Die nationalsozialistischen Konzentrationslager1 J :~I

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und die in der überwiegenden Mehrheit bis zum Kriegsende bestanden, kon­
statieren: Beide Formen des Lagers unterschieden sich hinsichtlich der institu­
tionellen Trägerschaft, der Organisationsstrukturen und der Verfolgungspra­
xis, hinsichtlich der Verfolgtengruppen, der Haftbedingungen sowie der Zahl
der Opfer. Will man dies analytisch fassen, muß für diese Phase des NS-Regi­
mes der Begriff des »Konzentrationslagers« aufgegeben und - wie bereits in
Teilen der Forschung üblich - durch den des »frühen Lagers« ersetzt werden.
Der Terminus kann verdeutlichen, daß die Jahre 1933/34 von einer spezifi­
schen, die Errichtung einer Diktatur begleitenden Form der Terrorisierung
der politischen Gegner geprägt waren, die sich grundsätzlich von späteren
Phasen des Dritten Reiches unterschied. Der Terrorapparat, der die Verfol­
gungsmaßnahmen seit 1936 bestimmte, hatte sich noch nicht formiert.
1933/34 bestanden vielmehr verschiedene, miteinander konkurrierende Ver­
folgungsinstanzen. Erst die Ernennung von Heinrich Himmler zum Leiter des
preußischen Geheimen Staatspolizeiamtes im April 1934 und die Ermordung
Ernst Röhms und der SA-Führung im Juni desselben Jahres markiert eine Zä­
sur: Die bayrische Gruppe der SS-Führung um Himmler und Reinhard Heyd­
rich hatte sich in der Auseinandersetzung um die Verfügungsrnacht über die
Politische Polizei und die Lager gegenüber der rivalisierenden SA und gegen
die neu eingesetzten Länderchefs und Gauleiter durchsetzen können. Erst da­
mit war die Voraussetzung gegeben, daß Himmler in der Folgezeit daran ge­
,hen' konnte, die Politische Polizei im gesamten Reichsgebiet ebenso wie die be­
, stehenden Lager und Haftstätten zu vereinheitlichen.
Das Modell der Gegnerverfolgung und Lagerbeherrschung, auf das Himmler
zurückgriff, um jene einheitlich auszurichten, war 1933 in Dachau von Theodor
Eicke entwickelt worden. Himmler ernannte Eicke im Frühsommer 1934 zum.
»Inspekteur der Konzentrationslager« und beauftragte ihn, die bestehenden La­
ger entweder aufzulösen oder sie nach dem sogenannten Dachauer Modell zu
strukturieren. Zudem schuf er eine ihm unterstehende und zunächst sehr kleine
Dienststelle, die »Inspektion der Konzentrationslager« (IKL), die sich in den fol­
genden Jahren zur zentralen Verwaltungsinstanz für die KZ entwickelte. Eicke
gelang es, binnen kurzer Zeit den Auftrag Himrnlers umzusetzen.
Die Phase zwischen 1934 und 1936 ist gekennzeichnet durch die.Auflösung
bzw. Reorganisation der bestehenden Lager und den Versuch Himmlers, diese
dem Einfluß anderer Instanzen zu entziehen. Doch die Entwicklung führte
nicht bruchlos zur Errichtung eines Lagersystems. Vielmehr wurden in diesem
Zeitraum Überlegungen laut, die Lager gänzlich aufzulösen, die Schutzhäft­
linge der Justiz zu übergeben und sie in den normalen Strafvollzug zu re­
integrieren. Die Bestrebungen zeigen, daß die Etablierung des NS"Regimes
abgeschlossen war; es hatte seine Gegner politisch isoliert, eingesperrt oder
umgebracht. Die Zahl der in Haft befindlichen Personen sank auf einen Tief~
stand - ebenso wie die Zahl derjenigen Lager, die Eicke im Zuge der Reorga­
nisation der IKL unterstellt hatte.
Es ist auf einige grundsätzliche Entscheidungen Hitlers aus dem Jahre 1935
zurückzuführen, daß die Schutzhaftlager beibehalten wurden. Auf Vorlage
Himmlers entschied Hitler nicht nur, daß die Gefangenen weiterhin der SS un­
Karin Orth
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager 1
Vom politischen Schutzhaftlager zum Konzentrationslager
Um den Prozeß, der zur Errichtung der Konzentrationslager führte, genau be­
trachten zu können, gilt es zunächst den Beginn der NS-Diktatur, den Martin
Broszat die »Phase der revolutionären Machtübernahme« genannt hat,2 ge­
nauer zu betrachten. Der Zeitraum ist vor allem dahingehend zu untersuchen,
ob bereits zu diesem Zeitpunkt von einem einheitlichen Typus des Konzentra­
tionslagers gesprochen werden kann und ob Pläne existierten, ein System von
Konzentrationslagern einzurichten. Es läßt sich hinreichend belegen, daß dies
nicht der Fall war. 3 Vielmehr existierte eine Vielzahl von Lagern, Haftstätten
und »Prügelkellern« - deren genaue Zahl bislang nicht ermittelt werden
konnte -, in denen mehrere zehntausend Personen gefangengehalten und ge­
foltert wurden. Sie wiesen - strukturell betrachtet - wenig Einheitlichkeit auf~
alle waren jedoch durch ein - im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren - .
Höchstmaß an Brutalität gekennzeichnet. Die Orgie der Gewalt, die sich in
den frühen Haftstätten entlud und die in erster Linie die politischen Gegner
des Nationalsozialismus traf, markiert den grundsätzlichen Unterschied zur
Weimarer Republik, obgleich sich bereits diese durch ein vergleichsweise ho­
hes Maß an Gewalttätigkeit auszeichnete. Die deutsche und internationale Öf­
fentlichkeit registrierte, daß eine neue Stufe der Eskalation erreicht war. Aus
der Rückschau und im Vergleich zu späteren Jahren der NS-Herrschaft relati­
viert sich jedoch diese Einschätzung. Der Terror der Jahre 1933/34 ist Aus­
druck der Tatsache, daß eine autoritäre Diktatur errichtet wurde; er bedeutet
nicht notwendigerweise die geplante Vorstufe eines umfassenden Terror- und
Vernichtungssystems.
In vielerlei Hinsicht lassen sich prinzipielle Unterschiede zwischen den
1933/34 bestehenden Lagern und denjenigen, die seit 1936 eröffnet wurden
Vgl. auch Orth, -Karin: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager ­
eine politische Organisationsgeschichte. Hamburg 1999; Herbert, Ulrich; Orth, Karin;
Dieckmann, Christoph (Hg.): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager. Entwick­
lung und Struktur. 2 Bde. Göttingen 1998.
2 Broszat, Martin: Nationalsozialistische Konzentrationslager 1933-1945. In: Buchheim,
Hans u. a.: Anatomie des SS-Staates. Bd. 2. München 1982, S. 13.
3 Die Phase der frühen Lager haben vor aJlem Klaus Drobisch und Johannes Tuchel
erforscht. Vgl. Drobisch, Klaus; Wieland, Günther: System der NS-Konzentrationsla­
ger 1933-1939. Berlin 1993; TucheI, Johannes: Konzentrationslager. Organisationsge­
schichte und Funktion der »Inspektion der Konzentrationslager« 1934-1938. Boppard
1991 (Schriften des Bundesarchivs; 39).
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terstehen, sondern auch, daß die Wachtruppen zu einem militärischen Ver­
band ausgebaut werden sollten. Darüber hinaus billigte er Himmlers Vor­
schlag, beide - Wachtruppe wie Schutzhaftlager - aus staatlichen Mitteln zu
finanzieren und letztere endgültig vor dem Zugriff der Justiz abzuschotten. 4
Im Sommer 1936, mit der Ernennung Himmlers zum »Chef der deutschen Po­
lizei«, dem 3. Gestapo-Gesetz und der Zusammenführung von Politischer Polizei
und Kriminalpolizei unter dem Dach der »Sicherheitspolizei« kam die Phase der
Zentralisierung zum Abschluß. Erneut hatte sich Himmler, und zwar mit der aus­
drücklichen Unterstützung Hitlers, durchsetzen können: gegen die Regierungs­
präsidenten, das Reichsministerium des Innern und das Justizministerium. Seit
diesem Zeitraum waren die Lager dem Einfluß der traditionellen Behörden ent­
zogen. Erst jetzt waren die Voraussetzungen zur Errichtung eines Lagersystems
geschaffen. Himmler ließ die Lager, die bereits der IKL unterstanden, auflösen,
da sie sich in Anbetracht seiner Planungen als zu klein erwiesen. Im Sommer 1937
waren alle Lager (mit der Ausnahme Dachaus) aufgelöst oder endgültig an ande­
re Institutionen (etwa an die Gestapo oder die Justiz) abgegeben worden. An ihre
Stelle trat ein neuer Lagertypus: das nationalsozialistische Konzentrationslager.
Von 1936 bis Kriegsbeginn wurden fünf Konzentrationslager errichtet, näm­
lich Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und Ravensbrück;
Dachau wurde erheblich erweitert. 5 Nicht nur der gemeinsame Entstehungszeit­
raum, das organisatorische Dach der IKL sowie das Bestreben der SS-Führung,
ausschließlich diese Lager als »Konzentrationslager« bezeichnet zu wissen, recht­
fertigt es, die genannten KZ von den bisherigen Lagern und Haftstätten abzu­
grenzen und sie als Teil eines Systems zu begreifen. Das Charakteristische und
qualitativ Neuartige bestand in einer Reihe weiterer Faktoren: AUe Konzentra­
tionslager waren nach dem Vorbild des Dachauer Modells strukturiert. Sie wie­
sen zum einen eine gleichartige innere Verwaltungs- und Organisationsstruktur
auf, die Teilung der Lager-SS in einen (in Abteilungen untergliederten) Kom­
mandanturstab einerseits, die Wachtruppe andererseits. Zum zweiten waren aUe
Häftlinge der gleichen Lagerordnung unterworfen, die durch den Versuch cha­
rakterisiert ist, den Terror durch Normierung zu systematisieren. Alle seit 1936
errichteten Konzentrationslager wurden zudem eigens gebaut (während für die
frühen Lager in der Regel bereits vorhandene Gebäude oder Anlagen genutzt
worden waren), und zwar nach ähnlichen architektonischen Plänen. Das wesent­
liche Gestaltungsmerkmal bestand in der räumlich-funktionalen Zusammenfas­
sung zu einem geschlossenen Komplex, der die folgenden Bauelemente umfaßte:
Schutzhaftlager, Kommandantur, Lagerwerkstätten, Kasernen der SS-Wach­
verbände und die Wohnsiedlung der Mitglieder des Kommandanturstabes. 6
Der Ausbau des KZ-Systems seit 1936 war eng verknüpft mit den Kriegs­
vorbereitungen. Sicherheitspolitische Aspekte sind anzuführen, etwa die
Überlegungen, in den Grenzregionen des Deutschen Reiches, aber auch in
zentralen Regionen (etwa in der Nähe der Reichshauptstadt, in dem als poli­
tisch besonders unsicher geltenden Thüringen usw.) ein KZ einzurichten, also
ein flächendeckendes Netz von allein der SS unterstehenden Haftstätten zu
etablieren. Zudem ist die von Himmler forcierte Strategie zu nennen, die be­
waffneten SS-Verbände zum »zweiten Waffenträger der Nation« aufzubauen.
Diesem Ziel sollte auch die Ausbildung und Aufstockung der SS-Totenkopf­
verbände, die die KZ-Wachtruppen stellten, zu einem militärischen Verband
dienen. Tatsächlich konnte Himmler die Umstrukturierung der Wachverbän­
de in Gang setzen.?
Als entscheidender Faktor, der es rechtfertigt, aUein die seit 1936 errichte­
ten Lager als nationalsozialistische Konzentrationslager zu bezeichnen, ist an­
zuführen, daß sich Mitte der dreißiger Jahre ein tiefgreifender Wandel der
Verfolgung vollzogen hatte. Dies betraf zunächst die Ebene der Konzeptio­
nen. Innerhalb der Gestapo-Führung setzte sich Mitte der dreißiger Jahre das
Prinzip der »rassischen Generalprävention« (Ulrich Herbert) durch. Die Ver­
haftungswellen der Jahre 1937 und 1938, die in erster Linie sogenannte Aso­
ziale betrafen (und nicht länger mehr die politischen Gegner des Regimes),
zeigen, daß das sozialrassistische und rassebiologische Gegnerkonzept auch
Eingang in die Praxis der Verfolgungsbehörden fand. 8 Durch die Ausweitung
der Definition derjenigen Gruppen, die als Bedrohung des Staates und des
deutschen Volkes angesehen wurden, und durch die massenhafte Verhaftung
von »Kriminellen« und »Asozialen« wuchs die Zahl der KZ-Häftlinge 1937/
38 erheblich an. Sie erreichte mit dem Novemberpogrom 1938 kurzfristig ei­
nen Höchststand. Die Verschleppung von rund 30000 Juden für etwa sechs
bis acht Wochen in die KZ und ihre barbarische Behandlung dienten in erster
Linie dazu, den Druck auf die jüdische Bevölkerung zu erhöhen, aus Deutsch­
land - unter Zurücklassung ihres Eigentums - auszuwandern. 9
Zudem ist seit 1937/38 von einer verstärkten Ausbeutung der KZ-Häftlinge
auszugehen. Hatte der Arbeitseinsatz der Gefangenen in den ersten Jahren
der NS-Herrschaft in voUkommen sinnlosen Beschäftigungen b~standen oder
dem Lageraufbau gedient, setzte die SS die Häftlinge nun für ihre eigenen
7 Vgl. Wegner, Bernd: Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933-1945. Studien zu
Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite. Paderbom 1983,
S. 95-105,112-123.
8 Vgl. Ayaß, Wolfgang: »Asoziale« im Nationalsozialismus. Stuttgart 199~--8. 139-165;
Terhorst, Karl-Leo: Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeu­
gungshaft im Dritten Reich. Ein Beitrag zur Rechtsgeschichte vorbeugender Verbre­
chensbekämpfung. Heidelberg 1985, S. 115-130 (StUdien und Quellen zur Geschichte
des deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien; 13); Wagner, Patrick: »Vernichtung
der Berufsverbrecher«. Die vorbeugende Verbrechensbekämpfung der Kriminalpolizei
bis 1937. In: HerbertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 87-110.
9 Zur antijüdischen Politik des NS-Regimes in dieser Phase vgl. Friedländer, Saul: Das
Dritte Reich und die Juden. Bd. I: Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. München 1998,
S.291-328.
4 VgJ. Herbert, Ulrich: Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und
Vernunft 1903-1989. Bonn 1996, S. 168-170; Tuchei: Konzentrationslager, S. 307-315.
5 VgJ. zum Forschungsstand zu den einzelnen KZ Orth, Karin: Studien zur Geschichte der
nationalsozialistischen Konzentrationslager - ein Forschungsüberblick. In: La Revue d'AI­
lemagne, erscheint in Heft I (Februar)j2000.
6 Vgl. Hartung, Ulrich: Gestalterische Aspekte von NS-Konzentrationslagern unter be­
sonderer Berücksichtigung des SS-Musteriagers Sachsenhausen. Unver. Manuskript.
Düsseldorf 1994.
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wirtschaftlichen Interessen ein, die letztendlich eine politische Autonomie be­
zweckten. Oswald Pohl, der Verwaltungschef der SS, koordinierte die ökono­
mischen Aktivitäten, insbesondere die Tätigkeit der SS-eigenen Unternehmen,
etwa der »Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH« (DESt) oder der »Deut­
schen Ausrüstungswerke GmbH« (DAW), die Himmler in diesem Zeitraum
gründen ließ. Darüber hinaus bot er 1938 an, Baustoffe für das geplante na­
tionalsozialistische Städtebauprogramm zu liefern; sie sollten von KZ-Häft­
lingen produziert werden. Albert Speer, der für dieses in seiner Eigenschaft als
»Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt« verantwortlich zeichnete,
griff auf das Angebot zurück, da zu jener Zeit bereits ein spürbarer Arbeits­
kräftemangel im Bausektor herrschte. Die Auswahl der Standorte für die neu
errichteten KZ wurde nun auch davon abhängig gemacht, ob Steinbrüche
oder Tonvorkommen in der Nähe lagen. In eigens aufgebauten Ziegelwerken
sollten KZ-Häftlinge dann die benötigten Baustoffe herstellen. Die Produk­
tivität blieb jedoch weit hinter den Versprechungen zurück, die Himmler ge­
geben hatte. Die Steinbrüche erwiesen sich als besonders grausame Arbeits­
kommandos, in denen die SS zahlreiche Menschen zu Tode brachte. Die
insbesondere gegen sogenannte Asoziale, Berufsverbrecher und Arbeitsscheue
gerichteten Verhaftungswellen der Jahre 1937/38 dienten also sowohl dem
»vorbeugenden Schutz der Volksgemeinschaft« als auch der Zwangsrekrutie­
rung von Arbeitskräften. lO Beide Intentionen schlossen sich nicht aus, son­
dern ergänzten einander.
