, so wie ich direkt verantwortlich bin für den Schutz und die Rache [wörtl.: „das Schützen und das Rächen“] meiner muslimischen Brüder und Schwestern.“240 240 Text nach Daily Mail vom 2. September 2005, S. 3. Übersetzung durch die Autorin 141 Deutlich kommt die Unterscheidung von muslimischer, de facto is lamistischer „In-Group“ („wir“), der die Loyalität Khans gilt, und den Feinden („Ihr“, die britische Gesellschaft) zum Ausdruck. Unschuldige oder Unbeteiligte gibt es dieser Deutungslogik nach nicht: Die Bürger und Bürgerinnen der demokratischen Staaten (in diesem Fall die Briten) sind qua Wahlrecht unmittelbar verantwortlich für das Engagement ihrer Regierungen im Irak, in Palästina, in Afghanistan oder an anderen Schauplätzen des vermeintlichen Kreuzzugs gegen den Islam. Damit fallen sie in die Kategorie der „Täter“. Folgerichtig – die Attitüde erinnert an den Typus des Guerillakämpfers anderer politischer Couleur – stellt Khan fest: „Wir sind im Krieg und ich bin ein Soldat.“241 4. Kategorienmodell islamistischer Organisationen / Bewegungen Das BfV unterscheidet drei Kategorien islamistischer Organisationen/Bewegungen unter dem Aspekt der ideologisch abgeleiteten Taktiken bzw. modi operandi. Sie sind grob den Phänomenbereichen „islamistischer Terrorismus“ und „politischer“ bzw. „legalistischer Islamismus“ zuzuordnen. Sie sollen hier aufgeführt werden, da sich aus ihren ideologischen Grundsätzen voneinander zu unterscheidende Formen der extremistischen Radikalisierung ableiten. 4.1 Islamistischer Terrorismus In die erste Kategorie fallen Bestrebungen islamistischer Gruppierungen, die einen pan-islamisch ausgerichteten Jihad führen, weltweit mit terroristischen Aktionen drohen und solche durchführen. Damit ist der internationale islamistische Terrorismus bezeichnet, der sich in den letzten Jahren zur größten Bedrohung für die innere Sicherheit der internationalen Staatengemeinschaft und damit auch Deutschlands entwickelt hat. Auf eine Aufzählung der zahlreichen Anschläge vor und nach dem 11. September 2001, die diesen Jihad-Gruppen zuzurechnen sind, kann hier verzichtet werden. Mit den Anschlägen vom 11. März 2004 in Madrid wurde deutlich, dass diese neue Dimension des Terrors auch Westeuropa erreicht hat. Zum Spektrum der für diese Anschläge verantwortlichen JihadGruppen zählen die von Usama bin Laden gegründete „Al-Qaida“, die mit dieser kooperierenden Netzwerke „Arabischer Mujahedin“ 241 Text nach Daily Mail vom 2. September 2005, S. 3. Übersetzung durch die Autorin 142 sowie einige regional operierende islamistische Organisationen in Zentral- und Südostasien und in nordafrikanischen Ländern. Auch die Täter von Madrid und Istanbul zählen hierzu. Diese JihadGruppen haben neben Israel den westlichen Staaten generell und insbesondere den USA und ihren Verbündeten den „Heiligen Krieg“ erklärt. Die zweite Gruppe umfasst Organisationen, die die in ihren Herkunftsländern bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnungen durch ein strikt islamistisches Staatswesen auf Grundlage der Schari’a zu ersetzen bestrebt sind und dazu auch gewaltsame Mittel einzusetzen bereit sind. Einige erklären offen, die Weltherrschaft des Islam anzustreben. Ihre Mitglieder gelangten zumeist als politische Flüchtlinge nach Deutschland und unterstützen von hier aus die zum Teil gewaltsamen Bestrebungen in ihren Heimatregionen logistisch, finanziell und propagandistisch. Zu den Gruppierungen dieser Art gehören die algerische „Bewaffnete Islamische Gruppe“ (GIA) sowie die Ende 1997 von ihr abgespaltene „Salafiya Gruppe für die Mission und den Kampf“ (GSPC), die libanesische schiitische „Hizb Allah“, die palästinensische sunnitische „Islamische Widerstandsbewegung“ (HAMAS), aber auch die Anhänger der in Deutschland verbotenen Organisationen „Hizb ut-Tahrir“ (HuT) sowie der türkische „Kalifatsstaat“. Die im vorhergehenden Abschnitt holzschnittartig skizzierten Kernelemente islamistischer Ideologie werden von islamistischen Organisationen und Akteuren mehr oder minder offen propagiert; sie sind dann besonders gefährlich, wenn sie – wie im Fall der jihadistischgewaltbereiten Variante – mit dem Aufruf zum gewaltsamen Kampf zur Erreichung dieser Ziele verbunden sind. Islamistische Ideologie wird über Videoverlautbarungen der „Al-Qaida“ bzw. Usama bin Ladens oder Al-Zawahiris verbreitet, sie ist in den Programmen islamistischer Organisationen – dafür ist die Charta der HAMAS ein Beispiel – festgeschrieben, sie wird in Publikationen verbreitet – etwa in der Zeitschrift „Explizit“ der „Hizb ut-Tahrir al-Islami“ (bis zum Betätigungsverbot im Januar 2003) oder in der Publikation „Beklenen Asr-i Saadet“ des seit Dezember 2001 verbotenen türkischen Kalifatsstaats. Islamistische Propaganda, gerade auch in ihrer jihadistisch-gewaltbefürwortenden Variante, wird zunehmend über kaum kontrollierbare Medien, vor allem über das Internet, in Chatrooms und Foren, über Videos, CD und Audiokassetten verbreitet. Wiederholte, über Medien und Internet weltweit abrufbare Ver- 143 lautbarungen terroristischer Gruppierungen signalisieren den verbündeten Mujahedin und regionalen islamistischen Gruppen die andauernde Aktionsfähigkeit terroristischer Gruppen. Sie sind zugleich Impuls und Handlungsanleitung für islamistisch indoktrinierte gewaltbereite Personen weltweit, sich persönlich am internationalen Jihad zu beteiligen bzw. diesen – mehr oder minder „autonom“ weiterzuführen. Aufgrund der erkennbaren Zunahme einschlägiger Internetseiten in den letzten Jahren muss von einer regelrechten Propagandaoffensive gesprochen werden. In das Internet eingestellte „Enthauptungsvideos“ und die dort gezeigten grauenhaften authentischen Bilder der angeblich religiös legitimierten Hinrichtung europäischer und muslimischer Geiseln durch Mitglieder der „Ansar al-Islam“ oder anderer Gruppierungen im Irak forcieren Brutalisierungs- und Verrohungstendenzen. Aus diesem Angebot kann beispielsweise jene von Mustafa Setmarian Nasar alias Abu Musab alSuri prognostizierte „dritte Generation von Mujahedin“ ideologische Rechtfertigung und Motivation beziehen. In einer Veröffentlichung vom Dezember 2004 entwirft der vom SITE-Institute als einer der wichtigsten Führer der internationalen Jihad-Bewegung apostrophierte al-Suri eine veränderte Gruppenformation, die sich nicht mehr als „klassische“ Untergrundstruktur mit hierarchischer Befehlsstruktur darstelle, sondern sich als konspirative „gang-war structure“ mit verschiedenen und zahlreichen, miteinander unverbundenen Zellen bilde.242 4.2 Legalistischer Islamismus – „politischer Islam“ Im Unterschied zum islamistischen Terrorismus verfolgen legalistische islamistische Organisationen wie die „Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V.“ (IGMG) oder die „Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V.“ (IGD) eine breiter angelegte Strategie der politischen Einflussnahme. In der Regel präsentieren sie sich als Interessenvertreter großer Teile der in Deutschland lebenden Muslime und sind zunehmend bestrebt, ihren Anhängern im Bundesgebiet Freiräume zu schaffen, in denen diese ein Schari’a-gemäßes Leben führen können. Die IGMG setzt dabei auf eine langfristige Taktik der politischen Einflussnahme und gezielten PR zur Erlangung öffentlicher Akzeptanz. Diese Ausprägung des legalistischen Islamismus, dessen Ziele auf dauerhaft in Deutschland lebende Muslime gerich242 Vgl. SITE-Institute vom 13. Juli 2005: „Abu Musab al-Suri Outlines Strategy for Attacks Against America, Britain, Russia and NATO Countries“. 144 tet sind, fördert die Bildung islamistischer Parallelgesellschaften. Der „politische Islamismus“ stellt aus Sicht der Verfassungsschutzbehörden daher ein langfristiges gesellschaftspolitisches Problem dar. Die wichtigste und größte Organisation dieser Art ist die türkische IGMG mit ca. 26.500 Mitgliedern/Anhängern in Deutschland. Der IGMG kommt unter den islamistischen Organisationen sowohl aufgrund der großen Zahl ihrer Mitglieder und Anhänger als auch ihrer zahlreichen Moscheen und Einrichtungen (auch in anderen europäischen Ländern) eine besondere Bedeutung zu. Ihre Anhängerschaft setzt sich im Unterschied zu den meisten anderen islamistischen Organisationen auch mehrheitlich nicht aus Flüchtlingen oder Asylbewerbern, sondern aus dauerhaft in Europa lebenden Zuwanderern zusammen. Die IGMG stellt sich öffentlich als auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung stehende integrationsbereite Organisation dar. Dieser verlautbarten Anerkennung der Werteordnung des GG ist allerdings mit Skepsis zu begegnen, insofern der Islam (in der Auslegung der Organisation) als unveränderliches Leitprinzip für das Leben des Einzelnen wie auch für Staat und Gesellschaft definiert wird. Die Akzeptanz der deutschen Rechtsordnung wird diesem absoluten Geltungsanspruch zu Folge jeweils an ihrer Vereinbarkeit mit „dem Islam“ bzw. mit der „islamischen Identität“ gemessen und damit in ihrer Geltung tendenziell eingeschränkt oder relativiert. Diese „negative Identitätspolitik“ (Johannes Kandel) zielt auf Abgrenzung von der deutschen Mehrheitsgesellschaft, deren vorgeblichen „Assimilationsbestrebungen“ entgegengewirkt werden soll. Das kompromisslose Beharren auf der Wahrung der kulturellen und religiösen Identität konterkariert de facto die Selbstbeschreibung der IGMG als „Motor der Integration“. Nach wie vor hat sich die größte islamistische Organisation in Deutschland nicht von der totalitären, islamistisch-nationalistischen „Milli Görüs“- Bewegung und der Ideologie der „Gerechten Ordnung“ ihres geistigen Führers Necmettin Erbakan distanziert, versteht sich vielmehr als Teil der Bewegung, wie der IGMGGeneralsekretär Oguz Ücüncü in einem Interview aus dem Jahr 2004 freimütig bekannte.243 Bis in die Mitte der 90er Jahre hinein vertrat die IGMG einen ausgeprägten Antisemitismus. Angesichts öffentlicher Kritik und der Ge243 Taz vom 5. Februar 2004, S. 1 145 setzeslage in der Bundesrepublik Deutschland hält sich die Organisation in den letzten Jahren mit entsprechenden Verlautbarungen zurück, verurteilt sogar öffentlich antisemitische Positionen. Gleichzeitig sind Artikel und Beiträge in der „Milli Gazete“ - einer Tageszeitung, in der die ideologischen Grundpositionen der „Milli Görüs“Bewegung verbreitet werden – von antisemitischen, häufig verschwörungstheoretisch untermauerten Aussagen durchzogen. 