Leseprobe - Ferdinand Schöningh

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Klaus von Stosch, Ann-Christin Baumann (Hg.)
Ehe in Islam und Christentum
BEITRÄGE ZUR KOMPARATIVEN THEOLOGIE
HRSG. VON
KLAUS VON STOSCH
BD. 19
Klaus von Stosch, Ann-Christin Baumann (Hg.)
Ehe in Islam
und Christentum
FERDINAND SCHÖNINGH
Umschlagabbildung:
Anna Heiny, ohne Titel (2015)
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© 2016 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
Internet: www.schoeningh.de
Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany.
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-506-78255-7
Inhaltsverzeichnis
EINLEITUNG ..............................................................................................
7
I. Die Ehe im Spannungsfeld von Recht und Theologie
MUNA TATARI
Die Ehe – nur ein Vertrag? Eine islamisch-theologische Perspektive ........ 15
JOHANNES VON LÜPKE
Ehe als Gabe und Auftrag. Zum evangelischen Verständnis der Ehe ......... 31
THOMAS KNIEPS-PORT LE ROI
Die Ehe als Sakrament. Zum katholischen Verständnis der Ehe ................ 51
IDRIS NASSERY
Ehe es zu spät ist. Die Essentialia und Natur eines islamischen
Ehevertrags im Lichte deutscher Rechtsprechung ...................................... 67
II. Eheglück und Scheitern einer Ehe
KLAUS VON STOSCH
Christlicher Glaube als Rezept für eine glückliche Ehe? ............................ 85
MARKUS KNAPP
„… bis der Tod uns scheidet …?“ Die Unauflöslichkeit der Ehe nach
katholischem Verständnis ........................................................................... 105
SERDAR KURNAZ
Die Auflösbarkeit der Ehe in der muslimischen Tradition ......................... 121
HAMIDEH MOHAGHEGHI
Scheidung und Wiederheirat im Islam aus schiitischer Perspektive ........... 131
6
INHALTSVERZEICHNIS
III. Interreligiöse Paarbeziehungen
und theologische Bearbeitungen von Heterogenität
und Geschlechterdifferenz
FRANZISKA HUBER/EMMANUEL SCHWEIZER/STEFAN HUBER
Interreligiöse Paarbeziehungen im Fokus der empirischen
Religionsforschung. Der Forschungsstand im Überblick ........................... 147
TUBA ISIK
Muslim Femininity and Muslim Masculinitiy –
Geschlechterbilder im Umbruch ................................................................. 161
ANN-CHRISTIN BAUMANN
Differenz der Liebenden in der intimen Liebesbeziehung.
Impulse für eine Ehetheologie der Wertschätzung von Differenz
aus evangelischer Perspektive .................................................................... 179
Autorenverzeichnis ..................................................................................... 193
Verwendete Literatur in Auswahl ............................................................... 197
Weiterführende Literatur ............................................................................ 201
Personenregister .......................................................................................... 203
Einleitung
Die Lebensform der Ehe ist nach wie vor von großer Attraktivität – über alle
Religions- und Glaubensgrenzen hinweg. Auch wenn sie schon lange nicht
mehr die einzige Lebensform für partnerschaftliches Zusammenleben ist und
auch wenn in unserer Gesellschaft eine bunte Vielfalt alternativer Lebensformen gelebt wird, hat die Ehe kaum von ihrer sinnstiftenden und hoffnungsverheißenden Kraft eingebüßt. Offenkundig glauben noch viel mehr Menschen
an die Liebe als an Gott, und so finden sich viele junge Christen fast nur noch
zur Eheschließung in der Kirche wieder. Auch und gerade unter jungen Muslimen in Deutschland ist die Lebensform der Ehe von größter Bedeutung, und
so sind auch die Religionen in ihrem Setzen auf die Ehe geeint. Gerade die
allen vor Augen stehende Zerbrechlichkeit der Liebe und auch der Ehe erhöht
vielleicht sogar den Wunsch, sich durch den Segen Gottes in dieser wichtigen
Entscheidung stärken zu lassen. Die Sehnsucht nach Verlässlichkeit und Stabilität, die Hoffnung auf Treue und Beständigkeit, der Glaube an die wechselseitig gegebene Zusage: All das ist offenbar erfreulich oft stärker als die Skepsis
und Verzweiflung am Menschen. Allen Individualisierungs- und Pluralisierungsprozessen zum Trotz wählen immer noch viele junge Menschen die Ehe
als ihre Lebensform – auch wenn sie diese mitunter mit neuen Inhalten füllen,
etwa bei der Eheschließung homosexueller Menschen. Christen und Muslime
sind so mit vielen anderen Menschen vereint in einer großen Wertschätzung
der Ehe und in einer immer wieder aufbrechenden Hoffnung auf ihre Stärke.
Doch abseits dieser grundlegenden Übereinstimmung unterscheiden sich
nicht nur muslimische und christliche Vorstellungen über die Ehe. Auch innerreligiös wird kontrovers diskutiert. Ob Sakrament, ‚weltlich Ding‘ oder Vertrag, ob unauflöslich oder nicht, ob völlig freie Wahl der Liebe oder die Suche
nach einer Wahl, die im Einklang mit der Erwartungen der eigenen Herkunftsfamilie steht – es gibt viele Punkte, an denen sich Debatten entzünden können.
Diese Debatten werden spätestens dann existenziell bedeutsam, wenn die Eheleute selbst aus unterschiedlichen Religionen, Konfessionen oder Kulturen
kommen und so vor der Herausforderung stehen, ihre unterschiedlichen Haltungen und Erwartungen miteinander abzugleichen und zu versöhnen.
