Diese Materialien sind eine Ergänzung zu euren eigenen Mitschriften und kein Skriptum. Diese Nachlese ist kein Ersatz für eure Mitschriften, sondern lediglich ein Zusatz! Es handelt sich um ein Protokoll mündlicher Rede und ist außerhalb der VO Politische Theorien nicht zitationsfähig. Zweiter Teil der 5. Vorlesungseinheit (teilw. Vorgriff auf den 30. Nov. 2006) Ideologie und Ideologiekritik im 20. Jahrhundert Ideologiekritik und Wissenssoziologie Wesentlich für die 'klassische', gesellschaftstheoretische Version ist die dezidiert negative Konnotation des Ideologiebegriffs sowie die dialektische Betrachtung des Ideologischen in seinem Verhältnis zu materiellen Fundierungen: soziale und politische Ideen werden also in Bezug zu den gesellschaftlichen Produktions- und politischen Herrschaftsverhältnissen gelesen, analysiert und kritisiert. Ideologiekritik als Methode spürt also der Nicht-Angemessenheit von Ideen in Bezug auf die materiellen (insbesondere ökonomischen) Verhältnisse nach. Bewusstsein ist "falsch", wenn oder weil es a: die realen ökonomischen Verhältnisse (die Basis, den Unterbau) einseitig/ verzerrt/ verkehrt darstellt und dabei b: die realen Herrschaftsverhältnisse verschleiert/ entnennt. Nun zur Konzeptualisierung von Ideologie im 20. Jahrhundert. Ein wichtiger Text zum Ideologieproblem aus der Sicht nicht-marxistischer Wissenschaft stammt von Karl Mannheim: "Ideologie und Utopie" (Mannheim 1929/1952). Karl Mannheim: Wissenssoziologe österreichisch-ungarischer Herkunft, geboren 1893 in Budapest, verstorben 1947 in London. Nach der Niederschlagung der ungarischen Räterepublik 1919: Emigration über Wien 1920 nach Deutschland: Freiburg und Heidelberg, 1926 Habilitation bei Alfred Weber in Heidelberg über "Altkonservativismus" (publiziert als "Konservativismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens"). 1930-1933 Ordentlicher Professor der Soziologie und Nationalökonomie und Institutsvorstand an der Universität Frankfurt am Main. Enge Zusammenarbeit mit seinem Assistenten Norbert Elias (1897-1990). Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten 1933 aus "rassischen" Gründen entlassen. Emigration in die Niederlande und noch im selben Jahr nach Großbritannien. 1933-1945 außerplanmäßiger, aus Mitteln für exilierte Forscher finanzierter Lektor in Soziologie an der London School of Economics and Political Science, sowie 1941-1945 Lektor am Institut für Erziehungswissenschaft, 1945-1947 Professor und Vorstand am Institut für Erziehungswissenschaft. Die theoretisch höchst kontroverse Entstehungszeit der 1920er Jahre macht verständlich, warum in Mannheims Text sehr verschiedene Theorieströmungen eingingen: Mannheim hatte sich schon während seines Studiums mit den verschiedenen Schulen von Idealismus, Marxismus, Historismus und Lebensphilosophie vertraut gemacht. Er promovierte über Kants Erkenntnstheorie, lernte in Berlin Simmels, Troeltschs und Cassirers Denkansätze und in Paris Bergsons Denken kennen. In seiner Budapester Zeit gehörte er zum "Sonntagskreis" um Georg Lukács. -1- Mannheims Forschungen und theoretisch-politische Interessen drehten sich A: um die "Seinsverbundenheit" bzw. Situiertheit jeden Denkens 1 sowie B: um einen Beitrag zur Bewältigung der Krisensituation der 1920er Jahre: er sah diese Zeit durch den Zusammenprall von Denkstilen gekennzeichnet, die jeder für sich ausschließliche Geltung beanspruchten und zugleich behaupteten, sich auf die genau gleiche Realität zu beziehen (Hofmann 1996, 84). Zentrale Frage in Mannheims "Ideologie und Utopie": "Wie kann der Mensch in einer Zeit, in der das Problem von Ideologie und Utopie radikal gestellt und zu Ende gedacht wird, überhaupt noch denken und leben?" (Mannheim 1952, 38) Nur Reflexion über die verschiedenen, teilweise inkompatiblen Denkstile und Weltbilder vermag aus den krisenhaften Erscheinungen der 1920er Jahre herauszuführen. Nur auf diese Weise lässt sich ein "neutraler" Standpunkt