5. Überlegungen zu „islamischen“ und „islamistischen Milieus“ Die nüchterne Feststellung, dass in zahlreichen deutschen Städten und Gemeinden mehr oder minder ethnisch-religiös homogene sozialräumliche Konzentrationen muslimischer Migranten entstanden sind, ist kein Geheimnis mehr. Diese islamischen Milieus (als Form sozialer Milieus) können – so haben Erfahrungen vor allem im klassischen Einwanderungsland USA gezeigt – notwendige Durchgangsstationen im Zuge eines allmählichen, über Generationen verlaufenden Anpassungsprozesses an die Aufnahmegesellschaft dienen, in dessen Verlauf sich die ethnische und religiöse Identität wandelt, aber nicht zwangsläufig aufgegeben werden muss. Dieser Akkulturationsprozess setzt soziale Interaktion mit der Mehrheitsgesellschaft, die Anerkennung ihrer grundlegenden Werte und Normen sowie die Bereitschaft voraus, den individuellen Lebensvollzug an ihnen zu orientieren. Islamische Milieus können sich jedoch unter dem Einfluss islamistischer Organisationen, ihrer Propaganda und Aktivitäten, auch zu „gated communities“, d.h. zu geschlossenen, nach eigenen Normen und Regeln funktionierenden Enklaven in den Aufnahmegesellschaften entwickeln. In diesem Fall wäre von der Entstehung extremistischer – hier: islamistischer – Milieus i.S. ideologisch und institutionell/materiell abgeschotteter Lebenswelten zu sprechen.244 Sie sind im Wesentlichen geprägt durch den Aufbau von Parallelinstitutionen – etwa Bildungs- und Freizeiteinrichtungen -, durch die Ausbildung eigener Wirtschafts- und Arbeitsbereiche und durch das Bestreben, einen Geltungsbereich islamischen Rechts neben der Rechtsordnung des säkularen Staates zu etablieren. Ihre Bedeutung für islamistische Radikalisierungsprozesse liegt auf der Hand: In diesen 244 Vgl. auch Johannes Kandel, Organisierte Muslime in Deutschland zwischen Integration und Abgrenzung, in: Islamismus – Diskussionen eines vielschichtigen Phänomens, hg. von der Senatsverwaltung für Inneres/Abteilung Verfassungsschutz, Berlin 2005, S. 60-78. 146 „gated communities“ können islamistische Positionen, d.h. verfassungsfeindliche Einstellungsmuster und (möglicherweise gewaltbereite) Handlungsoptionen leicht vermittelt werden, weil ein weltanschauliches Alternativangebot aufgrund der institutionalisierten Abschottung von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschaltet ist. Diese gesellschaftlichen Enklaven können also eine Funktion als „breeding grounds“ für eine extremistische Sozialisation derjenigen gewinnen, die in ihnen leben oder in sie hinein geraten. Der in der Öffentlichkeit häufig in verschiedenen Bedeutungsnuancen gebrauchte, gleichwohl bislang m.W. nicht eindeutig definierte Begriff „Parallelgesellschaft“ zielt in diese Richtung. In diesem Zusammenhang hat Kenan Malik, in Manchester aufgewachsener britischer Psychologe indischer Herkunft, einige m.E. sehr bemerkenswerte Überlegungen zu der Frage angestellt, wie es geschehen konnte, dass in Großbritannien geborene und aufgewachsene unauffällige Männer zu Attentätern werden konnten.245 Malik, der an der für Interdisziplinarität bekannten und renommierten University of Sussex arbeitet, macht die Ideologie des Multikulturalismus bzw. eine Politik der Identitäten in Großbritannien für die zunehmende Fragmentierung der britischen Gesellschaft verantwortlich, die unter werterelativistischem Verzicht auf die Durchsetzung säkularer universaler Werte und Normen Raum gegeben habe für das Anwachsen radikaler/extremister Auslegungen des Islam. Die Kritik Maliks an der Politik des Greater London Council seit den achtziger Jahren des 20. Jhdts. und aktuell an dem Bericht der von der britischen Regierung nach den Anschlägen in London eingesetzten Task Force für Extremismus richtet sich gegen die auch anderwärts bekannte Neigungen zur Anerkennung einer „kulturellen Differenz“. Die Politik der umfassenden Anerkennung von Rechten ethnischer Gemeinschaften habe die Bildung gesellschaftlicher Enklaven mit dem Recht auf eigene Identitäten, Kulturen, Sprachen, Religionen und Bräuchen gefördert – in Maliks Worten „eine britische Stammesgesellschaft ohne politisches oder moralisches Zentrum“. Im Verlauf dieses Prozesses habe sich das Verständnis von Gleichheit verändert. An dieser Stelle kommt Malik zum Grundproblem parallelgesellschaftlicher Strukturen: „Sie [die Gleichheit] bedeutete nicht mehr, dieselben Recht wie andere zu besitzen, sondern andere Rechte zu haben, die den ver245 Kenan Malik, Der Weg in die Stammesgesellschaft, in: Handelsblatt vom 3.1.2006. 147 schiedenen Gemeinschaften angemessen wären. Sie stand nicht mehr dafür, jeden ungeachtet seiner Rasse, Kultur, Ethnie oder Religion gleich zu behandeln, sondern Menschen deshalb unterschiedlich zu behandeln.“ So provozierend und in ihren Schlussfolgerungen brisant Maliks Position auch sein mag – diskussionswürdig auch in anderen westeuropäischen Einwanderungsgesellschaften ist allemal seine Schlussfolgerung, dass sich heute viele junge Muslime (in diesem Fall in Großbritannien) mehr mit dem Islam identifizieren als mit dem Land, in dem sie leben. Das alte rassistische Verständnis von britischer Identität sei glücklicherweise verschwunden, aber auch durch nichts Neues ersetzt worden: „Britisch zu sein bedeutet schlicht, Unterschiede zu tolerieren.“ Identitätsdefizite und –bedürfnisse einer- und der Verzicht auf einen Grundkonsens gemeinsam geteilter Werte und Normen andererseits dürften grundlegende Ursachen für die Entstehung von Parallelgesellschaften in allen Einwanderungsgesellschaften sein. An diesen Gegebenheiten kann eine islamistische „Politik der Identitäten“ anknüpfen und gesellschaftliche Wirkung entfalten. Legalistisch agierende islamistische Organisationen in der Bundesrepublik Deutschland wie die IGMG oder die IGD und die ihr angeschlossenen Islamischen Zentren messen der Bildungsarbeit vor allem unter Kindern und Jugendlichen hohe Bedeutung zu. Sie stellen daher ein breites Bildungs- und Betreuungsangebot (Koranbzw. Islamunterricht, Freizeiten, Kurse) bereit, das sowohl alters- als auch zielgruppenorientiert ist. Dabei ist oft schwer zu beurteilen, in welchem Umfang und in welcher Intensität islamistische Positionen in die als „islamische Bildung“ präsentierten Angebote einfließen bzw. diese prägen. Gleichwohl hat die öffentliche Diskussion um den Unterricht an der „König Fahd-Akademie“ (KFA) in Bonn gezeigt, dass berechtigter Anlass zu der Sorge besteht, Teile der islamischen Bildungsarbeit in Deutschland könnten von islamistischen Positionen getragen sein, deren Erziehungsziele und Lerninhalte den Grundsätzen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung widersprechen. Eine solche Erziehungsarbeit wirkt mindestens desintegrativ und fördert die Entstehung von Parallelgesellschaften. Islamistische Einflüsse auch auf Bildungsangebote von Moscheevereinen sowie auf einzelne Einrichtungen oder Institute, die formal nicht einer islamistischen Organisation zugerechnet werden können, 148 in denen jedoch dem islamistischen Spektrum zugehörende Personen aktiv sind, müssen ebenfalls in Betracht gezogen werden. Die von der IGMG als größter islamistischer Organisation in Deutschland bereitgestellten zielgruppenorientierten Bildungs- und Freizeitangebote vor allem für Kinder und Jugendliche sowie ihre sozialen Dienste sind es vor allem, die im Verdacht stehen, die Herausbildung islamistischer Milieus bzw. islamistischer Parallelgesellschaften zu befördern. Angesichts der dargestellten desintegrativen „negativen Identitätspolitik“ sowie der ideologischen Tradition der Organisation ist die kritische Frage zu stellen, inwiefern diese Positionen leitend für die pädagogische und soziale Arbeit der Organisation sind. Welche Werte, welches Welt- und Menschenbild werden im Koranunterricht, in Freizeitcamps oder in der Erziehungsberatung vermittelt? Die IGMG fordert in diesem Zusammenhang auch, den islamischen Religionsunterricht ihrer Prägung zum Inhalt der Lehrpläne an öffentlichen Schulen zu machen. Muslimischen Schülerinnen und Schülern soll eine nach IGMG-Auffassung islam-konforme Verhaltensweise auch in der Schule ermöglicht werden. In öffentlichen Darstellungen argumentiert etwa die IGMG, ihr Angebot diene der Stärkung der religiösen und kulturellen Identität, d.h. der Integration ohne Leugnung der eigenen Herkunft und Tradition. Nun ist dieser Konstruktion einer kollektiven „islamischen Identität“ angesichts sich immer individuell gestaltender Integrationsprozesse schon allein deshalb zu misstrauen, weil sie als kompromissloser Gegenentwurf zu einer „anderen“, auch zu einer multiplen Identität (etwa: Muslim und Deutscher) konzipiert ist. Dieser Maßgabe ist aber vor allem deshalb mit Skepsis zu begegnen, weil sich die Organisation nach wie vor der verfassungsfeindlichen „Milli Görüs“Ideologie verpflichtet sieht, das Erziehungsziel „islamische Identität“ im Fall der IGMG mit der Ablehnung der Integrationspolitik der Bundesregierung einhergeht (die als „Assimilationspolitik“ diskreditiert wird) und die deutsche Mehrheitsgesellschaft von der Organisation durchgängig als moralisch minderwertig beurteilt wird. Im Zusammenhang der Frage nach dem Beitrag der IGMG zur Entstehung islamistischer Milieus ist auch die Unterstützung in juristischen Fragen zu erwähnen, die die Organisation türkischen Muslimen zur Verfügung stellt. Seit einiger Zeit unterhält sie dazu eine eigene Rechtsabteilung. Die Organisation gewährt Rechtsbeistand bei Konflikten mit der Schule (z.B. in Fragen der Teilnahme am Sexualkundeunterricht sowie am koedukativen Schwimm- und Sport- 149 unterricht), aber auch bei Problemen am Arbeitsplatz (z.B. wegen der Einrichtung von Gebetsräumen oder der Freistellung an islamischen Feiertagen); außerdem berät die IGMG ihre Mitgliedsvereine im Miet-, Immobilien-, Vereins- und Baurecht. Diese Aktivitäten können nicht losgelöst von den dargestellten ideologischen Grundlagen und politischen Zielen der Organisation als neutrale Wahrnehmung des verfassungsmäßigen Rechts auf juristische Vertretung berechtigter muslimischer Interessen und auf „kulturelle Differenz“ bewertet werden. Sie sind vielmehr praktische Ausläufer der relativierenden Auslegung der deutschen Rechtsordnung bzw. ihres Geltungsbereichs seitens der IGMG und Indizien dafür, dass es der Organisation nicht um die Herstellung einer – pluralistisch verstandenen – gesellschaftlichen Einheit von Muslimen und Nichtmuslimen geht, sondern um ein möglichst rechtsgleiches Nebeneinander von Mehrheit und Minderheit. Das juristische Unterstützungsangebot in seiner Gänze zeigt, dass die IGMG bestrebt ist, größtmögliche Freiräume für eine an der Schari’a orientierte Rechtsauslegung zu schaffen bzw. einzufordern. In der Tendenz können diese Bestrebungen auf die Entstehung autonomer Rechtsräume hinauslaufen und damit ein wesentliches Merkmal islamistischer Milieus herausbilden, in denen die von der demokratischen Rechtsordnung gewährten individuellen Menschen- und Grundrechte am Maßstab des islamischen Rechts gemessen und zu Gunsten des letzteren relativiert oder gar außer Kraft gesetzt werden. Durch die Ausprägung parallelgesellschaftlicher Strukturen wie den skizzierten werden islamistische Radikalisierungsprozesse insofern gefördert, als eine ideologie- und propagandagesättigte soziale Lebenswelt geschaffen wird, in denen die Integration in die deutsche Mehrheitsgesellschaft systematisch und kontinuierlich verhindert werden. Die ethnozentrisch-ideologische Abschottung vor allem junger Muslime, ihre Erziehung zur Ablehnung der deutschen Gesellschaft und der demokratischen Institutionen des deutschen Modells, die Verpflichtung der hier aufwachsenden jungen Türken und Türkinnen auf nicht hinterfragbare – weil vermeintlich religiös autorisierte - Werthaltungen und Verhaltensstandards könnte für die Zukunft ein nicht unerhebliches politisches und gesellschaftliches Konfliktpotenzial bergen. 