An dieser Stelle fehlt es bisher weitgehend an Orientierungsmöglichkeiten.
Auf der einen Seite sorgt unsere pluralistische Gesellschaft für Möglichkeiten
des Kennenlernens über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg. Studien
zeigen, dass trotz einer Tendenz zur Homogamie die Offenheit für interreligiöse Beziehungen zunehmend stärker wird.1 Von insgesamt 387.423 Eheschließungen im Jahr 2012 fanden insgesamt 1481 Eheschließungen zwischen
1
Vgl. SONJA HAUG/STEPHANIE MÜSSIG/ANJA STICHS, Muslimisches Leben in Deutschland
im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz, Forschungsbericht 6 (Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge), Nürnberg 2009.
8
EINLEITUNG
einem muslimischen Mann und einer Frau, die Angehörige einer christlichen
Glaubensgemeinschaft ist, statt; 546 Ehen wurden zwischen einer muslimischen Frau und einem Mann, der Angehöriger einer christlichen Glaubensgemeinschaft ist, geschlossen.2 Man darf davon ausgehen, dass all diese Fälle
jeweils auf die Familien und den Freundeskreis der Betroffenen zurückwirken,
so dass eine ganze Reihe von Fragen zum Verständnis von Ehe auftauchen,
die theologische Antworten verlangen.
Auf der anderen Seite gibt es seitens der Theologien bisher keinen ernsthaften Versuch, diese Antworten gemeinsam zu geben oder auch nur über sie
in einen Diskurs einzutreten. Die Theologie der Ehe im Gespräch von Islam
und Christentum ist ein bisher ungeschriebener Traktat der Komparativen
Theologie, so dass der vorliegende Band nicht mehr als ein erster Gehversuch
auf diesem wichtigen, aber auch schwierigen Terrain sein kann. Er stellt sich
dabei nicht nur den Fragen, die sich im Kontext interreligiöser Ehen ergeben,
sondern auch Fragen, die durch das Zusammenleben von Muslimen und
Christen in Europa virulent werden. Denn kaum vergeht ja ein Tag, an dem
in der Presse nicht von muslimischen Zwangsehen die Rede ist oder von der
Unterdrückung der Frau in ihr. Von daher ist es höchste Zeit, in einer gemeinsamen muslimisch-christlichen Anstrengung über die Ehe nachzudenken und
sich über das wechselseitige Verstehen derselben auszutauschen. Eben dies
will der vorliegende Band leisten und dabei u.a. folgende Fragen jeweils aus
der Sicht der verschiedenen Religionen und Konfessionen beantworten:
• Was ist die Ehe aus christlicher bzw. aus islamischer Perspektive? Ist
sie ein von Gott gesegnetes Heilszeichen? Oder ist sie lediglich ein
profaner Vertrag?
• Wie steht sie im Spannungsverhältnis von Theologie und Recht?
• Wie zeichnet sich das Eheleben aus christlicher und aus islamischer
Sicht aus?
• Welche Rolle spielen Genderfragen im Kontext der Ehe?
• Wie wird die Scheidung aus christlicher bzw. aus islamischer Sicht
verstanden und welche Probleme bringt diese mit sich?
• Wie stellt sich die christlich-muslimische Ehe in der heutigen Gesellschaft dar und welche theologischen Perspektiven gibt es im Hinblick
auf sie?
Diesen und ähnlichen Fragen versucht der Band nachzugehen, indem er christliche und muslimische Theologinnen und Theologen der verschiedenen
großen Konfessionen miteinander ins Gespräch bringt. Dabei kommen Perspektiven der Dogmatik und Glaubenslehre ebenso zu Wort wie rechtliche,
2
STATISTISCHES BUNDESAMT, Abb. 4.11 Eheschließende 2012 nach der Religionszugehörigkeit der Ehepartner. In: Fachserie 1. Reihe 1.1, Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Natürliche
Bevölkerungsbewegung, 2012, 143.
EINLEITUNG
9
ethische und soziologische Fragen. Eröffnet wird der Band von einigen programmatischen theologischen Kennzeichnungen islamischer, evangelischer
und katholischer Verständnisse der Ehe. Dabei zeigen die jeweiligen muslimischen und christlichen Theologen auf, wie die Ehe im Spannungsfeld von
Recht und Theologie anzusiedeln ist. Die Paderborner sunnitische Theologin
Muna Tatari eröffnet den Band mit einer Untersuchung des Vertragsverständnisses zur Ehe im Islam. Dabei zeigt sie beispielhaft den gesamttheologischen
Kontext rechtlicher Bestimmungen auf, um diese für neuzeitliche Anfragen
zu öffnen. Johannes Lüpke und Thomas Knieps-Port le Roi skizzieren im
Folgenden die Eheverständnisse der beiden großen christlichen Kirchen.