erarbeiten, von dem aus Wege aus der gesellschaftlichen Krise gefunden werden können. Mannheim rekonstruiert zunächst den Vorgang des Zerfalls des geschlossenen Weltbildes, wie es das christliche Mittelalter gekannt hatte. Damals konnten die verschiedenen Dimensionen menschlichen Lebens und Handelns integriert werden. Mit der Auflösung dieses geschlossenen Weltbildes entsteht laut Mannheim das Problem von Ideologie und Utopie2. Dies kommt auch in den Entwicklungsstufen des Ideologiebegriffs zum Ausdruck. Politik erschien Mannheim als variabler Mix zwischen regelgeleitetem rationalem und (kreativ)-irrationalem Handeln. Mannheim war an den Bedingungen der Steigerung rationalen politischen Handelns interessiert. Es ging ihm um Möglichkeiten der Orientierung, weshalb ihn besonders die Möglichkeiten rationaler Wissenschaft von der Politik beschäftigten. Im Konkreten untersucht Mannheim die wichtigen politischen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts (Spielarten des Konservativismus, bürgerlich-demokratische Bewegungen, Sozialismus, Faschismus). Dabei interessiert ihn die besondere Gewichtung, die jeweils auf die – an sich komplementär gedachten – rationalen und irrationalen Aspekte gelegt wird. Z.B.: Bürokratischer Konservativismus: betrachtet Politik als eine bloße Funktion des Verwaltungshandelns. Konservativer Historismus: stark antirationalistisch, interpretiert die bestehende Ordnung als "organisch geworden", lehnt jede Kritik an der bestehenden Ordnung ab und rechtfertigt die bestehende Standesherrschaft (Adel, Bourgeoisie). Liberaldemokratisches bürgerliches Denken: gilt es Versuch, die politische Ordnung durch "Denken, Diskussion und Organisation" zu optimieren. Die sozialistisch-kommunistische Theorie wird von Mannheim als "Synthese zwischen Intuitionismus und extremem Rationalisierungswillen" dargestellt, "in keinem Augenblick darf ohne Theorie gehandelt werden; aber die aus der Lage entstehende Theorie befindet sich nicht mehr auf derselben Ebene als die vorangehende" (Mannheim 1952, 111). Der Faschismus reagiert auf die Unsicherheiten der Moderne mit 1 Diese Feststellung brachte ihm u.a. antisemitisch motivierte Kritiken ein, z.B. vom Romanisten Ernst Robert Curtius (vgl. Hofmann 1996). 2 "Mannheim unterscheidet das ideologische Denken der herrschenden Gruppen als erstarrte, partiell blinde Wahrnehmungsweise von Wirklichkeit von einem veränderungsfähigen utopischen Denken." (Nohlen, Band 7, 260) -2- extremem Irrationalismus, er leugnet jede rationale Dimension der Politik, will mit einer 'großen Tat' die bestehende Ordnung überwinden, ist wissenschafts- und theoriefeindlich. – Eine Vermittlung der Standpunkte scheint Mannheim nicht möglich. Nur die Wissenssoziologie vermag auf Grund ihrer reflexiven Aufladung des politischen Prozesses zu einer Synthese beizutragen: "Consensus ex-post". Auf diese Weise eröffnet Wissenssoziologie Möglichkeiten zu rationalem politischem Handeln. Als Träger wurde die "sozial freischwebende Intelligenz" (Alfred Weber) ausgemacht. Sie soll "Wächter (...) sein in einer sonst allzu finsteren Nacht". Theodor W. Adorno merkte polemisch an, dass "die Wissenssoziologie von neuen akademischen Arbeitsgebieten träumt". Oder anders formuliert: "Die Wissenssoziologie richtet der obdachlosen Intelligenz Schulungslager ein, in denen sie lernen soll, sich selber zu vergessen" (Adorno 1955, 38 und 39). Der Ideologiebegriff ist in Mannheims Verständnis ein ganz spezieller "Praxisbegriff", der reale Situationen zu deuten verhelfen soll. Mannheim ging hierbei von der Möglichkeit aus, in der Moderne gegensätzliche Weltinterpretationen und Ordnungskonzepte auf vorreflexive, psychologische Dispositionen und soziale Positionierungen der jeweiligen Träger zurückführen zu können. Mannheim unterscheidet zwei Formen "falschen Bewusstseins": partikulare und totale Ideologie. Der partikulare Ideologiebegriff verbleibt auf der psychologischen Ebene: bestimmte Ideen