150 6. Ausblick: Zur Notwendigkeit interdisziplinärer und vergleichender Forschungsansätze Islamismus und islamistischer Terrorismus sind bislang in Deutschland weitgehend als neuartiges, von anderen, hier bekannteren „einheimischen“ Extremismusformen zu unterscheidendes Phänomen behandelt worden. Im Bezug auf seine ideologischen Positionen wurde und wird der Islamismus weitgehend am Maßstab des „klassischen“ Islam, seiner Terminologie und seiner Geschichte gemessen und analysiert. Diese Engführung hat tendenziell dazu geführt, den grundlegenden sozialen und politischen Ursprung und Kontext der islamistischen Ideologie (als moderner totalitärer Ideologie) zu vernachlässigen und sie vorrangig als (fehlgeleitete) Politisierung der Religion zu beschreiben. Es liegt jedoch – im Blick auf islamistische Sozialisationsprozesse vor allem junger Muslime in den europäischen Ländern – nur partieller Erkenntniswert etwa in der Feststellung, welche ideengeschichtlichen Wurzeln Salafiya/Wahhabiya oder Jihadismus haben oder inwiefern sie sich aus Koran und Sunna ableiten lassen, wo sie im Kontext „der“ autoritativen islamischen Rechtsauslegung zu verorten sind. Entscheidend ist, dass diese und andere islamistische Positionen – vereinfacht und parolenhaft vermittelt – soziale und politische Wirkmächtigkeit mitten in den europäischen Gesellschaften entfalten. Sie bieten offenkundig hier geborenen und/oder aufwachsenden jungen Muslimen Orientierung und Identifikation, lassen sie anfällig werden für Radikalisierungsbestrebungen islamistischer Akteure und können sie letztlich zu gewaltsamen Aktionen motivieren. Islamismus kann also nicht hinreichend von seinem ideologischen Gehalt her und im Kontext der klassischen islamischen (Rechts-)Geschichte allein verstanden werden. Das Phänomen muss auch unter dem Aspekt seines sozialen Resonanzraums, d.h. der politischen und sozioökonomischen Entstehungsbedingungen für den Islamismus als moderner sozialer und politischer Bewegung analysiert werden. Das gilt zunächst für die Ursprungsländer in der islamischen Welt, in denen der Islamismus als sozial geerdete Befreiungsideologie und Protestbewegung, z.T. mit sozialrevolutionären Zügen, entstanden ist. Das Untersuchungsterrain muss jedoch erweitert werden auf die europäischen Staaten, in denen große muslimische Migrantengemeinschaften existieren. Islamismus kann weder von seiner ideologischen noch von seiner sozialen Komponente weiterhin ausschließlich als problematischer Import aus der Türkei oder dem Nahen Os- 151 ten beschrieben werden; er entsteht in den europäischen Gesellschaften selbst. Daraus ist nicht abzuleiten, dass die ideologiekritische Auseinandersetzung mit den islamistischen Klassikern oder mit den Chefideologen islamistischer Gruppierungen von lediglich akademischem Interesse wäre. Das Wissen um die Verortung der jeweiligen Akteure im islamistischen Ideologiespektrum ist vielmehr vor allem im Blick auf die damit verbundenen taktischen Grundsatzentscheidungen (jihadistische vs. legalistische Strategie) der jeweiligen Organisationen und Gruppierungen erforderlich. Dieser Ansatz muss jedoch eingebettet werden in fundierte Erkenntnisse über die sozialstrukturellen Rahmenbedingungen, die islamistische Radikalisierungsprozesse in Deutschland und anderen europäischen Staaten fördern können, also durch eine sozialwissenschaftliche und sozialpsychologische Perspektive auf die potenziellen Rezipienten (soziale Lage, Bildungsgrad, rechtlicher Status in den Einwanderungsgesellschaften, Integrationsgrad bzw. –defizite, wirtschaftliche Situation etc.). Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung individueller und kollektiver Demütigungs- und Marginalisierungserfahrungen, nach Aggressionspotenzialen und Identifikationsdefiziten vor allem junger Muslime der 2. und folgenden Migrantengenerationen, die eine erstaunlich konsumentenfreundliche „zeitgeistkonforme“ islamistische Ideologie zu kanalisieren vermag. Aus diesen Erfahrungen resultiert offenbar eine Bedürfnisstruktur, die von islamistischen Organisationen/Bewegungen und ihrem Ideologie- und Sinnstiftungsangebot bedient werden kann. In diesem Zusammenhang wäre auch über den individualpsychologischen Vorgang des islamistischen „Erweckungserlebnisses“ und die folgende Verhaltensänderung nachzudenken und zu forschen, die Eltern, Freunde oder Lehrer retrospektiv bei späteren Attentätern erinnert haben. Nach dem van Gogh-Mord plädierte der niederländische Schriftsteller Leon de Winter für eine kulturanthropologische Sicht auf die lange nicht wahrgenommenen kulturell-lebensweltlichen Probleme muslimischer Einwandererfamilien.246 Aus einer solchen Perspektive würden tradierte, z.T. vor-islamische Werte und Normen – wie etwa vormoderne Auffassungen von Ehre, Schande und Rache – verstärkt als motivierende Elemente des islamistischen Radikalisierungsprozesses berücksichtigt werden. Die systematische 246 Leon de Winter, Vor den Trümmern des großen Traums, in: Die Zeit 48(2004). 152 Auseinandersetzung mit den sozialpsychologischen Rezeptionsbedingungen islamistischer Ideologie in den westeuropäischen Ländern steht m.W. weitgehend aus. Sie ist insbesondere im Blick auf die Entstehung eines indigenen europäischen Islamismus unverzichtbar. Die vertiefte Auseinandersetzung mit islamistischen Radikalisierungsprozessen könnte weiterhin profitieren von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Wissen der Sicherheitsbehörden über Gruppenbildungsprozesse und Gruppendynamiken, Ideologietransfer sowie die Integrationsmechanismen z.B. links- und rechtsextremistischer Gruppierungen bzw. ihrer Klientel. Auch die vergleichende Ideologieanalyse – z.B. hinsichtlich der Adaption eines simplifizierten und popularisierten Marxismus-Leninismus als „politischer Religion“247 in den studentischen Milieus der 70er und 80er Jahre – könnte hier nutzbringend sein, ohne die Andersartigkeit und den spezifischen religiös-kulturellen Gehalt der islamistischen Ideologie und die Tatsache zu vernachlässigen, dass sich die verschiedenen Extremismusbereiche in Zielsetzung, Mitglieder- bzw. Anhängerstruktur, Organisationsstruktur und modi operandi unterscheiden. Aus vergleichender sozialwissenschaftlicher und ideologiekritischer Perspektive wäre islamistische Radikalisierung als (historisch jüngste) Variante extremistischer Radikalisierungsprozesse generell zu betrachten. Von einer interdisziplinären und vergleichenden Betrachtungsweise könnten die Verfassungsschutzbehörden profitieren, aber auch ihren eigenen Beitrag zur Diskussion leisten. Ein interdisziplinärer und vergleichender Zugang ist m.E. die Grundlage jeder mittel- und langfristigen prognostischen Empirie. 247 Zu diesem Ansatz vgl. Klaus-Georg Riedel, Der Marxismus -Leninismus als politische Religion, in: Hans Maier/Michael Schäfer (Hg.), `Totalitarismus´ und `Politische Religionen´. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band II, Paderborn u.a. 1997, S. 75-128. 153 Literaturübersicht Friedrich Heckmann, Islamische Milieus: Rekrutierungsfelder für islamistische Organisationen? Vortrag auf dem 1. Symposium des Bundesamtes für Verfassungsschutz, „Politischer Extremismus in der Ära der Globalisierung“, am 20. Juni 2002. Johannes Kandel, Organisierte Muslime in Deutschland zwischen Integration und Abgrenzung, in: Islamismus – Diskussionen eines vielschichtigen Phänomens, hg. Von der Senatsverwaltung für Inneres/Abteilung Verfassungsschutz, Berlin 2005, S. 60-78. Michael Kowalski, Dawa und Jihad als Bedrohungen des demokratischen Rechtsstaates – Analyse, Hintergründe und Handlungsperspektiven, in: Radikalisierungsprozesse und extremistische Milieus. Ein Symposium des Bundesamtes für Verfassungschutz, 4. Oktober 2004, Köln 2005, S. 77-82. Klaus-Georg Riedel, Der Marxismus-Leninismus als politische Religion, in: Hans Maier/Michael Schäfer (Hg.), `Totalitarismus´und `Politische Religionen´. Konzepte des Diktaturvergleichs, Band II, Paderborn u.a. 1997, S. 75-128. Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004. Bassam Tibi, Der neue Totalitarismus. „Heiliger Krieg“ und westliche Sicherheit, Darmstadt 2004. 154 Siegfried Schwan Soziologische Aspekte des Islamismus 1. Einleitung Mit dem Phänomen Islamismus haben sich im Laufe der Jahre die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen auseinandergesetzt. Jede betont einen oder auch mehrere Aspekte, um die auf ein Schlagwort gebrachte Formulierung: „Mit dem Islam, so scheint es, ist etwas geschehen“ 248 zu erklären. Dabei wird der folgende Aufsatz weniger die Entstehung islamistischer Ideen ins Blickfeld nehmen als vielmehr die Bedingungen, unter denen diese Ideen auf positive Resonanz stoßen und schließlich zu einer „Bewegung“ werden konnten. Mit dem Begriff Bewegung soll beschrieben werden, warum Ideen für einen größeren Teil einer Gesellschaft relevant und sogar zu einer politischen Leitlinie werden können. Nicht alle jemals entwickelten Ideen konnten oder können sich „durchsetzen“, manche bleiben unglaubwürdig, irrelevant, unpraktikabel oder sogar abstrus. Worin liegt das „Erfolgsgeheimnis“ des Islamismus? Ein Erklärungsversuch soll mit Hilfe der Soziologie erfolgen. Der folgende Aufsatz richtet sich in erster Linie an Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Sicherheitsbehörden, denen im Rahmen der Aus- und Fortbildung Hintergrundwissen zum Thema Islamismus vermittelt werden soll. Zum besseren Verständnis soll daher ein einführender Teil zur Soziologie vorgeschaltet werden. 2. Soziologie 2.1 Allgemeine Soziologie Die Soziologie ist eine Wissenschaft, die mit ihren Erkenntnissen dazu beitragen möchte, zu verstehen, wann und unter welchen Umständen sich Gesellschaften – menschliche Gemeinschaften – bilden, wie und welche Regeln dabei entstehen und was Menschen dazu veranlasst, solche Regeln zu entwickeln und wie die Gesellschaft ihrerseits die einzelnen Menschen dazu bringt, diese Regeln einzuhalten, d.h. zu beachten und zu befolgen. In Gesellschaften jeglicher Art entwickeln sich Regeln, die das gemeinsame Leben bestimmen. Diese Regeln sollen das gemeinsame Leben „harmonisieren“. Dazu muss es aneinander angepasst werden. Damit wird 248 Lücke, S. 1 155 das gemeinsame Leben erleichtert, so dass nicht bei jedem sozialen Kontakt – wenn mindestens zwei Menschen aufeinander treffen – Regeln, man könnte auch in einem sehr weiten Sinne von Umgangsformen sprechen, neu ausgehandelt werden müssen. Wo und wie solche Regeln entstehen ist Gegenstand der Soziologie. Bereits in kleinen „Gesellschaften“, zum Beispiel Familien, gibt es eine Fülle von Regeln, die das gemeinsame Leben nicht nur vereinfachen sondern auch bestimmen. Irgendwie einigt man sich darauf in welcher Reihenfolge morgens das Bad benutzt wird. So banal dies Beispiel scheinen mag: die Regel ist irgendwie zustande gekommen und die Familienmitglieder halten sich daran. Sie wird irgendwann auch nicht mehr hinterfragt; ein Gewöhnungsprozess verhindert, dass sie noch nicht einmal mehr als Regel erlebt wird, d.h. dass sie auch wieder aufgehoben oder zumindest verändert werden könnte. Sie erfüllt ihren Zweck! Auch auf einer nächst „höheren“ Ebene funktioniert die Schaffung und Einhaltung solcher Regeln. Im Büro gelten ebenfalls diverse Regeln, die von allen akzeptiert werden, auch wenn sie nicht Bestandteil des Arbeitsvertrages sind. So „gehören“ sich bestimmte Dinge