Johannes Lüpke verdeutlicht, dass im Protestantismus in den letzten beiden
Jahrzehnten ein Wandel eingesetzt habe, infolgedessen der Stand der Ehe relativiert worden sei. Anderen sozialen Verhältnissen als dem von Luther angenommen zweigeschlechtlichen Gegenüber von Mann und Frau gesteht er
dabei ebenfalls einen eigenen Wert zu, sieht in der Ehe aber zugleich ein
besonderes Heilszeichen, in dessen menschlichem Wort er auch ein göttliches
Versprechen verortet. Katholischerseits arbeitet Thomas Knieps-Port le Roi
eine Entwicklung heraus, die zwar an der Vorstellung der (sakramentalen) Ehe
als Institution festhält, darin aber anstelle eines „Vertrags“ vermehrt einen von
den Eheleuten selbst aus Liebe ins Leben gerufenen „Bund“ sieht, der eine
göttliche Verheißung in sich trage. Abgerundet wird der erste Teil durch eine
Untersuchung des Verhältnisses von islamischem Eherecht und deutscher
Rechtsprechung durch den Paderborner Juristen und Theologen Idris Nassery.
Ausgehend von den Begriffen „Einigung“, „Mahr“ und „Zeugen“ gibt er einen
Überblick über die Natur und wesentliche Bestandteile des islamischen Eherechts und kommt zu dem Schluss, dass es in Deutschland größerer Aufklärung und Weiterbildung bedarf, um in angemessener Weise mit muslimischen
Ehen umgehen zu können.
In einem zweiten Block wird dem idealen Eheglück die Möglichkeit des
Scheiterns einer Ehe gegenübergestellt. Klaus von Stosch bemüht sich ausgehend vom neuzeitlichen Freiheitsdenken zu zeigen, wie die Ehe als Bestärkung menschlichen Zutrauens in die Liebe gedacht werden kann und so der
Sehnsucht des Menschen nach Glück und Erfüllung in der Partnerschaft entgegen kommt. Zugleich reflektiert er die Verletzlichkeit menschlicher Liebe
und versucht katholische Wege aufzuzeigen, mit dem Scheitern von Ehen umzugehen. Hier knüpft der Beitrag von Markus Knapp an, der sich unter Beachtung der Realität moderner Lebensverhältnisse mit dem katholischen Verständnis der Unauflöslichkeit der Ehe auseinandersetzt. Seine Schlussfolgerung ist eindeutig: Die (katholische) Kirche folge mit ihrer Haltung der Intention Jesu und seinem Scheidungsverbot; weder sie noch die Ehepartner selbst
könnten das Band der Ehe trennen. Dennoch sucht er nach Wegen eines Neuanfangs in einer zweiten Ehe, ohne dadurch die definitive Durchsetzung der
eschatologischen Herrschaft Gottes in der sakramentalen Ehe in Frage zu
stellen.
10
EINLEITUNG
Dem Islam ist solch ein Denkmuster dagegen fremd, konstatiert Serdar
Kurnaz in seiner Replik auf Knapps Beitrag. Das islamische Eheverständnis
kenne weder eine Unauflöslichkeit noch ein damit verbundenes Heilsversprechen; die Eheschließenden hofften zwar unter dem Segen Gottes zu
stehen, jedoch handele es sich bei der Eheschließung um keine religiöse
Handlung. Seine folgende Kritik an Knapps Eheverständnis als absoluter
Selbstbindung und -verpflichtung fällt deutlich, aber auch nachvollziehbar
aus, wenn er beispielsweise fragt, ob der Fortbestand einer gescheiterten Ehe
nicht größeren Schmerz verursache als die Trennung, die mit dem Eingehen
einer neuen Bindung doch auch neues Glück hervorrufen könne.
Wie genau eine Scheidung und Wiederheirat im Islam vollzogen werden
kann, erläutert schließlich Hamideh Mohagheghi aus schiitischer Perspektive.
Sie zeigt auf, dass auch der Koran die friedvolle Beziehung in der Ehe würdige, deren Scheidung vermieden werden solle. Zugleich betont sie, dass es im
Koran und in den islamischen Rechtsbüchern sowohl seitens des Mannes als
auch der Frau Möglichkeiten zur Scheidung gebe, die es adäquat in heutige
Lebensverhältnisse zu übersetzen gelte.
Interreligiöses Zusammenleben, Heterogenität und Geschlechterdifferenz
sind Gegenstand des dritten und letzten Themenblocks, den Franziska Huber,
Emmanuel Schweizer und Stefan Huber eröffnen. In ihrer religionssoziologischen Untersuchung interreligiöser Paarbeziehungen – einer Thematik, die
den Schweizer Theologen zufolge im deutschsprachigen Raum bisher kaum
erforscht sei – liefern sie einen spannenden Blick auf die empirische Realität
religionsverbindender Ehen.
Wie sehr sich auch im Islam Geschlechterbilder im Umbruch befinden und
also derartige empirische Untersuchungen nur Momentaufnahmen sein
können, hat Tuba Isik beobachtet. Sie zeichnet den Wandel muslimischer
Weiblichkeits- und Männlichkeitsentwürfe in Deutschland nach. Sie stellt fest,
dass sowohl individuelle Entscheidungsprozesse als auch gesellschaftliche
Mechanismen zum Frauenbild beitragen, während zugleich häufig idealisierte
Formen einer konstruierten muslimischen Männlichkeit bestehen. Die Ehe
dagegen solle ein Ort der wechselseitigen Ergänzung und Geborgenheit sein,
resümiert Isik.
Zum Abschluss gibt die Herausgeberin des Bandes Ann-Christin Baumann
aus evangelischer Perspektive Impulse zu einer Ehetheologie, die Wertschätzung von Differenz ermöglicht. Die Grundlagen ihrer Überlegungen basieren
dabei auf dem protestantischen Theologen Paul Tillich, dessen systematischontologischen Ansatz sie mit dem Liebesverständnis des muslimischen Theologen Ibn 'Arabi ins Gespräch bringt. Ihre Analyse zeigt, dass es in beiden
Denkmodellen gerade die Verschiedenheit der jeweiligen Partner ist, die die
Liebe ermöglicht – eine verheißungsvolle Einsicht im Blick auf die Möglichkeit interreligiöser Ehen.
