Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU

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Reihe „Politik in Baden-Württemberg“, Band 4
Handbuch Europapolitik
Hrsg.: Frech/Weber
Stuttgart 2009
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg
im EU-Binnenmarkt
Thomas Weinmann
A
m 1. Juli 1987 trat mit der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) die
erste größere Reform der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaft (EG) in Kraft. In der EEA wurde unter anderem der EUBinnenmarkt zum 1. Januar 1993 mit dem Ziel der wirtschaftlichen Integration innerhalb der Europäischen Union (EU) eingeführt. Der EU-Binnenmarkt
ist ein Raum ohne Binnengrenzen, in dem die „Vier Freiheiten“ gewährleistet
sind: der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital.
Ihre bis heute gültige Fassung erhielten die Grundfreiheiten im Vertrag über
die Europäische Union, der am 7. Februar 1992 in Maastricht für die damals
zwölf Mitgliedstaaten vom Rat der Staats- und Regierungschefs verabschiedet
wurde. Die „Vier Freiheiten“ im EU-Binnenmarkt umfassen:1
• Freier Personenverkehr: Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen,
Harmonisierung der Asyl- und Zuwanderungspolitik, Freizügigkeit für
Arbeitnehmer, Niederlassungs- und Aufenthaltsrecht für EU-Bürger;
• Freier Warenverkehr: Wegfall der Grenzkontrollen, keine Zölle oder mengenmäßige Beschränkungen, Harmonisierung oder gegenseitige Anerkennung von Normen und Vorschriften, Steuerharmonisierung;
• Freier Dienstleistungsverkehr: Niederlassungsrecht, Offenheit für grenzüberschreitende Dienstleistungen, Liberalisierung der Bank- und Versicherungsdienstleistungen, Öffnung der Transport-, Post-, Telekommunikations- und Energiemärkte;
• Freier Kapitalverkehr: Freizügigkeit für den Zahlungsverkehr und den
Kapitalverkehr (Investitionen und Anlagen) innerhalb der EU und nach
1 EU – von der Wirtschafts- zur Sozialunion? Deutschland & Europa, Heft 54, hrsg. von
der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart 2007, S. 30.
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Thomas Weinmann
außen, Integration der Finanzmärkte, Liberalisierung des Wertpapierverkehrs.
Der Sinn des EU-Binnenmarkts besteht darin, Hemmnisse zu beseitigen und
Vorschriften zu vereinfachen, damit Privatpersonen, Verbraucher und Unternehmen in der gesamten EU die Chancen optimal nutzen können, die
sich ihnen durch den direkten Zugang zu einem gemeinsamen Markt bieten.
Mit dem EU-Binnenmarkt ist die Erwartung positiver Wachstums- und Beschäftigungseffekte und damit die Mehrung des materiellen Wohlstands
verbunden. Trotz deutlicher Fortschritte ist der EU-Binnenmarkt jedoch bis
heute noch nicht vollendet. In der Tat ist die Schaffung eines wirklich integrierten Marktes keine zeitlich begrenzte Aufgabe, sondern vielmehr ein
Dauerprozess, der fortgesetzte Anstrengungen und Aktualisierungen erfordert. Die technologischen und politischen Entwicklungen bringen es mit
sich, dass sich das Umfeld, in dem der Binnenmarkt funktioniert, ständig
ändert. Viele Hemmnisse sind zwar beseitigt worden, aber dafür kamen
andere zum Vorschein. Bereiche, in denen der Binnenmarkt noch nicht
völlig verwirklicht ist, sind insbesondere Dienstleistungen, netzgebundene
Wirtschaftszweige (Energie, Verkehr, Telekommunikation und Post), öffentliche Auftragsvergabe, geistiges und gewerbliches Eigentum sowie Steuerfragen. Nach wie vor werden EU-Rechtsakte zur weiteren Annäherung an
die Ziele des EU-Binnenmarktes erlassen.2
Im Jahr 2008 umfasst der EU-Binnenmarkt die 27 Mitgliedsländer der EU.
Mit dem Inkrafttreten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) am 1. Januar 2004 wurde der Binnenmarkt auf den EWR ausgedehnt. Somit gehören zum Europäischen Binnenmarkt im Jahr 2009
neben den aktuellen 27 EU-Ländern die drei weiteren EWR-Mitgliedsländer
Island, Norwegen und Liechtenstein. Im EWR wurden die Zölle zwischen
den Mitgliedstaaten abgeschafft und es gelten etwa 80 Prozent der Vorschriften des EU-Binnenmarkts. Ausgenommen sind insbesondere der Agrarbereich, die Steuerharmonisierung, die Wirtschafts- und Währungsunion, die
Politische Union und die Soziale Union.
2 http://ec.europa.eu/internal_market/index_de.htm.
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Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Die Dimension des EU-Binnenmarktes
Der EU-Binnenmarkt ist einer der größten und wirtschaftlich leistungsfähigsten Wirtschaftsräume der Welt. Die 27 EU-Mitgliedstaaten erwirtschafteten im Jahr 2007 zusammen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 12 276 Mrd.
Euro. Das Bruttoinlandsprodukt ist ein Maß für die wirtschaftliche Leistung
einer Volkswirtschaft, das den Wert aller innerhalb eines Wirtschaftsgebietes während einer bestimmten Periode produzierten Waren und Dienstleistungen umfasst, ohne die im Produktionsprozess verbrauchten Vorleistungen wie zum Beispiel Material und Energie. Im Jahr 2007 wurde fast
ein Viertel des weltweiten Bruttoinlandsprodukts in der EU-27 erwirtschaftet. Gemessen an dem weltweiten Handel mit Waren und Dienstleistungen
ist die Bedeutung der EU sogar noch größer: 40 Prozent des Welthandels
entfielen 2007 auf die EU-Länder. Dabei lebten mit rund 490 Millionen
Menschen nur rund sieben Prozent der Weltbevölkerung in den EU-Staaten.
Im Vergleich mit den anderen großen Wirtschaftsräumen weist die EU-27
das mit Abstand größte Welthandelsvolumen auf. Allerdings ist das Bruttoinlandsprodukt in der NAFTA (North American Free Trade Agreement –
Nordamerikanisches Freihandelsabkommen), zu der Kanada, Mexiko und
die USA gehören, etwas höher. Der ASEAN-Raum (Association of South-East
Asian Nations – Verband südostasiatischer Nationen) übertrifft mit 575
Millionen Einwohnern die Bevölkerungszahl der EU merklich (vgl. Abb. 1).