nicht, sich nur mit einer Badehose bekleidet an den Schreibtisch des Chefs zu setzen, die Beine hoch zu legen und mit einer Zigarre in der Hand diesen beim Eintreten ins Büro mit den Worten: „Na, altes Haus“ zu begrüßen. Und noch eine Stufe „höher“, in der Stadt oder im Dorf sind Regeln, geschriebene und ungeschriebene, wirksam. Der Umgang der Menschen miteinander wird „geregelt“. Wir fahren unsere Autos auf der rechten Straßenseite; nicht nur, weil dies gesetzlich so vorgeschrieben ist, sondern auch aus Überzeugung. Wenn ich es nicht tun würde, führe statt dessen auf der linken Straßenseite, so würde dies mir – und den anderen Verkehrsteilnehmern auch - erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Mein Vorankommen wäre massiv beeinträchtigt. Vor allem wäre es mit einer beschaulichen Autofahrt am Sonntag Nachmittag buchstäblich vorbei. Der Ausflug würde zu einem chaotischen, nervenaufreibenden und obendrein lebensgefährlichen Unterfangen. Da halte ich doch lieber die Regeln ein; dies ist wesentlich angenehmer. Und das entscheidende dabei ist: ich kann mich einigermaßen sicher darauf verlassen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer ebenfalls so verhalten, d.h. auch sie halten die Regeln ein. 156 Eine Vielzahl solcher geregelten Verhaltensweisen – meistens im gegenseitigen Interesse – haben sich die Menschen in unterschiedliche Kulturen geschaffen. Viele davon werden nicht mehr hinterfragt. Die Vorfahren haben sich daran gehalten, dann tue ich dies auch. Es hat sich ja offenbar bewährt. Solche Regeln gehen „in Fleisch und Blut“ über. Nahezu alle Verhaltensweisen basieren auf solchen Prinzipien. Unser Alltag ist bestimmt von solchen Regeln, weil wir im Alltag immer wieder auf andere Menschen Bezug nehmen, uns auch an ihnen orientieren müssen. Bedeutsam ist die (schlafwandlerische) Selbstverständlichkeit, mit der wir dies tun. Solche Routinen haben eine entscheidende Funktion: sie entlasten uns vom Alltag und schaffen damit erst Freiräume für Neues. Jeden Tag alle sozialen Regeln von vorne aushandeln zu müssen, jeden Morgen mit Autofahrern zu debattieren, welche Fahrseite wir denn heute wählen, und all die vielen unreflektierten Regeln zu problematisieren würde unseren Aktionsspielraum erheblich einschränken. Die Welt, und damit ist auch die materielle Welt gemeint, würde vollständig anders aussehen als sie heute ist. Nur bei Problemen müssen neue Verhaltensweisen abgetastet, verhandelt und beschlossen werden. Und wenn sich herausstellt, dass auch eine Vielzahl von anderen Menschen meiner Gemeinschaft ähnliche Probleme bekommen hat, dann können solche Vereinbarungen, die ich auf „kleiner“ Ebene getroffen habe, auch auf die „große“ Ebene übertragen werden; vorausgesetzt, dass die Mitglieder der Gemeinschaft dies akzeptieren, sprich den gemeinsamen Vorteil in dieser Regelung erkennen oder glauben, erkennen zu können. Nun lässt sich spätestens an dieser Stelle nach dem Sinn und Zweck der Soziologie fragen. Warum kümmern sich denn die Soziologen um solche Angelegenheiten? Es funktioniert doch. Sollen wir vielleicht die Rechtsfahrregel abschaffen? Der Soziologe sagt doch selbst, dass dies zur Erleichterung des Lebens erheblich beiträgt. Diese Antwort ist allerdings missverständlich. Es geht der Soziologie nicht darum, dass menschliche Zusammenleben zu erschweren. Vielmehr will die Soziologie heraus finden, warum Regeln sich so und nicht anders entwickelt haben. Wer jetzt darauf antwortet, dies sei doch Zufall und nicht bedeutsam, liegt leider falsch. Denn es ist weder Zufall noch unbedeutend, welche Regeln wir alle anerkennen und warum wir sie einhalten (und manchmal nicht). Schließlich sind solche Regeln von Menschen „erfunden“ worden. 157 Die Soziologie gibt sich mit „Gegebenheiten“ nicht so ohne weiteres zufrieden; sie hinterfragt die soziale Welt. Dabei können bestimmte Zusammenhänge sehr aufschlussreich werden, z.B. Zusammenhänge zwischen den Individuen und der Gesellschaft. So können sich gesellschaftliche Regeln „verselbständigen“, d.h. sie werden derart als regelhaft erlebt, dass sie weiter gelten, obwohl deren Sinn und Zweck, zu deren sie geschaffen worden sind, überhaupt nicht mehr fortbestehen. In der Soziologie spricht man von einer Verdinglichung. Regeln werden derart als gesetzmäßig angesehen, dass man ihre menschliche Herkunft „vergisst“. Den Lernvorgang, Regeln kennen zu lernen und im Alltag zu beachten, nennt man Internalisierung. Trotzdem führt dies nicht dazu, dass alle Menschen in gleicher Weise die Regeln internalisieren. Es gibt durchaus Unterschiede. So gibt es Menschen, die gegenüber Kontroll- und Sanktionsmechanismen, die die Gesellschaft bereithält, damit möglichst viele Individuen die Regeln einhalten, sich unempfindlicher zeigen als andere. Sie nehmen z.B. in Kauf, dass andere Gesellschaftsmitglieder ihnen aus dem Weg gehen. Der Soziologe David Riesman249 hat sich mit einer Typologie zu dieser Frage auseinandergesetzt und schlägt folgende Grundkategorien vor: 1. Der traditionsgeleitete Mensch (fühlt sich stark an traditionelle Konventionen gebunden) 2. Der innengeleitete Mensch (trifft Entscheidungen sozialer Art in seinem Innern, d.h. er vergleicht Neues mit in seinen im innern abgelegten Werten) 3. Der außengeleitete Mensch (nimmt Korrektivsignale auch von weit außen auf angesichts der Befürchtung, er könnte etwas falsch machen) Jeder Mensch nimmt eine Anpassungsleistung an die sozialen Gegebenheiten vor (es sei denn, er wäre extremer Eremit). Aber er prüft diese Anpassung an andere auch darauf hin ab, ob er dies mit sich selbst in Einklang zu verbringen mag. Je nachdem wie diese Prüfung ausfällt, wird er unter Umständen sein Verhalten dannan die Erwartungen anderer anpassen, wenn er einer für ihn unangenehmen Auseinandersetzung aus dem Weg gehen möchte. 249 Riesmann, S. 40-41 158 Damit wäre bereits in erster wesentlicher Punkt, der bei der „Produktion“ von Regeln eine Rolle spielt, betont: Vielfach entstehen Regeln, die für allgemein verbindlich „erklärt“ werden, aus der Überlegung heraus, dass man erst einmal überhaupt eine Regel hat. Regeln entlasten vom Alltag, keine Regel zu haben, würde Aufwand bedeuten; um diesen Aufwand zu reduzieren, akzeptiert man diese Regeln, auch wenn sie eigentlich nicht so ganz meine Bedürfnisse abdecken. Der außengeleitete Mensch wird aber darüber hinwegsehen: eine Musterlösung für mich wird es nicht geben, also akzeptiere ich die Regel, ich passe mich der Regel an. Der innengeleitete Mensch wird hingegen die Regel akzeptieren, weil sie in seine Bedürfnisstruktur passt. Ja, die Regel trifft genau meine Vorstellungen. Allerdings bemerkt häufig der innengeleitete Mensch nicht, dass er seine Bedürfnisstruktur unmerklich verändert hat: nämlich so, dass jetzt die Regeln passen. Der traditionsgeleitete Mensch nimmt die Regel an, weil er sie für in Übereinstimmung stehend hält mit anderen, älteren Regeln, die ihn bislang in ihrer Gültigkeit überzeugten. Natürlich gibt es keinen „Reintypus“ dieser drei Arten. Vielmehr variieren diese Einzelformen. Insoweit ist jeder Mensch – zumindest hinsichtlich seines sozialen Verhaltens – opportunistisch. Soziales Verhalten besteht zu wesentlichen Teilen aus einer beständigen Auseinandersetzung eines Individuums mit seiner (sozialen) Umwelt. Je nach Situation und Lage entsteht eine Anpassungsleistung der Person an die Umwelt, die mal stark, mal weniger stark ausfallen kann. Während dieses Vorgangs entstehen „Produkte“, die „über den Tag hinaus“ Gültigkeit erlangen. Soziales Verhalten ist von vielen Menschen vor uns bereits praktiziert worden und an uns weiter gegeben worden. Auch wir geben unseren Kindern unsere Erfahrungen weiter. Diese Art von Hineinwachsen in die Gesellschaft, wie ich mit ihr und wie sie mit mir umgeht, nennt man Sozialisation. Als kleiner Hinweis darauf wie viele solcher Regeln unseren Alltag bestimmen und denen wir uns „freiwillig“ ständig unterwerfen und wie sehr wir auf die Einhaltung angewiesen sind: Versuchen sie sich einmal über einen Zeitraum von 4 Stunden völlig a-sozial zu verhalten, d.h. nehmen sie keinerlei Rücksicht auf andere. Sind sie äußerst unhöflich, frech und dreist, widersprechen bei jeder sich bietenden Gelegenheit, zweifeln sie jede unstrittige bzw. unproblematische Feststellung ihres Gegenübers an, beschuldigen sie ihn der Lüge, hinterfragen sie jede Kleinigkeit und Selbstver- 159 ständlichkeit. Sie werden sehen, wie schnell sie durch dieses Verhalten „einsam“ werden. Die Regelhaftigkeit unserer Beziehungen zu der sozialen Umwelt entwickelt sich ständig weiter. Vor allem sind die Individuen einer Gesellschaft daran interessiert, diese Regeln nach Möglichkeit zu systematisieren, d.h. in einen inneren Zusammenhang zu bringen. Es macht keinen und zumindest nur wenig Sinn, nur ein Rechtsfahrgebot einzuführen, sondern auch andere Regeln, die untereinander in einer Beziehung stehen und untereinander konsistent sind. Auch dies dient letztlich der Vereinfachung unseres Lebens. So macht es z.B. keinen Sinn, dem von links kommenden Verkehr (wenn es keine andere übergreifendere Regelung wie Schilder oder Ampel gibt) eine Vorfahrt einzuräumen wenn wir alle ein Rechtsfahrgebot beachten. Insofern kann es doch Zufall sein, dass wir heute mit unseren Autos rechts fahren. Es hätte sich genau so gut der Linksverkehr durchsetzen können. Individuen nehmen aber nicht jede Regel, die eine Gesellschaft entwirft, als allgemein verbindlich hin. Auch der außengeleitete Mensch akzeptiert nicht jede Regel. Das bedeutet, dass über den Umstand hinaus, dass Regeln unser Leben entlasten, noch etwas anderes hinzukommen muss, damit eine Regel eine Chance erhält, allgemein akzeptiert zu werden. Regeln müssen einen Praxisbezug aufweisen. Dies bedeutet zweierlei: Sie müssen eine Sinnstruktur besitzen und praktikabel sein. Dies bedeutet hinsichtlich des Straßenverkehrs, dass z.B. die Sinnstruktur einer Ampel darin besteht, dass sie nur dann ausgeschaltet wird, wenn das Verkehrsaufkommen niedrig genug ist und nicht umgekehrt. Eine Ampel, die immer dann ausgeschaltet wird, wenn das Verkehrsaufkommen besonders hoch ist, findet keine Akzeptanz. Der praktische Aspekt besteht z.B. darin, dass die Ampel eine bestimmte Größe besitzen muss. Eine Ampel, die so klein ist, dass man sie erst ab etwa einem Meter Abstand erkennen kann, findet ebenfalls keine Akzeptanz. So kann es während der Lebensdauer einer Regel dazu kommen, dass sie ihre Akzeptanz verliert. Dann wird eine Regel überflüssig. Eine Regel, die vom Autofahrer „verlangt“, dass er seine Fahrtrichtungsänderung durch Handzeichen anzeigt, wird nicht mehr akzeptiert werden, wenn in allen Autos der „Blinker“ eingebaut wird. 160 Regeländerungen jeglicher Art, sei es Regelanpassungen, neue Regeln, Aufhebung alter Regeln, können vergleichsweise langsam, manchmal aber auch sehr abrupt erfolgen. Entscheidend sind überwiegend gesellschaftliche Akzeptanz-Probleme. Abschließend sei noch auf den unterschiedlichen Stellenwert von Regeln eingegangen: Viele Regeln beziehen sich auf denjenigen zwischenmenschlichen Umgang, der nicht schriftlich fixiert wird. Es sind einfache „Umgangsregeln“. Es passiert nichts oder nicht viel, wenn die Regeln von einem Individuum einmal