Die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen veränderte sich seit 1937/38
grundlegend. Die SS paßte die Mittel der Lagerbeherrschung der Verände­
rung an: Sie begann nun, reagierend auf die Einweisung neuer Opfergruppen,
die Gefangenen zu kennzeichnen. Erst jetzt wurden die Häftlinge nach einem
einheitlichen Schema kategorisiert und mit einem »Winkel« ausstaffiert, des­
sen Farbe den vermeintlichen oder tatsächlichen Haftgrund anzeigte. Die sy­
stematische Kategorisierung der Häftlingsgruppen erwies sich als Herrschafts­
instrument, denn durch die Spaltung in Teilgruppen verlagerte die SS den
Terror in die Häftlingsgruppen hinein. Diesem Zweck diente auch die Über­
tragung bestimmter Verwaltungs- und Wachaufgaben an ausgewählte Gefan­
gene, die sogenannten Funktionshäftlinge.
Die Umsetzung eines umfassenden gesellschaftsbiologischen und rassisti­
schen Konzeptes in die Praxis der Verfolgungsbehörden erwies sich als Zäsur.
Nicht mehr ausschließlich politische Gegner des NS-Regimes waren nun von
Verfolgung und Haft bedroht, sondern auch und in erster Linie gesellschaft­
liche Gruppen, die aus sozialhygienischen oder rassistischen Gründen dauer­
haft »verwahrt« werden sollten. An beiden Intentionen, der Verfolgung der
politischen wie der »rassischen« Gegner des Staates und der nationalsozialisti­
schen »Volksgemeinschaft«, hielt das NS-Regime bis zu seinem Zusammen­
bruch fest. Indem die Lager zu Vollzugsstätten der »rassischen Generalprä­
10 Broszat: Konzentrationslager, S. 77; Wagner:}) Vernichtung der Berufsverbrecher«, S. 98 f.
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vention« wurden und sich die Zusammensetzung der Häftlingsgruppen grund­
legend veränderte, war ein Lagertypus entstanden, der historisch neuartig
war: das nationalsozialistische Konzentrationslager.
Die erste Kriegshälfte
Mit Kriegsbeginn expandierte das KZ-System. Der lange vorbereitete Krieg
führte zu einem erheblichen Anwachsen der Häftlingszahlen. In weniger als
drei Jahren vervierfachte sich die Anzahl der Gefangenen: von etwa 21000 im
August 1939 auf schätzungsweise 70000 bis 80000 im Frühjahr 1942. 11 Auf­
grund der Vorkehrungen, die das NS-Regime getroffen hatte, nahm man un­
mittelbar nach Kriegsbeginn zahlreiche »feindliche Elemente« in »Schutz­
haft«: tatsächliche oder potentielle Gegner des Nationalsozialismus. Dazu
gehörten Personen, die sich bereits früher in Haft befunden hatten (wie .bei­
spielsweise Mitglieder der Arbeiterbewegung oder Juden, die nach ihrer Ent­
lassung aus dem KZ 1938/39 nicht ausgewandert waren), aber auch erstmals
inhaftierte Gruppen, etwa Vorbestrafte, die mlm wegen »Arbeitsbummelei«
aufgriff, Geistliche oder Personen, die verdächtigt wurden, »Unruhe« in die
Bevölkerung zu tragen. In erster Linie jedoch ist der erhebliche Anstieg der
Häftlingszahlen auf die Einlieferung von Bewohnern der durch die Wehr­
macht besiegten Staaten zurückzuführen.
Die Verhaftungen in Westeuropa richteten sich vorwiegend gegen Wider­
standsgruppen und Saboteure, in Osteuropa nahmen sie zum Teil auch die
Gestalt von summarischen Verhaftungswellen an, die der Durchsetzung der
nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik sowie der Zwangsrekrutierung
von Arbeitskräften dienten. Seit 1940 stellten die nichtdeutschen Gefangenen
- zunächst vor allem die Polen - einen erheblichen Prozentsatz; in einigen KZ
bildeten sie bereits in der ersten Kriegshälfte die Mehrzahl. Diese Tendenz
verstärkte sich stetig. Die unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiede­
nen KZ bewußt außer acht lassend, ist für das KZ-System insgesamt festzu­
halten, daß die deutschen KZ-Insassen während des Krieges in eine kleine
Minderzahl gerieten. Die Gruppe der »reichsdeutschen«, also d.eLdeutschen
und österreichischen Gefangenen umfaßte bei Kriegsende etwa fünf bis zehn
Prozent aller KZ-Häftlinge.
Mit der zunehmenden Internationalisierung, die zeitlich versetzt dem
Kriegsverlauf folgte, veränderte sich die Binnenstruktur der Häftlingsgruppen
erneut tiefgreifend, möglicherweise in noch stärkerem Maße als 1937/38. An
die Stelle des Winkelsystems der Vorkriegszeit trat die auf rassistisehen Krite­
rien beruhende nationale Hierarchisierung der Gefangenengruppen. Während
die SS den sogenannten reichsdeutschen KZ-Insassen (unabhängig davon,
welchen Winkel sie trugen) meist eine privilegierte Position innerhalb des Sy­
11 Zahlen nach Kaienburg, Hermann: })Vernichtung durch Arbeit«. Der Fall Neuen­
gamme. Die Wirtschaftsbestrebungen der SS und ihre Auswirkungen auf die Existenz­
bedingungen der KZ-Gefangenen. Bonn 1990, S. 229 (Anm. 9).
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sterns der Funktionshäftlinge oder in einem geschützten Arbeitskommando
zuwies, setzte sie die slawischen KZ-Insassen sowie die jüdischen Häftlinge be­
sonderen Schikanen und den schlechtesten Arbeitskommandos aus.
Der Kriegsbeginn führte zu einer Verschlechterung der Haftbedingungen:
Die SS reduzierte die Verpflegung und steigerte den Arbeitseinsatz ebenso wie
die Mißhandlungen. Seit dem ersten Kriegswinter dürfte Unterernährung die
häufigste Todesursache in den KZ gewesen sein. Durch die verminderte Ver­
pflegung, die Verschlechterung der Unterbringung sowie die nicht vorhandene
oder nur sehr eingeschränkt gewährte medizinische Versorgung breiteten sich
nun in allen KZ Unterernährung, Krankheiten und Epidemien aus; die Sterb­
lichkeitsraten stiegen - vor allem im Winter - zum Teil dramatisch an. 12 Die
vorliegenden Einzelstudien zeigen jedoch auch, daß die verschiedenen natio­
nalen und sozialen Gruppen in unterschiedlichem Ausmaß von der Ver­
schlechterung bedroht waren. Auch der Anstieg der Sterblichkeitsrate traf
nicht alle Gefangenengruppen gleichermaßen. Insbesondere die Gefangenen
der Strafkompanien, die jüdischen KZ-Insassen, die slawischen sowie - in
Mauthausen/Gusen - die politisch besonders exponierte Gruppe der »Rotspa­
nier« verzeichneten besonders hohe Todesraten. Die SS setzte die Mehrheit
der Gefangenen Bedingungen aus, die am Rande des Existenzminimums
lagen, nicht aber ihre Vernichtung intendierten. Bestimmte Gruppen wurden
jedoch bereits in der ersten Kriegshälfte Opfer einer gezielten Vernichtungspo­
litik. Der tödliche Terror der SS richtete sich in erster Linie gegen die Gefan­
genen slawischer Herkunft sowie gegen die Juden.
In der ersten Kriegshälfte eröffnete die SS-Führung zusätzlich zu den sechs
bestehenden Konzentrationslagern fünf neue: Auschwitz, Neuengamme,
Natzweiler, Groß-Rosen und Majdanek. Darüber hinaus entstanden in die­
sem Zeitraum zwei weitere, allerdings vergleichsweise kleine Konzentrations­
lager: das KZ Niederhagen bei Paderborn und das SS-Sonderlager Hinzert im
Hunsrück. Die Häftlinge des KZ Niederhagen sollten im wesentlichen eine
Burganlage - die Wewelsburg - zu einer Kultstätte der SS umbauen; das SS­
Sonderiager Hinzert diente als Durchgangslager. Beide Lager nahmen also in­
nerhalb des KZ-Systems hinsichtlich ihrer Größe und ihrer sehr spezifischen
Funktion eine Sonderstellung ein.
Die Erweiterung des KZ-Systems erfolgte langsamer als vielfach angenom­
men. Es handelte sich vielmehr um einen allmählich einsetzenden und weit bis
in die erste Kriegshälfte hineinreichenden Erweiterungsprozeß. Bereits im
Herbst 1939 begann die SS-Führung, nach Standorten für neue Konzentra­
tionslager zu suchen. Neben der Absicht, das KZ-System zu erweitern, zeigte
sich Himmler auch bestrebt, gegenüber rivalisierenden Instanzen die alleinige
Verfügungsgewalt über die Konzentrationslager zu behaupten. Am Beispiel
des Lagers Stutthof, bei Kriegsbeginn in der Nähe von Danzig errichtet, um
politische Gegner des NS-Regimes und Teile der polnischen Intelligenz zu in­
haftieren, kann dieses Bemühen' exemplarisch gezeigt werden.
12 V gl. Pingel, Falk: Häftlinge unter SS-Herrschaft. Widerstand, Selbstbehauptung und Ver­
nichtung im Konzentrationslager. Hamburg 1978, S. 81 (Historische Perspektiven; 12).
34
Stutthof und der für die Bewachung des Lagers zuständige »SS-Wach­
sturmbann Eimann« unterstanden nicht der IKL, sondern dem Höheren SS­
und Polizeiführer (HSSPF) Danzig und Westpreußen Richard Hildebrandt.
Nach Ende der Kampfhandlungen ließ Himmler die IKL prüfen, ob Stutthof
sowie alle anderen während des Feldzuges gegen Polen entstandenen Lager
und Haftstätten als Konzentrationslager geeignet seien und von der IKL
übernommen werden könnten. Die Maßnahme zielte nicht nur auf die Erwei­
terung des KZ-Systems, sondern auch und möglicherweise in erster Linie dar­
auf, Lager oder Wachverbände, die aus Himmlers Perspektive »eigenmächtig«
errichtet worden waren, wieder unter die Kontrolle der SS-Führung zu brin­
gen. Trotz des zunächst positiven Berichts über Stutthof entschied Himmler,
Stutthof nicht der IKL zu unterstellen. Während andere Lager, die Himmler
in diesem Zeitraum überprüfen ließ, geschlossen wurden, blieb Stutthof zwar
bestehen, aber als regional verankerte Haftstätte.
Himmler nutzte die Auseinandersetzung mit Hildebrandt, um grundsätz­
lich darauf hinzuweisen, daß ausschließlich diejenigen Konzentrationslager
als solche bezeichnet werden dürften, die der IKL (und in wirtschaftlicher
Hinsicht Poh!) unterstünden. In einem Runderlaß des Chefs der Sicherheits­
polizei und des SD an die Inspekteure der Sicherheitspolizei vom 3. Mai 1940
hieß es: »Das Bestehen der verschiedenen Lager wie Kriegsgefangenen-, Inter­
nierungs-, Durchgangs- und Arbeitslager usw. hat zuweilen in der Öffentlich­
keit den Eindruck erweckt, als handele es sich um Konzentrationslager. Diese
Bezeichnung dürfen nach ausdrücklicher Weisung des Reichsführers-SS nur
die dem Inspekteur der Konzentrationslager unterstellten Lager wie Dachau,
Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Mauthausen und das Frauen­
Konzentrationslager Ravensbrück führen.«13
Im Zusammenhang mit der Überprüfung bestehender oder geplanter Lager
wurde Himmler auch auf Auschwitz aufmerksam; es war das einzige Lager,
dessen Übernahme bzw. Einrichtung die IKL in diesem Zeitraum befürworte­
te. Doch nicht allein Himmlers Interesse an der Errichtung eines Konzentra­
tionslagers in Ostoberschlesien war dafür ausschlaggebend, daß in Oswi~cim
das riesige »Interessengebiet KL Auschwitz« entstand. Vielmehr führten vier
Motive dazu: sicherheitspolitische Erwägungen der regionaleIl_Besatzungs­
instanzen, das Interesse Pohls, die Gefangenen zur Produktion von Baumate­
rialien einzusetzen, die Firmenstrategie der IG-Farben, die in der Nähe des
Lagers ein lange geplantes Buna-Werk errichten wollte sowie die auf den
»Osten« gerichteten Siedlungspläne Himmlers.
Erst im Frühjahr 1940 richtete die IKL mit Auschwitz und Neuengamme
zwei neue KZ ein. 14 Neuengamme wurde zu diesem Zeitpunkt in--den Rang
eines selbständigen Konzentrationslagers erhoben; bis dahin hatte es dem KZ
13 Runderlaß des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 3.5.1940, BArch (Berlin),
Sammlung Schumacherj329.
14 Zu Neuengamme vgl. Kaienburg: »Vernichtung durch Arbeit«. Zur Geschichte des KZ
Auschwitz liegen einige Monographien und Sammelbände vor. Vgl. zum Beispiel Buszko,
Jozef u. a.: Auschwitz. Faschistisches Vernichtungslager. Warschau 1981; Czech, Danuta:
Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945.
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Bezogen auf das KZ-System markiert das Jahr 1941 eine qualitativ neue Stufe
des Terrors. Die SS nutzte die Konzentrationslager seit Beginn ihres Be­
stehens, um bestimmte Personen oder Häftlingsgruppen zu Tode zu bringen;
in einigen Konzentrationslagern nahmen die Morde zum Teil auch systemati­
schen Charakter an. Im Frühjahr 1941 fanden nun erstmals systematisch und
planmäßig Massenmordaktionen statt, die das gesamte KZ-System durchzogen.
Die Morde sind nicht nur für ein bestimmtes Konzentrationslager als typisch
anzusehen, sondern für alle Konzentrationslager, die der IKL unterstanden.
Die erste derartige Aktion war gegen die kranken und schwachen KZ-Häftlin­ ge gerichtet, die die SS in den überfüllten KZ zunehmend als »Last« empfand,
die zweite gegen die als »russische Kommissare« klassifizierten sowjetischen
Kriegsgefangenen. Seit April 1941 bereiste eine Ärztekommission der mit der
»Euthanasie« befaßten, nach ihrem Sitz in der Berliner Tiergartenstraße 4 be­
nannten Tötungsorganisation »T 4« die Konzentrationslager, um kranke und
geschwächte KZ-Häftlinge auszusondern. Sie war von April 1941 bis April
1942 in mindestens zehn Konzentrationslagern tätig. Die ausgesuchten Häft­ linge wurden »auf Transport« geschickt. Die SS streute gezielt Gerüchte, daß
sie in ein »Sanatorium« überstellt würden. Tatsächlich jedoch brachte man sie
in die »Euthanasieanstalten« Bernburg, Sonnenstein oder Hartheim und töte­ te sie hier durch Kohlenmonoxyd. Die Lager-SS nutzte die Tötungsaktion
auch, um jüdische und politisch mißliebige Häftlinge ermorden zu lassen.
Die Gesamtzahl der Toten ist nicht genau bekannt: mindestens 10 000,
möglicherweise aber auch 15000 oder 20000 Häftlinge wurden getötet. 18 Das
Mordprogramm, nach einem Aktenkürzel der IKL Aktion »14fl3« genannt,
überschnitt sich seit Sommer 1941 mit der Ermordung der sowjetischen
Kriegsgefangenen.
Himmler hatte mit der Wehrmacht vereinbart, sowjetische Kriegsgefangene
in seinen Machtbereich zu übernehmen. Er ließ aus diesem Grunde seit Okto­
ber 1941 zwei riesige Lagerkomplexe errichten: die »Kriegsgefangenenlager
der Waffen-SS« Majdanek und Birkenau. Beide unterstanden der IKL,
Majdanek als selbständiges KZ, Birkenau blieb bis 1943 als Außenlager dem
KZ Auschwitz zugeordnet. Die gigantischen Planungen Himmlers - in
Majdanek sollten 50000, in Birkenau 100000 Kriegsgefangene untergebracht
werden - wurden jedoch nicht realisiert.
Im Herbst 1941 lieferte die Wehrmacht mehrere zehntausend sowjetische
Kriegsgefangene an Himmler aus. Sie wurden auf die bestehenden KZ verteilt
und dort »in primitivster Form«19 untergebracht, in sogenannten Kriegsge­
fangenenlagern oder Kriegsgefangenenarbeitslagern, die nun bei allen KZ ent­
Reinbek 1989; Gutman, Yisrael; Berenbaum, Michael (Hg.): Anatomy of the Auschwitz
Death Camp. Bloomington 1994.
15 Zum KZ Groß-Rosen vgl. ausführlich Sprenger, Isabell: Groß-Rosen. Ein Konzen­
trationslager in Schlesien. Köln u. a. 1996 (Neue Forschungen zur Schlesischen Ge­
schichte; 6).