Zu den ASEAN-Staaten zählen Brunei-Darussalam, Indonesien, Kambodscha,
Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam.
Neben diesen mehr oder weniger stark integrierten Wirtschaftsräumen
haben in den letzten Jahren mit der Russischen Föderation, Indien und
China auch einzelne große Volkswirtschaften an wirtschaftlicher Bedeutung
gewonnen.
Die Position Baden-Württembergs im EU-Binnenmarkt
In Baden-Württemberg lebten 2007 rund 10,7 Millionen Menschen. Damit
weist das Land etwa so viele Einwohner auf wie die EU-Länder Griechenland,
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Thomas Weinmann
Abb. 1: Die Bedeutung der EU-27 in der Welt
(Anteile am jeweiligen Insgesamt im Jahr 2007)
100%
90%
80%
70%
60%
Übrige Welt
China
Indien
Russische
Föderation
Japan
ASEAN-101)
NAFTA2)
EU-27
50%
40%
30%
20%
10%
0%
Bevölkerung
Bruttoinlandsprodukt
Welthandel
Teilweise geschätzte Werte. – Bruttoinlandsprodukt: Auf Basis von US-$-Kaufkraftparitäten. – Welthandel: Auf US-$-Basis. –
1) Brunei-Darussalam, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand, Vietnam. –
2) Kanada, Mexiko, USA. – Quelle: IWF; Weltbank; Berechnungen des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg.
Portugal oder Belgien. Wäre Baden-Württemberg ein selbstständiger Nationalstaat, wäre es der Bevölkerung nach das zehntgrößte EU-Mitglied. Anders
formuliert: In immerhin 18 der 27 EU-Staaten leben weniger Menschen als
in Baden-Württemberg. Von den rund 490 Millionen Einwohnern der EU-27
lebte 2007 etwa jeder Sechsundvierzigste in Baden-Württemberg.
Das nominale Bruttoinlandsprodukt Baden-Württembergs belief sich
2007 auf 353 Mrd. Euro. Nur in sechs EU-Ländern war die Wirtschaftsleistung
höher als hierzulande, nämlich in Deutschland, im Vereinigten Königreich,
in Frankreich, Italien, Spanien und in den Niederlanden. Dagegen war die
wirtschaftliche Leistung in Polen, das mit 38 Millionen Menschen mehr als
dreieinhalb Mal so viele Einwohner zählt wie Baden-Württemberg, kleiner
als hierzulande.
Das reale Wirtschaftswachstum, also die Veränderung des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts im Zeitablauf, fiel in Baden-Württemberg im
EU-Vergleich seit dem Jahr 2000 bescheiden aus. Mit einer jahresdurchschnittlichen Wachstumsrate von 1,3 Prozent verfehlte Baden-Württemberg
den EU-27-Durchschnitt von 2,1 Prozent deutlich. Von den 27 EU-Ländern
war das Wirtschaftswachstum zwischen 2000 und 2007 nur in Deutschland,
64
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Italien und Portugal schwächer als in Baden-Württemberg. Die höchsten
durchschnittlichen Wachstumsraten erzielten in diesem Zeitraum die neuen osteuropäischen Mitgliedsländer. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs
befinden sich diese – ausgehend von einem geringen Niveau – immer noch
in einem wirtschaftlichen Aufholprozess, der ihre Wachstumsraten höher
ausfallen lässt als in den meisten Volkswirtschaften Westeuropas, die bereits
über eine hohe Wirtschaftskraft verfügen.
Ein Indikator für die Wirtschaftskraft ist der Quotient aus dem Bruttoinlandsprodukt und der Einwohnerzahl. Diese Kennziffer belief sich in
Baden-Württemberg 2007 auf über 32 800 Euro. Ein internationaler Vergleich dieser Kennziffer auf der Basis von Euro-Werten ließe die internationalen Unterschiede in den Preisniveaus außer Acht. So drückt ein Wert von
beispielsweise 20 000 Euro je Einwohner in einem Land mit einem hohen
Preisniveau eine geringere Wirtschaftskraft aus als in einem Land mit einem
geringen Preisniveau. Um die Aussagekraft internationaler Vergleiche zu
erhöhen, wird daher das Bruttoinlandsprodukt nicht mit den jeweiligen
Wechselkursen in eine einheitliche Währung, zum Beispiel den Euro, umgerechnet, sondern in sogenannten Kaufkraftparitäten (KKP) ausgewiesen.
Für die Umrechnung in Kaufkraftparitäten wird zunächst ermittelt, wie
viel ein bestimmtes Warensortiment in den verschiedenen Ländern kostet.
Diese Preise werden dann zur Grundlage der Währungsumrechnung gemacht und damit die internationalen Preisniveauunterschiede eliminiert.
Auf der Basis der so ermittelten Kaufkraftparitäten lag Baden-Württemberg
bei der Wirtschaftskraft innerhalb der EU-27 auf Rang fünf und übertraf
den EU-Durchschnitt um gut ein Viertel. Höher als hierzulande war die
Kennziffer Bruttoinlandsprodukt je Einwohner in Luxemburg, Irland, in
den Niederlanden und in Österreich. Die geringste Wirtschaftskraft wiesen
dagegen die neuen EU-Mitgliedsländer, allen voran Rumänien und Bulgarien, auf (vgl. Abb. 2).
Das Bruttoinlandsprodukt ist eine Größe aus den Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnungen, die unter anderem darüber Auskunft gibt, wo eine
bestimmte Wirtschaftsleistung erbracht wird und wo die daraus resultierenden Einkommen entstehen. Der Entstehungsort des Einkommens muss
aber nicht zwingend mit dem Ort der Verfügbarkeit des Einkommens identisch sein. Zwischen dem Ort der Einkommensentstehung und dem Ort der
Verfügbarkeit des Einkommens können sich zum Beispiel durch Transfers
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Thomas Weinmann
Abb. 2: Wirtschaftskraft in der EU-27
(Bruttoinlandsprodukt in Kaufkraftparitäten je Einwohner im Jahr 2007)
Luxemburg
283
Irland
146
Niederlande
131
Österreich
128
Baden-Württemberg
127
Dänemark
125
Schweden
124
Belgien
119
Finnland
119
Vereinigtes Königreich
118
Deutschland
114
Frankreich
111
Spanien
104
Italien
102
EU-27
100
Griechenland
98
Zypern
92
Slowenien
90
Tschechische Republik
81
Malta
77
Portugal
74
Estland
72
Slowakische Republik
69
Ungarn
64
Litauen
60
Lettland
58
Polen
54
Rumänien
40
Bulgarien
38
0
50
100
150
200
250
EU-27 = 100
Quelle: Eurostat; Baden-Württemberg und Deutschland: Arbeitskreis Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen
der Länder; Statistisches Landesamt Baden-Württemberg.