missachtet werden. Geschieht dies dauerhaft, besitzt die Gesellschaft allerdings Möglichkeiten, das Individuum zu disziplinieren. Man kann das Individuum zum Teil sehr schmerzlich wissen lassen, dass es sich fehlverhalten hat (u.U. bis hin zum Ausschluss aus der Gesellschaft). Andere Regeln werden allerdings verbindlicher. Das heißt, dass Verstöße dagegen die Gesellschaft schon härter treffen. In diesen Fällen werden Regeln schriftlich festgehalten. Gesetze sind beispielsweise solche Regeln. Aber auch dies genügt manchmal nicht: Die Nichteinhaltung bestimmter, sehr zentraler Regeln muss regelhaft bestraft werden, z.B. in Form von Strafgesetzen. In menschlichen Gesellschaften werden mit der Zeit eine Vielzahl von solchen gesellschaftlichen Übereinkünften erschaffen. Sie bilden ein äußerst komplexes System von Regeln, das aufeinander aufbaut. Solche Regeln werden u.U. immer weiter abstrahiert und verabsolutiert. Hieraus entwickeln sich Muster über ein Regelwerk, das aus sich heraus Vorstellungen darüber „produziert“, wie denn Einzelfragen künftig geregelt werden sollten. Hat ein solches Muster einmal eine „kritische Masse“ erreicht, wird es selbst Regelschaffend. Neue Regeln sollen sich in das Muster einfügen lassen, damit sie akzeptiert werden. Es entstehen Zielvorstellungen. Eine solche in sich geschlossene und in sich „stimmige“ Ansammlung von Regeln wird zu einer Ideologie. Diese neigen – besonders anfällig – dazu, ihre „Mitglieder“ zu einer innengeleiteten Verarbeitung zu veranlassen. Der nach innen verlagerte Kreiselkompass gibt den Kurs vor.250 Ideologien neigen dazu, sich die Wirklichkeit durch verschiedene Anpassungsleistungen zurecht zu biegen: es kann nicht sein, was nicht sein darf. Insbesondere zwei Aspekte umschließen eine Ideologie: zum einen rechtfertigen sie bestimmte gesellschaftliche 250 Abels, Heinz; Stenger, Horst, S.44 161 Verhältnisse, in dem sie sie zu erklären suchen; zum anderen werden sie benutzt, um Ziele durchzusetzen.251 Die Soziologie geht mit einer sehr kritischen Grundhaltung an alle gesellschaftlichen Phänomene heran; sie hinterfragt Strukturen und Prozesse. Sie hinterfragt die scheinbaren Gewissheiten unseres Alltages. Vor allem zweifelt der Soziologe am Zufall. Es muss Gründe geben, warum Regeln so und nicht anders erschaffen wurden. Sie alle sind menschlichen Ursprungs. Aber so beruhen nicht nur die Regeln im engeren Sinn auf menschliches Übereinkommen, sondern die gesamte soziale Umwelt ist ein Produkt menschlicher Aushandlungsprozesse. Aus dem Alltag heraus werden diese Prozesse immer wieder neu eingeleitet, weiter verhandelt, zum Teil neu verhandelt. Dabei stützen wir uns auf die Verhandlungen unserer Vorfahren. Warum noch einmal neu verhandeln, was schon verhandelt wurde? Nur bei Bedarf müssen solche Verhandlungen neu thematisiert und einer Lösung zugeführt werden. Diese Art des alltäglichen Umganges der Menschen – um es an dieser Stelle noch einmal zu betonen – entlastet uns vom Alltag. Jeden Morgen, wirklich jeden Morgen mit den Verkehrsteilnehmern aushandeln zu müssen, auf welcher Seite wir denn heute Auto fahren, ist unvorstellbar. Diese Umgangsformen im weitesten Sinne bauen aufeinander auf. Sie bilden ein Geflecht von Formen. Vor allem geschieht damit eins: Diese Formen verselbständigen sich, d.h. sie gelten über den aktuellen Anlass hinaus, sie behalten einen Gültigkeitswert, der erst bei einem Mindestmaß an Unpraktikabilität oder Undienlichkeit hinterfragt und dann unter Umständen neu verhandelt werden muss. Und da der Mensch ein Gewohnheitstier ist, benötigt er eine ganze Menge an Hinterfragungspotential, ob diese oder jene Sache noch Sinn macht und er dann die Mühe auf sich nimmt, eine Neuverhandlung vor zu nehmen. Dieser Gültigkeitswert, solange er sich bewährt und auf Akzeptanz stößt, oder anders ausgedrückt, Sinn macht, bleibt existent; auf diese Weise entsteht die soziale Welt. Der Aufbau einer solchen Welt bedingt also zweierlei: zum einem muss eine Notwendigkeit gesehen werden, mit anderen Menschen eine Sache oder einen Vorgang zu verhandeln, sprich sich abzustimmen und zum anderen muss mit dem anderen eine Kommunika- 251 ebda, S. 67 162 tion, d.h. ein Austausch stattfinden. Die Lösung muss dann im Anschluss für die Beteiligten einen gegenseitigen Sinn machen. Damit können, so Durkheim, die soziologischen Tatbestände wie Dinge betrachtet und untersucht werden. Berger/Luckmann drücken es so aus: Wie ist es möglich, dass subjektiv gemeinter Sinn (in der Verhandlungsleistung, sprich Kommunikation, zweier Menschen) zu objektiver Faktizität wird? Wie ist es möglich, dass menschliches Handeln eine Welt von Sachen hervorbringt?252 Diese Welt wird real und bindet uns alle an diese Realität. Auch Institutionen, wie z.B. ein Finanzamt, sind Produkte dieser menschlichen Verhandlungsbemühungen. Und diese Produkte nehmen ihrerseits Einfluss auch auf das Dasein des einzelnen. Beim Aufbau solcher sozialen Welten entstehen immer wiederkehrende Muster. Es bauen sich Sinnstrukturen auf, die mit einander in Beziehung stehen, in sich konsistent sein sollten. So entsteht eine Gesellschaft. Eine Gesellschaft ist also nichts anderes als eine ständige menschliche Produktion. Mit den Strukturen und Prozessen dieser Produktion befasst sich die Soziologie. Um es noch einmal zusammen zu fassen: folgende Vorgänge spielen sich innerhalb menschlicher Gesellschaften ab: im subjektiven Erlebnisbereich des einzelnen entstehen während des Alltags „Abgleiche“ mit anderen Individuen. Dieser „Abgleich“ wird auf einer möglichst gemeinsamen Sinnbasis abgewickelt. Ist diese (vermeintlich?) hergestellt, kann der Abgleich objektiviert werden, d.h. er wird zur Grundlage künftiger ähnlicher Abgleiche. Bedienen sich auch andere Individuen dieses Abgleichs, weil sie ihn für sinnvoll erachten, wird die Schwelle zur Objektivation überschritten: die Vereinbarung wird, so könnte man formulieren, für allgemein verbindlich erklärt. Es entsteht objektive Wirklichkeit. So ist das aus dem o.g. Beispiel mehrfach erwähnte Rechtsfahrgebot Wirklichkeit geworden. Alle diese Objektivierungen sind das Ergebnis von „Aushandlungsprozessen“. Diese werden im Alltag ständig wieder angewandt und auch „verbessert“, also fortgeschrieben. Teilweise werden solche Objektivationen auch, wenn sie sich überholt haben, d.h. keinen Sinn mehr machen, aufgehoben. An deren Stelle treten andere Objektivationen. Nun werden nicht alle Objektivationen ständig auf den Prüfstand gestellt, d.h. ein Individuum verhandelt nicht jedes Mal aufs Neue, ob 252 Berger/Luckmann, S. 20 163 denn nun ein Rechtsfahrgebot gelten soll. Das bedeutet, dass die Individuen im Rahmen ihrer Einpassung in die Umwelt solche Objektivationen vermittelt bekommen. Sie lernen, dass es Objektivationen zu vielen Alltagsvorgängen bereits gibt. Die Individuen lernen diese kennen und anzuwenden. Diesen Vorgang nennt man Internalisierung. Die Summe aller Objektivationen und die Beteiligung der Individuen an ihnen macht Gesellschaft aus. Individuen „bauen“ sich einerseits also ihre Gesellschaft (die soziale Wirklichkeit wird konstruiert); andererseits wirkt diese Gesellschaft auf das Individuum zurück: kein Individuum kommt darum herum, solche gesellschaftlichen Objektivationen zu beachten. Im Extremfall stößt eine Gesellschaft solche Individuen, die ein Minimum an Regeln nicht befolgen, aus ihrer Gemeinschaft aus. Jeglichen Einfluss auf die Individuen nennt man Sozialisation. 2.2 Religionssoziologie Die Produktionsprozesse menschlicher Aktivität erstrecken sich auf eine Vielzahl von Feldern. So entstehen Regeln z.B. im Wirtschaftsund Berufsleben, die u.U. dort, aber nicht zwangsläufiger weise nur dort, wirksam werden können. Regeln aus dem Berufsleben werden zum Teil auch in andere Felder übertragen, z.B. in den Bereich Schulleben. Ein Teilbereich der Soziologie stellt die Religionssoziologie dar, die in ihrer Bedeutung für die Entstehung und Unterhaltung von Gesellschaften bereits von Durkheim und Weber erkannt wurde. Sie sahen die Religion als Forschungsgegenstand so zentral, dass sie aus ihm die grundlegenden Elemente des Verhältnisses des Individuums zur Gesellschaft glaubten ablesen zu können. Luckmann drückt dies so aus: in der Religion spiegeln sich die Veränderungen des Verhältnisses von Gesellschaft und dem einzelnen wider 253. Religionssoziologie stellt deshalb einen sehr wichtigen Forschungsgegenstand der Soziologie dar, weil hier – ebenso wie in den anderen Feldern des menschlichen Daseins – die grundsätzliche Tendenz besteht, ein System von Regeln zu schaffen, dass zum einen dauerhaft sein soll und zum anderen andere Systeme zu integrieren vermag, d.h. in einer „logischen“ Struktur aufeinander aufbaut (wir fahren immer rechts, egal ob wir privat oder dienstlich mit dem Auto unterwegs sind; und wir halten auch an roten Ampeln an). Auch diese Tendenz ist nachvollziehbar: warum nur für Teilbereiche 253 Luckmann, S. 117 164 solche Regeln aushandeln? (Stichwort: Entlastung vom Alltag!). Mead sieht in der Religion und in der Wirtschaft genau die beiden Felder, die aufgrund ihrer Veranlagung einen solchen universalistischen Anspruch erheben könnten. Sie lieferten nämlich Ziele, die jedes Individuum verstehen könne254. Hieraus entstünde die Basis für (den Anspruch) einer Universalgesellschaft. Da die Menschheit bereits sehr früh dazu überging, arbeitsteilige Verhaltensweisen anzuwenden, ergab sich auch sehr bald die Notwendigkeit, zu wirtschaften, d.h. zu tauschen, zu handeln, zu bevorraten usw. Hieraus entstehende Regeln übertrug man der Einfachheit halber auch auf andere Bereiche des menschlichen Lebens (warum neu verhandeln?). Damit verstärkte sich auch die faktische Macht, die diese einmal etablierten Regeln auf nachfolgende Generationen im Zuge der Sozialisation ausüben konnte. Der zweite große Bereich, dem dies gelungen sei, war nach Mead die Religion. Religion, so lautet eine soziologische Definition von Durkheim, ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, beziehen, die .... alle vereinen, die ihr (der Religion, Anmerkung des Verfassers) angehören.255 Moderne Definitionen – die allgemeinverbindliche soziologische Definition von Religion gibt es nicht, da, je nach dem, wie eine solche Definition ausfällt, bestimmte gesellschaftliche Phänomene (religiöse Randbereiche) nicht mehr unter eine solche Definition fielen, gleichwohl aber Funktionen übernehmen können, die gerade die Hochreligionen auszeichnen – stellen auf folgende drei Elemente ab:256 ?? System von gemeinsamen Überzeugungen und Symbolen ?? besonders charakteristische soziale Praktiken ?? moralische Gemeinschaft. Religion ist nun deswegen für die Soziologie so bedeutsam, weil sie ein Grundproblem jeder Objektivation anspricht, nämlich die der Transzendenz. Transzendent sind für das Individuum eine Vielzahl von (früheren) Objektivationen. Ich weiß, dass es eine Vielzahl von 254 Mead, S. 328 f 255 Albrecht, S. 165 256 Joas, S. 336-342 165 bereits geleisteten „Abgleichungen“ vor mir gegeben hat und auch noch nach mir geben wird. Allerdings sind eine Vielzahl solche Abgleiche meinem unmittelbaren Erlebnisraum nicht mehr zugänglich. Mein Erlebnishorizont ist begrenzt. Und trotzdem gibt es solche