EINLEITUNG
11
Der vorliegende Band geht zurück auf eine von der Herausgeberin und dem
Herausgeber organisierte Expertentagung an der Universität Paderborn vom
16. bis 18. Mai 2014. Für einen namhaften Zuschuss zum Gelingen der
Tagung danken wir der Stiftung Mercator. Bei den redaktionellen Arbeiten für
diesen Band wurden die Herausgeber in bewährter Weise von Jan Christian
Pinsch unterstützt, dem wir dafür sehr danken. Er hat auch die Register erstellt
und alle Schritte von der Erfassung der Beiträge bis zu ihrer Drucklegung
unterstützt. Julia Wolff danken wir sehr herzlich dafür, dass sie einmal mehr
die Druckvorlage erstellt hat. Dem Lektor des Schöningh-Verlags Herrn
Dr. Jacobs danken wir für die wie immer reibungslose und unkomplizierte
Zusammenarbeit.
Klaus von Stosch und Ann-Christin Baumann im August 2015
I. DIE EHE IM SPANNUNGSFELD
VON RECHT UND THEOLOGIE
MUNA TATARI
Die Ehe – nur ein Vertrag?
Eine islamisch-theologische Perspektive
„Die Zustimmung einer jungen Frau
[Jungfrau] zu einem von ihrem Vater
ausgesuchten Ehemann ist nicht nötig.
Der Vater hat größere Rechte über sie
als sie über sich selbst.“1
Dieser Text findet sich so und in sinngemäßen Variationen in Rechtswerken
der früh-islamischen Zeit, so wie sie 150 bis 200 Jahre nach dem Tod des
Propheten Muhammad verfasst wurden. Sie legen nahe, dass entgegen zeitgenössischer apologetischer Argumentationen auf der juristischen Ebene kein
freiheitlich bestimmtes Eheverständnis für diese oft als normativ wertgeschätzte frühislamische Zeit prägend war, sondern unverheiratete Frauen über
das damals für Männer übliche Maß hinaus an Vorgaben der Familienraison
gebunden waren.
Solche Art von juristischen Festschreibungen werfen Fragen nach dem damalig gängigen Vertragsverständnis auf, seinen strukturgebenden Elementen,
seiner Platzierung in einem theologischen Gesamtzusammenhang sowie möglichen Interdependenzen zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Fachdisziplinen bzw. stattgefundenen Einflussnahmen und entsprechenden heutigen
Möglichkeiten. Aus dem oben angeführten Zitat ergibt sich die methodisch
angelegte Frage, inwieweit die klassischen Texte in einem innertheologischen
Zirkel reformfähig und für heutige Personverständnisse und Ansichten zur
Freiheit und Würde jedes Individuums anschlussfähig sind. Zudem fragt sich,
inwieweit sich dieser innere Zirkel in ein dialogisches Verhältnis zu anderen
nicht-theologischen Diskursen setzen müsste, sollten grundlegende Reformen
des Eheverständnisses, wie es sich in entsprechenden Vertragsformen niederschlägt, angestrebt werden.
In den folgenden Ausführungen soll es also nicht so sehr darum gehen, die
Inhalte von Eheverträgen umfassend zu erläutern, noch darum, alle damit ver1
Vgl. KECIA ALI, „A beautiful Example“: The Prophet Muḥammad as a Model for Husbands.
In: Islamic Studies 42 (2004) 273-291, hier 281 mit Bezug auf: IDRĪS AL-SHĀFIʿĪ, al-Umm,
Beirut 1993, 5:29. Vgl. auch Ibn Rushd, zu dem Dissens unter den Juristen über die Zustimmung oder Nichtzustimmung einer Jungfrau in eine Ehe: IBN RUSHD, The distinguished
Juristʾs Primer [Bidāyat al-muǧtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid]. Übers. Imran Ahsan Khan
Nyazee, überarb. Mohammad Abdul Rauf, Reading 52010, 4-6.
16
MUNA TATARI
bundenen juristischen Implikationen darzulegen. Vielmehr möchte ich anhand
ausgewählter Inhalte das Vertragsverständnis zur Ehe selbst näher beleuchten
und rechtliche Bestimmungen in einen gesamttheologischen Kontext stellen
und mit Anfragen aus der Neuzeit in Verbindung bringen.
Dabei ist es zunächst sinnvoll, da von der Ehe als Vertrag gesprochen wird,
sich kurz zu vergegenwärtigen, wo die diesbezüglichen Diskurse im islamischen Kanon der Disziplinen und Fachgebiete verortet werden können.