66
300
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
von Vermögenseinkommen oder durch Pendlerverflechtungen Unterschiede ergeben. Auskunft über die Höhe des Verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte gibt die gleichnamige Größe aus den Volkswirtschaftlichen
Gesamtrechnungen. Bezogen auf die Zahl der Einwohner ist das Verfügbare
Einkommen ein wichtiger Indikator für den materiellen Wohlstand eines
Landes beziehungsweise einer Region. Im Jahr 2006 belief sich das Verfügbare Einkommen je Einwohner in Baden-Württemberg auf über 19 800 Euro.
Umgerechnet in Kaufkraftparitäten war diese Kennziffer in keinem EU-Land
so hoch wie hierzulande. Baden-Württemberg übertraf dabei den EU-Durchschnitt um etwa 40 Prozent. An zweiter und dritter Stelle folgen Österreich
und die gesamte Bundesrepublik Deutschland. Am geringsten war der Wohlstand dagegen in Lettland und Rumänien.3
Baden-Württemberg und die „Vier Freiheiten“
des Binnenmarkts
Freizügigkeit beziehungsweise Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit
Die in den Verträgen zum EU-Binnenmarkt verankerte Freizügigkeit, also
die Abschaffung der Grenzkontrollen, dürfte für viele Bürgerinnen und
Bürger des Landes die sichtbarste Auswirkung des EU-Binnenmarktes sein.
War früher der Grenzübertritt teilweise noch mit langen Wartezeiten im
Auto verbunden, hat man nunmehr bei Reisen ins benachbarte EU-Ausland
meist „freie Fahrt“. Inzwischen haben alle EU-Länder mit Ausnahme Irlands,
des Vereinigten Königreichs, Bulgariens, Rumäniens und Zyperns sowie
auch die EWR-Länder Norwegen und Island die Personenkontrollen an den
Binnengrenzen abgeschafft. Statistisch lässt sich diese Verbesserung jedoch
nicht messen.
Demgegenüber spiegelt sich die ebenfalls in den EU-Verträgen verankerte Aufenthalts- und Niederlassungsfreiheit für EU-Staatsbürger in den Wanderungsstatistiken wider. Seit der Einführung des Binnenmarkts 1993 sind
bis 2007 gut 970 000 Personen aus einem aktuellen EU-Mitgliedsland nach
3 Auf der Basis von Daten für 2005 für 22 EU-Länder. Aktuellere Werte beziehungsweise
Daten für Bulgarien, Malta, Luxemburg, Slowenien und Zypern lagen nicht vor.
67
Thomas Weinmann
Baden-Württemberg eingewandert. Gleichzeitig haben über 950 000 Personen aus Baden-Württemberg das Land ins EU-Ausland verlassen. Davon bestand der jeweils weitaus größte Teil aus Personen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Der Wanderungssaldo mit den EU-Ländern war mit knapp
17 000 Personen positiv. Im Jahr 2007 konzentrierte sich jeweils mehr als
die Hälfte aller Zu- und Fortzüge nach beziehungsweise aus Baden-Württemberg auf ein aktuelles EU-Land. Seit Verwirklichung der Niederlassungsfreiheit hat sich der Anteil der Einwanderer aus den EU-Ländern an allen
Einwanderern nach Baden-Württemberg merklich erhöht.
Im Jahr 2007 war Polen vor Rumänien das bedeutendste Herkunfts- und
gleichzeitig auch das wichtigste Zielland der Ein- und Auswanderer mit
ausländischer Staatsangehörigkeit innerhalb der EU – und dies, obwohl die
Staatsangehörigen der neuen osteuropäischen EU-Mitgliedstaaten noch
nicht die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit und damit noch nicht den uneingeschränkten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt erhalten. Arbeitnehmer aus den osteuropäischen EU-Ländern dürfen vorerst nur mit einer Arbeitserlaubnis von der Agentur für Arbeit in Deutschland tätig werden.
Diese Einschränkung wird grundsätzlich noch bis 2011 bestehen bleiben.
Allerdings hat die Bundesregierung 2008 Erleichterungen für Akademiker
aus den neuen EU-Staaten mit Wirkung ab 2009 beschlossen.
Bei Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit war Frankreich vor Polen
das beliebteste EU-Zielland von Auswanderern aus Baden-Württemberg. Von
den deutschen Einwanderern aus der EU nach Baden-Württemberg kamen
die meisten ebenfalls aus diesen beiden Ländern, und zwar in der gleichen
Reihenfolge.
Ende 2007 lebten rund 1,3 Millionen Ausländer in Baden-Württemberg,
wobei beinahe 450 000 Ausländer den Pass eines anderen EU-Staats hatten.
Somit ist jeder 24. Einwohner Baden-Württembergs (4 %) aus dem EU-Ausland. In Baden-Württemberg leben Staatsangehörige aus allen Ländern der
EU. Mehr als jeder Dritte (36 %) der im Land lebenden EU-Bürger stammt
aus Italien, gut jeder Sechste (16 %) aus Griechenland und fast jeder Dreizehnte (8 %) aus Polen. Sogar einige Bürger mit maltesischem Pass haben in
Baden-Württemberg ihren Wohn- und Lebensmittelpunkt. Von den rund
5,3 Millionen Personen, die 2007 in Baden-Württemberg erwerbstätig waren,
kamen über 284 000 Personen aus dem EU-Ausland. Dies entspricht einem
Anteil von über fünf Prozent.
68
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Freier Warenverkehr
Aus der Abschaffung der Grenzkontrollen beim Warenaustausch innerhalb
des Binnenmarkts haben sich für die baden-württembergische Wirtschaft
nennenswerte Vorteile ergeben. Diese resultieren zum einen aus einem erleichterten Zugang zu einem größeren Absatzmarkt und zum anderen aus
der besseren Möglichkeit, durch die Verlagerung der Produktion arbeitsintensiver Komponenten an kostengünstigere Standorte im EU-Ausland die
internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Baden-Württemberg dürfte vom freien Warenverkehr deshalb in besonderem Maße profitieren, weil
die heimische Wirtschaft sowohl im nationalen als auch im internationalen
Vergleich überaus stark exportorientiert ist. Der Anteil der Warenausfuhren
am Bruttoinlandsprodukt, die sogenannte Exportquote, belief sich hierzulande 2007 auf 43 Prozent. Die baden-württembergische Exportquote war
damit nicht nur höher als in Deutschland insgesamt (40 %), sondern auch
höher als in fast allen anderen deutschen Ländern – mit Ausnahme des
Saarlands (46 %) und Bremens (45 %).