Objektivationen. Sie sind ohne mein Zutun entstanden, ich unterliege ihren Zwängen, ja mehr noch, ich werde in sie hineingeboren und lerne überhaupt keine anderen möglichen Objektivationen kennen, d.h. ich empfinde diese Objektivationen als die einzig denkbaren. Damit werden diese Objektivationen nicht mehr transparent und hinterfragbar. Sie sind gegeben und spielen sich auf einer Ebene ab, die mir als Einzelindividuum nicht zugänglich ist. Sie entwickeln damit ein Eigenleben. Luckmann spricht in diesem Zusammenhang von kleinen, mittleren und großen Transzendenzen.257 Allen gemeinsam ist zunächst der Umstand, dass ich sie nicht direkt auf ihren Sinngehalt überprüfen kann. Das heißt, ich muss mich auf die Objektivation zunächst einmal verlassen. Dies gilt erst recht für die großen Objektivationen, die nicht erfahrbar und nicht alltäglich sind. Religionen sind nun solche Systeme, die diese Leistung vollbringen: sie liefern nicht nur ein übergeordnetes, in jedes andere Sinnsystem hineingreifendes Regularium (nicht nur der Landwirt wird, wenn er die göttlichen Gebote befolgt, in den Himmel kommen, sondern auch der Marathonläufer) sondern – und das vor allem – stellen sie eine Verbindung zwischen den Objektivationen des Alltags und den transzendenten Objektivationen her. Transzendenz ist, was die unmittelbare Evidenz lebensweltlicher Erfahrung überschreitet.258 Religionen leisten also gleich zweierlei: sie stellen ein in sich stimmiges übergeordnetes Sinnsystem dar, das nicht nur für Teilbereiche der menschlichen Gesellschaft gilt („einheitliche Sinnmatrix“ 259) und verbinden obendrein das Alltägliche und dessen Objektivationen und Erfahrungen mit dem Tranzendenten und dessen grundsätzlich nicht erfahrbaren und den daraus entstandenen Objektivationen. 257 Luckmann, S. 167-168 258 Hubert Knoblauch im Vorwort zu Luckmann 1991, S. 13 259 Luckmann, S. 93 166 3. Islamismus Auf eine ausführliche Darstellung des Phänomens Islamismus soll an dieser Stelle verzichtet werden. Die übrigen Beiträge dieses Bandes beschäftigen sich mit der Thematik sehr intensiv. Auch zu der Frage, ob und in wie weit überhaupt von dem Islamismus gesprochen werden könne, es vielmehr mehrere Islamismen gebe, nehme ich nicht weiter Stellung. Selbst wenn man unterschiedliche Ansätze, Strategien und Begründungen von je unterschiedlichen Islamismen (seien es salafistische, ulemaistische oder jihadistische Ansätze) berücksichtigt, lässt sich gleichwohl – soziologisch betrachtet – ein Grundbestand an Merkmalen erkennen, der es zulässig erscheinen lässt, von einem ganzheitlichen Phänomen Islamismus auszugehen: Es ist der Wunsch nach der (Wieder-) Herstellung einer islamischen gesellschaftlichen Ordnung, die sich nach grundsätzlich religiösen Prinzipien, wie z.B. die Schari’a, die Errichtung eines Kalifenamtes und der Unterwerfung unter Gottes Willen, ausrichten soll. Mit Islamismus soll mithin umschrieben werden: a) die Vorstellung oder der Wunsch nach einer Gesellschaftsordnung, die dann „gut“ ist, wenn sie sich nach islamischen Regeln vollzieht und b) dadurch ein Bemühen in Gang gesetzt wird, eine solche Gesellschaftsordnung zu realisieren, gleich, auf welche Weise dieses Bemühen erfolgt. Damit tun sich für eine soziologische Beschreibung vor dem Hintergrund der bisherigen theoretischen Überlegungen – und die folgende Beschreibung und Erklärung soll ebenfalls theoretisch und abstrakt, also nicht empirisch vorgenommen werden – gleich zwei Probleme auf: Die religionssoziologischen Ausführungen von Durkheim, Weber, Mead, Luckmann, Luhmann u.a. stützen sich im wesentlichen auf Religionen entweder einfacher Stammesreligionen (Durkheim am Beispiel australischer Ur-Einwohner) oder im Falle der Hochreligionen überwiegend auf die christliche, evtl. noch jüdische Religion260, so dass es methodologisch gesehen fraglich erscheinen mag, ob die dort angestellten Überlegungen auf den Islamismus übertragen werden können. Zum zweiten könnte problematisch sein, ob religionssoziologische Ausführungen zum Phänomen Islamismus 260 vgl. Luckmann, S. 62-63 167 nicht ins Leere zielen, da Islamisten – diese Auffassung wird in der Literatur vertreten – ihre Religion missbrauchten, um originär politische Ziele zu verfolgen. Dann wäre dies kein Thema für die Religions- sondern vielmehr für die politische Soziologie. Beide Einwürfe stellen sich aber im Verlauf der folgenden Betrachtung als nicht haltbar heraus: die Ausführungen von Durkheim u.a. sind qua soziologischer Definition des Begriffs Religion einerseits und dem Selbstverständnis des Islam als Religion andererseits auch auf den Islam anzuwenden, wenn auch zum Teil mit anderen Schlussfolgerungen. Und warum Islamisten eine Religion instrumentalisieren können (wenn dies überhaupt der Fall ist), ist nicht zuletzt auch auf die Struktur dieser Religion zurückzuführen und gerade deshalb aus religionssoziologischer Sicht interessant. Dass politische Intentionen eine erhebliche Rolle spielen, ist evident; aber die Basis dieser Forderung stellt gerade ein religiöses Sinnsystem dar. „Wer den Islamismus als bloßen „Missbrauch der Religion“ abtut und die Islamisten allein als Sprecher der Elenden und Unterdrückten wahrnimmt, macht es sich zu leicht“, schreibt Krämer.261 Gerade weil der Verweis auf die Transzendenz erfolgt und damit die Notwendigkeit begründet wird, eine solche Gesellschaftsordnung zu errichten, eröffnet dies die „Zuständigkeit“ der Religionssoziologie. 4.Soziologie des Islamismus Die eingangs erwähnten zentralen Vorgänge bei der Sozialisation sollen als Erklärungsschema für den Islamismus herangezogen werden: a) intersubjektive Sinnstiftung b) Objektivation c) Internalisierung d) Sozialisierung Zu a) Mit der Grundlage der Sinnfindung im interpersonalen Verkehr hat sich Schütz intensiv beschäftigt. „Der reflexive Blick, der sich einem abgelaufenen, entwordenen Erlebnis zuwendet und es so als ein von allen anderen Erlebnissen in der Dauer wohlunterschieden heraushebt, konstituiert dieses Erlebnis als sinnhaftes“262. Und weiter 261 Krämer, S. 15 262 Schütz, S. 95 168 schreibt er: „Wir sagen von unseren sinnvollen Erlebnissen E 1, E 2 ... E n, dass sie in einem sinnhaften Zusammenhang stehen, wenn sich diese Erlebnisse in polythetisch gegliederten Akten zu einer Synthesis höherer Ordnung konstituieren und wir auf sie in einem monothetischen Blickstrahl als auf eine konstituierte Einheit hinzublicken vermögen.“263 Sinn stellt im wesentlichen das Ergebnis eines Bewertungsprozesses dar, mit dem das Individuum Ereignisse erlebt und in einen Zusammenhang bringt. Die Konstitution dieses Zusammenhanges macht es zu einen sinnvollen Ereignis. Nach Luhmann werden Sinnformen als „religiös erlebt, wenn ihr Sinn zurückverweist auf die Einheit der Differenz von beobachtbar und unbeobachtbar und dafür (Hervorhebung durch Luhmann) eine Form findet“.264 Die intersubjektive Vermittlung des Sinns kann aber nur über Kommunikation erfolgen. Die Sinnvermittlung, deren sich der Islamismus bedient, besteht darin, dass Sinnvermittlung und Kommunikation auf zwei Wegen geschieht: die Forderung nach der Einführung der Schari’a als Grundlage der Gesellschaftsordnung leitet sich unmittelbar aus dem Transzendenten ab; die kommunikative Vermittlung vollzieht sich z.B. in der Moschee, im Koranunterricht usw. und nimmt dabei Bezug auf das Transzendente. Die Akzeptanz, oder anders ausgedrückt, die Überzeugung bei Gläubigen, dass diese Forderung berechtigt ist und tatsächlich die einzig richtige Gesellschaftsordnung darstellt, ist die Folge der Transmissionen, denen das Individuum kraft Tradition sich aussetzt, z.B. in Form von Koranunterricht und Erstellung von Rechtsgutachten. Damit wird das Beobachtbare, die direkte „Wirklichkeit“ mit dem Transzendenten verknüpft. Der Alltag wird in vielerlei Hinsicht immer wieder in Beziehung zum Transzendenten gebracht. Die Luhmann'sche Forderung nach der Einheit der Differenz zwischen beobachtbar und unbeobachtbar stellt sich im Islam gerade über diesen Doppelcharakter der „kirchlichen Organisation“ her: im Islam existiert keine „Amtskirche“, wie beispielsweise im Christentum. Hier leistet die Amtskirche die Vereinheitlichungsarbeit. Im Zusammenhang mit der Privatisierung der Religion sieht Luckmann es als zentrale Gefahr an, dass institutionelle Religionen sich von den typischen Routinen und Krisen der Laien entfernen 263 Schütz, S. 101 264 Luhmann, S. 35 169 können, weil sie sich vorrangig mit Angelegenheiten des heiligen Kosmos beschäftigen. Diese Entfernung gefährde, so Luckmann, „potentiell die Übereinstimmung zwischen dem Heiligen Kosmos der Sachverständigen auf der einen Seite und den Fragen, die für die Laien von großer, wenn nicht sogar 'letzter' Bedeutung sind, auf der anderen Seite“.265 Dieser Gefahr kann der Islam entgehen: Die Teilung der islamischen Institutionen – Moschee, Koranunterricht und Rechtsgutachten sowohl für den transzendenten als auch für den diesseitigen Part – umgeht nicht nur die Problematik, sondern sie bedient sich jener: der Islamismus stellt die Einheitlichkeit zwischen Beobachtbarem und Unbeobachtbarem genau auf diese Weise her; er bietet die Form an. So weist Brunner darauf hin, dass der Islam oft als Religion beschreiben werde, bei der der Gläubige ohne Priester oder Kirche unmittelbar vor Gott stehe. „Eine solche Charakterisierung ist allerdings unscharf, denn ohne Kontrolleure, die die Einhaltung der Normativität überwachen, ist selbstverständlich auch der Islam nicht ausgekommen“.266 Nicht zuletzt ist es eine Funktion des Islamismus, eine Intensivierung des Religiösen herzustellen. Dies könnte ein Grund dafür sein, warum sich ein islamischer Fundamentalismus als ungleich erfolgreicher erweist als andere Fundamentalismen. Das kommunikative Element der islamistischen Sinngebung ist vergleichsweise unkompliziert. Es vollzieht sich ebenfalls unter Bezugnahme auf die Transzendenz innerhalb der Moschee und – wesentlich verstärkter noch als früher – unter Bezugnahme auf das Diesseits via Massenmedien wie z.B. Radio, Fernsehen und Internet. Populäre Sendungen wie die eines Amr Khalid entsprechen dieser kommunikativen Funktion und vollenden die Luhmann'sche Form. Auf eine solche Weise vermittelt sich die gemeinsame Sinnstiftung. Die Verknüpfung zwischen Jenseits und Diesseits wird in gegenseitiger Abhängigkeit hergestellt: das Diesseits ist vom Jenseits abhängig, aber auch umgekehrt. Dies entspricht dem soziologisch grundlegenden Vorgang, wie Objektivationen entstehen und wie sie sich legitimieren. 265 Luckmann, S. 116 266 Brunner, S. 14 170 Zu b): In einem zweiten soziologischen Schritt müssen kommunikativ ausgehandelte Sinnstrukturen objektiviert werden, d.h. sie werden auf eine Ebene angehoben, die als grundsätzlich menschliches Erzeugnis einen „Allgemeinverbindlichkeitsmodus“ erhalten. „Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist nicht nur voll von Objektivationen, sie ist vielmehr nur wegen dieser Objektivationen wirklich“ schreiben Berger/Luckmann. 