16 Die Geschichte dieses KZ ist kaum untersucht. Vgl. Brunner, Bernhard: Auf dem Weg
zu einer Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler. Unver. Magisterarbeit. Frei­
burg 1997.
17 In Polen begann die Zwangsumsiedlung der jüdischen Bevölkerung - etwa 2,3 Millio­
nen Menschen - bereits im Oktober 1939. Vgl. Schwarz, Gudrun: Die nationalsoziali­
stischen Lager. Frankfurt a. M. 1996, S. 126f., 130f. und 137-149. Im Sommer/Herbst
1940 befanden sich allein im Distrikt Lublin schätzungsweise 50000 bis 70000 Juden in
insgesamt 76 Lagern. Vgl. Pohl, Dieter: Die großen Zwangsarbeitslager der SS- und
Polizeiführer für Juden im Generalgouvernement 1942-1945. In: Herbert/Orth/Dieck­
mann (Hg.): Konzentrationslager, S. 415-438.
36
'1
Planmäßige Massentötungsaktionen und Versuchsprojekte
des Arbeitseinsatzes
Sachsenhausen als Außenlager unterstanden. Neuengamme und die im Som­
mer 1940 ebenfalls als Außenlager des KZ Sachsenhausen eingerichteten KZ
Groß-Rosen1 5 und Natzweiler l6 (beide wurden erst im Frühjahr 1941 zu ei­
genständigen Hauptlagern erklärt) erfüllten sicherheitspolitische Interessen
der SS-Führung, lagen doch alle drei KZ in Grenzregionen des Deutschen
Reiches. Darüber hinaus läßt sich ihre Errichtung mit der Ambition Himm­
lers erklären, unentbehrlich für das nationalsozialistische Städtebaupro­
gramm zu werden. Die Standorte Groß-Rosen und Natzweiler wurden des­
halb ausgewählt, weil sich in unmittelbarer Nähe Steinbrüche befanden, die
für die Bauvorhaben ausgebeutet werden sollten; in Neuengamme waren Ton­
vorkommen sowie eine stillgelegte Ziegelei, die von der SS-eigenen DESt
übernommen wurde, für die Standortwahl ausschlaggebend.
Seit Kriegsbeginn läßt sich also von einem erneuten Funktionswandel des
KZ-Systems sprechen: Die SS-Führung nutzte die Konzentrationslager nun
auch als Instrument der Bekämpfung des Widerstandes in den besetzten Staa­
ten, in Osteuropa dienten sie zudem der Durchsetzung der nationalsozialisti­
schen Besatzungs- und Bevölkerungspolitik. Die SS-Führung verband diese
Absichten mit einer Intention, die sich bereits seit 1937/38 nachweisen läßt:
mit der Ausbeutung der Arbeitskraft der KZ-Häftlinge für die Zwecke und
Interessen der SS. Entgegen einer weit verbreiteten Wahrnehmung ist zu beto­
nen, daß die Konzentrationslager der IKL in der ersten Kriegshälfte nicht in
erster Linie der Inhaftierung und Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung
dienten. Zwar wurden in den Konzentrationslagern auch Juden gefangenge­
halten, doch blieb ihre Zahl relativ und absolut gering. Die Mehrheit der Ju­
den, die durch den Krieg in den Machtbereich der Deutschen gerieten, wurde
in anderen Haftstätten zusammengetrieben. Zu nennen sind vor allem die in
großer Zahl errichteten Ghettos und »Zwangsarbeitslager für Juden«Y Das
KZ-System war nur ein Element der nationalsozialistischen Verfolgungs- und
Vernichtungspolitik; andere Lagertypen und Formen des Terrors - insbeson­
dere gegen die jüdische Bevölkerung - bestanden parallel. Innerhalb des KZ­
Systems waren die jüdischen Gefangenen allerdings besonderen, zum Teil töd­
lichen Schikanen ausgesetzt.
:11
18 Zahlen nach Orth: System, S. 116.
19 Fernschreiben der IKL an den Lagerkommandanten des KZ Flossenbürg vom
15.9.1941. In: Tuchei, Johannes: Die Inspektion der Konzentrationslager 1938-1945.
Das System des Terrors. Eine Dokumentation. Berlin 1994, S.73 (Schriftenreihe der
Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; I).
J
37
-;
bestimmtes Tötungsverfahren zu »erproben«. Zu den Versuchen zogen die
SS-Männer vielfach sowjetische Soldaten aus den Kriegsgefangenenarbeitsla­
gern heran. Weil und indem die Tötungsmacht an die einzelnen Kommandan­
turen überging, entwickelte sich kein standardisiertes Tötungsverfahren.
Stattdessen wurden verschiedene Mordmethoden angewandt, wie etwa das
»Abspritzen« oder das »Totbaden«. Auch die »Erfindung« der Gaskammer in
Auschwitz ist in den Zusammenhang der eigenverantwortlich initiierten Tö­
tungsexperimente zu stellen. Das Tötungsverfahren - das Ersticken durch
Gas ­ war der Lager-SS aus den »Euthanasieanstalten« bekannt, hatten doch
einige SS-Männer den Transport der im Rahmen der Aktion» 14 fl3« ausge­
sonderten Häftlinge nach Sonnenstein begleitet, die dort angewandte Mord­
methode in Augenschein genommen und nach ihrer Rückkehr über die Tö­
tung durch Kohlenmonoxydgas berichtet. In Auschwitz setzte die SS ein
anderes Gas ein, das in großen Mengen zur Verfügung stand, nämlich Zy­
klon B. Die Lager-SS in Auschwitz versuchte seit 1940, mit Zyklon B Seuchen
zu bekämpfen.
.
Es wäre allerdings ein Fehler, das Jahr 1941 nur unter der Perspektive der
Entwicklung von Tötungsverfahren zu betracnten. Im gleichen Zeitraum legte
man vielmehr auch die Grundlagen für den Einsatz der KZ-Häftlinge in der
Industrie. Gleichzeitig zu den planmäßigen Massentötungsaktionen des Jah­
res 1941 - und dem im Sommer 1941 einsetzenden systematischen Völker­
mord an den sowjetischen Juden - kam es zu einer Zusammenarbeit zwischen
KZ-System und Industrie. Zwei Versuchsprojekte bestanden zu diesem frühen
Zeitpunkt: Die IKL vermietete seit Frühjahr 1941 Häftlinge aus Auschwitz an
die IG-Farben und Gefangene aus Mauthausen an die Steyr-Daimler-Puch
AG. Sowohl die IG-Farben als auch die Steyr-Daimler-Puch AG versuchten­
wenn auch aus strukturell unterschiedlichen Gründen ­ einen Arbeitskräfte­
mangel durch den Einsatz von Zwangsarbeitern zu kompensieren. Allerdings
stellten die KZ-Häftlinge in der ersten Kriegshälfte nur eine verschwindend
geringe Zahl der Belegschaft: bei den IG-Farben wurde ein kurzfristiger
Höchststand von 2000 KZ-Häftlingen erreicht, bei der Steyr-Daimler-Puch
AG waren 1941 300 KZ-Insassen eingesetzt. Zudem blieb der Einsatz auf
Bau- und Hilfsarbeiten beschränkt. Die SS-Führung kam den ~emühungen
der Konzerne, an KZ-Arbeitskräfte zu gelangen, entgegen - sofern die Anfor­
derungen eigenen Interessen nicht zuwiderliefen. Himmler spekulierte offen­
bar auf materielle Vorteile: im Falle der Steyr-Daimler-Puch AG auf günstige
Rüstungsgüter für die Waffen-SS, im Falle der IG-Farben erhoffte er sich, an
dringend benötigte Baumaterialien für den Ausbau des KZ Auschwitz heran­
zukommen. Doch verlor die SS die Verfügungsgewalt über die KZ;'Häftlinge
nicht. Vielmehr blieben die Häftlingszwangsarbeiter weiterhin in Auschwitz
bzw. Mauthausen untergebracht, SS-Männer überwachten ihre Arbeit auf der
Baustelle.
Im Gegensatz zu der anfänglich geäußerten Zufriedenheit über das Zustan­
dekommen der Kooperation entwickelte sich die konkrete Zusammenarbeit
aus der Sicht der Unternehmen allerdings alles andere als positiv. Beide Fir­
men beklagten, daß der tägliche An- und Abtransport der Gefangenen deren
standen. Im Grunde handelte es sich lediglich um eigens abgezäunte Bereiche
der Schutzhaftlager, in denen die SS die sowjetischen Soldaten (die sie nicht in
die Lagerregistratur eintrug) zusammenpferchte. Offenbar plante Himmler,
sie im Bedarfsfall zum Arbeitseinsatz heranzuziehen; de facto blieben sie ohne
jegliche Versorgung dem Tode überlassen. Die Todesraten waren immens.
Die in den Kriegsgefangenenlagern der KZ untergebrachten Soldaten waren
jedoch nicht nur Hunger und Seuchen ausgesetzt. Zumindest für das KZ Au­
schwitz ist belegt, daß eine Gestapo-Sonderkommission gezielt sogenannte po­
litische Kommissare aussonderte und einen Teil von ihnen tötete. 20 Die Mehr­
heit der in den KZ erschossenen »politischen Kommissare« stammte jedoch
aus den Lagern der Wehrmacht. Ein Erlaß des Oberkommandos der Wehr­
macht, der berüchtigte »Kommissarbefehl«, bestimmte, daß die als »Kommis­
sare« eingestuften sowjetischen Kriegsgefangenen den SS-Einsatzgruppen bzw.
Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und des SD zu übergeben seien. Der
von Heydrich herausgegebene »Einsatzbefehl Nr. 8« vom 17. Juli 1941 regelte,
welche Personen als »politische Kommissare« anzusehen und wie diese aus den
Kriegsgefangenenlagern »auszusondern« seien. Am 21. Juli legte Heydrich zu­
dem fest, daß ihre Ermordung im nächstgelegenen Konzentrationslager durch­
geführt werden solle. 21 Offenbar intendierte die SS-Führung, die als politisch
indifferent klassifizierten sowjetischen Soldaten in den Kriegsgefangenenlagern
der Wehrmacht oder den Kriegsgefangenenarbeitslagern bei den KZ zu halten
(um ihre Arbeitskraft bei Bedarf auszubeuten); die als »Kader« angesehenen
»politischen Kommissare« hingegen sollten sogleich vernichtet werden. In allen
KZ fanden seit Spätsommer 1941 derartige Massenerschießungen statt. Der
Mordaktion fielen vermutlich mindestens 34000 (möglicherweise jedoch über
45000) sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer. 22
Die Lager-SS ging im zweiten Halbjahr 1941 dazu über, selbständig der
Weisung nachzukommen, die Zahl der kranken und geschwächten Häftlinge
zu dezimieren. Sie übernahm zum Teil und auf Weisung der IKL die Tätigkeit
der Ärztekommission. 23 Zunächst fanden offenbar Experimente statt, um ein
20 Czech: Kalendarium, S. 143; Pingel: Häftlinge, S. 12.
21 Einsatzbefehl Nr. 8 des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD vom 17.7.1941. In:
Streim, Alfred: Sowjetische Gefangene in Hitlers Vernichtungskrieg. Berichte und Do­
kumente. 1941-1945. Heidelberg 1982, S. 202-211; Einsatzbefehl Nr. 9 des Chefs der
Sicherheitspolizei und des SD vom 21.7.1941. In: ders.: Die Behandlung sowjetischer
Kriegsgefangener im »Fall Barbarossa«. Eine Dokumentation. Heidelberg, Karlsruhe
1981, S. 322 f. Zum Hintergrund und zur Bedeutung des Befehls Jacobsen, Hans Adolf:
Kommissarbefehl und Massenexekution sowjetischer Kriegsgefangener. In: Buchheim
u. a.: Anatomie. Bd. 2, S. 143-152; Streit, Christian: Keine Kameraden. Die Wehrmacht
und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941-1945. Stuttgart 1978, S. 44-49 (Studien
zur Zeitgeschichte; 13); Gerlach, Christian: Die Ausweitung der deutschen Massen­
morde in den besetzten sowjetischen Gebieten im Herbst 1941. Überlegungen zur Ver­
nichtungspolitik gegen Juden und sowjetische Kriegsgefangene. In: ders.: Krieg, Ernäh­
rung, Völkermord. Forschungen zur deutschen Vernichtungspolitik im Zweiten
Weltkrieg. Hamburg 1998, S.24f.
22 Zahlen nach Orth: System, S. 130 f.
23 Vgl. Runderlaß der IKL an die Lagerkommandanten vom 10.12.1941, Nürnberger Do­
kument PS-1151-C.
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Im Winter 1941/42 kam Himmler mit den Hauptgeschäftsführern der Volks­
wagen GmbH überein, eine Leichtmetallgießerei durch KZ-Häftlinge aufbau­
en zu lassen. Das Unternehmen erhoffte, sich dadurch unabhängig von den
bestehenden Zuliefererstrukturen zu machen, Himmler hingegen sah in der Zu­
sammenarbeit mit Volkswagen Vorteile für die Ausstattung der Waffen-SS so­
wie eine Möglichkeit, den wirtschaftlichen Einfluß der SS auszuweiten. Nach
außen hin führten beide Seiten jedoch kriegswirtschaftliche Notwendigkeiten
an. Tatsächlich ließ sich Hitler von den Argumenten überzeugen. Im Frühjahr
1942 begannen die Bauarbeiten in Fallersleben. Das Aufbaukommando (die
Gefangenen waren zuvor in Neuengamme inhaftiert gewesen) wurde zudem in
den Rang eines selbständigen Konzentrationslagers erhoben - Ausdruck der
Tatsache, daß Himmler und Pohl dem Vorhaben einen hohen Stellenwert ein­
räumten. Denn unabhängig von den ursprünglichen Planungen besaß das »KL
Arbeitsdorf« nun plötzlich - im Frühjahr 1942 - die Funktion eines Versuchs­
projektes für die seit diesem Zeitpunkt mit oberster Priorität verfolgte Zusam­
menarbeit zwischen KZ-System und Rüstungsindustrie, von der jedoch noch
weitgehend unklar war, wie sie aussehen könnte.
Beide Entwicklungslinien, die sich innerhalb des KZ-Systems im Laufe des
Jahres 1941 abzeichneten und die schlagwortartig in den Begriffen »Vernich­
tung« und »Arbeit« zusammengefaßt wurden, standen nicht im Widerspruch
zueinander. Sie betrafen verschiedene Opfergruppen, die die SS-Führung mit
unterschiedlich intensivem Vernichtungswillen verfolgte. In dieser Phase
zielten die Maßnahmen auf die systematische Vernichtung der kranken und
politisch mißliebigen KZ-Häftlinge, auf die Tötung der »politischen Kom­
rriissare« unter den sowjetischen Kriegsgefangenen und der Juden. Die ar­
beitsfähigen, nichtjüdischen und politisch indifferenten KZ-Häftlinge hinge­
gen, die in den KZ der IKL die Mehrzahl der Gefangenen bildeten, sowie die
sowjetischen Soldaten in den Kriegsgefangenenarbeitslagern bei den KZ dien­
ten der SS-Führung in zunehmendem Maße als Verfügungsrnasse ihres
machtpolitischen Kalküls. Die SS-Führung erhoffte sich von der Ausbeutung
dieser Gefangenengruppen ökonomische Eigenständigkeit und daraus resul­
tierend politische Autonomie. Aus diesem Grunde waren die Einsatzorte letzt­
endlich variabel. Die Häftlinge wurden seit Mitte der dreißiger}ahre zum un­
mittelbaren Nutzen der SS herangezogen (als Arbeitskräfte zum Aufbau der
Konzentrationslager oder in den SS-eigenen Werkstätten). Himmler setzte sie
seit 1937/38 zur Herstellung von Baustoffen ein, solange das nationalsoziali­
stische Städtebauprogramm Prestige und die Gunst Hitlers versprach. Zudem
wurden sie seit Frühjahr 1941 an einige wenige Industriebetriebe vermietet,
die im Gegenzug Baumaterialien, Geld oder Rüstungsgüter für-d-ie Waffen-SS
abgaben. Im Herbst 1941 plante Himmler, sie als Zwangsarbeiter für das gi­
gantische Bau- und Siedlungsprogramm einzusetzen, mit dem er nach dem er­
warteten »Endsieg« Osteuropa zu kolonisieren beabsichtigte. Der Kriegsver­
lauf machte die Umsetzung derartiger Pläne jedoch zunichte.
Arbeitsleistung mindere, auch, daß die Häftlinge - aufgrund des Mangels an
Wachpersonal - ineffizient eingesetzt würden. Die Vertreter der IG-Farben
beschwerten sich darüber hinaus, daß die Zahl der zur Verfügung gestellten
KZ-Häftlinge weit hinter den ursprünglichen Vereinbarungen zurückbleibe.