Die weit verbreitete Ansicht, dass die Ehe im Islam auf einem rein rechtlichen Akt beruhen würde und – fast schon profan wirkend – die Ehe durch
einen Vertrag zwischen zwei Partnern besiegelt wird, der nicht unähnlich anderen Verträgen ist, ist in der Tat ein erster wichtiger Aspekt. M.E. definiert
Khaled Abou el-Fadl die Ehe treffend als an der Schnittstelle von ʿibādāt und
muʿāmalāt – den gottesdienstlichen Handlungen und den zwischenmenschlichen Handlungen – liegend.2
Jedes klassische Buch Islamischen Rechts beginnt mit einem Abschnitt
über das Gebet und verwandte Gebiete, dann über das Fasten, die Armenabgabe und schließt letztlich mit der Pilgerfahrt. Hier werden die rechtlichen
Bestimmungen bezüglich der gottesdienstlichen Handlungen diskutiert und je
nach wissenschaftlichem Anspruch auch in der vorhandenen Diversität dargelegt.3 Im Bereich der muʿāmalāt finden sich dann in denselben klassischen
Werken zum Islamischen Recht Themengebiete wie das Handelsrecht, das
Vertragsrecht, das Strafrecht, das Eigentumsrecht und unter anderem auch das
Eherecht. Die Gegenstände beider Bereiche werden also zunächst in Bereichen des Islamischen Rechts verortet und Maßgaben für das als recht empfundene bzw. als recht definierte Handeln diskutiert.
Die Ehe kann nun in einem ersten Einordnungsschritt im Anschluss an
el-Fadl an der Schnittstelle von gottesdienstlichen und zwischenmenschlichen
Handlungen verortet werden, ausgehend von der Überzeugung, dass Dienst an
Gott sich im Dienst am Menschen zeigt, verbunden mit der Vorstellung, dass
die Verbundenheit von zwei Menschen, so wie alle anderen gottesdienstlichen
Handlungen auch, nach islamischer Vorstellung das Potenzial birgt, diese
Menschen näher zu Gott zu bringen.4 Islamisches Recht diskutiert also Handlungsrahmen, innerhalb derer ggf. von Gott ermöglichte religiöse Erfahrungen
2
3
4
Vgl. KHALED ABOU EL-FADL, Conference of the Books, The Search for Beauty in Islam,
Lanham 2001, 269f.
Nach Ansicht von u.a. ar-Rāzī (gest. 925) und al-Amidī (gest. 1233) kann man einem allgemeinen Konsens durchaus widersprechen, ohne dabei zum Ungläubigen [kafir] zu werden.
Vgl. FADL, Conference, 276. In klassischen Rechts- und Theologiekompendien wird der
größte Raum darauf verwendet, widersprüchliche Ansichten darzustellen. Es gab innerhalb
der islamischen Gelehrsamkeit schon früh den Konsens über den Dissens.
Vgl. hierzu die Interpretation von taqwā bei Farid Esack, in der er gottesdienstliche Handlungen und zwischenmenschlichen Handlungen als untrennbare Einheit versteht. FARID
ESACK, Qurʾān, Liberation and Pluralism. An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity
against Oppression. Oxford 1997, 87-90.
DIE EHE – NUR EIN VERTRAG?
17
gemacht werden können5, die dann einer theologischen Reflexion bedürfen.
Ohne dieses Aufgreifen nach theologisch zu reflektierenden Inhalten von
Praxis würde Islamisches Recht in Gefahr stehen, zu einem reinen Formalismus zu degenerieren. Wenngleich die Rechtsgültigkeit einer Eheschließung
ohne ein ohnehin nicht nachweisbares Eingreifen bzw. Wirken Gottes rechtskräftig im Sinne des Gesetzes ist, würde die Vernachlässigung des theologischen Aspekts in unzulässiger Weise wichtige Dimensionen unterschlagen.6
1. Schlaglichter auf Rechtstexte der formativen Zeit
Ein Blick in die frühen Rechtstexte ist trotz des zeitlich großen Abstandes
sinnvoll, insofern islamische Gelehrsamkeit sich immer in Loyalität zu ihrem
tradierten Bestand verhalten hat. Erst einige salafistische Reformbewegungen
Ende des 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts haben die überlieferten Traditionen eher als hinderlichen Ballast eingestuft und für eine direkte Hinwendung zum koranischen Text und der Lebenspraxis des Propheten mit dem
Mittel des iǧtihād argumentiert. Im Anschluss an Ebrahim Moosa ist die konstituierende Kraft von Tradition allerdings nicht zu unterschätzen, da sie, so
Moosa, jedem Menschen quasi in den Körper eingeschrieben ist und jeder
Mensch als Verkörperung einer Tradition verstanden werden kann. Der bloße
rationale Entschluss, die Tradition zu negieren, kann also nicht verhindern,
dass sie, als Teil dessen, was den Menschen ausmacht, seinen Blick auf die
Gegenwart und Zukunft maßgeblich beeinflusst. Nur eine bewusste Rekonstruktion der Vergangenheit kann eine selbstbewusste Orientierung nach vorne
gewährleisten.7 Nicht allzu selten sind es unbewusst adaptierte Versatzstücke
aus der Vergangenheit, die unreflektiert die Haltung und das Handeln von
Menschen der Gegenwart prägen. Eine Aufarbeitung der Vergangenheit, die
sich in Loyalität zur Tradition versteht, sollte also weder vorschnell urteilen
noch aburteilen, sondern zunächst sorgfältig die Vielschichtigkeit der jeweiligen Entstehungsprozesse nachzeichnen. Ein Blick in die Geschichte ist also
unumgänglich.
Für das Inkrafttreten eines Ehevertrages mussten nach damaligem und bis
heute wirksamen Verständnis folgende Bedingungen erfüllt sein: die Anwesenheit der Braut und in den meisten Fällen die ihres Bevollmächtigen, der sie
allerdings auch komplett vertreten könnte, die Anwesenheit des Bräutigams
5
6
7
Inwiefern islamischerseits davon gesprochen werden kann, dass Gott eine Ehe stiftet, wie es
in christlichen Theologien formuliert wird, bleibt allerdings fraglich.