267 Die Objektivationen erfolgen auch bei religiösen Angelegenheiten nicht anders als bei weltlichen: sie erfüllen den Zweck, alltägliche Routinen zu integrieren und eventuelle Krisen dieser Routinen zu beheben. Allerdings beziehen die religiösen Angelegenheiten sich wesentlich stärker auf Transzendenzen. Müssen in der Alltagswirklichkeit Objektivationen einen starken Praxistest bestehen (ist das Rechtsfahrgebot tatsächlich routinisierbar und damit institutionalisierbar?), so verweisen religiöse Sinnstrukturen auf die Transzendenz. Nicht die unmittelbare, d.h. beobachtbare, sondern auf die mittelbare Alltagswirklichkeit wird Bezug genommen. So wirkt z.B. die Teilnahme an der Ostermesse auf die unmittelbare Wirklichkeit nicht unbedingt entlastend; auf die mittelbare aber sehr wohl. Dies bedeutet, dass die Entlastung nicht sofort, sondern sich erst zu einem späteren Zeitpunkt einstellen kann. Da dieser spätere Zeitpunkt sich aber dem Alltagsverstand nicht vollständig erschließt, bleiben Ungewissheiten, die – in Abhängigkeit vom Grad der Unvollständigkeit – Einfluss auf die Hierarchisierung der religiösen Sinnstruktur im Verhältnis zu anderen Sinnstrukturen haben. „Wie wirksam jedoch spezifisch religiöse Topoi das einzelne Bewusstsein formen und der Biographie des einzelnen Sinn zu geben vermögen, ist nicht abhängig von dem ausdrücklichen, historisch je veränderlichen Gehalt der Topoi, sondern von der Bedeutungshierarchie, die sich aus diesen Themen aufbaut.“ 268 Hieraus leitet sich die Vorgehensweise islamistischer Vordenker ab: sie stützen sich auf die Verankerung religiöser Überzeugungen und der damit verbundenen Hierarchisierung der religiösen Sinnstruktur. Die Transzendenzverweise erscheinen wesentlich plausibler als bei anderen Hochreligionen, bei denen die Privatisierung und damit einhergehend die Ausdifferenzierung bereits fortgeschrittener ist. Isla267 Berger/Luckmann, S. 37 268 Luckmann, S. 98 171 mistische Vordenker erklären den Alltag, seine Routinen und auftretende Krisen unter Bezugnahme auf Transzendentes und liefern auf diese Weise den Praxistest. Nicht umsonst bemühen Maududi, Qutb u.a. das Bild eines Vertrages, den Allah mit dem Gläubigen schließt: die Leistung Gottes erfolgt nur, wenn auch der Gläubige seine Leistung erbracht hat. Oder anders ausgedrückt: Wer nichts für die Sache Allahs unternimmt, muss davon ausgehen, dass auch Allah sich an seine Zusage nicht mehr gebunden fühlt. Hier erfolgt die Herstellung der Sinnstruktur in entscheidender Weise unter Bezugnahme auf die Zukunft. Sinn leitet sich aus dem Transzendenten ab (Einhaltung der Glaubenspflichten), berührt in einem kurzen „touch down“ das Beobachtbare (ehrbares Leben auf dieser Erde), um sofort wieder auf die Transzendenz zu verweisen (aber nur bei Einhaltung der Glaubenspflichten): Rückkehr zum Schöpfer, der den Gläubigen mit auserlesenen Wohltaten überhäufen wird. Hilfreich für den Islamismus ist in diesem Zusammenhang, dass recht frühzeitig auf die Heiligkeit verweisen werden kann. Heiligkeit kann man umschreiben mit demjenigen Bereich, der – so der Konsens der jeweiligen Gemeinschaft – nicht mehr hinterfragbar ist und auch nicht mehr hinterfragt wird. Jede Gesellschaft muss sich auf einen Grundbestand an nicht mehr Hinterfragbaren stützen. Es kann nicht jeden Tag alles auf Neue verhandelt werden. Das Heilige im Islam besteht im heiligen Buch: der Koran. Jede Gesellschaft setzt sich „Grenzen“, wo bestimmte Vorgänge und Objektivationen grundsätzlich nicht mehr hinterfragt werden können, ohne dass die Gesellschaft und mit ihr die Objektivationen aufs Spiel gesetzt würden. In einer muslimischen Gesellschaft ist eine dieser Grenzen der Koran. Er ist für Muslime geoffenbartes Wort Gottes. Ein Hinterfragen grenzt für weite Teile der muslimischen Welt an ein Tabu. So analysiert Küng, dass sich die Auffassung von einem ungeschaffenen und ewigen Koran durchgesetzt habe. „Jede Korankritik erscheint von vorneherein als Blasphemie“.269 Und: „Bei all den zahllosen Variablen in Raum und Zeit ist er im Islam die große Konstante.“ (Hervorhebung durch Küng)270 269 Küng, S. 624 - 625 270 Küng, S. 109 172 Zu c): Internalisierung bedeutet zunächst, die gegebenen Objektivationen kennen zulernen und sie in das individuelle Verhalten zu übernehmen. Die Alltagsroutinen, die vor meiner Zeit bereits geregelt wurden, betreffen zu einem großen Teil auch mein Leben; daher übernehme ich diese Objektivationen und füge sie zu einer Vorstellung über die Wirklichkeit als ein Deutungsmuster zusammen: es entsteht meine Weltansicht. Eine wesentliche Funktion der Weltansicht besteht darin, dass sie Stabilität vermitteln soll. Erst sie macht es möglich, dass ich als Individuum in der Gesellschaft überhaupt handlungsfähig werde. Eine immerwährende Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und ihren Regeln, die sie hervorgebracht hat, lässt mich buchstäblich zur Handlungsunfähigkeit erstarren. Das Individuum kann unmöglich alles hinterfragen. Gerät ein Individuum in eine instabile Situation, wird es versuchen, die Stabilität wieder her zu stellen. Dies kann auf zweierlei Weise erfolgen: entweder versucht es, die realen Einflüsse, die auf es wirken, zu verändern oder es versucht, die Sinn- und Erklärungsstruktur für diese Einflüsse zu korrigieren. „Bildet der Heilige Kosmos erst einmal eine andere Logik als 'die Welt' aus ...dann entstehen Spannungen zwischen der religiösen Erfahrung und den Verpflichtungen, die der Alltag fordert. So können neu entstandene, besondere religiöse Gemeinschaften von ihren Mitgliedern Treueverpflichtungen einfordern, die sie in Konflikt mit weltlichen Institutionen ... bringen.“ 271 Islamisten bedienen sich auf eine besondere Weise dieses Mittels: die Krisenhaftigkeit der unmittelbaren Wirklichkeit wird in die religiöse Sinnstruktur hineingenommen und damit erklärt. Die Krisenhaftigkeit ist auf die mangelnde Einhaltung der Objektivationen aus dem transzendenten Raum zurückzuführen. Wieder haben wir es mit einer logischen Kopplung der Objektivation aus dem grundsätzlich unbeobachtbaren mit dem beobachtbaren Bereich zu tun. Solange diese Sinnstruktur die Lebenswelt eines Individuums stabilisieren kann, wird es fortfahren, diese Sinnstruktur und Weltansicht zu internalisieren. Sie erklären die Art und Weise der Auseinandersetzung des Individuums mit der Gesellschaft und bilden somit die Identität des Individuums aus. „Wenn sie (gemeint sind Individuen, Anmerkung des Autors) diesen Vorstellungen 'naiv' (dieser Begriff ist nicht abwertend gemeint) (Einklammerung von Luckmann) an271 Luckmann, S. 106 173 hängen, so lösen sie das Problem der 'sinnvollen Eingliederung', indem sie die für sie unpassenden weltlichen Elemente des Problems aussparen. Offenbar führt diese Lösung jedoch zu weiteren Schwierigkeiten, im äußersten Fall sogar zur Unfähigkeit, nichtreligiöse Rollen verrichten zu können und zu einer Art 'Martyrium'. Häufiger hat diese 'naive' Einstellung jedoch einen teilweisen Rückzug aus der 'Welt' zur Folge ...“.272 Genau solche Phänomene sind innerhalb der islamistischen Strömungen zu erkennen; es sei – nur beispielhaft – an die sogenannten Takfiris erinnert. Zu d): Sozialisation beschreibt nun – als vorläufigen Abschluss – den Vorgang, den Individuen nach der Internalisierung immer wieder aufs Neue durchlaufen: die internalisierten Regeln im immer währenden gesellschaftlichen Alltag zur Anwendung bringen. Ein sozialisiertes Individuum hat die Summe der Regeln verinnerlicht (internalisiert) und muss sie im Umgang mit anderen „ausprobieren“. Dabei werden diese Regeln auf ihre Stimmigkeit immer wieder überprüft. Ist nun eine Person falsch „sozialisiert“ worden, hat sie falsche oder unvollständige Regeln mit auf den Weg bekommen, ist sie – für die Gesellschaft, in der sie sich bewegt – störend. Sie verhält sich nicht der Gesellschaft angemessen, sie wird im Extremfall anti-sozial. Im Regelfall bemerkt ein Individuum diesen Vorgang, und da es nicht in einem Zustand der anti-sozialen Beziehung verbleiben möchte (auf die Dauer sehr anstrengend) versucht es wiederum, sich anzupassen. Dies kann u.U. bedeuten, dass es die Regeln, die es bislang vermittelt bekommen hat, als unbedeutend erlebt und Regeln verändert. Eine andere Variante wäre beispielsweise, dass das Individuum zwar noch Regeln beibehält, diese auch anwendet, aber gleichsam nur noch symbolisch. Dies kann sich auch auf religiöse Regeln erstrecken. „Religiöse Riten (wie etwa der Besuch des Gottesdienstes) werden aus den unterschiedlichen nichtreligiösen Gründen verrichtet, und spezifisch religiöse Glaubensüberzeugungen werden zu bloßen Meinungen (wie etwa ‚Gott ist allmächtig’), die keinen unmittelbaren Bezug mehr auf die tatsächlichen Prioritäten im Alltagshandeln des einzelnen haben“273. Die inhaltliche Anwendung der religiösen Regeln steht in einem Zusammenhang mit der vermittelten Einsicht, dass die Anwendung der Regeln Auswir272 Luckmann, S. 126 273 Luckmann, S. 130 174 kungen inhaltlicher Art auf das Alltagshandeln haben. Ansonsten „verkommt“ Religion zur leeren Hülle. Auch in dieser Hinsicht nutzen Islamisten diesen Zusammenhang. Das breite Angebot sozialer Dienste im weitesten Sinne, sei es Krankenversorgung, im Erziehungssektor, Ferien- und Schulaufgabenbetreuung, Nahrungsmittelversorgung u.v.m., stellt genau diese Inhaltlichkeit her. Die Hilfegewährung wird als Folge auf die Bezugnahme auf die Transzendenz vermittelt und erhält damit den unmittelbaren Bezug. Aber dies stellt nur einen Aspekt innerhalb des Sozialisierungsvorganges dar. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass mit dieser Art sozialer Fürsorge einem anderen wichtigen Umstand Rechnung getragen wird: die zunehmende Ausdifferenzierung, d.h. die immer weiter führenden unterschiedlichen Arten von Weltansichten, die nicht zuletzt durch die zunehmenden Kommunikationsmöglichkeiten gefördert werden, führt zu einer Individualisierung. Diese kann zwar immer noch religiös beeinflusst sein, beinhaltet aber die Gefahr, dass der „... einzelne unter ‚Religion’ die Erfüllung ganz besonderer (Hervorhebung durch Luckmann) Anforderungen....“274 versteht. Und genau hierin sieht Luhmann die für Religionen sich ergebenen Chancen: „Es gibt eine lange Tradition der Fürsorge für die Armen“.275 Die je spezifischen Erwartungen können über diesen Umweg erfüllt und einer überbordenden Individualisierung entgegengewirkt werden. Und noch ein dritter Aspekt ist im Zuge der Sozialisation bedeutsam: die Verbindung des Bezuges auf die Transzendenz und deren Bedeutung auf den Alltag wird auf eine weitere besondere Weise hergestellt: Nur wer die Regeln der Transzendenz genau einhält, wird in die Gemeinschaft aufgenommen und hat damit erst Anspruch auf die Prioritäten des Alltags. Anders ausgedrückt: die Regeln des Alltags funktionieren deshalb nicht mehr, weil die Regeln der Transzendenz nicht beachtet werden. Dies stellt für Muslime unter Umständen ein Disziplinierungsmittel dar: die Gesellschaft droht mit Exklusion. „Das muss, wird man als Soziologe vermuten dürfen, zu einer Intensivierung der Glaubensanforderungen führen und damit auch zu einer Verschärfung der Differenz von Inklusion und Exklusi- 274 Luckmann, S. 114/115 275 Luhmann, S. 305 175 on, von Rechtgläubigen und Häretikern oder gar Ungläubigen.