und Vorstellungen eines einzelnen Subjekts werden als falsch bezeichnet, es handelt sich um interessengeleitete bewusste Lüge oder um Selbsttäuschung. Der totale Ideologiebegriff (Marx und Engels zugeschrieben) hingegen bezieht sich auf die gesamte Bewusstseinsstruktur einer Gruppe. Es wird unterstellt, dass der Gegner seine wahren Absichten verschleiert oder gar auf Grund seiner sozialen Herkunft unfähig sei, denkend die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen (Hofmann 1996, 91f). Die allgemeine Fassung des totalen Ideologiebegriffs vollzieht die radikale Universalisierung und damit vor allem die Selbstanwendung des Ideologieverdachts. Dies ist die eigentliche Geburtsstunde der Wissenssoziologie. Nicht nur die gegnerischen Standorte, sondern prinzipiell alle, also auch der eigenen Standort, werden als ideologisch gesehen (Mannheim 1952, 70). Auf dieser Stufe unterliegen selbst abstrakte Bewusstseinsformen, also auch die Wissenschaft, dem Ideologieverdacht. Es bietet sich kein Standpunkt mehr an, von dem aus noch partikulare Weltbilder vermittelt werden könnten, weil eine allgemeine Politisierung des Denkens um sich gegriffen hat. Die am politischen Prozess Beteiligten haben differente Welten im Sinn und ihr Denken rührt daher aus unvereinbaren Prämissen. An diesem Problemknoten setzte die Wissensoziologie an, indem sie Selbstreflexion gegen alle (und nicht nur gegen partikulare) Ideologiepositionen ins Treffen führt. Sie nimmt damit die Krise politischen Denkens in sich auf, spitzt sie weiter zu und weist so jeden Anspruch politischer Denkstile auf Totalität zurück. Aus einer distanzierteren Sicht kann man allerdings behaupten, so Mannheim, dass die jeweiligen Ideologien durchaus etwas von der Realität begreifen, eben dasjenige, was sie aus ihrer Perspektive begreifen können. Die keinem bestimmten Interesse (einer Klasse oder Schicht) verpflichtete Wissenssoziologie – bzw. ihre Akteure, die "freischwebenden -3- Intellektuellen" – sollte die unterschiedlichen Perspektiven in ständiger Selbstkritik zusammendenken können. Mannheims Ideologiekonzept löste große Kontroversen aus: Die einen denunzierten es als "materialistisch", die anderen benannten es als "bürgerliches Machwerk". Im Grunde bestand seine Absicht darin, zwischen den höchst kontroversen und inkompatiblen ideologischen Positionen der Weimarer Republik zu vermitteln. Mannheim vermochte zwar nicht schulenbildend zu wirken, er hatte und hat allerdings wesentliche Wirkungen sowohl auf die Theoretiker der Cambridge School (Pocock, Skinner) 3 als auch auf moderne Wissenschaftssoziologien (Edinburgh School) und feministische Standpunkt-Epistemologien (vgl. Singer 2005). Marxistische Ideologiekritik und Wissenssoziologie Mannheims unterscheiden sich vor allem darin, dass der von beiden benutzte Ideologiebegriff unterschiedliche Bedeutung hat: • Er besitzt in der ideologiekritischen Tradition eine vorwiegend pejorative, polemische Funktion, während er in wissenssoziologischen Ansätzen (Max Scheler, Karl Mannheim) einen neutralen, wertfreien Charakter annimmt. Theodor W. Adorno kommentierte diese Absicht folgendermaßen: "Die generalisierende Ordnung von Mannheims Begriffswelt ist in ihrer Neutralität der realen wohlgesinnt: sie bedient sich der sozialkritischen Termini und nimmt ihnen zugleich den Stachel" (Adorno 1955, 33). • Ideologiekritische Ansätze versuchen über den immanent-theoretischen Zusammenhang hinaus auch die konkret-historischen Bedingungen für die Entstehung ideologischer Bewusstseinsformen einzubeziehen. Ein solcher Zugang wäre der Wissenssoziologie einigermaßen fremd. Mannheim verallgemeinert vielmehr das Ideologieproblem auf alles menschliche Denken: Ideologiehaftigkeit wird als Wesensmerkmal der allgemeinen Tendenz menschlichen Denkens bestimmt. Anspruch auf (absolute) Wahrheit identifiziert Mannheim als Selbsttäuschung. Formen der Ideologiekritik Positivistische Ideologiekritik Nach 1945 gab es einen starken Trend gegen jede Art der Ideologisierung im Sinne einer umfassenden/totalen Weltanschauung. Der "kritische Rationalismus" wandte sich gegen die Ausweitung und Übertragung von wissenschaftlich oder sonst wie begründeten Teilaussagen auf die gesamte Lebenswelt (Karl R. Popper, Hans Albert). Die Skepsis gegenüber politischen Programmatiken nahm deutlich zu, so wurde das "Ende der Ideologien" (Edward Shils, Daniel Bell) beschworen. 