Beschwerden über die Mißhandlung der Häftlinge hatten demgegenüber nur
geringen Stellenwert. Unabhängig voneinander brachten beide Firmen nach
etwa einem Jahr den Vorschlag vor, die Gefangenen in unmittelbarer Nähe
der Baustellen unterzubringen. In beiden Fällen konnte dieser - nach anfäng­
lichem Widerstand - schließlich umgesetzt werden.
In der ersten Kriegshälfte hatte die Zusammenarbeit zwischen KZ-System
und Industrie also nur geringes Gewicht, und zwar sowohl hinsichtlich des
Umfangs, als auch hinsichtlich der nicht zufriedenstellend verlaufenden Ko­
operation. Erst als sich die Funktionszuweisung an die Konzentrationslager
erneut veränderte, diese als Arbeitskräftereservoir für die Kriegsindustrie in
den Blick gerieten, erwiesen sich die skizzierten Fälle plötzlich als eine Art
Modell.
Auch die Forcierung und Neuorganisation des Arbeitseinsatzes, die die
IKL im Herbst 1941 durchführte, zielte zunächst nicht auf die Kriegsindu­
strie, sondern vorwiegend auf umfangreiche Siedlungsvorhaben »im Osten«.
Himmler hatte im Sommer 1941 mit dem sogenannten Generalplan Ost Ent­
würfe zu einem bevölkerungs- und raumpolitischen Gesamtplan erstellen las­
sen. 24 Die dort formulierten Siedlungspläne wurden durch ein umfangreiches
Bauprogramm, das »vorläufige Friedensbauprogramm«, ergänzt, das Pohl
und seine Mitarbeiter im Herbst 1941 ausarbeiteten. Es sollte nahezu aus­
schließlich mit zwangsweise rekrutierten Arbeitskräften realisiert werden: mit
sowjetischen Kriegsgefangenen, KZ-Insassen, jüdischen Häftlingen und aus­
ländischen Zivilarbeitern. 25 Aus diesem Grunde und mit Blick auf »die späte­
re Besiedlung des Gaues Danzig-Westpreussen«26 entschied Himmler Ende
des Jahres 1941 auch, Stutthofals Konzentrationslager der IKL zu unterstel­
len - zwei Jahre nachdem dies erstmals erwogen und verworfen worden war.
Während Himmler die KZ-Häftlinge bis zum Herbst 1941 noch nahezu
ausschließlich in Bereichen arbeiten ließ, die dem Ziel dienten, die Macht der
SS zu stärken und der Waffen-SS Vergünstigungen zu verschaffen, so rückten
sie seit Winter 1941/42 als Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie in den Vor­
dergrund seiner machtpolitischen Interessen. Im Schnittpunkt beider Ent­
wicklungen stand das KZ Arbeitsdorf. 27
24 Zum Generalplan Ost vgl. Gerlach: Ausweitung, S. 13 -30 (und die dort angegebene
Literatur).
25 Kaienburg: )}Vernichtung durch Arbeit«, S. 125 f.
26 Brief Himmler an Pohl vom 19.12.1941, BArch (Berlin), NS 3/52.
27 Zum folgenden vgl. Mommsen, Hans; Grieger, Manfred: Das Volkswagenwerk und
seine Arbeiter im Dritten Reich. Düsseldorf 1996, S. 496-598; Budraß, Lutz; Grieger,
Manfred: Die Moral der Effizienz. Die Beschäftigung von KZ-Häftlingen im Beispiel
des Volkswagenwerkes und der Henschel Flugzeug-Werke. In: Jahrbuch für Wirt­
schaftsgeschichte, Heft 2/1993, S. 94-103; Siegfried, Klaus-Jörg: Das Leben der
Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk 1939-1945. Frankfurt a. M., New York 1988,
8.40-45.
41
40
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Zwangsarbeit und Völkermord innerhalb des KZ-Systems
Als sich im Winter 1941/42 abzeichnete, daß sich der Krieg gegen die Sowjet­
union länger hinziehen würde, ließ Himmler das »vorläufige Friedensbaupro­
gramm« fallen. An seine Stelle trat die Orientierung auf den Rüstungssektor,
dessen Bedeutung innerhalb der NS-Führung rapide zunahm. Aus machtpoli­
tischem Kalkül beabsichtigte Himmler, die Konzentrationslager, die schein­
bar über ein unerschöpfliches Potential an Gefangenen verfügten, in ein Ar­
beitskräftereservoir für die Kriegswirtschaft umzustrukturieren. Im ersten
Halbjahr 1942 griffen eine Reihe von Maßnahmen, die auf die Umstellung
des KZ-Systems zielten. Im März gliederte Himmler die IKL als Amtsgrup­
pe D in das kurz zuvor errichtete SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt
(WVHA) ein. Mit diesem Schritt versuchte er, das KZ-System vor dem Zu­
griff des zum »Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz« ernannten
Fritz Sauckel zu schützen. Mit der Ernennung Pohis zum Chef des WVHA
und der Unterstellung der IKL unter dieses schrieb Himmler eine langjährige
Entwicklung fest: den stetig wachsenden Einfluß Pohls auf das KZ-System.
Um die »Mobilisierung aller Häftlingsarbeitskräfte«28 durchzusetzen, be­
gann Pohl zum einen, den eigenen Dienstbereich umzustrukturieren, zum
zweiten nahm er Verhandlungen mit dem Rüstungsministerium und der Pri­
vatindustrie auf. Die zunächst verfolgten Pläne, nämlich Waffen in den Kon­
zentrationslagern zu produzieren, scheiterten allerdings an den Befürchtungen
des Rüstungsministeriums, daß es Himmler gelänge, die Macht der SS mittels
eigenständiger Rüstungsfertigungen weiter auszudehnen.
Der Einspruch Speers, im Februar 1942 zum »Reichsminister für Bewaff­
nung und Munition« ernannt, führte auch zur Auflösung des KZ Arbeitsdorf.
Speer bezweifelte (zu Recht) die kriegswirtschaftliche Relevanz des Projektes
und untersagte Mitte September 1942 die Fertigstellung der Leichtmetallgie­
ßerei ebenso wie den Produktionsbeginn - das Versuchsprojekt war damit ge­
scheitert. Das KZ Arbeitsdorf erlangte jedoch insofern erhebliches Gewicht,
als es sich - ebet:lso wie die Anfänge einer Zusammenarbeit der SS mit den
IG-Farben und der Steyr-Daimler-Puch AG - als Modell erwies, auf das die
SS mit der Errichtung von Außenlagern bei den Rüstungsbetrieben zurück­
griff und das seit 1943/44 verbreitet Anwendung fand.
Daß jedoch überhaupt Außenlager bei Industrieunternehmen errichtet
wurden, geht auf eine Grundsatzentscheidung des Herbstes 1942 zurück. 29
Erst damit fand das Planungsstadium des ersten Halbjahres 1942 mit seinen
zum Teil widersprüchlichen und wenig stringenten Entwicklungen ein Ende.
Hitler, Himmler und Speer legten im September 1942 fest, daß die KZ-Häft­
28 Brief Pohl an Himmler vom 30.4.1942. Dienststelle des Generalinspekteurs in der Briti­
schen Zone für die Spruchgerichte (Hg.): Beweisdokumente für die Spruchgerichte in
der Britischen Zone. Hamburg 1947, GJ. Nr. 110.
29 Vgl. Herbert, Ulrich: Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der
»Weltanschauung« im Nationalsozialismus. In: ders. (Hg.): Europa und der »Reichs­
einsatz«. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutsch­
land 1938-1945. Essen 1991, S.406ff.
42
linge an Rüstungsunternehmen vermietet und in eigens eingerichteten Außen­
lagern untergebracht werden sollten.
Erst im Winter 1942/43 eröffnete die IKL in nennenswertem Umfang Au­
ßenlager. Der Zeitpunkt ist besonders hervorzuheben, da häufig angenommen
wird, daß das KZ-System bereits 1942 in einen gigantischen Rüstungskom­
plex transformiert und um eine Vielzahl von Außenlagern erweitert worden
sei. De facto griff die Umstrukturierung erst im Jahre 1943, ab 1944 beschleu­
nigte sich die Entwicklung rapide. Die Initiative zur Errichtung der Außenla­
ger ging in der Regel von den Betrieben aus; sie suchten beim WVHA um die
Zuweisung von KZ-Häftlingen nach, meist, um einen akuten Arbeitskräfte­
mangel auszugleichen. Einige Unternehmen führten als Begründung auch an,
daß die Produktion durch den ständigen Wechsel der bislang beschäftigten
ausländischen Arbeiter erheblich behindert sei. Im Vergleich zu den ersten
Ansätzen einer Zusammenarbeit zwischen KZ-System und Industrie, die auf
das Jahr 1941 zurückgehen, lassen sich drei wesentliche Unterschiede benen­
nen: Zum einen wurden die Häftlinge nun direkt bei den Betrieben unterge­
bracht; zum zweiten fanden sie auch in der Produktion Verwendung; zum
dritten entwickelte sich die Zusammenarbeit offenbar - zumindest lassen Ein­
zelstudien dies vermuten - zur Zufriedenheit der Unternehmen.
Die Grundsatzentscheidung des Herbstes 1942 zeitigte für die verschiede­
nen Gruppen der KZ-Inhaftierten unterschiedliche Konsequenzen. Für die in
den Konzentrationslagern auf dem Reichsgebiet inhaftierten jüdischen KZ­
Insassen bedeutete sie das Todesurteil, denn die Entscheidung bedeutete ihre
Deportation in die Vernichtungslager. Anfang Oktober 1942 erging eine Wei­
sung an die KZ-Kommandanturen, Himmler wünsche, daß »sämtliche im
Reichsgebiet gelegenen KL judenfrei gemacht werden«.3o Nur äus Buchen­
wald ist bislang bekannt, daß die Lagerleitung qualifizierte jüdische Fachar­
beiter von der Deportation ausnahm. 234 Juden blieben in Buchenwald inhaf­
tiert, 405 wurden von hier aus nach Auschwitz überstellt. In Sachsenhausen
kam es zu einem Aufstandsversuch der jüdischen Häftlinge. 3! Mindestens
1559 jüdische KZ-Häftlinge (1037 Männer und 522 Frauen) wurden im
Herbst 1942 nach Auschwitz deportiert. 32 Die Mehrzahl dürfte dort ermordet
worden sein.
Für die nichtjüdischen KZ-Häftlinge bedeutete die Grundsatzentscheidung
vom Herbst 1942 die Durchsetzung des Prinzips der Zwangsarbeit bei priva­
ten oder staatlichen Rüstungsbetrieben. Um den Arbeitseinsatz zu forcieren,
ließ die SS-Führung zum einen die systematischen Massenvernichtungsaktio­
nen, denen 1941 viele tausend kranke KZ-Häftlinge und als »politische Kom­
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30 Runderlaß WVHA an die Lagerkommandanten vom 5.10.1942, Nürnberger Doku­
ment PS-3677.
31 Zu Buchenwald vgl. Stein, Harry: Juden in Buchenwald 1937-1942. Weimar 1992,
S. 125f.; zu Sachsenhausen vgl. Sachsenhausen. Dokumente, Aussagen, Forschungser­
gebnisse und Erlebnisberichte über das ehemalige Konzentrationslager Sachsenhausen.
Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer in der Deutschen Demokrati­
schen Republik (Hg.). Berlin (DDR) 1974, S. 124-129.
32 Zahlen nach Orth: System, S. 174.
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missare« klassifizierte sowjetische Kriegsgefangene zum Opfer gefallen waren,
einschränken bzw. einstellen. Die IKL erklärte diejenigen sowjetischen Solda­
ten, die die furchtbaren Haftbedingungen in den Kriegsgefangenenarbeitsla­
gern der KZ überlebt hatten, im März 1942 kurzerhand zu KZ-Häftlingen,
zog sie zur Zwangsarbeit heran und löste die separaten Lagerabschnitte auf.
Auch die Aktion» 14 fl3« wurde erheblich eingeschränkt. Als wichtiger jedoch
erwies sich, daß es der SS gelang, die Zahl der KZ-Häftlinge erheblich zu stei­
gern.
Im Winter 1942/43 übergab der Reichsjustizminister Otto Thierack etwa
12000 sogenannte Sicherungsverwahrte an Himmler zur - so expressis verbis
das Protokoll der Besprechung zwischen Himmler und Thierack - »Vernich­
tung durch Arbeit«.33 Zudem fanden nun großangelegte Razzien und Verhaf­
tungsaktionen statt, die sich in erster Linie gegen polnische und sowjetische
Zwangsarbeiter im Deutschen Reich richteten. Im Laufe eines halben Jahres
verdoppelte sich die Zahl der KZ-Insassen nahezu: von rund 110000 Häftlin­
gen im September 1942 auf 203 000 im April 1943. Im August 1943 befanden
sich etwa 224000, ein Jahr später 524286 Menschen in KZ-Haft. 34
In den KZ-Hauptlagern stellte die zweite Kriegshälfte daher eine eigenstän­
dige Etappe dar. Erst in diesem Zeitraum setzte ihre enorme Vergrößerung
ein. Es lassen sich zwei Wachstumssprünge markieren: der Herbst/Winter
1942 sowie das Jahr 1944. In diesen Phasen kam es zu erheblichen Expan­
sionsschüben und zwar hinsichtlich der Zahl der Inhaftierten, der getöteten
Menschen und der Zahl der errichteten Außenlager.
Die häufig geäußerte Annahme, daß die Umstrukturierung des KZ-Sy­
stems in ein Arbeitskräftereservoir der Kriegswirtschaft zur Verbesserung der
Haftbedingungen geführt habe, ist aufgrund neuerer Forschungsergebnisse
widerlegt. Zwar sind zahllose Anweisungen des WVHA, die darauf zielten,
den Arbeitseinsatz effektiver zu gestalten und die Leistungen der KZ-Häftlin­
ge zu steigern, überliefert, doch der Blick auf die Lagerrealität zeigt, daß die
meisten Anordnungen niemals umgesetzt wurden. Nur zwei Anweisungen
brachten tatsächlich eine Erleichterung: Erstens beantragte die Lager-SS Ver­
pflegungs-Zulagen für Schwerarbeiter und gab sie tatsächlich auch aus, zwei­
tens erlaubte Himmler seit Herbst 1942, daß Lebensmittelpakete in die KZ ge­
schickt werden durften.
Schwieriger zu beurteilen ist die Frage nach der Entwicklung der Sterblich­
keitsrate. Nachweisbar ist, daß das WVHA zunächst die Lagerärzte, dann die
Kommandanten explizit aufforderte, diese zu senken. Bezogen auf das ge­
samte KZ-System ging sie offenbar tatsächlich zurück: von zehn Prozent im
zweiten Halbjahr 1942 auf 2,8 Prozent im Juni 1943. 35
Drei Argumente sind jedoch gegen die These vorzubringen, daß dies als In­
diz für eine allgemeine Verbesserung der Haftbedingungen in der zweiten
33 Protokoll der Besprechung zwischen Thierack und Himmler vom 18.9.1942. Dienststelle
des Generalinspekteurs in der Britischen Zone für die Spruchgerichte (Hg.): Beweisdo­
kumente für die Spruchgerichte in der Britischen Zone. Hamburg 1947, GJ. Ne. 104.
34 Zahlen nach Broszat: Konzentrationslager, S. 131 f.
35 PingeI: Häftlinge, S. 182f.
44
Kriegshälfte gewertet werden kann: Zum einen sank die absolute Zahl der ge­
töteten KZ-Insassen infolge der großen Zahl der Neueinlieferungen in weit ge­
ringerem Maße als die Prozentangaben vermuten lassen; zum zweiten beruhen
die an Himmler gemeldeten Zahlen über den Rückgang der Todesrate zum
Teil auf Fälschungen (um zu demonstrieren, daß man seiner Forderung nach­
gekommen sei);36 zum dritten gingen die Todesraten in den KZ partiell des­
halb zurück, weil kranke und sterbende Häftlinge in die Vernichtungslager de­
portiert und dort - ohne registriert zu werden - umgebracht wurden.
Die Höherbewertung der Arbeitskraft steigerte die Überlebenschancen der
KZ-Gefangenen nicht. Die vorliegenden Studien zu einzelnen KZ lassen viel­
mehr den Schluß zu, daß die SS die Arbeitskraft der KZ-Häftlinge in der Re­
gel gering bewertete, eben weil sie massenhaft zur Verfügung zu stehen schien.
Die Chance, das Konzentrationslager zu überleben, war abhängig von der
Stellung des oder der einzelnen im Arbeitseinsatz und in der nach rassistischen
Kriterien gestaffelten Häftlingszwangsgesellschaft. Die propagierte Umstruk­
turierung der Konzentrationslager in ein Arbeitskräftereservoir und der tat­
sächliche Einsatz eines großen Teils der Häftlinge als Zwangsarbeiter führte
nicht zur Verbesserung der Haftbedingungen, sondern zur Verschlechterung.