Zu Trennung von Religion und Staat bzw. der Mär eines „Islamischen Staates“ vgl. WAEL B.
HALLAQ, Impossible State: Islam, Politics, and Modernityʼs Moral Predicament, New York
2014.
Vgl. EBRAHIM MOOSA, Transitions in the „Progress“ of Civilization: Theorizing History,
Practice, and Tradition. In: OMID SAFI (Hg.), Voices of Change, Westport-London 2007
(Voices of Islam; 5), 115-130, hier 123f.
18
MUNA TATARI
und eventuell die seines Bevollmächtigten; zudem die Anwesenheit zweier
Zeugen sowie die Übergabe der Brautgabe. Ein Imam musste für die Rechtsgültigkeit einer Eheschließung nicht notwendigerweise anwesend sein.8
Die Aufarbeitung der frühen Rechtstexte, wie es u.a. Kecia Ali und Khaled
Abou el-Fadl in ihren Arbeiten machen9, kommen zu dem Schluss, die damalige Funktion eines Ehevertrages darin zu sehen, Rahmenbedingungen für eine
Art Tauschgeschäft festzulegen: Der Mann bezahlt für sein Recht, intimen
Verkehr mit seiner zukünftigen Frau zu haben, sie erhält dafür im Ausgleich
finanzielle Versorgung von ihm.10 Handel oder Tauschgeschäfte sind in der
Sprache des Koran erst einmal nichts Despektierliches. Die Menschen werden
im koranischen Text zu einem Tauschhandel mit Gott aufgerufen, der sie nicht
enttäuschen wird, bzw. werden dazu aufgerufen, Gott ein Darlehen zu geben
in Form von gutem Tun, das er reichlich zurückgeben wird.11
Im Bereich von konkreten Rechtsbestimmungen hat die Vorstellung eines
Tauschgeschäftes allerdings gravierende negative Folgen für die Frau: Das
Recht des Mannes auf intimen Verkehr hat seinen Anspruch auf eine ständige
Verfügbarkeit der Frau zur Folge und schränkt lebenspraktisch ihren außerhäuslichen Handlungsradius, sprich ihre Möglichkeiten der gesellschaftlichen
Teilhabe, stark ein.12 Und ohne dass die damaligen Rechtsgelehrten es je so
formuliert oder möglicherweise auch nur intendiert hätten: Die Assoziationen
zu einer Haremssituation und damit der Idee, nicht nur das Recht auf intimen
Verkehr zu besitzen, sondern auch auf die Frau selbst, können aus heutiger
Perspektive kaum abgewehrt werden.13 Diese Assoziation wird u.a. auch durch
eine Formel aus der gerichtlichen Rechtspraxis unterstützt, wenn Frauen, die
ihren Antrag auf Scheidung einreichen beim Vollzug der Scheidung abschließend bekunden, dass sie sich nun wieder sich selbst gehören würden.
8
9
10
11
12
13
Vgl. zur Übersicht über die Rechtsschulenkonzepte zur Eheschließung: IBN RUSHD, Juristʾs
Primer, 1-70.
Vgl. u.a. KECIA ALI, Sexual Ethics & Islam. Feminist Reflections on Qurʾan, Sunna and
Jurispridence,; Dies., Progressive Muslims and Islamic jurisprudence. In OMID SAFI (Hg.),
Progressive Muslims. On Justice, Gender and Pluralism. Oxford 2003, 163-189; KHALED
ABOU EL-FADL, Speaking in Godʼs Name. Islamic Law, Authority and Women. Oxford
2001.
Vgl. ALI, Islamic Jurisprudence, 169.
Vgl. Q 57:11; 35:29.
Zudem wäre zu bedenken, dass, wenn der Unterhalt des Mannes für die Frau sein Recht auf
ihre Vagina zur Folge hat, es keinen Rechtsgrund für den Tatbestand einer Vergewaltigung in
der Ehe geben kann und damit höchst problematisch ist. In Deutschland ist diese
eherechtliche Grauzone seit 1997 aufgehoben.
In diesem Zusammenhang kann man von Ibn al-Ǧauzī lesen: “It is incumbent upon a women
to know that it is as if she is owned (ka-l-mamlūkah) by her husband, therefore she may not
act upon her own affairs or her husbandʿs money except with his permission. She must prefer
his rights over her rights.” EL-FADL, Speaking in Godʼs Name, 212-213, mit Verweis auf
ABD AL-RAHMĀN IBN AL-ǦAUZĪ, Kitāb aḥkām an-nisāʾ, Beirut 1992, 139f, und siehe auch
die Aussage von al-Ġazalī, dass Frauen für ihre Ehemänner eine Art Sklaven seien. Vgl. ElFadl, Speaking in Godʼs Name, 251 Fn.23, mit Verweis auf: ABŪ ḤĀMID AL-ĠAZĀLĪ,
Ihyiaʾ,ʿulūm ad-dīn, Beirut o.J. 2, 56.
DIE EHE – NUR EIN VERTRAG?