3 "Auch wenn heute der englische Kontextualismus in die deutsche Ideengeschichtsschreibung eingeführt wird, als hätte Karl Mannheim nie gelebt", wie Wilhelm Hofmann kritisch anmerkt (Hofmann 1996, 8). -4- Positivistische Theoretiker reduzieren den Ideologiebegriff auf eine erkenntnistheoretische Kategorie und setzen Ideologie mit Realitätsverkennung gleich; sie sehen dabei die Ursache der Verkennung in der Verquickung von Wertvorstellungen mit Wirklichkeitsurteilen (Theodor Geiger): Ideologie hat eine negative Konnotation. Sie gilt als Mix aus Tatsachenaussagen und Werturteilen, wobei Tatsachenaussagen als beweisbar angenommen werden, Werturteile aber nicht. Ideologie sei somit nicht objektiv, sondern parteilich. Als wesentliches Kriterium für Ideologie wird daher auch ihr "Abweichen" von "wissenschaftlicher Objektivität" angegeben (Talcott Parsons). Die "ideologische Tätigkeit" – selbst wenn sie systematisch vorgehen sollte – ist anderer Natur als "wissenschaftliche Tätigkeit" (Edward Shils). Positivistische Theoretiker gehen dabei von den Prinzipien der Wertfreiheit und Neutralität der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus; davon, dass zwischen Fakten und Werten strikt getrennt werden könne; und dass WissenschaftlerInnen gegenüber ihren Objekten und ihrer eigenen Subjektivität eine Haltung der (absoluten) Distanziertheit einnehmen müssten, um Objektivität zu ermöglichen. Cultural Studies 1: Anti-positivistische Theorie über Wissenschaft und Ideologie Die Bezeichnung Cultural Studies umfasst ein sehr weites und heterogenes Gebiet kulturund sozialwissenschaftlicher Ansätze. Als einer der zentralen Autoren gilt Stuart Hall: Er und seine KollegInnen am "Centre for Contemporary Cultural Studies" (CCCS) in Birmingham verstehen Cultural Studies als engagiertes wissenschaftliches Wissen und als politische Intervention, als eine Theorie, die in wechselseitiger Verbindung zu den Individuen, Gruppen und Netzwerken der sozialen und kulturellen Emanzipation entwickelt werden soll. Cultural Studies sind an Ermächtigung/empowerment interessiert, Wissenschaft soll zu gerechteren, herrschaftsfreien gesellschaftlichen Verhältnissen beitragen. Allgemeines Ziel ist es, Theorie zu politisieren4 und Politik zu theoretisieren. Cultural Studies wenden sich also gegen ein positivistisch orientiertes Wissenschaftsverständnis, sie üben Kritik am positivistischen Verständnis von Objektivität. Wissenschaft wird von konkreten Subjekten produziert, welche historisch, sozial, kulturell und ökonomisch situiert sind, dementsprechend ist auch das produzierte wissenschaftliche Wissen als situiert und kontextabhängig zu verstehen (die feministischen Wissenschaftstheoretikerinnen Sandra Harding und Donna Haraway entwickeln dafür den Begriff "situiertes Wissen"). Spezifische Erfahrungen, die jemand aufgrund seiner/ihrer gesellschaftlichen Situiertheit macht(e), sowie die (Selbst-)Positionierung in den asymmetrisch strukturierten Feldern einer Gesellschaft (Politik, Wissenschaft, Kultur, …) können 5 zu klareren Fragestellungen und 4 Genauer: Theorie reflektiert, explizit und emanzipatorisch zu politisieren – denn jede Theorie enthält notwendigerweise politische Aspekte, wenn auch oft verleugnet und implizit. 