Auch im europäischen Vergleich weist Baden-Württemberg eine hohe
Exportquote auf, indem es den EU-Durchschnitt von 30 Prozent deutlich
übertrifft. Innerhalb der EU-27 war der Anteil der Warenausfuhren am
Bruttoinlandsprodukt in Belgien (95 %), in der Slowakischen Republik (77 %)
und in der Tschechischen Republik (69 %) am höchsten. Diese Länder weisen
gleichzeitig auch sehr hohe Importe auf. Das Handelsvolumen (Exporte und
Importe) dieser Länder fällt deshalb so hoch aus, weil sie einerseits über
eine günstige geographische Lage sowie über eine gute Infrastruktur und
Verkehrsanbindung verfügen (Belgien). Andererseits haben ausländische
Unternehmen Teile ihrer Produktionsketten in diese Länder verlagert (Slowakische und Tschechische Republik).
Die Integration Baden-Württembergs in den internationalen Warenhandel hat sich in den letzten Jahren erheblich verstärkt. Im Jahr 2007 erreichten die Warenausfuhren insgesamt einen Wert von rund 151 Mrd. Euro
und übertrafen den Wert von 1993 um das 2,7fache. Indem sie sich im
Untersuchungszeitraum verdreifachten, entwickelten sich die Warenexporte in die aktuellen EU-Länder seit Einführung des Binnenmarkts 1993
sogar noch dynamischer. Aufgrund ihrer hohen Dynamik waren die Warenexporte seit 1993 der wichtigste Wachstumsmotor der baden-württembergischen Wirtschaft: Mit einer Steigerung um das 2,7fache nahmen sie
69
Thomas Weinmann
weitaus stärker zu als das Bruttoinlandsprodukt, das sich „nur“ um das
1,5fache erhöhte. Wie bereits angedeutet, sind Warenausfuhren heute
jedoch weniger als noch in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Verkäufen
an das Zielland gleichzusetzen. Beim grenzüberschreitenden Handel spielt
der Warenaustausch zwischen den in mehreren Ländern angesiedelten
Produktionsstandorten eine immer größere Rolle. Dennoch war die Nachfrage aus dem Ausland derart kräftig, dass sie positive Effekte auf Wachstum und Beschäftigung im Land hatte. Abgesehen vom Jahr 2003 nahm
die Zahl der exportabhängigen Erwerbstätigen in Deutschland seit 1995
jährlich zu. Bundesweit hing 2005 etwa jeder fünfte Arbeitsplatz vom
Export ab, 1995 war es dagegen nicht einmal jeder sechste.4 Für BadenWürttemberg liegen zwar keine entsprechenden Daten vor. Es ist aber
davon auszugehen, dass die Exportabhängigkeit der Beschäftigung in
Baden-Württemberg noch höher ist als im Bundesdurchschnitt. Dafür
sprechen die überdurchschnittliche Bedeutung der Auslandsnachfrage für
die verarbeitenden Produktionsbereiche, die in Baden-Württemberg ein
großes Gewicht haben, und die im Bundesvergleich weit überdurchschnittliche Exportquote des Landes beim Warenhandel.
Die Länder der EU sind der größte ausländische Absatzmarkt badenwürttembergischer Güter. Von den Warenexporten des Landes im Wert von
insgesamt 151 Mrd. Euro entfielen 2007 rund 60 Prozent auf die aktuellen
EU-Länder. Wichtigstes Zielland sind allerdings nach wie vor die USA, die
zehn Prozent der baden-württembergischen Warenausfuhren abnahmen.
Auf den Plätzen zwei und drei folgen Frankreich (9 %) und Italien (7 %). Eine
besondere Bedeutung für die baden-württembergischen Exporte haben die
Länder der Euro-Zone. Dazu zählen neben Deutschland noch Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande,
Österreich, Portugal, Slowenien, Spanien und seit dem 1. Januar 2008 auch
Malta und Zypern. Im Jahr 2007 lieferte Baden-Württemberg in die heutige
Euro-Zone Güter im Wert von 62 Mrd. Euro. Das entspricht einem Anteil an
den gesamten Warenexporten des Landes von über 40 Prozent.
4 Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Verflechtung der deutschen Wirtschaft mit dem Ausland – Ergebnisse der Input-Output-Rechnung als Instrument zur Politikberatung.
Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 18. September 2007 in Berlin, Wiesbaden 2007,
S. 15 ff.
70
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Abb. 3: Warenexporte Baden-Württembergs in die Welt und in ausgewählte
Länder 1993–2007
1993 = 100
350
300
250
200
Welt
EU-27
Schweiz
USA
150
100
50
07 1
06
20
05
20
04
20
03
20
02
20
01
20
00
20
99
20
98
19
97
19
96
19
95
19
94
19
19
19
93
)
0
Bis 2000: Auf Basis von in Euro umgerechneten DM-Werten. – 1) Auf Basis vorläufiger Ergebnisse. –
Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg.
Entsprechend der Hauptzielrichtung der Exporte hat Baden-Württemberg für
die EU-Länder als Handelspartner eine überdurchschnittlich große Bedeutung.
Während sich der Anteil baden-württembergischer Güter an den weltweiten
Wareneinfuhren 2007 auf 1,5 Prozent belief, betrug der entsprechende Anteil
an den Einfuhren der EU im Durchschnitt 2,8 Prozent. Unter den EU-Ländern
hatten 2007 baden-württembergische Warenexporte in Österreich das größte
Gewicht. Dort entfielen 6,8 Prozent aller Einfuhren auf baden-württembergische Waren. An zweiter und dritter Stelle folgen die Tschechische Republik
(4,0 %) und Ungarn (3,4 %). Relativ gering war dagegen die Stellung der Südwestwirtschaft auf dem irischen und maltesischen Markt (jeweils 1,4 %). Weltweit betrachtet, hatten baden-württembergische Waren 2007 in der Schweiz
die relativ größte Bedeutung. In unserem südlichen Nachbarland kamen 7,8
Prozent aller Wareneinfuhren aus Baden-Württemberg.