Dies galt nur für eine Minderheit der Gefangenen nicht, nämlich für dieje­
nigen, die an der Spitze der rassistischen Häftlingshierarchie standen, sowie
für diejenigen, von deren beruflicher Qualifikation die SS profitierte. Diesen
Gruppen - den meist deutschen Funktionshäftlingen sowie der sich langsam
herausbildenden Schicht der Häftlingsfacharbeiter, die in der Produktion eine
qualifizierte Arbeit ausübten - räumte die SS bessere Arbeits- und damit Le­
bensbedingungen ein. Allein diese beiden Gruppen profitierten auch von dem
im Mai 1943 eingeführten sogenannten Prämiensystem, das für besondere
Leistungen Geldprämien und Hafterleichterungen versprach.J7 Die Initiative
zur Etablierung eines derartigen Systems ging allerdings nicht vom WVHA
aus, sondern von Industriebetrieben, die KZ-Häftlinge beschäftigten. Es ist
von mindestens zwei Unternehmen, nämlich der IG-Farben und den Heinkel­
Werken, nahezu zeitgleich entwickelt worden. Aus ihrer Perspektive war es of­
fenbar naheliegend, Anreize zu schaffen, um die Häftlinge zu höheren Ar­
beitsleistungen anzuhalten. Faktisch jedoch scheiterte das »PräI1!j~Dsystem«­
eben weil es nur einer kleinen Minderheit der Gefangenen zugute kam. Wie in
den Jahren zuvor blieb das KZ-System auch in der zweiten Kriegshälfte ein
Instrument der Herrschaftssicherung und des Terrors, das gegen diejenigen
Gruppen gerichtet war, die aus politischen oder »rassischen« Gründen den
NS-Staat und die imaginierte »Volksgemeinschaft« bedrohten.
In der zweiten Kriegshälfte ist das KZ-System nicht ausschließlich durch
die Versuche der SS-Führung charakterisiert, das Prinzip der Zwangsarbeit
36 Vgl. Karny, Miroslav: »Vernichtung durch Arbeit«. Sterblichkeit in den NS-Konzen­
trationslagern. In: Sozialpolitik und Judenvernichtung. Gibt es eine Ökonomie der
Endlösung? Berlin 1987, S.136f. (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits­
und Sozialpolitik; 5).
37 Prämien-Vorschrift Pohls vom 15.5.1943, Nürnberger Dokument NO-400. Zum fol­
genden vgl. Orth: System, S. 195-198.
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durchzusetzen. Neben den überwiegend im »Altreich« gelegenen Konzentra­
tionslagern entstanden im gleichen Zeitraum mit Auschwitz-Birkenau und
Majdanek zwei Vernichtungslager, die sich zu Zentren des Völkermordes an
den europäischen Juden entwickelten. Die Parallelität beider Faktoren, die
sich bereits 1941 abgezeichnet hatten, kennzeichnet das KZ-System in der
zweiten Kriegshälfte: die Gleichzeitigkeit von Zwangsarbeit und Völkermord.
Die Geschichte des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau und die dort
verübten Verbrechen sind in ihren Grundzügen bekannt. Der Völkermord an
den europäischen Juden in Auschwitz-Birkenau begann Anfang des Jahres
1942; er nahm im Sommer 1942 systematische Form an. 38 Zunächst spora­
disch, ab 4. Juli 1942 regelmäßig,39 selektierten SS-Ärzte und Angehörige des
Kommandanturstabes die nach Auschwitz deportierten Juden. Sie schickten
einen Großteil, Schätzungen gehen von etwa achtzig Prozent aus,40 meist un­
mittelbar nach Birkenau und damit in den Tod. Diejenigen, die als »arbeits­
fähig« galten, wurden bis zu ihrer physischen Erschöpfung in Arbeitskom­
mandos des Lagerkomplexes Auschwitz eingesetzt.
Birkenau entwickelte sich seit 1942 zu einem riesigen Lagerkomplex, der
mehrere Teillager und Bereiche umfaßte. Etwa 8000 Gefangene arbeiteten
täglich auf den Baustellen. Die Haftbedingungen in Birkenau waren von Be­
ginn an katastrophal: Eine auch nur annähernd ausreichende Versorgung mit
Nahrungsmitteln oder Wasser fehlte, die hygienischen und sanitären Verhält­
nisse spotteten jeder Beschreibung. Die Zahl der Gefangenen, die zur gleichen
Zeit hier eingesperrt waren, erreichte 1944 einen Höchststand von etwa
100000 Menschen.
In zwei Schüben erweiterte die SS die Vernichtungsanlagen: Im August und
September 1942 begannen die Bauarbeiten an den Krematorien 11 und 111, im
November an den Krematorien IV und V. Sie wurden zwischen März und
Juni 1943 abgeschlossen. 41 Hinzu kamen - in Verlängerung des Bauabschnit­
tes II - eine Entlausungsanlage (im Dezember 1943 fertiggestellt) und ein Bad
(die sogenannte Sauna) sowie ein umfangreicher Magazinbereich mit dreißig
Baracken, in dem die Habe der Ermordeten gesichtet, sortiert und verpackt
wurde. Über 2000 Gefangene waren hier, in der »Kanada« genannten Effek­
tenkammer, beschäftigt. Im Spätherbst 1944 ließ Himmler die Vernichtung
stoppen. Nach den Untersuchungen von Franciszek Piper ermordete die SS
bis Anfang des Jahres 1945 in Auschwitz mindestens 1,2 Millionen Menschen
- davon etwa eine Millionen Juden.42
Die Geschichte des Lagers Majdanek zerfällt in vier Phasen. Da sich die
Funktionszuweisung häufig veränderte und es nie ganz aus dem Planungssta­
dium herauskam, charakterisieren polnische Historiker es als »multifunktio­
nales Provisorium«.43 Die erste Phase (sie reichte von Oktober 1941 bis zur
Mitte des folgenden Jahres) war durch den Aufbau des Lagers geprägt. Erst
Mitte des Jahres 1942 stieg die Zahl der Gefangenen von etwa 2000 auf bis
zum Jahresende über 10 000 Menschen an. In diesem Zeitraum nutzte die SS
Majdanek vorwiegend als Sammel- und Haftstätte für Juden und Polen aus
der Region Lublin, die im Rahmen umfangreicher Aussiedlungs- und Vergel­
tungsaktionen gefangengenommen worden waren. Zudem verschleppte die SS
polnische Juden aus den Ghettos in Warschau und Bialystok nach Majdanek.
Bis Ende des Jahres 1942 sollten - so der Befehl Himmlers, der den Hinter­
grund für diese Maßnahmen bildete - alle Juden des Generalgouvernements
getötet sein. Nur diejenigen, die in den Rüstungsbetrieben als unabkömmlich
galten, waren ausgenommen. Sie sollten in fünf Sammellagern (nämlich in
Warschau, Krakau, Radom, Cz~stochowa und Lublin) konzentriert werden. 44
Das Jahr 1943 bildete insofern eine eigenständige Entwicklungsetappe, als
sich die Funktionszuweisung erneut veränderte: Majdanek diente nun als Ver­
nichtungslager, darüber hinaus zum Teil als Sammelstelle für polnische und
sowjetische Bauern, die im Zuge der nationalsozialistischen Kolonisierungs­
und Repressionspolitik hierher deportiert wurden. Während sich Majdanek
zu einem Zentrum des Völkermordes an den Juden entwickelte, zeichneten
sich zugleich jedoch auch Bestrebungen ab, die jüdischen Häftlinge des Gene­
ralgouvernements in das Wirtschaftsimperium des WVHA zu integrieren.
Tatsächlich konnte Pohl erste diesbezügliche Schritte unternehmen. Im
Herbst 1943 entschied die NS-Führung jedoch, auch diese jüdischen Häftlinge
weitgehend zu ermorden. Am 3./4. November 1943 wurde die überwiegende
Mehrheit der zu diesem Zeitpunkt noch lebenden Juden des Distrikts Lublin
getötet. Der Massenmord fand nahezu zeitgleich in den drei Lagern Poniato­
wa, Trawniki und Majdanek statt. Pie dort zusammengezogenen SS-Einhei­
ten erschossen an zwei Tagen insgesamt SChätzungsweise 40000 bis 43000
Menschen. In Majdanek wurden rund 17000 Juden getötet, darunter auch die
etwa 8000 jüdischen Häftlinge des Lagers. 45 Die - so der Deckname - »Ak­
38 Vgl. Piper, Franciszek: Die Rolle des Lagers Auschwitz bei der Verwirklichung der na­
tionalsozialistischen Ausrottungspolitik. Die doppelte Funktion von Auschwitz als
Konzentrationslager und als Zentrum der Judenvernichtung. In: Herbert/Orth/Dieck­
mann (Hg.): Konzentrationslager, S. 392ff. Die Zahl der nach Auschwitz-Birkenau de­
portierten Juden nahm seit Juni 1942 sprunghaft zu: im Mai 1942 wurden 7716 Juden
hierher gebracht, im Juni bereits 21 496, im August nahezu 42000, bis Jahresende dann
monatlich jeweils etwa 20000 Menschen. Zahlen nach ders.: Die Zahl der Opfer von
Auschwitz. Aufgrund der QueIlen und der Erträge der Forschung 1945 bis 1990.
OSwi~cim 1993 (TabeIle D zwischen S.144 und 145).
39 Vgl. Czech: Kalendarium, S. 241 ff.
40 Zur Berechnung des Prozentsatzes vgl. M. Broszats Erläuterungen in Broszat, Martin
(Hg.): Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen.
München 1992, S. 163 f. (Anm. I). Höß selbst gab den Prozentsatz mit 25 bis 30 Prozent
an. Ebenda, S. 163.
41 Vgl. Piper: Zahl, S. 23.
42 Zur Zahl der Opfer und der Diskussion um diese Zahlen vgl. Piper: Zahl.
43 Vgl. Kranz, Tomasz: Das KL Lublin - zwischen Planung und Realisierung. In: Herbert/
Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 381. Zur Lagergeschichte insgesamt vgl.
neben Kranz: KL LUblin, vor aIlem Marszalek, Josef: Majdanek. Konzentrationslager
Lublin. Warschau 1984; Mencel, Tadeuszu.a.: Majdanek 1941-1944. Lublin 1991.
44 Vgl. Kranz: KL Lublin, S. 372f.
45 Zahlen nach: Urteil gegen Hackmann u.a. vom 30.6.1981, StA Düsseldorf, 8 Ks 1/75,
S. 471; Gutman, Yisrael u. a. (Hg.): Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und
Ermordung der europäischen Juden. 3 Bde. Berlin 1993. S. 418 f.
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tion Erntefest« ist als eine der größten Massenerschießungen in der Ge­
schichte der nationalsozialistischen Judenvernichtung anzusehen.
In der letzten Phase der Lagergeschichte, die nach der »Aktion Erntefest«
einsetzte und bis zur Räumung Majdaneks reichte, versuchte Pohl, den Ar­
beitseinsatz für .die Betriebe der DAW im Distrikt Lublin zu reorganisieren.
Die Versuche scheiterten; Majdanek diente nun vielmehr als Exekutionsstätte
für polnische Zivilisten, vornehmlich jedoch als Auffanglager für kranke und
geschwächte KZ-Häftlinge, die die SS aus den überwiegend im »Altreich» ge­
legenen Konzentrationslagern nach Lublin überstellte. Die Gesamtzahl der
Opfer in Majdanek liegt bei 170000 oder gar 250000 Menschen, darunter
mindestens 90000 Juden. 46
Eine erneute Ausweitung des Lagersystems des WVHA erfolgte im Som­
mer 1943. Zwischen Juni und September 1943 übernahm Pohl die jüdischen
Ghettos und »Zwangsarbeitslager für Juden« des »Reichskommissars Ost­
land«, das Gestapo-Gefängnis in Warschau sowie im Januar 1944 das
»Zwangsarbeitslager für Juden« in Krakau und wandelte diese in die selbstän­
digen Konzentrationslager Riga, Kaunas, Vaivara, Warschau und Plaszow
um. Zudem wurde im Januar 1943 im äußersten Westen, in den besetzten Nie­
derlanden, das KZ Herzogenbusch errichtet. Damit standen seit Sommer
1943 zwanzig selbständige Hauptlager unter der Verwaltung des WVHA.47
Das Näherrücken der Roten Armee veranlaßte das WVHA seit Frühjahr
1944, die 1943 »im Osten« übernommenen Lager sowie das Vernichtungslager
Majdanek zu räumen. Die Zahl der KZ-Hauptlager reduzierte sich auf fünf­
zehn.
Der Kenntnisstand über die 1943/44 dem WVHA unterstellten Lager ist
ausgesprochen gering. Aufgrund dieser Forschungslage können daher nur er­
ste Hypothesen geäußert werden. Offenbar wurden die genannten Lager - mit
Ausnahme des »KL Warschau«, das ausschließlich dazu eingerichtet wurde,
um die Spuren der in Warschau begangenen Verbrechen zu beseitigen - nicht
48
zu Konzentrationslagern im engeren Sinne umgeformt. Hinsichtlich der in­
neren Verwaltungs- und Organisationsstruktur, der Zusammensetzung der
Häftlingsgruppen sowie des Personals lassen sich jedenfalls nur bedingt struk­
46 Zahlen nach Kranz: KL Lublin, S. 373, S. 380f. Zur Diskussion der Todeszahlen vgl.
ebenda, S. 380 f., 388 (Anm. 72/73).
47 Es handelte sich um die KZ Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Flossenbürg, Maut­
hausen, Ravensbrück, Neuengamme, Auschwitz, Groß-Rosen, Natzweiler, Majdanek
und Stutthof. Arbeitsdorf und Niederhagen waren bereits aufgelöst. 1943 kamen die
KZ Herzogenbusch, Riga, Warschau, Kaunas, Vaivara sowie (durch eine Umstruktu­
rierung des Gesamtkomplexes Auschwitz) Auschwitz II (Birkenau) und Auschwitz UI
(Monowitz und andere Außenlager) hinzu, im Januar 1944 zudem das KZ Plaszow.
48 Zu den KZ im Baltikum Hinweise bei Streim, Alfred: Konzentrationslager auf dem Ge­
biet der Sowjetunion. In: Dachauer Hefte. 5 (1989), 5, S.174-187; Ezergailis, Andrew:
The Holocaust in Latvia 1941-1944. Riga 1996; Vestermanis, Margers: Die nationalso­
zialistischen Haftstätten und Todeslager im okkupierten Lettland 1941-1945. In: Her­
bertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 472-492; Dieckmann, Christoph:
Das Ghetto und das Konzentrationslager in Kaunas 1941-1944. In: ebenda, S.439-471;
sowie Schwarz: Lager, S. 200-204,221-223 und 232-234.
turelle Ähnlichkeiten mit den im Inneren des Deutschen Reiches gelegenen
Konzentrationslagern feststellen: Herzogenbusch erfüllte die Funktion eines
Durchgangslagers für jüdische Häftlinge in die Vernichtungslager;49 die im
Baltikum bestehenden Lager - hier waren nahezu ausschließlich jüdische Ge­
fangene inhaftiert - müssen möglicherweise partiell selbst als Vernichtungsla­
ger angesehen werden, da die Haft- und Arbeitsbedingungen mörderischen
Charakter hatten.
Während in den überwiegend im Reich gelegenen Konzentrationslagern im
Winter 1942/43 die logistischen und organisatorischen Voraussetzungen ge­
schaffen wurden, um die KZ-Häftlinge massenhaft in der Rüstungsindustrie
einzusetzen, führte die SS im Osten den Massenmord an den Juden fort, der
mit dem Einmarsch in die Sowjetunion im Sommer 1941 eine neue Dimension
erreicht hatte. Völkermord und Zwangsarbeit, die das KZ-System seit 1942
prägten, standen nicht im Widerspruch zueinander, da sie unterschiedliche
Verfolgtengruppen betrafen: Juden und nichtjüdische KZ-Häftlinge. Die Dif­
ferenzierung des Systems brach im ersten Halbjahr 1944 auf. Seit April 1944,
mit der allmählichen Auflösung des Vernichtungslagers Majdanek sowie der
1943 »im Osten« übernommenen Lager mit sein~n jüdischen Insassen, begann
eine neue Etappe in der Entwicklung des KZ-Systems.
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Das KZ-System im letzten Kriegsjahr
Im letzten Kriegsjahr stieg die Gefangenenzahl sowie die Zahl der eröffneten
Nebenlager erheblich an. Die Versuche des NS-Regimes, die sich abzeichnen­
de Niederlage mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden,
die begleitet wurden von immer drängenderen Forderungen der Kriegsindu­
strie nach Arbeitskräften, führten zu einer erneuten Ausweitung der Verhaf­
tungspraxis sowohl im Deutschen Reich als auch in den besetzten Gebieten.