19
Die rechtliche Festlegung des Mannes auf intimen Verkehr und generell auf
eine Art von Gehorsam wird in den frühen Rechttexten auch noch um eine
bedenkliche theologische Implikation erweitert, die folgende Überlieferung
zeigt14
Wenn ein Mann seine Frau zu sich ruft, um mir ihr zu schlafen und sie dies ablehnt, werden die Engel weinen und sie bis zum Morgen verfluchen.15
Die gottesdienstlichen Handlungen einer Ehefrau werden von Gott nicht akzeptiert, wenn sie ihrem Mann nicht gehorcht bzw. ihn gegen sich aufbringt.16
Hier erweist sich die Verknüpfung der Bereiche des zwischenmenschlichen
und gottesdienstlichen Handelns für die Frauen als äußerst prekär. Die Erfüllung ihrer vertraglich festgelegten Ehepflichten, wie sie in der formativen Zeit
diskutiert werden, wird in einen direkten Kontext zu ihrer Gottesbeziehung
gesetzt. Dies mag die Idee eines rein zivilrechtlichen Ehevertrages als gangbare Lösung aus dieser Verzahnung erscheinen lassen. Ob dies der einzig
praktikable Weg aus dieser in der Tradition vorhandenen Verknüpfung ist,
wird später noch zu untersuchen sein.
In Bezug auf das Thema Scheidung, das hier ebenfalls exemplarisch näher
untersucht werden soll, weist auch der Textbestand der Rechtstexte aus formativer Zeit ein aus heutiger Perspektive erstaunliches Ungleichgewicht auf
und stellt nochmals die Frage in den Mittelpunkt, auf welcher Grundlage ein
Vertragsverständnis erwachsen kann, das eine offensichtliche Ungleichheit
zwischen den Geschlechtern festlegt.
Aus der Definition der Ehe als Vertrag ergibt sich die Möglichkeit, diesen
Vertrag auch auflösen zu können. Ṭalāq bezeichnet die Art einer Scheidung,
die von der Initiative des Ehemannes ausgeht, und weist durch seine Wortbedeutung „Freisetzen“ darauf hin, dass die Ehefrau dies vor Vollzug der
Scheidung nur bedingt gewesen zu sein scheint.17 Unbenommen ist an dieser
Stelle die lebenspraktische Einsicht, dass durch den Bund der Ehe die Autonomie von zwei Individuen, die ja auch vorher real nie vollständig gegeben
ist, hier in besonderem Maße durch Zuwendung und Rücksicht bestimmt ist
14
15
16
17
Es ist also ein Augenmerk darauf zu richten, das eine theologische Kontextualisierung der
Eheschließung und ihrer Folgen nicht automatisch positive Konsequenzen nach sich zieht,
sondern ambivalent bleibt.
A LI, Sexual Ethics, 11 mit Bezug auf: ṢAḥĪḥ MUSLIM, Kitāb al-nikah, trans. Abdul Hamid
Siddiqi, Band 1-2, New Delhi 1995 [1977], 732.
ALI, Sexual Ethics, 11, mit Verweis auf: SAḥĪḥ BUḫĀRĪ, The Translation of the Meanings of
Sahih al-Bukhari, Arabic-English, 8 Bd. Trans. Muhammad Muhsin Khan. New Delhi 1987
[Kitāb al.nikāh], Bd. 7, 93. Vgl. auch EL-FADL, Speaking in Godʼs Name 212-214, der in diesem Kontext zu Recht die Frage stellt, was so wichtig an der (sexuellen) Zufriedenheit von
Männern sei, dass die Engel im Himmel weinten, wenn sie nicht erfüllt würde?
Vgl. den Koran zum Thema ṭalāq mit und ohne Grund: Q 2:230, 2:237, 65:1, 65:6, 58:2 und
2:229. Diese Verse geben Männer nicht das Recht auf Scheidung, sondern setzen voraus, dass
dies bereits eine Praxis ist, welche koranisch zu Lasten der Freiheit der Männer modifiziert
wurde.
20
MUNA TATARI
und dieses in noch größerem Maße im Hinblick auf die Zuwendung zu und
Sorge um gemeinsame Kinder. Es wird allerdings dann schwierig, wenn diese
Haltung, sich von Zeit zu Zeit für den anderen zurückzunehmen, nur von einer
der beiden Parteien verbindlich erwartet wird.
Bei dieser Art der Scheidung gibt der Mann der Frau ihre restliche noch
nicht erhaltene Brautgabe. Umgekehrt kann sich die Frau ohne Angabe von
Gründen ebenfalls scheiden lassen, muss aber in der Regel ihre Brautgabe zurückgeben.18 Der arabische Begriff ḫulʿ für eine Scheidung auf Initiative der
Frau bedeutet „sich freisetzen“.19 Bei einer dritten Scheidungsmöglichkeit
wird vor einem Gericht ein von Gesetz akzeptierter Scheidungsgrund festgestellt, der je nach Rechtschule für Frauen allerdings eine nur sehr geringe
Handhabe eröffnet.20
Da die wirtschaftliche Situation von Frauen und Männern in der Geschichte
und bis heute nicht vollkommen egalitär ist, liegt in dieser zunächst paritätisch
erscheinenden Scheidungsmöglichkeit für beide aufgrund der realen Lebensumstände eine strukturelle Ungleichheit begründet. Diese Schieflage ist auch
schon zur formativen Zeit islamischer Rechtsprechung aufzuheben versucht
worden, indem die rechtliche Möglichkeit eingeräumt wird, dass der Mann der
Frau sein Recht auf Scheidung mittels ṭalāq überträgt. Sie kann sich dann mit
seinem Rechtstitel von ihm scheiden lassen und bekommt (trotzdem) die
Morgengabe ausgezahlt. Es bleibt, dass die Frau auf die wohlwollende Kooperation des Mannes angewiesen ist, die in der Struktur angelegte Ungerechtigkeit im Vertragswesen zur Ehe aus seiner Initiative heraus auszugleichen. Es
soll an dieser Stelle allerdings auch nicht unerwähnt bleiben, dass die Aufarbeitung von Gerichtsdokumenten aus dem 15. Jahrhundert in Ägypten u.a.