Freier Dienstleistungsverkehr
Die Herstellung eines Gemeinsamen Marktes beinhaltet auch die freie grenzüberschreitende Erbringung von Dienstleistungen. Der Liberalisierung des
71
Thomas Weinmann
Dienstleistungshandels wird auch deshalb in der EU besondere Bedeutung
beigemessen, weil mit ihr häufig optimistische Erwartungen bezüglich
Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigungswirkungen, Preissenkungen oder verbesserter Servicequalität verknüpft werden.
Grundsätzlich lassen sich vier verschiedene Modi unterscheiden, nach
denen Dienstleistungen international gehandelt werden. Die erste Variante
ist, dass die Dienstleistungsströme – ähnlich wie Waren – die Grenze überqueren. Die Dienstleistung wird zum Beispiel per Telekommunikation (z. B.
Software) erbracht oder in Form von Dokumenten, magnetischen Bändern
oder Disketten verschickt. Zweitens kann die Dienstleistung im Ausland
konsumiert werden, indem der Konsument zur Inanspruchnahme der
Dienstleistung ins Ausland reist (z. B. Fremdenverkehr). Die dritte Form des
Dienstleistungshandels besteht darin, dass ein Unternehmen im Ausland
ein Tochterunternehmen gründet oder mit einem vor Ort ansässigen Unternehmen kooperiert, das die Dienstleistung erbringt (z. B. Bank- oder Versicherungsdienstleistungen). Schließlich können – viertens – Dienstleistungen im Ausland erbracht werden, indem eine natürliche Person ins Ausland
reist und dort die Dienstleistung erbringt (z. B. Errichtung von Gebäuden
durch ausländische Architekten und Handwerker).5
Damit kann man zwischen direkten (Modus 1 und 2) und indirekten (Modus 3 und 4) Formen des internationalen Dienstleistungshandels differenzieren. Der indirekte Dienstleistungshandel kann über die oben genannten
Varianten hinaus um „inkorporierte Dienstleistungen“ und „produktbegleitende Dienstleistungen“ erweitert werden. Inkorporierte Dienstleistungen
sind als Vorleistungen im Waren- und Dienstleistungsexport enthalten (z. B.
Forschungs- und Entwicklungsdienstleistungen im Export von Maschinen).
Diese Vorleistungen können entweder vom exportierenden Unternehmen
selbst (intern) erbracht oder von außen bezogen worden sein. Produktbegleitende Dienstleistungen werden „additiv“ angeboten und versehen die Güter
mit „Dienstleistungshüllen“ (z. B. Planung, Instandhaltung, Schulung).6
5 Vgl. Harald Trabold: Marktergebnisse im Außenhandel mit wissensintensiven Dienstleistungen im internationalen Vergleich, in: Bundesministerium für Bildung und
Forschung (Hrsg.): Studien zum deutschen Innovationssystem 15/2007, S. 3 f.
6 Thomas Stahlecker u. a.: Die Internationalisierung von Dienstleistungen. Eine Analyse
der aktuellen Entwicklungen in Deutschland und wichtiger Wettbewerber, in: Schriftenreihe „Innovationspotenziale“ des Fraunhofer-Instituts für System- und Innovationsforschung ISI (2006), S. 14.
72
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Das Volumen des direkten internationalen Dienstleistungshandels erreichte im Jahr 2007 nach Angaben der Welthandelsorganisation (World Trade
Organization – WTO) ein Volumen von über 6 300 Mrd. US-Dollar. Damit
blieb das Handelsvolumen mit Dienstleistungen deutlich hinter jenem des
internationalen Warenhandels zurück. Dieses lag 2007 bei über 28 000 Mrd.
US-Dollar. Bei den EU-Ländern war die Relation ähnlich: Während sich ihr
Außenhandel mit Dienstleistungen auf zusammen gut 2 800 Mrd. US-Dollar belief, waren es beim Warenhandel knapp 11 000 Mrd. US-Dollar. Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass der internationale Dienstleistungshandel – trotz einiger Bemühungen internationaler Organisationen in den
letzten Jahren – bislang statistisch nur unvollkommen erfasst wird. Die
WTO-Daten umfassen in erster Linie die direkten Formen des Dienstleistungshandels (Modus 1 und 2), während die indirekten Formen (einschließlich inkorporierte und produktbegleitende Dienstleistungen) nicht registriert werden.
Deutschlands direkter Dienstleistungsaußenhandel (also Modus 1 und
2) belief sich nach Angaben der Deutschen Bundesbank 2007 auf beinahe
340 Mrd. Euro. Zum Vergleich: Der Außenhandel mit Waren betrug gut
1 700 Mrd. Euro. Im Dienstleistungshandel standen Einnahmen in Höhe
von gut 160 Mrd. Euro Ausgaben von knapp 180 Mrd. Euro gegenüber. Der
Außenhandelssaldo war also um über 16 Mrd. Euro negativ. Hauptursache
dafür ist die Reisefreudigkeit der Deutschen. Ohne das Defizit im Reiseverkehr hätte die deutsche Dienstleistungsbilanz 2007 mit einem Plus von
50 Mrd. Euro abgeschlossen. Insgesamt beläuft sich der Anteil der aktuellen
EU-Länder am direkten deutschen Dienstleistungsaußenhandel sowohl bei
den Exporten als auch bei den Importen auf über die Hälfte. Bezüglich der
indirekten Formen des Dienstleistungshandels liegen zwar keine Daten der
Deutschen Bundesbank vor. Eine Studie hat aber gezeigt, dass das Volumen
der inkorporierten und produktbegleitenden Dienstleistungsexporte den
Wert des direkten Dienstleistungsexports im Jahr 2000 um knapp die Hälfte übertraf.7
Für Baden-Württemberg ist die Datenlage zum Dienstleistungshandel
noch schwächer als für Deutschland insgesamt, da für die Südwestwirtschaft nicht einmal zuverlässige Angaben zum Volumen des direkten
7 Ebd., S. 129 f.
73
Thomas Weinmann
Dienstleistungshandels insgesamt gemacht werden können. Immerhin
zeigt eine Studie, dass 2002 rund 30 Prozent der direkten Dienstleistungsexporte Baden-Württembergs in ein Land der EU-15 gingen.8 Damit waren
baden-württembergische Dienstleistungsunternehmen weniger mit der EU
verflochten als deutsche, die damals 40 Prozent ihrer Einnahmen mit direkten Dienstleistungsexporten mit einem EU-Land erzielten. Analog zu
Deutschland dürfte auch in Baden-Württemberg das Volumen des indirekten Dienstleistungsaußenhandels jenes des direkten Außenhandels deutlich übertreffen. Der Wert der in Waren inkorporierten Dienstleistungsexporte Baden-Württembergs belief sich 2007 auf schätzungsweise rund
28 Mrd. Euro.9 Analog zur Länderstruktur der baden-württembergischen
Warenexporte dürften davon etwa 60 Prozent, also knapp 17 Mrd. Euro, im
Handel mit einem aktuellen EU-Land erzielt worden sein. Das Volumen des
Außenhandels baden-württembergischer Unternehmen mit produktbegleitenden Dienstleistungen lässt sich zwar nicht quantifizieren, es wird jedoch
vermutet, dass baden-württembergische Unternehmen hier ein gewisses
Nachholpotenzial haben.