Der Rückzug der deutschen Truppen ging mit Razzien und Verhaftungswel­
len einher; auch in West- und Nordeuropa wurden nun massenhaft und wahl­
los Tausende gefangengenommen und in die KZ verschleppt. Die Zahl der
Häftlinge stieg im August 1944 auf 524286; am 15. JanuarJ245 waren
714211 Menschen der Gewalt der Lager-SS ausgesetzt. 50
Die Nachfrage nach Arbeitskräften hatte zur Folge, daß das seit 1942 ver­
folgte Prinzip, das Reichsgebiet »judenfrei« zu machen, im Frühjahr 1944 auf­
gegeben wurde. Ein Teil der ungarischen Juden, die zu diesem Zeitpunkt in
den deutschen Machtbereich gerieten, wurde von der unmittelbaren Vernich­
tung ausgenommen und von Auschwitz aus in die Konzentrationslager im
49 Zu Herzogenbusch vgl. Stuldreher, Coenraad J. F.: Deutsche Konzentrationslager in
den Niederlanden. Amersfoort, Westerbork, Herzogenbusch. In: Dachauer Hefte. 5
(1989), 5, S. 141-173; ders.: Das Konzentrationslager Herzogenbusch - ein »Musterbe­
trieb der SS«? In: HerbertjOrthjDieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 327-348.
50 Stärkemeldung des WVHA vom 15.8.1944, Nürnberger Dokument NO-399; Liste der
Konzentrationslager und ihrer Belegung vom I. und 15.1.1945, BArch (Berlin), Samm­
lung Schumacherj329.
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Reich überstellt. Darüber hinaus ließ das WVHA seit Sommer 1944 die KZ
im Baltikum, in denen nahezu ausschließlich jüdische Gefangene unterge­
bracht waren, Richtung Westen räumen. Aufgrund dieser beiden Ereignisse
gelangten binnen kurzer Zeit mehrere zehntausend jüdische Häftlinge ins
Deutsche Reich und die dort bestehenden Konzentrationslager. Die dramati
sche Überfüllung der Konzentrationslager - insbesondere in der zweiten
Hälfte des Jahres 1944 - wurde von den dort inhaftierten Menschen als le­
bensbedrohliche Chaotisierung der Lagerverhältnisse erlebt. Die drastische
Verknappung der Ressourcen, die mit einer Verschärfung der Mißhandlungen
und einer Ausweitung der Zwangsarbeit einherging, führte zu einem Massen­
sterben, das in den Konzentrationslagern bislang unbekannte Ausmaße er­
reichte.
Immer deutlicher zeichnete sich ab, daß innerhalb des KZ-Systems zur glei­
chen Zeit verschiedene Typen des Konzentrationslagers bestanden, denen je­
weils eine unterschiedliche Funktion zukam: Zu nennen sind die KZ-Stamm­
lager, das Netz der Außenlager sowie das Vernichtungslager Auschwitz­
Birkenau. Hinzu traten nun zwei gänzlich neuartige Ausformungen des Kon­
zentrationslagers, die ich als »KZ der Verlagerungsprojekte« einerseits, als
»Sterbelager« andererseits bezeichnen möchte. Weiter unten wird auf diese
ausführlich einzugehen sein.
Zwischen Frühjahr und Spätherbst 1944 erreichte der Völkermord in
Auschwitz-Birkenau einen furchtbaren Höhepunkt: In wenigen Wochen töte­
te die SS 350000 ungarische Juden,51 die im »Theresienstädter Familienlager«
untergebrachten Menschen, die Häftlinge des »Zigeunerlagers« sowie die nach
Birkenau deportierten Insassen des Ghettos in L6dz. Im Frühjahr 1944 ließ
die Lager-SS die Vernichtungsanlagen perfektionieren: Erst jetzt wurde die
Verlegung der Eisenbahngleise bis unmittelbar vor die Gaskammern und Kre­
matorien abgeschlossen.
Die Macht der SS war jedoch nicht grenzenlos. Vielmehr ist nachzuweisen,
daß sich 1944 die Widerstandstätigkeit in Auschwitz erhöhte - zu erinnern ist
insbesondere an den Aufstand des jüdischen »Sonderkommandos« -, daß zahl­
reiche Häftlinge versuchten zu flüchten. Dies sowie die näher rückenden Ver­
bände der Roten Armee veranlaßten die SS im zweiten Halbjahr 1944, Pläne
zur Räumung des Lagerkomplexes Auschwitz auszuarbeiten. Seit Sommer
1944 wurden zudem größere Gruppen von Häftlingen nach Westen verlegt: Et­
wa 70000 Menschen, insbesondere polnische und sowjetische Gefangene, ließ
die Amtsgruppe D noch vor der eigentlichen Räumung des Lagerkomplexes
Auschwitz in andere Konzentrationslager überstellen. 52
Für die KZ ist das letzte Kriegsjahr als eigenständige Entwicklungsetappe
anzusehen. Anhand der vorliegenden Einzelstudien läßt sich zeigen, daß es sich
51 Zum Schicksal der ungarischen Juden vgJ. Braham, Randolph L.: The Politics of Geno­
eide. The Holocaust in Hungary.:2 Bde. New York 1981; Czech: Kalendarium, S. 698ff.;
Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt a. M. 1990, S. 1045;
Safrian, Hans: Die Eichmann-Männer. Wien, Zürich 1993, S. 293-307.
52 Strzelecki, Andrzej: Endphase des KL Auschwitz. Evakuierung, Liquidierung und Be­
freiung des Lagers. Oswi~cim 1995, S. 89 -92.
50
durch einen nochmaligen Wachstumsschub auszeichnete. Die KZ-Stammlager
entwickelten sich zunehmend zu Auffang-, Durchgangs- und Quarantänela­
gern. Sowohl diejenigen Personen, die nun erstmals in KZ-Haft gerieten, wur­
den hierher gebracht als auch diejenigen Gefangenen, die sich in Gefängnissen,
Lagern oder Haftstätten befunden hatten, die die SS-Führung beim NäherIÜk­
ken der Roten Armee auflösen ließ. Die Einweisung immer neuer Häftlings­
gruppen in die KZ-Stammlager gewann in der zweiten Hälfte des Jahres 1944
eine rasante Dynamik und erreichte ungeheure Ausmaße.
Nun bildeten sich innerhalb der Häftlingslager spezifische Teilbereiche aus:
Neben den normalen Baracken entstanden einerseits Elendszonen (etwa die
»Quarantänelager« oder eigens errichtete Zelte), andererseits aber auch ein ­
relativ - privilegierter Unterkunftsbereich. Die Lagerzonen grenzten häufig
unmittelbar aneinander - und sie waren doch jeweils ein Universum für sich.
Während in den Verelendungszonen die Häftlinge (viele von ihnen jüdischer
oder slawischer Herkunft) dahinvegetierten, lebten die Funktionshäftlinge
und die Facharbeiterhäftlinge in vergleichsweise gut ausgestatteten Blöcken.
Die zuletzt genannten Gruppen bildeten innerhalb des herrschenden Chaos
den stabilen und einflußreichen Kern. Zudem dienten sie bei der Errichtung
neuer Außenlager sowohl der SS als auch den Rüstungsbetrieben als Rekru­
tierungsbasis der Stammbelegschaft. Die SS wählte diejenigen Gefangenen,
die in dem zu errichtenden Nebenlager Funktionsstellen einnehmen sollten,
hier aus, die Industriebetriebe die benötigten Facharbeiter.
Gemessen an der Zahl der Inhaftierten kehrte sich das Verhältnis der
Stammlager zu den Außenlagern allmählich um. Prozentual und absolut im­
mer mehr KZ-Insassen hielt die SS in den Nebenlagern gefangen. Die Mehr­ heit war jedoch zunächst, zumindest kurzfristig, im Hauptlager unterge­ bracht; nur wenige Gefangene wurden direkt in die Außenlager eingewiesen.
Die Stammlager erhielten daher die Funktion einer Drehscheibe; sie wurden
zu Verteilerstationen, von denen aus die KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit in
die anderen KZ oder die angeschlossenen Außenlager überstellt wurden.
Seit 1944 nahm die Zahl der Außenlager stark zu; auch in den ersten Mo­
naten des Jahres 1945 setzte sich diese Tendenz fort. 53 Staatliche und private
Rüstungsbetriebe griffen auf das Arbeitskräftereservoir der KZ-Häftlinge zu­
rück, obwohl deren Leistung im Vergleich zu der freier Arbeiter oder auch
Zwangsarbeiter deutlich geringer war und die Produktivität offenbar gering
blieb. Nach ersten Schätzungen betrug sie nicht mehr als etwa fünfzehn Pro­
zent im Vergleich zur privaten Industrie. 54 Eine (bislang ausstehende) Typolo",
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53 Ende des Jahres 1943 bestanden 186 KZ-Außenlager, im Juni 1944 mindestens 341, im
Januar 1945 mindestens 662. Die häufig genannte Zahl von 1000 oder gar 1200 Neben­
lagern, die zum Jahreswechsel 1944/45 existiert haben sollen, ist hingegen eine kumula­
tive Angabe, die die Schließung zahlreicher Außenlager bis zu diesem Zeitpunkt nicht
berücksichtigt.
54 Herbert, Ulrich: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager. In: Bran­
denburgische Gedenkstätten für die Verfolgten des NS-Regimes. Perspektiven, Kontro­ versen und internationale Vergleiche. Ministerium für Wissenschaft, Forschung und
Kultur des Landes Brandenburg (Hg.). Berlin 1992, S. 25.
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gie der Außenlager, die das gesamte KZ-System umfaßt, müßte folgende
Kriterien der Differenzierung berücksichtigen: insbesondere die Art der ver­
richteten Zwangsarbeit, die entsprechenden Arbeits- und Organisationsstruk­
turen, Trägerschaft und institutionelle Verankerung des Außenlagers, Größe
sowie nationale und soziale Zusammensetzung der Häftlingsgruppen, Anzahl
und Art des Bewachungspersonals und schließlich die Todesrate. Denn die
Überlebenschance hing wesentlich von der Art der Zwangsarbeit und der Stel­
lung des oder der einzelnen in der rassistischen Häftlingshierarchie ab. Faßt
man die vorliegenden Studien zu einer ersten Schlußfolgerung zusammen und
gliedert sie nach den genannten Kriterien, so läßt sich festhalten, daß minde­
stens zwei Typen von Außenlagern aufgrund der großen Zahl der dort einge­
setzten Häftlinge besondere Bedeutung erlangten: »Fabriklager« einerseits,
»Baulager« andererseits. In beiden Lagertypen war der vermutlich größte Teil
der überhaupt zur Zwangsarbeit herangezogenen KZ-Häftlinge beschäftigt.
Als wesentlicher Unterschied zwischen beiden ist zunächst die Art der Arbeit
zu nennen: In den Fabriklagern wurden die Gefangenen vornehmlich in der
Produktion von Rüstungsgütern eingesetzt, in den Baulagern hingegen vor­
nehmlich zu Bau-, Erd- und Aufräumarbeiten. Auch scheint die Todesrate
mit der Differenzierung zu korreilieren: Sie lag in den Fabriklagern deutlich
niedriger als in den Baulagern.
Bereits die Unterscheidung in Fabrik- und Baulager deutet auf den Um­
stand hin, daß im letzten Kriegsjahr eine Vielzahl verschiedener Nebenlager
mit höchst unterschiedlichen Haft- und Arbeitsbedingungen existierte. Dar­
über hinaus jedoch zeichnete sich insofern eine neuartige Struktur ab, als sich
einige Außenlager zu gigantischen Komplexen entwickelten, zu Verbünden di­
verser Unter- und Nebenlager, in denen oft mehrere tausend Häftlinge unter­
gebracht waren.
Auch die »KZ der Verlagerungsprojekte« bestanden aus einem ganzen
Komplex von Außenlagern. Die Ursprünge dieser KZ gehen auf das Jahr
1943 zurück. Zunächst dienten sie ausschließlich dem Zweck, die Produktion
und Montage der sogenannten Vergeitungswaffe (»V2«) in bombensichere
Räume zu verlagern. Himmler sagte zu, für die gigantischen Bauvorhaben
KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte bereitzusteilen und ließ im August 1943 das
dem KZ Buchenwald zugeordnete Außenlager Mittelbau-Dora eröffnen. Die
Häftlinge bauten eine riesige Stollenanlage im Harz aus, in der die »V-Waf­
fen« produziert werden sollten. Zudem ernannte Himmler Hans Kammler,
den bisherigen Chef der Amtsgruppe C (Bauwesen) im WVHA, zum Sonder­
beauftragten für die Baurnaßnahmen.
Das Organisations- und Kompetenzgefüge, das in Mittelbau-Dora in den
folgenden Wochen und Monaten entstand, wies nur bedingt Ähnlichkeiten
mit der Verwaitungsstruktur der bestehenden Konzentrationslager auf. Es
entwickelte sich vielmehr zum Modell der Verlagerung von Rüstungsindu­
strien insgesamt, die 1944 immense Ausmaße annahm. Die oberste Leitung
und die Koordination lag beim Rüstungsminsterium, eigens eingerichtete Ge­
sellschaften (im Falle Mittelbau-Doras die Mittelwerk GmbH) trugen die Ver­
antwortung für die unternehmerische Gesamtleitung, und der »Sonderstab
52
Kammler« koordinierte die umfangreichen Bautätigkeiten. Zudem waren an
den Verlagerungsprojekten zahlreiche Industriebetriebe, darunter auch Bau­
unternehmen, und die »Organisation Todt« (OT) beteiligt.
Aus der Sicht Speers erzielte Kammler in Mittelbau-Dora binnen kürzester
Zeit erstaunliche Erfolge: die Produktion der »V-Waffen« konnte bereits im
Januar 1944 aufgenommen werden. Aus diesem Grunde berief Speer Kamm­
ler in den am I. März 1944 gegründeten sogenannten Jägerstab. Die »Erfolge«
Kammlers waren durch die rigorose Ausbeutung und den Tod Tausender
KZ-Häftlinge erkauft worden.
Die Aufgabe des Jägerstabes, einer eigenständigen Zentralinstanz, die sich
aus Industriellen, Mitarbeitern des Reichsluftfahrtministeriums und des Rü­
stungsministeriums zusammensetzte, bestand darin, Maßnahmen zu ergreifen,
um die nahezu gänzlich zerschlagene Luftfahrtindustrie zu schützen bzw. wie­
55
deraufzubauen. Da der Jägerstab die Untertage-Verlagerung von Produk­ tionsstätten als besonders sinnvoli erachtete, nahm die Zahl derartiger Projek­
te, die man zu einem erheblichen Teil mit KZ-Häftlingen bewerkstelligte, seit
Frühjahr 1944 erheblich zu. Die Hälfte der etwa 480000 KZ-Häftlinge, die
die SS Ende des Jahres 1944 als »arbeitsfähi~« einstufte (die Gesamtzahl der
Inhaftierten lag bei rund 600000), leistete Zwangsarbeit für private Industrie­
betriebe, die andere Hälfte war in den Verlagerungsprojekten des Kammler­
stabes und bei Bauvorhaben der OT eingesetzt. 56
Die Berufung Kammlers in den Jägerstab stellte einen erheblichen Macht­
zuwachs für die SS-Führung dar. Alierdings war dieser nicht von Dauer. Die
Zusammenarbeit mit der SS auf den Baustellen erwies sich aus der Sicht der
anderen beteiligten Instanzen als schwierig, zudem konkurrierte (He SS bei der
Vergabe von Verlagerungsprojekten mit anderen Institutionen, insbesondere
mit der OT. Die Aktivität der SS in diesem Bereich blieb daher vor allem auf
BausteIlen für Renommierprojekte und auf Großverhaben mit hohem Ar­
beitskräfteaufwand beschränkt.
Seit Frühjahr 1944 erörterten das Rüstungsminsterium und die beteiligten
Industriebetriebe alternative Pläne zur Sicherung der Kriegsproduktion. Zwei
Konzepte setzten sich durch: zum einen der Bau gigantischer Stollenanlagen
zu ebener Erde, zum zweiten der Bau oberirdischer Großbunker. Im April
1944 beauftragte Hitler die OT - und nicht die SS - mit dem Bau der Groß­
bunker. Die Ersetzung des Jägerstabes durch den »Rüstungsstab« im August
1944 (der nun für die Sicherung und nötigenfalis Verlagerung aller als kriegs­
entscheidend erachteten Fertigungsanlagen sorgen sollte) brachte schließlich
eine weitere Machteinbuße für die SS-Führung mit sich.
55 Zum Jägerstab vgL Milward, AIan S.: Die deutsche Kriegswirtschaft 1939-1945. Stutt­
gart 1966, S. 125 -133 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; 12);
Neander, Joachim: Das Konzentrationslager »Mittelbau« in der Endphase der natio­
nalsozialistischen Diktatur. Zur Geschichte des letzten im »Dritten Reich« gegründeten
selbständigen Konzentrationslagers unter besonderer Berücksichtigung seiner Auflö­
sungsphase. Clausthal-Zellerfeid 1997, S. 64f.