5 Selbstverständlich müssen sie dies nicht, es gibt keinerlei Automatismen. -5- Begriffsbildungen führen. Wissenschaftlichkeit und Parteilichkeit notwendigerweise ein Widerspruch (vgl. Singer 2005, 198f). sind also nicht Jürgen Ritsert unterscheidet diesbezüglich zwischen 'Bacons Theorem': (psychologisches und/oder gesellschaftliches) Interesse bewirkt notwendigerweise eine Verkehrung von Ideen – dies ist die positivistische Position –; und 'Horkheimers Theorem': Interesse (insbesondere dasjenige von Marginalisierten) fördert die Objektivität des Urteils eher als sie von vornherein zu untergaben – dies ist auch die Position der Cultural Studies (Ritsert 2002, 19f). In der Geschichte der Ideologienforschung vor Althusser lassen sich zwei Ideologiebegriffe und zwei Versionen von Ideologiekritik ausmachen: • Deskriptiver Ideologiebegriff: Stichwort "Weltanschauungsysteme" • Pejorativer Ideologiebegriff: Stichwort "falsches Bewusstsein" Dementsprechend sind auch zwei Versionen der Ideologiekritik zu identifizieren: • eine konservative und • eine radikal-aufklärerische Konservative Ideologiekritik geht davon aus, dass bestehende Herrschaftsordnungen um der allgemeinen Ruhe und Sicherheit wegen erhalten bleiben müssen. Die Verbreitung der Wahrheit findet ihre Grenze an der "Staatsräson". Die Frage nach wahr und falsch tritt hinter der nach sozialer und politischer Nützlichkeit zurück. Die ideologiekritische Analyse dient letztlich der Rechtfertigung der Ideologien zum Zwecke der Aufrechterhaltung von Herrschaft und staatlicher Ordnung. Diese ideologiekritische Tradition stellte sich bewusst auf die Seite der jeweiligen Staatsmacht (Machiavelli, Hobbes, Burke, Schopenhauer, Nietzsche, Pareto, Sorel u.a.). Ihnen ist auch ein Moment an "Geistverachtung" eigen, die sich in Krisenzeiten bis zur Verfolgung von Intellektuellen steigern kann. Die Verachtung des Denkens und der Denker ist aber nicht erst ein Merkmal totalitärer Regime des 20. Jahrhunderts: Ein berühmtes Exempel hierfür ist die Verfemung der "Ideologenschule" durch Napoelon Bonaparte: Jene Theoretiker, die ihm nicht behilflich schienen, seine autokratische Macht abzustützen, diffamierte er als "unpraktische Schwarmgeister". Er lehnte die Programmatik der "Ideologenschule" als überzogene, praxisferne und untaugliche Spekulation ab. Kritik am Modus der Ausübung staatlicher Macht gefährdete Napoleons Ansehen in den Augen der Untergebenen. Daher nannte er Intellektuelle, die kritische Ideen verbreiteten, "Ideologen". Ihre Berufung auf Wahrheit und Recht sah er als Ausgeburt weltfremder Phantasien an, die den Erfordernissen sog. "Realpolitik" zuwiderlaufen. -6- Seit dieser Zeit benutzen Herrschende aller Art den Ideologiebegriff als Kampfbegriff in einem pejorativen Sinne zur Kennzeichnung eines unbegründeten, auf Spekulationen aufbauenden Hangs zur Vervollkommnung der Gesellschaft ohne reale Bezüge. Sinngemäß machte Adolf Hitler 1923 in einer Rede "Ideologen, Verbrecher und Banditen" für die Novemberrevolution 1918 verantwortlich. Die aufklärerische Form der Ideologiekritik bezieht den sozialen Lebenszusammenhang mit ein. Daher mündet sie auch in eine systematische Analyse jener gesellschaftlichen Prozesse, die für das Zustandekommen der ideologischen Gebilde relevant sind. Die aufklärerische Ideologiekritik beruht auf einem historischen Verständnis von Ideologien. Neuere Ideologietheorien Die einflussreiche neuere Ideologietheorie des französischen marxistischen Philosophen Louis ALTHUSSER (1918-1990) versucht, durch eine Verknüpfung der Theorien Baruch Spinozas, Gaston Bachelards, Jacques Lacans und Antonio Gramscis mit denen von Karl Marx eine zeitgemäße undogmatische Form des Marxismus zu entwickeln. Für Althusser stellt Ideologie die Repräsentation der imaginären (vorgestellten) Beziehung der Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen dar (Althusser 1977). Ideologie, so seine Grundthese, ist nicht in erster Linie Bewusstsein, sondern materielle Praxis, situiert in "ideologischen Staatsapparaten". Eine Ideologie existiert immer im Habitus, in Praxisformen, in Ritualen sowie in einem Apparat (dies können auch nicht-staatliche Organisationen und Initiativen sein) und dessen Praxen. Dies nennt Althusser die "materielle Existenz" der Ideologie. Althussers konzeptueller Ansatz bedeutet eine Korrektur der Positionen, welche Ideologie nur als "falsches Bewusstsein" fassen. Er hat rein rationalistischen Ideologietheorien den "Todesstoß" versetzt, die behaupten, Ideologie sei einfach eine Ansammlung verzerrter Realitätsbeschreibungen und empirisch falscher Aussagen.6 Um die Komplexität der Althusserschen Ideologietheorie angemessen darstellen und analysieren zu können, ist eine Unterscheidung in (zumindest) drei Aspekte von Ideologie sinnvoll. 