Der Handel mit Dienstleistungen hat innerhalb des Binnenmarktes zwar
seit Beginn der 1990er Jahre an Bedeutung gewonnen, aus Sicht der EU
standen aber teilweise noch bestehende bürokratische Hemmnisse einer
größeren Wachstumsdynamik im Wege. Daher hat die EU 2006 die Europäische Dienstleistungsrichtlinie mit dem Ziel erlassen, die bürokratischen
Hindernisse und zwischenstaatlichen Hemmnisse abzubauen und dadurch
den grenzüberschreitenden Handel mit Dienstleistungen zu fördern. Die
EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Richtlinie bis 2009 in nationales
Recht umzusetzen. Die Dienstleistungsrichtlinie enthält Bestimmungen,
welche die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer sowie den freien Dienstleistungsverkehr erleichtern sollen. Der
Anwendungsbereich der Dienstleistungsrichtlinie umfasst grundsätzlich
alle Dienstleistungen, die von einem in einem EU-Mitgliedstaat niedergelassenen Dienstleistungserbringer angeboten werden und für die eine wirt-
8 Zu den in diesem Beitrag genannten Daten zum Dienstleistungshandel Baden-Württembergs vgl. ebd.
9 Ähnliche Vorleistungsverflechtungen in Baden-Württemberg und Deutschland unterstellt. Zu den Annahmen vgl. ebd.
74
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
schaftliche Gegenleistung erbracht wird. Beispiele für die unter die Richtlinie fallenden Dienstleistungen sind Unternehmens- und Rechtsberatung,
Werbung oder Dienstleistungen von Architekten und Reisebüros. Diese Bestimmung wird jedoch durch eine umfangreiche Liste von Ausnahmen eingeschränkt. So gilt die Richtlinie und mithin der Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit beispielsweise nicht für Finanz- und Verkehrsdienstleistungen,
Dienstleistungen von Leiharbeitsagenturen oder für den Elektrizitäts- und
Gassektor. Für den Schutz der Arbeitnehmer in Dienstleistungsunternehmen,
die grenzüberschreitend tätig sind, wurde der Entsenderichtlinie und der
Verordnung über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit Vorrang gegenüber der Dienstleistungsrichtlinie eingeräumt. Dadurch wurde
sichergestellt, dass bei einer längerfristigen Entsendung von Arbeitnehmern
aus einem EU-Mitgliedstaat zur Erbringung von Dienstleistungen in einem
anderen EU-Land die arbeits- und sozialrechtlichen Regeln des Bestimmungslandes gelten.10
Freier Geld-, Kapital- und Zahlungsverkehr
Die Bestimmungen des EU-Binnenmarkts sehen ferner einen freien Geld-,
Kapital- und Zahlungsverkehr vor. Für Privatpersonen bedeutet dies, dass
sie beispielsweise zahlreiche Geschäfte im Ausland tätigen können, wobei
das Spektrum hier von der Eröffnung eines Bankkontos über den Kauf von
Aktien ausländischer Unternehmen und die Geldanlage am renditestärksten Markt bis hin zum Immobilienerwerb reicht. Für Unternehmen bedeutet diese Liberalisierung im Wesentlichen, dass sie in andere europäische
Unternehmen investieren und Eigentümer dieser Unternehmen sein können.11
Hinweise über die internationalen Kapitalverflechtungen der Unternehmen geben Zahlen zu den Direktinvestitionen. Direktinvestitionen sind alle
langfristigen Kapitalanlagen im Ausland, die ein Investor vornimmt, um
die Kontrolle oder zumindest einen wesentlichen Einfluss auf die Geschäftspolitik des kapitalnehmenden Unternehmens zu gewinnen. Direktinvestitionen können folgende Erscheinungsformen annehmen:
10 Europäisches Informations-Zentrum (EIZ) Niedersachsen (http://www.eiz-niedersachsen.
de/dienstleistungen.html).
11 http://ec.europa.eu/internal_market/capital/index_de.htm.
75
Thomas Weinmann
• Gründung und Erweiterung von Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen und Betriebsstätten;
• Beteiligung an bestehenden oder neu gegründeten Unternehmen;
• Kreditgewährung durch die Direktinvestoren (und abhängige Unternehmen) an die ausländischen Unternehmen, Zweigniederlassungen und
Betriebsstätten.
Die deutsche Direktinvestitionsstatistik umfasst sowohl unmittelbare als
auch mittelbare Direktinvestitionen. Bei den unmittelbaren Direktinvestitionen handelt es sich um die direkten Kapitalbeziehungen aus Beteiligungen von Inländern an Unternehmen im Ausland beziehungsweise von
Ausländern an Unternehmen in Deutschland. Unter den mittelbaren Direktinvestitionen sind indirekte Kapitalbeziehungen zu verstehen. Erfasst
werden jedoch nur solche indirekten Beteiligungen, die über abhängige
Holdinggesellschaften gehalten werden. Die Summe aus den unmittelbaren und mittelbaren Direktinvestitionsbeständen baden-württembergischer Unternehmen im Ausland belief sich Ende 2006 auf beinahe 140 Mrd.
Euro, davon knapp 61 Mrd. Euro in der damaligen EU-25. Das wichtigste
Zielland baden-württembergischer Direktinvestitionen war 2006 mit weitem Abstand die USA (53 Mrd. Euro), gefolgt vom Vereinigten Königreich
(12 Mrd. Euro). Auf der anderen Seite belief sich der Bestand an unmittelbaren und mittelbaren Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen
in Baden-Württemberg Ende 2006 auf fast 47 Mrd. Euro. Davon stammten
über 33 Mrd. Euro aus einem Land der EU-25. Bedeutendstes Herkunftsland
waren die Niederlande (13 Mrd. Euro), gefolgt von der Schweiz (6 Mrd.
Euro).