56 Vernehmung Pohl vom 25.8.1947. Zit. nach Herbert: Arbeit und Vernichtung, S.413.
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Gleichzeitig zur Entscheidung Hitlers, die OT mit der Errichtung der Groß­
bunker zu betrauen, wurde innerhalb der Amtsgruppe D ein weiterer Amts­
chef etabliert; ein einmaliger Akt in der Geschichte dieser Institution. Man be­
auftragte den - mit Martin Weiß relativ prominent besetzten - »Amtschef
z. b. V.« [zur besonderen Verwendung - K. 0.] im Herbst 1944, als Sonderbe­
auftragter der Amtsgruppe D beim Bau des Großbunkers »Weingut I« bei
Mühldorf am Inn zu fungieren. 42 Firmen hatten sich hier zu einer Dach­
gesellschaft, der Weingut-Betriebs-GmbH, zusammengeschlossen, um den
Bunker nach seiner Fertigstellung zur Produktion von Kriegsgerät oder als
Lagerhalle zu nutzen. Weiß sollte mit der Weingut-Betriebs-GmbH und der
örtlichen Bauleitung der OT alle Maßnahmen abstimmen, die im Zusammen­
hang mit der Unterbringung und dem Einsatz der KZ-Häftlinge auftraten.
Beides, die Schaffung eines fünften Amtschefs innerhalb der Amtsgruppe D
sowie der Auftrag, den Weiß erhielt, läßt sich als Reaktion auf den seit Früh­
jahr 1944 eskalierenden Machtkampf um die Verfügungsgewalt über das Ar­
beitskräftepotential der KZ-Häftlinge interpretieren. Die Amtsgruppe D ver­
suchte, Terrain zurückzugewinnen, das sie im Laufe des Jahres 1944 an
Kammler, die OT und das Rüstungsministerium verloren hatte. Dies gelang
ihr letztendlich - selbst auf der Ebene der Planungen - nicht. Ein überliefertes
Dokument, ein projektierter Organisationsplan der Weingut-Betriebs-GmbH,
zeigt, daß die Festlegung der Arbeits- und Haftbedingungen für die Gefange­
nen in der Produktionsphase an die Betriebsgesellschaft übergegangen wäre.
Wären diese Pläne Realität geworden, hätte die Amtsgruppe D endgültig ihre
Verfügungsgewalt über die KZ-Häftlinge verloren.
Die Planungen der Weingut-Betriebs-GmbH sind aus einem zweiten Grund
beachtenswert. Denn sie zeigen, daß in den letzten Wochen des Krieges offen­
bar Pläne geschmiedet wurden, die weit über das Kriegsende hinausreichten.
Auffanggesellschaften wie die Weingut-Betriebs-GmbH dienten offenbar »ge­
wissermaßen als >Mantel< für eine eigenständige industrielle Interessenpolitik,
die sich angesichts des verlorenen Krieges nun endgültig von den Perspektiven
der Kriegs- und Rüstungspolitik des NS-Staates ab- und den Bedingungen ei­
ner zu erwartenden Nachkriegszeit zuwandte«.57 Seit Herbst 1944 läßt sich al­
so _ ohne daß dieses Phänomen bereits detailliert untersucht worden wäre ­
beobachten, daß die Untertage- und Rückverlagerung diverser Industriebe­
triebe mit industriellen Nachkriegsplanungen verschmolzen.
Nur ein einziges KZ dieses Typus, nämlich Mittelbau-Dora, wurde in den
Rang eines selbständigen Stammlagers erhoben. Weitere bestanden in Maut­
hausen, Groß-Rosen, Dachau, Natzweiler und Buchenwald. Doch die Unter­
stellung war im wesentlichen formaler Natur; das jeweilige Hauptlager und
die dort tätigen SS-Führer verfügten nur über wenig Einfluß. Die »KZ der
Verlagerungsprojekte« sind jedoch nicht nur durch die neuartigen Organisa­
tionsstrukturen gekennzeichnet, sondern auch durch die Art der hier verrichte­
ten Zwangsarbeit charakterisiert. Die Gefangenen wurden auf den Baustellen
57 Fröbe, Rainer: Der Arbeitseinsatz von KZ-Häftlingen und die Perspektiven der Indu­
strie 1943-1945. In: Herbert (Hg.): Europa und der »Reichseinsatz«, S. 372.
von unterirdischen Produktionsanlagen, von Großbunkern oder von ebener­
digen Stollen herangezogen; die KZ-Überlebenden bezeichnen sie aus diesem
Grunde als »Bauhäftlinge«. Die Zahl der Inhaftierten lag offenbar meist über
10 000, möglicherweise handelte es sich mitunter ausschließlich um jüdische
Gefangene, die zuvor innerhalb des Vernichtungskomplexes des WVHA im
Osten inhaftiert gewesen waren. Sie arbeiteten unter im wahrsten Sinne des
Wortes mörderischen Bedingungen; die Todesraten waren ungeheuer hoch.
Innerhalb der Lagerverbünde bildete sich ein abgestuftes System der Arbeit
und des Leidens heraus. Am Beispiel des KZ Mittelbau-Dora ist gezeigt wor­
den, 58 daß die »abgearbeiteten« Bauhäftlinge in neu entstehende Außenlager
des Gesamtkomplexes abgeschoben wurden, wo sie entweder bis zur völligen
Erschöpfung weiterhin zu Bauarbeiten gezwungen oder aber dem Tode über­
lassen wurden. Am unteren Ende der hierarchischen Gliederung des Gesamt­
komplexes standen reine Sterbelager.
Erreichten die Verlagerungsprojekte das Stadium der Produktion, verän­
derte sich die Art der Zwangsarbeit und offenbar auch die Zusammensetzung
der Häftlingsgruppen. In der Produktion wurden nun Facharbeiterhäftlinge
(die sogenannten Produktionshäftlinge) eingesetzt, die offenbar zum Teil in
den KZ-Stammlagern gezielt gemustert worden waren. Da die Betriebe von
der Qualifikation der Häftlinge zu profitieren trachteten und auf deren Ar­
beitskraft angewiesen waren, sorgten sie für vergleichsweise erträgliche Ar­
beitsbedingungen. Die Produktionshäftlinge hatten daher eher eine Chance,
zu überleben.
Im letzten Kriegsjahr bildete sich ein zweiter neuartiger Typus des Konzen­
trationslagers heraus: die »Sterbelager«. In allen KZ-Hauptlagern (und auch
in einigen Außenlagerkomplexen) entstanden im Laufe des Jahres 1944 Zonen
der Verelendung - Orte, an denen neueingelieferte oder »abgearbeitete«, kran­
ke und vollkommen geschwächte KZ-Häftlinge dem Tod überlassen wurden.
Die Lager-SS tötete in diesen Bereichen nicht durch Erschießen oder Gift,
sondern durch Hunger und Durst, Seuchen und Kälte, durch systematische
Unterversorgung. Offenbar war der Anteil der jüdischen Häftlinge hier über­
proportional hoch. Nur ein einziges Lager dieses Typus wurde in den Rang
eines eigenständigen Konzentrationslagers erhoben: Bergen-BelseIL
Himmler hatte Bergen-Belsen 1943 zunächst als »Aufenthähslager« ein­
richten lassen; er verfolgte mit diesem Lager das Ziel, bestimmte Gruppen von
Juden an einem Ort zu konzentrieren, um sie vor ihrer Deportation in die Ver­
nichtungslager als Unterpfand für einen möglichen Austausch mit deutschen
Staatsbürgern zur Verfügung zu haben. Tatsächlich wurde ein solcher Aus­
tausch nur in höchst geringem Umfang realisiert. Seit dem Jahre 1944 zeich­
nete sich vielmehr ein allmählich einsetzender, in der zweiten Jahreshälfte an
Geschwindigkeit rapide zunehmender Transformationsprozeß ab. Bergen-Bel­
sen entwickelte sich zu einem Auffanglager für immer neue Transporte kran­
58 Vgl. Wagner, Jens-Christian: Das Außenlagersystem des KL Mittelbau-Dora. In: Her­
bert/Orth/Dieckmann (Hg.): Konzentrationslager, S. 707-729.
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ker, sterbender und toter Menschen und stellt daher »nicht den Prototyp des
nationalsozialistischen Konzentrationslagers« dar. 59 Es wurde vielmehr zum
Sterbelager und infernalen Endpunkt des zusammenbrechenden KZ-Systems.
Die Räumung der Konzentrationslager
Die »Evakuierung« der Konzentrationslager zog sich über ein Jahr hin. Der
Versuch der SS, sämtliche Dokumente der Lagerregistratur zu vernichten,
ging mit einer zunehmenden Personalisierung der Entscheidungen einher. Das
Handeln der mittleren und unteren Instanzen des Verfolgungsapparates be­
stimmte wesentlich das Geschehen. Während die Amtsgruppe D vor allem
eine koordinierende Funktion übernahm und festlegte, wohin die »Evakuie­
rungstransporte« geleitet werden sollten, bestimmten die HSSPF den konkre­
ten Zeitpunkt der »Evakuierung«. Auch die zu Reichsverteidigungskommissa­
ren ernannten Gauleiter versuchten - oft in Zusammenarbeit mit oder aber in
Konkurrenz zu den HSSPF -, auf das Geschehen Einfluß zu nehmen. Die La­
gerkommandanten schließlich sorgten für die Umsetzung des Räumungsbe­
fehls. Sie gaben zudem (aller Wahrscheinlichkeit nach mündlich) die Weisung
an die Begleitposten aus, daß jeder Häftling zu töten sei, der zurückblieb, zu
flüchten versuchte oder in irgend einer Weise den Marsch störte. Die damit er­
öffneten Handlungsspielräume wurden erbarmungslos ausgenutzt: Die Räu­
mung des KZ-Systems zeichnete sich durch ungeheure Brutalität und im­
mense Todeszahlen aus. Zahlreiche Marschkolonnen irrten ziellos umher,
weil die Wege abgeschnitten waren oder die Orientierung verlorenging. Einige
Transporte erreichten über Umwege Auffang- und Sterbelager im Inneren des
Reiches; eine ungeheuer große (und bis heute nicht bekannte) Zahl von Men­
schen starb unterwegs. Die »Evakuierungsmärsche« werden zu Recht als »To­
desmärsche« bezeichnet.
Trotz des chaotischen Verlaufs der Räumungen ist nicht zu übersehen, daß
dem Abmarsch detaillierte Planungen vorangingen. Die Lagerkommandanten
arbeiteten, offenbar zum Teil in Absprache mit den zuständigen HSSPF bzw.
Gauleitern, Räumungspläne aus und orientierten ihr Handeln an diesen.
Meist wurden zunächst die Außenlager ins Stammlager zusammengezogen,
von hier aus begann schließlich die Räumung des Lagerkomplexes. Die Auf­
lösung des KZ-Systems erfolgte in drei Etappen, von April bis September
1944, von Mitte Januar bis Mitte Februar 1945 sowie von Ende März bis Ende
Apri11945.
Im Frühjahr 1944 ließ Pohl das Vernichtungslager Majdanek räumen, seit
Sommer die Lager im Baltikum, im Herbst 1944 schließlich die beiden am
weitesten im Westen gelegenen KZ Herzogenbusch und Natzweiler. Die zwei­
te Phase der Räumung wurde durch den Beginn der sowjetischen Winterof­
fensive ausgelöst. Seit Mitte Januar setzte die SS mindestens 113000 KZ­
59 Kolb, Eberhard: Bergen-Belsen. Vom »Aufenthaltslager« zum Konzentrationslager
1943-1945. Göttingen 1991, S. 9.
56
Häftlinge Richtung Westen in Marsch: 58000 Häftlinge aus Auschwitz,
11000 aus Stutthof (ein erheblicher Teil der Gefangenen blieb in Stutthof zu­
rück und wurde erst im April 1945 »evakuiert«) und 44000 Gefangene aus
Groß- Rosen. Nachweisbar ist, daß 24500 Gefangene den Marsch Richtung
Westen nicht überlebten; die Gesamtzahl jedoch dürfte weitaus höher liegen,
da nicht einmal geschätzt werden kann, wieviele Häftlinge aus Groß-Rosen
den Todesmarsch nicht überlebten. 60 Die Ankunft der vollkommen ge­
schwächten, kranken und sterbenden Menschen in den Konzentrationslagern
im Inneren des Deutschen Reiches führte dort zu einer letzten Stufe der Eska­
lation.
Bis Ende März 1945 unterblieb ein Befehl, die noch bestehenden Konzen­
trationslager zu räumen. Die Lager-SS nutzte die Interimszeit, um die bevor­
stehende »Evakuierung« vorzubereiten. Dazu gehörte die Planung der eigenen
Flucht und die Beseitigung von Dokumenten oder anderen Spuren, die Aus­
kunft über die in den KZ verübten Verbrechen hätten geben können. Wichti­
ger jedoch war, daß die SS in diesem Zeitraum dazu überging, gezielt zwei
Gruppen von KZ-Insassen zu töten: diejenigen Häftlinge, die aus ihrer Sicht
den Strapazen des »Evakuierungsmarsches« nicht gewachsen sein würden, so­
wie diejenigen, die sich bei der Annäherung feindlicher Truppen als »gefähr­
lich« erweisen könnten. Da nur wenige Quellen überliefert sind, läßt sich der
Befehlsweg nicht zweifelsfrei klären. Die Indizien sprechen jedoch dafür, daß
die Befehle zur Tötung der »marschunfähigen« sowie der »gefährlichen« Häft­
linge zum Teil vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA), zum Teil auch vom
WVHA ausgingen. Sie wurden offenbar über die Amtsgruppe D an die Lager­
kommandanten weitergeben. In allen bestehenden Konzentrationslagern sind
derartige Mordaktionen nachweisbar: In Dachau, Flossenbürg,Sachsenhau­
sen und Neuengamme wurden die »gefährlichen« sowie die »marschunfähi­
gen« Häftlinge erschossen oder durch Giftinjektionen getötet; in Ravens­
brück, Sachsenhausen, Stutthof und Mauthausen wurden sie zudem im Gas
erstickt. In Mauthai.J.sen und Sachsenhausen nutzte die Lager-SS bereits be­
stehende Gaskammern, in Ravensbrück und Stutthof wurde eigens zu diesem
Zweck eine Gaskammer gebaut.
Zeitgleich zu den Mordaktionen, die der »Evakuierung« vorangingen, kon­
kretisierten und radikalisierten sich die Pläne zur Räumung der noch be­
stehenden KZ. In diesem Zusammenhang tauchten nun auch Überlegungen
auf, alle KZ-Häftlinge beim Näherrücken der alliierten Truppen zu ermorden.
Himm1er jedoch sprach sich im März 1945 gegen derartige Konzepte aus ­
und stellte darüber hinaus die jüdischen Gefangenen unter seinen besonderen
Schutz. Himmlers Weisung lagen keine humanitären Einsichten ·zugrunde.
Vielmehr versuchte er seit Mitte des Jahres 1944, Verhandlungen mit den
Westmächten aufzunehmen, um einen Separatfrieden auszuhandeln; die jüdi­
schen Gefangenen dienten ihm als Geiseln. Im Frühjahr 1945 traf Himmler
zudem mit dem Präsidenten des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes,
earl J. Burckhardt, sowie mit dem Vizepräsidenten des Schwedischen Roten
60 Zahlen nach Orth: System, S. 286.
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Kreuzes, Graf Folke Bernadotte, zusammen. Himmler willigte in die Forde­
rungen Bernadottes ein, alle skandinavischen KZ-Häftlinge zu sammeln und
sie zu entlassen. Tatsächlich wurden die skandinavischen Häftlinge nach Neu­
engamme verlegt und noch vor Kriegsende nach Schweden gebracht. Durch
die »Aktion Bernadotte« gelangten über 20000 KZ-Insassen vor Kriegsende
in die Freiheit, darunter etwa 8000 Skandinavier. 61
Himmler setzte die jüdischen Häftlinge in den Verhandlungen als Faust­
pfand ein. Aus diesem Grunde befahl er im März 1945, daß kein Jude mehr
getötet werden dürfe, und beauftragte keinen Geringeren als Pohl, seinen Be­
fehl an die Lagerkommandanten zu überbringen. Himmlers Weisungen wur­
den allerdings nicht befolgt. Durch die Strategie Himmlers unterblieben je­
doch für einige Wochen jegliche Befehle, die noch bestehenden KZ im
Inneren des Deutschen Reiches zu räumen.
Erst Anfang April wurde die »Evakuierung« fortgesetzt. Zunächst wurde
Mittelbau-Dom geräumt, dann (zumindest teilweise) das KZ Buchenwald. 62
Am 11. bzw. 13. April trafen amerikanische Truppen in diesen beiden KZ ein,
zwei Tage später wurde Bergen-Belsen den Briten übergeben. Die Übergabe
des Sterbelagers stellte einen einmaligen Akt in der Geschichte der »Evakuie­
rung« dar; sie wurde durch einen lokalen Waffenstillstand zwischen dem zu­
ständigen deutschen Wehrmachtskommandeur und dem britischen Stabschef,
Brigadier Taylor-Balfour, ermöglicht. 63 Beide befürchteten wegen der in Ber­
gen-Belsen grassierenden Fleckfieberepidemie, daß es zu Kampfhandlungen
in diesem Seuchengebiet kommen könnte. Letztendlich jedoch konnte die
Übergabe nur deshalb zustande kommen, weil Himmler nicht befohlen hatte,
auch Bergen-Belsen zu räumen.