“276 Liegt die mögliche Bestrafung für solch „falsches“ Verhalten nicht nur im Dies- sondern auch im Jenseits, wird die Angelegenheit für den Betroffenen riskant. Schlussbetrachtung Religionen müssen sich ständig einem „Praxistest“ unterwerfen. Man muss davon ausgehen, „...dass eine Funktion für das Gesellschaftssystem erfüllt werden muss, weil andernfalls die Reproduktionswahrscheinlichkeit ...abnimmt.“277 Diese Funktion besitzt der Islamismus zur Zeit in nicht unerheblicher Weise. Sie besteht im wesentlichen darin, Sinnstrukturen zu liefern für die Relevanzen dieser Welt. Es kommt – um es an dieser Stelle nochmals ausdrücklich zu betonen – nicht darauf an, dass die Herstellung dieser Sinnstrukturen gleichsam objektiv überprüfbar ist. Es kommt einzig und allein auf den Umstand an, dass die Sinnstrukturen objektiviert werden. Wenn sie einmal objektiviert sind, werden sie auch real. Es kommt nicht darauf an, was richtig ist: dass ein Tsunami Strafe Gottes istoder Folge eines zeitlich gesehen zufälligen tektonischen Ereignisses. Wenn er als Strafe Gottes objektiviert wird, ist er als solcher, und zwar nur als solcher, real. Islamismus als Bewegung gesehen, die auf ein System einer alleinigen Weltansicht rekurriert und dabei intensiv Bezüge zum Transzendenten herstellt, kann – der neueren soziologischen Debatte folgend – als Versuch gewertet werden, das Deutungsmonopol, das auch anderen Sinnsystemen abhanden zu kommen droht, wieder zurück zu erobern. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass dieser Versuch auf Resonanz stößt. Die zunehmende Ausdifferenzierung der Welt und die damit verbundene Orientierungslosigkeit scheint den Wunsch nach einer einheitlichen und zusammenführenden Deutung freizusetzen. Das vom Islamismus angebotene Deutungsmuster, die Religion wieder ernst zu nehmen und die Regeln zu befolgen, sich auch für die Religion wieder einzusetzen, nicht bloße „Lippenbekenntnisse“ abzugeben, um damit als Ziel eine Verbesserung der Verhältnisse herstellen zu können (so entsprechende Argumentationslinien von Maududi und Qutb), also unter Bezugnahme auf die Transzendenz – oder besser noch unter zu Hilfenahme der Transzendenz – das Diesseits zu verändern, entspricht in seiner 276 Luhmann, S. 276-277 277 Luhmann, S. 309 176 Form genau dem soziologischen Kreislauf von der Herstellung von Sinnhaftigkeit, Objektivation, Internalisierung und Sozialisation und deren ständiger Reproduktion. Auf die Argumentation Luhmanns eingehend könnte man sagen, dass der Islamismus den Versuch darstellt, die unsichtbare Religion wieder sichtbar zu machen. So hält Luhmann das Phänomen des religiösen Fundamentalismus für ein Reaktion der Religionssysteme auf die „Globalisierung“ der modernen Welt, wenn es auch an theoretisch fundierten Formulierungen hierzu fehle.278 Sollte diese Auffassung zutreffend sein, so darf in einer weiterführenden Überlegung vermutet werden, dass religiöser Fundamentalismus seinen Höhepunkt noch nicht überschritten haben kann. Denn der Prozess der Globalisierung wird allem Anschein nach zumindest andauern, wenn nicht sogar sich beschleunigen. Problematisch bleibt in diesem Zusammenhang die empirische Forschung zu dieser Frage. Überwiegend quantitativ betriebene Forschung scheint diesbezüglich an Grenzen zu stoßen.279 Luckmann kritisiert in der neueren Religionssoziologie die bislang angewandte Technik der Meinungsforschung für bisweilen laienhaft und fordert die Einbeziehung des „Glaubens“ in entsprechende Untersuchungen280. Diese müssten wesentlich stärker als bislang die subjektive Bedeutung für den Einzelnen berücksichtigen. Theoretische Überlegungen hierzu liegen in Ansätzen bereits vor.281 Nicht unerheblich erscheint mir in diesem Zusammenhang der Umstand, dass innerhalb der muslimischen Welt im allgemeinen und im islamistischen Denken im besonderen die Trennung in die beiden Bereiche Objektivationen und Transzendentes nicht eindeutig ausfällt. Sie scheinen zu verschmelzen und mithin den soziologischen Kreislauf zumindest in dieser Hinsicht zu vereinfachen. „In der Ethnologie hat es sich eingebürgert, von der Gesamtheit der Vorstellungen, die ein Volk über die grundlegende Konstruktion der Welt hat, als seiner Weltanschauung zu sprechen. Seinen allgemeinen Lebensstil, die Art und Weise, in der es Dinge tut und getan sehen möchte, nennen wir gewöhnlich sein Ethos. Die Funktion religiöser 278 Luhmann, S. 315/316 279 vgl. z.B. Wilamowitz-Moellendorff/Worbs u. Heckmann 280 Luckmann, S. 54 281 vgl. Heckmann 177 Symbole ist es nun, diese so miteinander zu verbinden, dass sie sich gegenseitig bestärken.“ 282 Folgt man dieser Argumentation, erschließt sich, warum gerade das islamische Modell so erfolgreich verläuft. Aus diesem Grund muss daher in einem wesentlichen Punkt der derzeitigen Religionssoziologie widersprochen werden: Luhmann glaubt, dass die Selbstbeschreibung der modernen Religion sich auf neue Formen einlassen müsse. „Es genügt nicht mehr, das System/Umwelt-Verhältnis mit einem positiv/negativ-Schematismus zu beschreiben und die Umwelt als Abweichung von dem aufzufassen, was eigentlich (und auch im Sinne Gottes) zu verlangen wäre.283 Aber genau hierauf zielt der Islamismus – in dieser Hinsicht eine fundamentalistische Bewegung – ab: nicht die Regeln müssen an die Gegebenheiten der Welt, sondern die Welt muss an die Regeln angepasst werden. Religiös ausgedrückt: die alltägliche Wirklichkeit hat sich den Regeln, die in der Transzendenz entstanden sind, zu unterwerfen. Dies lässt aber unberücksichtigt, dass Regeln auch in der Wirklichkeit entstehen und zu Objektivationen werden. Spätestens an dieser Stelle gerät die muslimische Welt in ein Dilemma: den transzendenten Regeln wird Priorität eingeräumt, so dass eine Umwelt nur noch als Abweichung hiervon zu begreifen ist. Luhmann vertritt die Auffassung, dass für die Gesellschaft nur zählt, was im rekursiven Netzwerk der Reproduktion von Kommunikation durch Kommunikation geschieht. „Kommunikation kann nicht wahrnehmen und ist allein deshalb schon auf hohe Schlüssigkeit der Sinnzusammenhänge angewiesen“284 Wenn der Sinnzusammenhang genau in dieser Frage der Anwendung der Regeln auf die Welt als richtig „erkannt“ wird, scheint genau diese alleinige positiv/negativ-Beschreibung eben doch eine gewisse Relevanz zu entfalten und dann hätte auch der Islamismus als „Formenschatz der Religion und in der Rede von ‚Heil’ und ‚Erlösung’“285 weiterhin eine reale Chance. 282 Geertz, S. 141 283 Luhmann, S. 324 284 Luhmann, S. 140 285 Luhmann, S. 340 178 Literaturübersicht Abels, Heinz; Stenger, Horst: Grundkurs Soziologie 1984 Fernuniversität Hagen Kurs Nr. 3185, unveröffentlichtes Studienmaterial AG Soziologie: Denkweisen und Grundbegriffe der Soziologie Eine Einführung 1992 Campus-Verlag Frankfurt/M. 10. Auflage Albrecht, Günter: Soziologiegeschichte Die Zeit der Riesen: Simmel, Durkheim, Weber 1987 Fernuniversität Hagen Kurs Nr. 3610, Kurseinheit 2 Emile Durkheim, unveröffentlichtes Studienmaterial Berger, Peter L.; Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit – Eine Theorie der Wissenssoziologie 1991 Verlag Fischer Frankfurt/M. Brunner, Rainer: Zwischen Laizismus und Schari’a; Muslime in Europa in: „Aus Politik und Zeitgeschichte“, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ 20/2005 vom 15. 5. 2005, S. 8 - 15 Dahme, Heinz Jürgen: Soziologiegeschichte Die Zeit der Riesen: Simmel, Durkheim, Weber 1987 Fernuniversität Hagen Kurs Nr. 3610, Kurseinheit 1 Georg Simmel, unveröffentlichtes Studienmaterial Freud, Sigmund: Totem und Tabu 1996 Fischer-Verlag Frankfurt/M. Geertz, Clifford: Religiöse Entwicklungen im Islam – Beobachtet in Marokko und Indonesien 1991 Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns 1987 Suhrkamp Verlag Frankfurt/M. Heckmann, Friedrich: Islamische Milieus: Rekrutierungsfelder für islamistische Organisationen? In: Extremismus in Deutschland - Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme – aus der Reihe Texte zur inneren Sicherheit, hrsg. vom Bundesministerium des Innern; Juni 2004, S. 273-290 Joas, Hans: Lehrbuch der Soziologie 2001 Campus Verlag Frankfurt/M. Küng, Hans: Der Islam – Geschichte, Gegenwart, Zukunft 2004 Piper-Verlag München Krämer, Gudrun: Islam und Islamismus – Auf der Suche nach Einheit, Stärke und Gerechtigkeit in: Weltreligion Islam hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung 2002 Bonn 179 Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion 1991 Suhrkamp Frankfurt/M. Lücke, Hanna: ‚Islamischer Fundamentalismus’ – Rückfall ins Mittelalter oder Wegbereiter der Moderne? Die Stellungnahme der Forschung 1993 Verlag Schwarz Berlin Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft 2002 Suhrkamp Frankfurt/M. Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft 1968 Suhrkamp Frankfurt/M. Riesman, David: Die einsame Masse 1958 Rowohlt-Verlag Reinbek b. Hamburg Schmidt, Gert: Soziologiegeschichte Die Zeit der Riesen: Simmel, Durkheim, Weber 1987 Fernuniversität Hagen Kurs Nr. 3610, Kurseinheit 3 Max Weber, unveröffentlichtes Studienmaterial Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt – Eine Einleitung in die verstehende Soziologie 1991 Suhrkamp Frankfurt/M. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Projekt Zuwanderung und Integration Türken in Deutschland – Einstellungen zu Staat und Gesellschaft – Arbeitspapier der Konrad Adenauer Stiftung e.V. St. Augustin, Nr. 53/2001, Dezember 2001; im Rahmen desselben Projektes: Türken in Deutschland II – Individuelle Perspektiven und Problemlagen – Nr. 60, Februar 2002 Worbs, Susanne; Heckmann, Friedrich: Islam in Deutschland: Aufarbeitung des gegenwärtigen Forschungsstandes und Auswertung eines Datensatzes zur zweiten Migrantengeneration in: Islamismus aus der Reihe Texte zur inneren Sicherheit, hrsg. vom Bundesministerium des Innern; 2. Auflage 2004; S. 133-220 180 Autorenverzeichnis Breuer, Rita, Dr. phil., Studium der Islamwissenschaften (Arabisch, Türkisch, Persisch) und der Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg, 1991-2002 hauptamtliche Tätigkeit in der internationalen kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit, nebenberufliche Publikations- und Vortragstätigkeit, seit 2002 Referatsleiterin im Bundesamt für Verfassungsschutz Feindt-Riggers, Nils, Studium der Islamwissenschaft und Geschichte an der Universität Hamburg; Magister Artium (M.A.); 1994 – 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Orient-Institut Hamburg (Schwerpunkte: Islamismus und islamische Organisationsformen in Deutschland und Europa), 2001-2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im nordrhein-westfälischen Innenministerium; seit 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Innenministerium Schleswig Holstein Puschnerat, Tânia, Dr. phil. habil.; Studium der Germanistik, Geschichte und Philosophie/Pädagogik, Promotion 1991, Habilitation 2000, Referatsleiterin im Bundesamt für Verfassungsschutz, Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Soziale Bewegungen an der Ruhr Universität Bochum Schwan, Siegfried, Studium der Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft, Soziologie und Psychologie sozialer Prozesse), der Psychologie und der Rechtswissenschaften; Magister Artium (M.A.); Diplom-Verwaltungswirt (FH); Lehrbeauftragter an der Fachhochschule des Bundes Fachbereich Öffentliche Sicherheit 181