Seit der Verwirklichung des EU-Binnenmarkts 1993 haben sich die Kapitalverflechtungen der EU-Unternehmen erheblich intensiviert. Die unmittelbaren und mittelbaren Direktinvestitionsbestände Baden-Württembergs
haben sich in den 17 EU-Ländern,12 für die vergleichbare Daten vorlagen,
12 Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, Dänemark,
Vereinigtes Königreich, Irland, Österreich, Schweden, Ungarn, Finnland, Polen, Slowakische Republik, Tschechische Republik. Von der EU-25 aus dem Jahr 2006 fehlen somit
Griechenland, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Malta und Zypern, deren Direktinvestitionsvolumen allerdings nicht besonders ins Gewicht fällt.
76
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
zwischen Ende 1993 und Ende 2006 fast verfünffacht.13 Die Entwicklung
der Direktinvestitionstätigkeit dieser 17 EU-Länder in Baden-Württemberg
war sogar noch etwas dynamischer. Allerdings nahmen die Direktinvestitionen Baden-Württembergs in einigen außereuropäischen Ländern stärker
zu als in der EU. So steigerten baden-württembergische Unternehmen ihre
Direktinvestitionen in den USA seit 1993 um das Sechsfache, in Japan um
das Fünfeinhalbfache und in China – ausgehend von einem sehr kleinen
Ausgangsniveau – um mehr als das 570fache. Auf der anderen Seite war die
Zunahme der Direktinvestitionen in Baden-Württemberg bei Unternehmen
aus EU-Ländern am dynamischsten.
Strukturindikatoren der Lissabon-Strategie
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union haben beim Europäischen Rat in Lissabon im März 2000 umfangreiche Reformen auf vielen
Gebieten beschlossen, um die Europäische Union bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der
Welt zu entwickeln“ und damit zu einem „Wirtschaftsraum, der fähig ist,
ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erreichen“. Beim Europäischen Rat in Göteborg 2001 wurde diese Zielsetzung um die Dimensionen „Umwelt“ und „Nachhaltige Entwicklung“ ergänzt („Drei Säulen“). Da
zum Zeitpunkt der Halbzeitbilanz auf dem Treffen des Europäischen Rates
im März 2005 in Brüssel die Erfolge hinter den Erwartungen zurückblieben,
wurde eine Neuausrichtung der Lissabon-Strategie beschlossen. Der Europäische Rat legte fortan den Schwerpunkt auf Wachstum und Beschäftigung.
Neben der Stärkung von Innovation, Wissen und Bildung wurde auch die
Vollendung des Binnenmarkts als wichtige Handlungsachse für die Erreichung dieses Ziels identifiziert.
Der Europäische Rat überprüft alljährlich im Frühjahr die Fortschritte
im Rahmen der Lissabon-Strategie sowohl auf Seiten der Mitgliedstaaten
13 Aufgrund einer methodischen Änderung in der Direktinvestitionsstatistik seit dem
Berichtsjahr 1999 ist die Zunahme von 2006 gegenüber 1993 überzeichnet.
77
Thomas Weinmann
sowie – in den Bereichen, in denen die Gemeinschaft Zuständigkeiten hat
– auf Seiten der EU-Kommission. Die Überprüfung der Fortschritte wird
unter anderem anhand einer laufend überarbeiteten Liste genau definierter Indikatoren – der sogenannten Strukturindikatoren – vorgenommen,
auf die sich der Europäische Rat und die Europäische Kommission verständigen. Die komplette Liste der Strukturindikatoren umfasst derzeit rund
100 Indikatoren, die sich auf die sechs folgenden Themenbereiche beziehen: allgemeiner wirtschaftlicher Hintergrund, Beschäftigung, Innovation
und Forschung, Wirtschaftsreform, Sozialer Zusammenhalt und Umwelt.
Ursprünglich wurden für einzelne Indikatoren konkrete Zielvorgaben für
die EU insgesamt genannt. Auf dem EU-Gipfeltreffen in Brüssel 2005 wurden diese Vorgaben jedoch aufgegeben.
Um eine gezieltere Präsentation und einen besseren Überblick im Zeitverlauf über die im Hinblick auf die Lissabon-Agenda erzielten Erfolge zu
ermöglichen, verständigte sich die Europäische Kommission mit dem Rat
auf eine kurze Liste von 14 Indikatoren (ohne geschlechtermäßige Differenzierung), die jeweils für mindestens drei Jahre stabil gehalten werden soll.
Bei den Strukturindikatoren der Mitte 2008 gültigen kurzen Liste schneidet Baden-Württemberg – soweit für das Land vergleichbare Daten vorlagen
– sehr gut ab. Baden-Württemberg steht nicht nur bei fast allen verfügbaren
Strukturindikatoren besser da als Deutschland und die EU insgesamt, das
Land übertraf auch bereits in den vergangenen Jahren fast alle ursprünglich
für 2010 formulierten EU-Ziele.