Unmittelbar nachdem die Alliierten Mittelbau-Dora, Buchenwald und Ber­
gen-Belsen betreten hatten, entschied Himmler, daß Flossenbürg und Dachau
zu räumen seien. Der Befehl enthielt auch die Weisung, daß kein Häftling in
die Hände des Feindes fallen dürfte. 64 Wahrscheinlich traf Himmler diese
Entscheidung deshalb, weil die Alliierten ihr Entsetzen über die Zustände in
Mittelbau-Dora, Buchenwald und Bergen-Belsen nicht verhehlten und es in
Radioberichten öffentlich machten.
61 Zahlen nach Koblik, Steven: »No Truck with Himmler«. The Politics of Rescue and
the Swedish Red Cross Mission, March-May 1945. In: Scandia. 51 (1985), zit. nach
lensen, Ulrike: »Es war schön, nicht zu frieren«. Die »Aktion Bernadotte« und das
»Skandinavierlager« des Konzentrationslagers Neuengamme. In: Beiträge zur Ge­
schichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland. Heft 2 (1995),
S.32.
62 Zur Räumung des KZ Mittelbau-Dora vgl. Neander: Konzentrationslager. Zu Buchen­
waid vgl. Schäfer, Christine: Evakuierungstransporte des KZ Buchenwald und seiner
Außenkommandos. Weimar-Buchenwald 1983 (Buchenwaldheft; 16).
63 Vgl. detailliert Kolb, Eberhard: Bergen-Belsen. Geschichte des »Aufenthaltslagers«
1943-1945. Hannover 1962, S. 157-164. Der Text des Waffenstillstandsabkommens
dort auf S. 225 ff.
64 Zur Existenz und Geschichte dieses Befehls (er liegt als Dokument bis heute nicht vor)
vgl. Zamecnik, Stanislav: »Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen.«
Zur Existenz des Himmler-Befehls vom 14./18. April 1945. In: Dachauer Hefte. I
(1985), I, S. 219-231.
In allen noch bestehenden KZ zeichneten sich nun zwei Entwicklungssträn­
ge ab: Der Abschluß der seit Ende Januar/Anfang Februar betriebenen Tö­
tung der kranken und politisch mißliebigen KZ-Insassen (sowie der Zerstö­
rung der Lagerakten und der Verwischung der Spuren des Verbrechens)
einerseits, die Verschleppung der als noch marschfähig deklarierten Gefange­
nen andererseits. Zwei Marschrouten bildeten sich aus: die Südroute, auf die
die Kolonnen der KZ Flossenbürg und Dachau getrieben wurden, und deren
Ziel die sogenannte Alpenfestung war; sowie die Nordroute, auf der die Häft­
linge aus Neuengamme, Sachsenhausen, Stutthof und Ravensbrück in Rich­
tung der sogenannten Festung Nord marschierten. Die Teilung in eine südli­
che und eine nördliche Route war durch die erneute Großoffensive der Roten
Armee bedingt, die die Spaltung des Deutschen Reiches in eine nördliche und
eine südliche Hälfte entscheidend beschleunigte.
Am 19. und 20. April setzte die SS etwa 25000 bis 30000 Gefangene aus
Flossenbürg zunächst in Richtung Dachati in Marsch; etwa 6600 erreiChten
dieses Ziel. 65 Die Räumung des Lagerkomplexes Dachau begann wenige Tage
später, umfaßte jedoch nur einen Teil der Häf~inge. Am 26. April trieb die SS
etwa 10000 Menschen Richtung Süden; einige wenige erreichten tatsächlich
die Grenze nach Österreich. Angesichts der näher rückenden alliierten Truppen
setzten sich immer mehr Bewacher ab - die Häftlinge waren plötzlich frei. Auch
in Mauthausen, dem einzigen Konzentrationslager, das nicht geräumt wurde,
flüchtete die SS Anfang Mai 1945 und überließ die Gefangenen der Freiheit.
In der Nordhälfte des Reiches begann die »Evakuierung« ebenfalls kurz nach
der Übergabe B~rgen-Belsens: Am 19. April setzten sich die Marschkolonnen
aus Neuengamme in Bewegung, am 20./21. folgten die Häftlinge aus Sachsen­
hausen, am 25. April begann die zweite Teilräumung des KZ Stutthof, am 27.
und 28. April schließlich verließen über 20 000 Gefangene Ravensbrück. 66
Das Ziel der südlichen Route, die Alpenfestung, war im Grunde (und ent­
gegen 67ihrer Bedeutung in der nationalsozialistischen Propaganda) eine Schi­
märe. Die nachweisbaren Planungen zum Ausbau einer Festungsanlage in
den Ötztaler Alpen wurden niemals auch nur in Ansätzen realisiert. Die Fe­
stung Nord, die nicht nur als Sammelpunkt der KZ-Häftlinge diente, sondern
auch als Rückzugsrevier der Lager-SS, des RSHA, der Sicherheitspolizei und
nicht zuletzt Himmlers, ist bislang weniger detailliert untersucht worden. Bei
genauer Betrachtung zeigt sich, daß sich hinter der Festung Nord mehr als
nur ein Trugbild verbarg. Einige Lagerkommandanten gaben nach Kriegsen­
de zu Protokoll, daß die nördliche Route ein konkretes Ziel gehabt habe. Sie
nannten Lübeck, Fehmarn oder Schweden. Zudem lassen einige Indjzien den
Schluß zu, daß erste Maßnahmen getroffen wurden, um in Norw~gen ein
65 Zahlen nach Siegert, Toni: Das Konzentrationslager Flossenbürg. Gegründet für soge­
nannte Asoziale und Kriminelle. In: Broszat, Martin; Fröhlich, Elke (Hg.): Bayern in
der NS-Zeit. Bd. 2: Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt, Teil A. München, Wien
1979, S. 485.
66 Zahlen nach Orth: System, S. 324.
67 Vgl. Henke, Klaus-Dietmar: Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München
1995, S. 937-939 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; 27).
58
59
Konzentrationslager aufzubauen. Auch durch das faktische Geschehen ist be­
legt, daß die SS angestrengt darum bemüht war, die KZ-Gefangenen in ihrer
Gewalt zu behalten und sie nach Norden zu verschleppen. Die Gefangenen
aus Sachsenhausen und Ravensbrück erreichten das anvisierte Ziel wegen der
näher rückenden alliierten Verbände nicht; die Häftlinge gelangten auf ihrem
Weg Richtung Schleswig-Holstein in die Freiheit.
Die Häftlinge aus Neuengamme hingegen wurden über Lübeck in den Ha­
fen von Neustadt gebracht und Ende April/Anfang Mai auf drei Schiffe ver­
laden. Kurze Zeit später trafen auch die Gefangenen aus Stutthof in der Lü­
becker Bucht ein. Sie waren auf Schuten über die Ostsee nach Neustadt
transportiert worden und wurden nun zum Teil ebenfalls auf die Schiffe im
Neustädter Hafen verladen, zum Teil wurden sie am Strand abgeladen. Es ist
nicht anzunehmen, daß - wie die Gefangenen befürchteten - die SS plante, die
Schiffe zu versenken. Diese lagen fünf Tage in der Lübecker Bucht, ohne daß
die SS auch nur einen derartigen Versuch unternommen hätte; zudem befan­
den sich an Bord auch zahlreiche SS-Männer. Aufgrund der Quellenlage kann
nicht belegt werden, daß die Schiffe Fehmarn, Schweden oder Norwegen an­
steuern sollten. Bevor jedoch - wie auch immer geartete - Planungen der SS,
die Gefangenen weiter nach Norden zu verschleppen, Realität werden konn­
ten, griffen am 3. Mai 1945 britische Jagdflugzeuge die in der Lübecker Bucht
liegenden Schiffe »Thielbek« und »Cap Arcona« sowie die kurzfristig in den
Neustädter Hafen zurückgekehrte »Athen« an und bombardierten sie - offen­
sichtlich in der Annahme, es handele sich um Kriegsschiffe mit deutscher Be­
satzung. Während die »Athen« nur leicht getroffen wurde und weitgehend un­
versehrt blieb, so daß die knapp 2000 im Schiffsrumpf untergebrachten
Häftlinge überlebten, gerieten die »Cap Arcona« und die »Thielbek« in Brand.
Nur wenige hundert Häftlinge konnten sich aus den kenternden Schiffen be­
freien und den - vermeintlich rettenden - Strand erreichen. Doch sie sowie die
dorthin gebrachten KZ-Häftlinge aus Stutthof überlebten nicht; ein Massaker
beendete ihr Leben.
Vernichtungslagern des WVHA durch Zyklon B um: mindestens eine Million
in Auschwitz-Birkenau 69 und mindestens 50000 in Majdanek. Des weiteren tö­
tete die SS in Majdanek mindestens weitere 40 000 Juden auf andere Weise. 70
Die Zahl der Todesopfer in den Konzentrationslagern der IKL bzw. der
Amtsgruppe D des WVHA ist weniger genau bekannt; bislang war man im
wesentlichen auf ältere Schätzungen angewiesen. Auf der Grundlage der vor­
liegenden Forschungsergebnisse läßt sich die Gesamtzahl der in den Konzen­
trations- und Vernichtungslagern der IKL bzw. des WVHA getöteten Men­
schen (also einschließlich der in Auschwitz und Majdanek ermordeten Juden)
mit über 1,8 bis über zwei Millionen angeben. 71 Möglicherweise sind jedoch
weitaus mehr Häftlinge ums Leben gebracht worden, denn Zum Teil kann le­
diglich die Zahl der registrierten Toten angegeben, zum Teil können nur
höchst unpräzise Schätzungen vorgenommen werden, zum Teil liegen keiner­
lei Forschungsergebnisse vor.
Die Mehrheit der KZ-Toten kam in der zweiten Kriegshälfte um. Betrach­
tet man nur die Konzentrationslager (und klammert folglich die Vernich­
tungslager des WVHA aus), so ist zudem ~ervorzuheben, daß die Mehrheit
der Toten nicht durch direkte Mordaktionen Ums Leben kam, sondern auf­
grund
der katastrophalen und sich stetig verschlechternden Haftbedingun­
72
gen. Während der letzten Kriegswochen und während der Räumung des
KZ-Systems erreichten die Todeszahlen einen furchtbaren Höhepunkt. Min­
destens ein Drittel der über 700000 registrierten KZ-Häftlinge, die sich im Ja­
nuar 1945 in der Gewalt der SS befanden, oder gar die Hälfte starb auf den
Todesmärschen oder in den Sterbelagern;73 der Anteil der jüdischen Gefange­
nen unter ihnen war groß.
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Bilanz der Opfer
Über die Zahl der Opfer des Holocaust wird seit dem Ende des NS-Regimes
diskutiert. Die neuesten Forschungsergebnisse zeigen, daß mindestens 5,29
Millionen und maximal knapp über sechs Millionen Juden ermordet wurden. 68
Auch die verschiedenen Todesursachen lassen sich genau benennen: Massener­
schießungen, Verelendung in den Ghettos, Lagern und anderen Haftstätten so­
wie die Ermordung durch Giftgas. Fast drei Millionen Juden wurden im Gas
erstickt. Etwa zwei Millionen starben in Kulmhofund den Vernichtungsstätten
der »Aktion Reinhard«. Weit über eine Million Juden brachte die SS in den
68 Vgl. Benz, Wolfgang: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des
Nationalsozialismus. München 1991, S. 17 (Quellen und Darstellungen zur Zeitge­
schichte; 33).
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69 Zahlen nach Benz: Dimension, S. 19. Vgl. zudem Hilberg: Vernichtung, S.1299. Zu
Auschwitz-Birkenau vgl. Piper: Zahl, S.202. Zur Quellenproblematik und zur öffentli­
chen Wahrnehmung der Todeszahlen in West- und Osteuropa vgl. ebenda, S. 54-100.
70 Zu Majdanek vgl. Kranz: KL Lublin, S.373, 380f. Zur Diskussion der TodeszahIen
ebenda, S. 380f., 388 (Anm. 72/73).
71 Orth: System, S. 345f.
72 Auch in Majdanek kamen etwa 60 Prozent der Opfer aufgrund der Haftbedingungen
um und nicht durch gezielte Tötungsaktionen. Zahlen nach Kranz: KL Lublin, S. 381.
73 Vgl. Broszat: Konzentrationslager, S. 132f. (ein Drittel); Bauer, Yehuda: The Death
Marches, lanuary-May, 1945. In: Marrus, Michael R. (Hg.): The Nazi Holocaust:
Historical Articles on the Destruction of European lews. Bd. 9. Westport, London
1989, S.492 (50 Prozent); Zonik, Zygmunt: Anus Belli. Ewakuacja i wyzwolenie hit­
lerowskych obozow koncentracyjnych. Warszawa 1988, S. 6 (200000 von 700000).
60
61
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Peter Reif-Spirek
Bodo Ritscher (Hg.)
Speziallager in der SBZ
Gedenkstätten mit
»doppelter Vergangenheit«
\
eh. Links Verlag, Berlin
.1
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Dieses Buch entstand in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Buchenwald und der
Landeszentrale für politische Bildung Thüringen
Inhalt
Vorwort der Herausgeber
Ulrich Herbert
Das »Jahrhundert der Lager«: Ursachen, Erscheinungsformen,
Auswirkungen
11
Karin Orth
Die nationalsozialistischen Konzentrationslager
20
Bernd Bonwetsch
\
Der GULag - das Vorbild für die Speziallager in der SBZ
62
Jö'rg Osterloh
Deutsche und sowjetische Kriegsgefangenenlager im
Zweiten Weltkrieg
81
Lutz Niethammer
Alliierte Internierungslager in Deutschland nach 1945:
Ein Vergleich und offene Fragen
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Speziallager in der SBZ: Gedenkstätten mit »doppelter Vergangenheit« I
Peter Reif-Spirek ; Bodo Ritscher (Hg.). [In Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte
Buchenwald und der Landeszentrale für Politische Bildung Thüringen]. - 1. Aufl. - Berlin :
Links, 1999
ISBN 3-86153-193-3
1. Auflage, Oktober 1999
© Christoph Links Verlag - LinksDruck GmbH
Zehdenicker Straße I, lO 119 Berlin, Tel. (030) 440232-0
Internet: www.linksverlag.de
Umschlaggestaltung: KahaneDesign, Berlin, unter Verwendung eines historischen
Lageplans des Speziallagers Sachsenhausen
Lektorat: Thomas Schulz
Satz und Lithos: SATZFABRIK 1035, Berlin
Karten: Hinz&Kunst"Braunschweig
Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg
ISBN 3-86153-193-3
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Alexander von Plato
Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950:
Ergebnisse eines deutsch-russischen Kooperationsprojektes
Ralf Possekel
Stalins Pragmatismus: Die Internierungen in der SBZ als
Produkt sowjetischer Herrschaftstechniken (1945 -1950)
Jan Foitzik
Der Sicherheitsapparat der sowjetischen Besatzungsverwaltung.
in der SBZ 1945-1949
Nikita W. Petrow
Die gemeinsame Arbeit der Staatssicherheitsorgane der UdSSR
und DDR im Osten Deutschlands (1949-1953)
Peter Erler
Zur Tätigkeit der sowjetischen Militärtribunale in Deutschland
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Jürgen Danye/
Zwischen Repression und Toleranz: Die Politik der SED zur
politischen Integration der ehemaligen NSDAP-Mitglieder in
derSBZ/DDR
222
Friedhe/m Bol!
Todeserfahrung und Gedenken: Lebensgeschichten von
Häftlingen sowjetischer Speziallager und aus Zuchthäusern der
frühen DDR
239
Thomas Lutz
Gedenken und Dokumen tieren an Orten von NS- und NKWDLagern in Deutschland
249
Christian Schö"/ze/
Ungedruckte Quellen zum Thema Speziallager in der SBZ/DDR
in russischen und deutschen Archiven und Bibliotheken
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Die Speziallager der SBZ im Überblick
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Speziallager Mühlberg
Speziallager Buchenwald
Speziallager Hohenschönhausen
Speziallager Bautzen
Speziallager Ketschendorf
Speziallager Jamlitz
Speziallager Sachsenhausen
Speziallager Torgau (Nr. 8)
Speziallager Fünfeichen
Speziallager Torgau (Nr. 10)
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Anschriften von Lagergemeinschaften und Initiativgruppen
ehemaliger Insassen der Speziallager
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Anhang
Ausgewählte Literatur
Abkürzungsverzeichnis
Abbildungsnachweis
Personenregister
Zu den Autoren und Herausgebern
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