ergeben hat, dass die Rechtspraxis in vielen Fällen die rechtlichen Interessen
von Frauen in größerem Maße umsetzen konnte, als es die normativen Rechttexte vorzugeben scheinen. Nichtsdestotrotz bedarf es immer der Anstrengung
der Frau oder ihres Bevollmächtigten, gegen gegebenes Gesetz, das eher die
Rechte der Männer im Blick zu haben schien, argumentieren zu müssen.21
Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll auch die Tatsache, dass durch das
Element der Brautgabe als Teil des Ehevertrages und zu berücksichtigendes
Element im Fall einer Scheidung im Grunde beide Parteien in eine Zwangslage geraten können. Hat die Frau beispielsweise die Brautgabe sehr hoch angesetzt, kann auch der Mann sich unter Umständen nicht scheiden lassen,
wenn er den Betrag nicht aufbringen kann und müsste möglicherweise gegen
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Es ist allerdings umstritten, ob sie dafür nicht doch das Einverständnis des Mannes braucht
und er evtl. einen höheren Betrag als die Brautgabe in dieser Scheidungsart fordern kann.
Vgl. dazu EL-FADL, Speaking in Godʼs Name, 168f.
Vgl. EL-FADL, Conference, 270.
Vgl. ALI, Sexual Ethics, 24-29.
Vgl. AMIRA EL-AZHARY SONBOL, A History of Marriage Contracts in Egypt. In: ASIFA
QURAISHI FRANK E. VOGEL (Hg.), The Islamic Marriage Contract. Case Studies in Islamic
Family Law, Cambridge 2008, 88-122, hier 89f.
DIE EHE – NUR EIN VERTRAG?
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seinen Willen verheiratet bleiben. Von Abū Hanīfa (gest. 767) wiederum wird
berichtet, dass er dafür eintrat, zusätzliche Richterinnen in jeder Stadt einzusetzen, die alleine die Aufgabe hatten, die Rechte der Frauen zu wahren und
umzusetzen.22 Dies könnte als progressive Einstellung verstanden werden, in
besonderem Maße die Rechte der Frauen zu würdigen oder entlarvend in dem
Sinn, dass das damals schon eher restriktive Recht im Vergleich zur überlieferten Praxis des Propheten Muhammads u.a. für Abū Hanīfa Gefahr zu laufen
schien, noch stärker frauenbenachteiligende Tendenzen zu entwickeln.
Dieser holzschnittartige Blick in markante Aspekte der frühen Rechtsdiskussion soll nun erweitert werden durch einen Blick auf die Überlieferung
zur Praxis des Propheten und den koranischen Textbestand.
2. Sunna und Koran: Schließt der rechtliche Charakter der Eheschließung
theologische Implikationen aus?
Das islamische Eherecht, das in Teilen bis heute maßgeblich wirkt, wurde wie
bereits erwähnt ca. 150 bis 200 Jahre nach dem Tod des Propheten Muḥammads schriftlich fixiert und enthält wie gezeigt nicht wenige Elemente, die
frauenbenachteiligend sind. So sind zum Beispiel die Möglichkeit und das
Recht auf Scheidung für Frauen stark eingeschränkt, ebenso ihre Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe. Genauso verhält es sich mit dem Sorgerecht
für Kinder im Falle einer Scheidung, das zu einem bestimmten Zeitpunkt in
der Rechtsgeschichte zu Gunsten des Mannes bzw. Vaters festgelegt wurde,
spätestens dann, wenn das Kind ein Alter von acht Jahren erreicht hatte. Umso
erstaunlicher ist es, wenn in den Überlieferungen aus dem Leben des Propheten, die ja nach allgemeinem Konsens die zweitwichtigste Rechtsquelle darstellen, auch diametral Entgegengesetztes zu finden ist. So finden sich im
überlieferten Material zum Leben Muhammads folgende Ereignisse:
Er ließ Kinder selbst entscheiden, wo sie nach einer Trennung leben wollen.
Kinder galten also nicht als Besitz der Eltern und auch nicht als Besitz des
Vaters, wie es allerdings in späteren Rechtstexten zu finden ist.23
Eine weitere Überlieferung erzählt von einer Frau, die sich scheiden lassen
wollte. Daraufhin veranlasste der verlassene weinende Ehemann einen Vermittlungsversuch des Propheten, der letztendlich aber der Frau ihr Recht auf
Trennung ohne das Vorhandensein eines nachvollziehbaren Grundes bestä22
23
Vgl. MUHAMMAD PICKTHALL, The Cultural Side of Islam, Lahore 1969.
Vgl. MOHAMMED AL-SANAANI, Subul Al-Salam Sharh Bulugh Al-Maram Min Adilat
Al-Ahkam. Hrsg. v. Mohammad Abdul Aziz Al-Khouli. Beirut o.J., Bd. 3, 227. Diesen Beleg
für die kontrovers geführte Diskussion über das Sorgerecht von Kindern im Fall einer Scheidung verdanke ich einem im Publikationsprozess befindlichen Text von Jasser Auda mit dem
Titel „Realising Maqasid in the Shariah“. Al-Sanaani, ein Gelehrter des 14. Jahrhunderts, befürwortete selbst eine Fall-zu-Fall-Lösung, in dem die Kinder dem Elternteil zugesprochen
werden, der dem Kindeswohl am dienlichsten ist.
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