Die Strukturindikatoren zum „Allgemeinen wirtschaftlichen Hintergrund“ sollen Hinweise auf die Wirtschaftskraft (Indikator 1) und die internationale Wettbewerbsposition (Indikator 2) der EU-Länder geben. Im Themenfeld „Beschäftigung“ finden sich die Kennziffern Beschäftigungsquote
insgesamt (Indikator 3) und Beschäftigungsquote der 55- bis 64-Jährigen
(Indikator 4), die Rückschlüsse auf den Integrationsgrad der Bevölkerung
in den Arbeitsmarkt zulassen. Die Beschäftigungsquote ist definiert als
Anteil der Erwerbstätigen an der gleichaltrigen Bevölkerung. Der dritte
Bereich „Innovation und Forschung“ umfasst Indikatoren zum Bildungsstand von Jugendlichen (Indikator 5) und zu den Investitionen in Forschung
und Entwicklung (Indikator 6). Indikator 5 gibt an, wie hoch der Anteil der
Jugendlichen im Alter von 20 bis 24 Jahren ist, die einen Bildungsabschluss
haben, der mindestens der Sekundarstufe II entspricht. Das heißt für
78
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Tab. 1: EU-Strukturindikatoren der kurzen Liste 2008
Themenbereich
Indikator
Einheit
Berichtsjahr
BadenDeutsch- EU-27 UrsprüngWürttem- land
liches Ziel
berg
2010
I. Allgemeiner wirtschaftlicher Hintergrund
1. Bruttoinlandsprodukt
EU-27 Ⳏ
(BIP) je Einwohner in
100
Kaufkraftparitäten (KKP)
2007
127
114
100
–
EU-27 Ⳏ
100
2007
110
105
100
–
3. Beschäftigungsquote
insgesamt
%
2007
74
69
65
70
4. Beschäftigungsquote
der 55- bis 64-Jährigen
%
2007
58
52
45
50
5. Anteil der Jugendlichen %
mit Abschluss der Sekundarstufe II oder höher
2007
75
73
78
–
6. Anteil der Bruttoinlandsausgaben
für Forschung und Entwicklung am BIP
%
2005
4,2
2,5
1,8
3,0
EU-27 Ⳏ
100
2007
–
103
100
–
2006
–
17
18
–
%
2005
15
13
161)
–
%
2007
–
4,7
3,1
–
2. Arbeitsproduktivität
je Beschäftigten in KKP
II. Beschäftigung
III. Innovation und Forschung
IV. Wirtschaftsreform
7. Vergleichende Preisniveaus des Endverbrauchs priv. Haushalte
8. Anteil der Bruttoanlage- %
investitionen des privaten Sektors am BIP
V. Sozialer Zusammenhalt
9. Anteil der von Armut
gefährdeten Personen
(nach Sozialleistungen)
10. Anteil der Langzeitarbeitslosen an der
Erwerbsbevölkerung
79
Thomas Weinmann
Themenbereich
Indikator
Einheit
11. Regionale Unterschiede Variationsder Beschäftigungskoeffizient
quote innerhalb
der EU-Länder
Berichtsjahr
BadenDeutsch- EU-27 UrsprüngWürttem- land
liches Ziel
berg
2010
2006
–
5,2
11,4
–
2005
97
81
92
792)
2005
–
157
208
–
2006
–
115
107
–
VI. Umwelt
12. Emissionen von Treibhausgasen
1990 Ⳏ
100
13. Bruttoinlandsverbrauch kg Rohan Energie im Verhältnis öleinheizum BIP
ten pro
1 000 Euro
14. Güterverkehrsvolumen
im Verhältnis zum BIP
1995 Ⳏ
100
1) EU-25. – 2) Unter dem Kyoto-Protokoll hat die EU einer Reduzierung um 8 % seiner Treibhausgasemissionen bis 2008–2012 im Vergleich zum Kyoto-Basisjahr 1990 zugestimmt. In der
sogenannten EU-Lastenteilungsvereinbarung wurden mit den EU-Ländern individuelle Reduzierungsvorgaben vereinbart. Für Deutschland ist eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 21 Prozent vorgesehen. Stand: Juli 2008 (Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen)
Deutschland mindestens eine abgeschlossene Lehre oder einen berufsqualifizierenden Abschluss an Berufsfachschulen beziehungsweise Kollegschulen. Indikator 6 spiegelt das Ausmaß der gesamtwirtschaftlichen Aufwendungen, die auf die Produktion neuen Wissens gerichtet sind, wider. Die
Strukturindikatoren zum Themenfeld „Wirtschaftsreform“ sollen Hinweise
auf den Wettbewerbs- und Integrationsgrad im Binnenmarkt (Indikator 7)
und zum Ausmaß der privaten Kapitalbildung (Indikator 8) geben. Überdurchschnittliche nationale Preisniveaus sind ein Indiz für unvollständigen
Wettbewerb oder andere Marktineffizienzen. Eine große Streuung der Indikatorwerte zwischen den EU-Ländern soll folglich auf eine unvollständige
Entwicklung des Binnenmarkts hindeuten. Dagegen gilt die private Kapitalbildung als ein Schlüsselfaktor für das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft.
Der Bereich „Sozialer Zusammenhalt“ beinhaltet drei Indikatoren. Der
Anteil der von Armut gefährdeten Personen (Indikator 9) ist definiert als der
80
Die Wirtschaft des Landes Baden-Württemberg im EU-Binnenmarkt
Anteil der Personen, deren verfügbares Einkommen nach Sozialtransfers
im laufenden und in zwei von drei vorhergehenden Jahren unterhalb der
Armutsgrenze von 60 Prozent des bedarfsgewichteten nationalen Mediannettoeinkommens liegt. Zur Berechnung der Armutsgefährdungsquote wird
nach dem europäischen Standard zunächst das von allen Haushaltsmitgliedern tatsächlich erzielte Haushaltseinkommen herangezogen (darin sind
Sozialtransfers enthalten). Dieses wird auf die Personen des Haushalts nach
einem Gewichtungsschlüssel verteilt („bedarfsgewichtetes Äquivalenzeinkommen“), der die unterschiedliche Zusammensetzung von Haushalten
berücksichtigt und den Umstand, dass Personen in einem Haushalt durch
ihr Zusammenleben Einspareffekte bei den laufenden Kosten erzielen. Zur
Ermittlung des mittleren Einkommens der Bevölkerung wird der Median
(Zentralwert) des Äquivalenzeinkommens verwendet. In Baden-Württemberg
lag 2005 die so berechnete Armutsgefährdungsgrenze für einen Alleinstehenden bei einem jährlichen Nettoeinkommen von 10 752 Euro. Der Anteil
der Langzeitarbeitslosen an der Erwerbsbevölkerung (Indikator 10) bildet
strukturelle Probleme auf dem Arbeitsmarkt, die Vermittelbarkeit und das
Risiko sozialer Ausgrenzung ab. Langzeitarbeitslosigkeit beginnt bei einer
Arbeitslosigkeitsdauer von zwölf Monaten. Die Kennziffer „Regionale Unterschiede der Beschäftigungsquote“ (Indikator 11) spiegelt die Differenzen
der regionalen ökonomischen Aktivität und Beschäftigung wider. Der Indikator wird anhand des Variationskoeffizienten, also dem Quotienten aus
Standardabweichung und arithmetischem Mittelwert, der regionalen Beschäftigungsquoten berechnet. In Deutschland erfolgt die Berechnung auf
der Ebene der Regierungsbezirke. Je höher der Indikatorwert, desto höher
sind die regionalen Disparitäten.
Die Strukturindikatoren des Themenbereichs „Umwelt“ geben Hinweise
auf die Gesamtemission von Treibhausgasen (Indikator 12), auf die Energieintensität der Wirtschaft (Indikator 13) und auf die Gütertransportintensität (Indikator 14). Die Energieintensität misst den Verbrauch der fünf Energiearten Kohle, Elektrizität, Öl, Erdgas und erneuerbare Energien bezogen
auf die wirtschaftliche Leistung. Die Gütertransportintensität setzt das Gütervolumen im Straßen-, Eisenbahn- und Binnenwassertransport in Bezug
zur wirtschaftlichen Leistung. Grundsätzlich sind somit bei den drei Umweltindikatoren niedrige Werte wünschenswert.
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