1: Ideologie ('im allgemeinen') ist ein konstitutiver Mechanismus jeder Subjektivierung von Individuen. Dieser Mechanismus kann nicht für sich alleine und abstrakt existieren, sondern es gibt ihn nur in konkreten ideologischen Verhältnissen (vgl. analog: 'Produktion im allgemeinen' – konkrete Produktionsverhältnisse). Nach Louis Althusser ist Ideologie eine bestimmte Organisation sinngebender Praxis, die den Menschen als gesellschaftliches Subjekt überhaupt erst konstituiert. Die Wirkungsweise der Ideologie beschreibt Althusser in Anlehnung an Jacques Lacans 6 Das einzig Gemeinsame der bisherigen divergierenden marxistischen Versionen von Ideologiekritik (mit Ausnahme von Antonio Gramsci) war, dass Ideologie als eine – gesellschaftlich bedingte – Form des Bewusstseins angesehen wird. -7- linguistische Psychoanalyse als Konstitution von Subjektivität durch die "Anrufung" der Individuen durch imaginäre "große Subjekte": z.B. Gott, die Nation, die Partei. Althusser betrachtet die Ideologie als ein aktives, produktives Element; durch sie werden "Subjekte" (*) überhaupt erst konstituiert. 2: Ideologie ist das gelebte imaginäre und reale Verhältnis der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zu ihren Existenzbedingungen; 3: relativ autonome "Ideologische Staatsapparate" 7 (Medien, Schule, Sport, Kirche, Verbände, Familie, …) tragen durch die spezifische 'Anrufung' der Individuen bei zur Reproduktion einer Gesellschaftsformation (insbesondere der Produktionsverhältnisse) und sind zugleich Schauplatz und Ergebnis der Auseinandersetzungen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Diese Unterscheidung ist wichtig, da eine Vermengung der einzelnen Aspekte zu problematischen Missverständnissen führen kann. Z.B. trifft die Feststellung der prinzipiellen Unaufhebbarkeit (von Ideologie) zwar auf den Aspekt der 'Ideologie im allgemeinen' und der 'Ideologie als gelebtem Verhältnis zu den Existenzbedingungen' zu: d.h. Individuen werden in jeder möglichen Gesellschaftsformation "als Subjekte angerufen", und jedes Individuum stellt sich sein Verhältnis zu den ökonomischen und politischen Verhältnissen in einer bestimmten Weise vor und lebt diese Vorstellungen in seinen Handlungen und Verhaltensweisen. Jedoch sind alle konkreten ideologischen Inhalte so wie ihre Materialisierung in gesellschaftlichen Institutionen ("Apparaten") und Organisationen geschichtlich und gesellschaftlich veränderbar: so ist Althusser davon überzeugt, dass Klassenideologien, Sexismen, Rassismen u. dgl. sowohl überwunden werden könnten als auch sollten. Die Ideologie ist es, die den Menschen ein Verständnis von sich selbst und ein (verkennendes) "Wiedererkennen" in den gesellschaftlichen Verhältnissen vermittelt. Die Erhebung des Menschen zum freien, verantwortlichen, Zwecke verfolgenden, sich in den Verhältnissen wieder erkennenden und seine Handlungen als "sinnvoll" wissenden "Subjekt" ist immer auch ein Akt der "Unterwerfung" unter Normen im Medium der Ideologie (dabei sind nicht ausschließlich herrschaftsstabilisierende Normen gemeint). * (zu Punkt 1): "Wir erleben Ideologie, als ob sie frei und spontan in uns entstehe, als ob wir ihre freien Subjekte wären […]. Tatächlich aber werden wir gesprochen und wird für uns gesprochen, durch die ideologischen Diskurse, die uns bereits bei der Geburt erwarten" (Hall 2004, 59). Ideologie hat bei Althusser auch die Funktion, die Menschen dazu zu veranlassen, ihr Handeln, das real zahlreichen gesellschaftlichen Determinanten unterliegt, als "frei", "autonom" gestaltet und sinnvoll zu verstehen. Althusser spielt dabei mit der doppelten Bedeutung von "Subjekt": Einerseits 'Subjekt' als unterworfenes Wesen (z.B. dem Staat untergeordnete StaatsbürgerInnen), andrerseits als autonomes und freies Wesen. Althussers Ideologietheorie ist also auch ein Versuch, die Spannung zu denken, dass jedes Individuum in seinen Denkweisen, Emotionen, Handlungen und Haltungen gesellschaftlich positioniert und produziert ist und zugleich relativ eigenständig und verantwortlich handeln kann. 7 Der "juristisch-politische und ideologische Überbau" (Althusser 1977, 123). -8- Ideologie ist subjektzentriert. Die Ideologie ist eben nicht eine verkehrte, illusionäre Repräsentation der wirklichen Verhältnisse, sondern sie repräsentiert das imaginäre Verhältnis der Menschen zu ihren Existenzbedingungen, das ein aktives Element der Verhältnisse selbst ist. Ideologische Äußerungen müssen daher als Ausdruck der Einstellungen zur Welt dechiffriert werden (Eagleton 1993). Althussers ideologietheoretischer Ansatz ist zugleich einer der Staatstheorie: ideologischen Staatsapparate sind wesentlich für die Reproduktion Produktionsverhältnisse. Die der Cultural Studies 2: Kritische Weiterentwicklung der Ideologietheorie Althussers Althussers Ideologietheorie wurde insbesondere im Bereich der Cultural Studies rezipiert. Der Beginn der "Cultural Studies" liegt in den Arbeiten von Raymond Williams, Richard Hoggart, E.P. Thompson und Stuart Hall. Die Cultural Studies traten an, die disziplinären Grenzen eines traditionellen Bildungssystems aufzubrechen und die Konzeption von Kultur zu demokratisieren, z.B. die elitäre Gegenüberstellung von sog. 'Hochkultur' und sog. 'Massenkultur' zu unterminieren. Kultur wird umfassend verstanden als Feld der Auseinandersetzung um politisch-gesellschaftlich wirksame Produktionen von (ideologischen) Bedeutungen, als Ort und Mittel der Grenzziehung und Bildung von 'Differenzen', der Inklusion und Exklusion. Bedeutungsproduktion ist immer mit Macht- und Herrschaftsstrategien verknüpft, es ist also stets zu fragen, welche sozialen Kräfte welche Bedeutungen reproduzieren bzw. verändern wollen. Eine zentrale politisch-ideologietheoretische Fragestellung der Cultural Studies ist die nach Politiken bzw. Regimen der Repräsentation: wer wird in welchen Medien und Diskursen mit welchen Mitteln in welchem Interesse wie dargestellt (z.B. in Halls Analyse des Thatcherismus: mit welchen ideologischen Mitteln und mit welcher politischen Wirkung werden bestimmte Gruppen als 'gefährlich' konstruiert und dabei zugleich die angebliche Notwendigkeit einer Law-and-Order-Politik suggeriert). Ein "Repräsentationsregime" ist das "gesamte Repertoire an Bildern und visuellen Effekten, durch das 'Differenz' in einem beliebigen Moment repräsentiert wird" (Hall 2004, 115) – 'Differenzen' wie weiß/schwarz, männlich/weiblich, inländisch/ausländisch, vernünftig/emotional. Zentrale Begriffe der Cultural Studies sind "Popularkultur und Massenmedien", "Identität und Differenz", "Gender und Sexualität", "Ethnizität, "Antirassismus" (vgl. Hall 1994 und 2004). Dominierend dabei ist das Interesse, die ideologische Funktion von (keineswegs nur geschriebenen) Texten, Ideen, Vorstellungen, Symbolen, Medien und politischen Repräsentationsstrategien kritisch aufzudecken und die wirkenden Mechanismen zu analysieren. Durch die von Althusser eingeführten und von seinen Nachfolgern weiter entwickelten analytischen Strategien wurde das Problem der Repräsentation in den Medien ins Feld der semiotischen und diskursiven Analyse gerückt. -9- Die Erforschung konkreter Textpraktiken führt zu Zweifeln an der Vorstellung vom reflexiven Charakter der Kommunikationsmittel. Verworfen wird die Möglichkeit, die Medien als "Spiegelbild" der Realität darzustellen. Der Idee von der Durchsichtigkeit der Mediensprachen und der mit ihr verbundenen Konzeption von Objektivität ist die Ansicht über formierte, in den Medien vermittelte Repräsentationen der Realität gegenübergestellt. Der Diskurs verliert seine "Unschuld". Nach den Worten von Stuart Hall "kann die Realität nicht mehr einfach als eine Reihe von Tatsachen erörtert werden: Sie ist das Ergebnis der spezifischen Weise, die Realität zu konstruieren. Die Medien definieren, sie reproduzieren nicht einfach die "Realität". Die Definitionen der Realität werden aufrechterhalten und produziert vermittels linguistischer Praktiken. Doch Repräsentation unterscheidet sich wesentlich von Reflexion. Sie setzt aktive Arbeit an Selektion und Präsentation, an Strukturieren und Formen voraus: Nicht nur die Übertragung der bereits bestehenden Bedeutung, sondern die aktivere Arbeit daran, die Dinge etwas bedeuten zu lassen. Sie ist Praxis, Produktion von Bedeutungen: Sie ist das, was Hall später als Bedeutung-gebende Praxis definieren wird (Hall, 1995, 64). Auf diese Weise ist die Repräsentation mit Vorstellungen vom Text nicht als eine "Gegebenheit", sondern als soziales Produkt in Verbindung gebracht. Resümee Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Ideologiebegriff drei Dimensionen aufweist: • er dient zur Kennzeichnung politischer Denkströmungen und Programmatiken • er bezeichnet und enthüllt diverse Verzerrungen und Verschleierungen politischen Bewusstseins; in diesem Sinne gilt Ideologie als "falsches Bewusstsein", das es aufzudecken und dessen gesellschaftliche Bedingungen es zu analysieren gilt. Dies ist Gegenstand von Ideologiekritik (Marx, Kritische Theorie) • Ideologie als Praxis bzw. Mechanismus der Bildung von Subjekten, der Produktion von gesellschaftlich wirksamen Repräsentationen, Differenzen und Identifikationen (Althusser, Cultural Studies) Für den methodischen Umgang mit Texten spielt die Ideologiekritik folgende Rolle: - Die ideologiekritische Perspektive ist ein Aspekt umfassender Textanalyse. - Wissenschaftliche Ideologiekritik erschöpft sich nicht in pauschaler Abwertung von "Meinungen", "Weltbildern" usw.; vielmehr müssen die Verzerrungen, Verschleierungen, Essentialisierungen, Naturalisierungen sowie die Weisen der Konstruktion und Darstellung von Individuen und Gruppen sowie deren Stellung in einer Gesellschaft textanalytisch konkret herausgearbeitet werden. - 10 - Begriffe Partikularer Ideologiebegriff – totaler Ideologiebegriff Wissenssoziologie Deskriptiver Ideologiebegriff – pejorativer Ideologiebegriff Konservative Ideologiekritik – radikal-aufklärerische Ideologiekritik Althussers Ideologie-Theorie Ideologische Staatsapparate Positivistische Ideologiekonzeption Cultural Studies Ideologie und Repräsentation Literatur • Karl Mannheim (1929): Ideologie und Utopie. Frankfurt/Main, 3. vermehrte Aufl. 1952 • Wilhelm Hofmann (1996): Karl Mannheim zur Einführung. Hamburg • Theodor W. Adorno (1955): Das Bewusstsein der Wissenssoziologie, in: ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Gesammelte Schriften 10.2. Frankfurt/Main 1955, 31-46 • Kurt Lenk (1961): Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie. Frankfurt/Main, 4. Aufl. 1970 • Dieter Nohlen (Hg.) (1998): Lexikon der Politik. Band 7: Politische Begriffe. München • Louis Althusser (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate (Anmerkungen für eine Untersuchung). In: ders., Ideologie und ideologische Staatsapparate: Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg. 108-168 • Terry Eagleton (1993): Ideologie: eine Einführung. Stuttgart • Stuart Hall (1995): The rediscovery of 'ideology': return of the repressed in media studies. In M. Gurevitch et al. (Hg.): Culture, Society and the Media, London/ New York • Stuart Hall (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften Band 4. Hamburg • Stuart Hall (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften Band 2. Hamburg - 11 -