NATUR Wandern mit WWF Singvogel auf Tau Zuerst kann sie schwimmen und unter Wasser gehen; dann klettert sie behände an Mauern und Steinen hoch. Und irgendwann lernt sie auch fliegen – die Wasseramsel, der wohl seltsamste Singvogel der Schweiz. Text: Andreas Krebs Wandern mit WWF NATUR D ort, ein Vogel, mitten im reissenden Gebirgsbach auf einem gischtumrauschten Stein, einen spöttischen Knicks nach dem andern machend, den kurzen Schwanz stelzend, auf und ab, auf und ab: eine Wasseramsel (Cinclus cinclus). Sie ist ungefähr 18 Zentimeter gross und 60 Gramm schwer, hat ein schwarzbraunes Federkleid mit weisser Brust – Männchen und Weibchen sind gleich gefärbt. Bei den meisten einheimischen Vögeln singen nur die Männchen, bei den zu den SmaragdArten zählenden Wasseramseln hingegen haben auch die Weibchen einen Vollgesang ausgebildet und singen fast das ganze Jahr: «Kick, kick», metallisch laut – spiegelt sich in ihrem Gesang der Charakter des Münstertals wieder? Oder sollen die Rufe einfach den rauschenden Rom übertönen? Nun stürzt sich die Wasseramsel kopfüber in die eisigen Fluten! chstation Wasseramsel schwimmt gegen den Strom «Das ist das Geniale an der Wasseramsel», sagt Silvio Stucki vom Schweizer Vogelschutz SVS / BirdLife Schweiz. Kein anderer der weltweit rund 4000 Singvogelarten kann schwimmen und tauchen. Die Wasseramsel hingegen verbringt ihr ganzes Leben an klaren, schnell fliessenden Bächen und Flüssen mit kiesigem Grund, gerne mit Felsblöcken und bewaldetem Ufer. In zahlreichen Unterarten besiedelt sie Nord- und Südamerika, Asien und lückenhaft auch Europa bis weit nach Sibirien hinein, wo sie noch bei minus 40 Grad im Brutgebiet ausharrt. In der Schweiz ist sie fast flächendeckend vertreten. Wasseramseln sind recht standorttreu und suchen sich normalerweise Gewässer aus, die wegen der hohen Strömung nicht zufrieren; Stucki weiss, dass sie sogar durch Löcher in der Eisdecke schlüpfen, wenn sich darunter durch fallenden Wasserstand Lufträume gebildet haben. Nur wenn das Gewässer völlig zufriert, muss die Wasseramsel weichen. «Strenge Winter können zu grossen Ausfällen führen», sagt Marcel Burkhardt von der Vogelwarte Sempach, «die können aber schnell wieder aufgefangen werden.» Foto: Reiner Kober Imponiergehabe und Luftkämpfe Die sonst einzelgängerisch lebenden Wasseramseln gehen Saisonehen ein. Bereits im Januar beginnt die Balz, dabei nähert sich das Männchen dem Weibchen unter Flügelzittern und Verbeugungen. Dann bauen beide dicht am Wasser im Halbdunkeln – in einer Halbhöhle, zwischen unterspülten Wurzeln, in Felsspalten, hinter Wasserfällen – ein fussballgrosses, kugelrundes Natürlich | 2-2007 31 NATUR Wandern mit WWF Foto: Swissimage Foto: Andreas Krebs Smaragdgebiet Val Müstair Das sonnige Hochtal Val Müstair GR mit gehend renaturierte Rom eben revitalisiert. Anfahrt: Von Chur mit der Rhätischen Bahn seinen idyllischen Dörfern am äussersten Die Wasseramsel ist laut Pitsch schon bis Zernez und von dort mit dem Postauto Südostzipfel der Schweiz ist genau das während des Bauens gekommen. Und: «Sie über den Ofenpass nach Fuldera – eine knapp Richtige für Ruhe Suchende, Wandervögel ist vor allem flussabwärts in den geweiteten dreistündige erlebnisreiche Fahrt. und Naturliebhaber. Das Val Müstair gehört Gebieten zu sehen.» Doch das ist gar nicht zu den Smaragd-Gebieten und erstreckt sich so einfach: «Steine im Fluss systematisch Karten: «Müstair» 1:25 000; «Ofenpass vom Ofenpass bis zur italienischen Grenze; absuchen», rät Burkhardt, so sei die Chance Wanderrouten» 1:50 000; «Radkarte Vinsch- Taufers, das unterste Dorf im Münstertal, am grössten, Wasseramseln zu sehen, «im gau, Südtirol, Engadin, Val Müstair, Nauders, liegt bereits im Südtirol. Flug ist es schwierig, sie ist zu schnell.» Reschenpass» 1:75 000. von Fuldera nach Müstair, wo sich ein Besuch im Kloster St. Johann lohnt, einem UnescoWeltkulturerbe. Entlang der 12 Kilometer langen Wanderung ist die Chance gross, Gämsen, Rehe, Steinböcke und Murmeltiere zu sehen – Feldstecher mitnehmen; auch wachsen hier viele alpine, darunter zahlreiche gefährdete und andernorts ausgestorbene Pflanzenarten. Der Rom begleitet uns, er schlängelt sich zwischen Wiesen durch und stürzt Schluchten hinunter, er durchfliesst Kiesbänke und Auenwälder – genau das richtige Habitat für Wasseramseln: «Es hat überall, massenhaft», versichert Hauptfischereiaufseher Pio Pitsch. Zwischen Fuldera und Valchava wurde der schon weit- 32 Natürlich | 2-2007 Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA071006) Eine rund vierstündige Wanderung führt uns Wandern mit WWF NATUR Das WWF-Alpenprogramm Für die Serie «Wandern mit WWF» arbeiten WWF und «Natürlich» zusammen. In der Serie werden Tiere und Pflanzen vorgestellt, die in Naturgebieten und sogenannten Smaragd-Gebieten vorkommen. Smaragd-Gebiete sind Lebensräume, die im Rahmen des WWF-Alpenprogramms als besonders schützenswert erachtet werden. Mit dem Smaragd-Netzwerk wird die langfristige Erhaltung von bedrohten Arten und Lebensräumen angestrebt sowie Naturschutzlücken geschlossen. Weitere Infos: www.wwf.ch/alpen Bisher erschienen: 6-06: Ringelnatter, Mastrilser Auen 7-06: Adonislibelle, Les Grangettes 8-06: Murmeltier, Fellital 9-06: Hirsch, Schwägalp 10-06: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert 11-06: Gämse, Stockhorn 12-06: Kolbenente, Ermatinger Becken 1-07: Biber: Chablais de Cudrefin / Fanel Nest aus Moos, das sie innen mit trockenem Laub auskleiden. Sind sie an geeigneter Stelle montiert, zum Beispiel unter Brücken oder an Brückenpfeilern, nehmen sie auch einfache Nistkästen aus vier Holzbrettern schnell an, «ein ideales Projekt für Schulen», meint Burkhardt. Anders als die meisten anderen Singvögel benutzen Wasseramseln mehrere Jahre dasselbe Nest. Vor allem während der Brutzeit – also von März bis gegen Ende Juni – wirken sich Störungen oft verheerend aus: Wenn Angler und Bootsfahrer Kiesbänke belagern, verdrängen sie die Tiere aus ihrem angestammten Lebensraum. «Hunde an die Leine nehmen und sich nicht zu lange vor besetzten Nestern aufhalten», rät deshalb Stucki. linge: «Die Kontrahenten sitzen sich mit geschwellter Brust gegenüber und schlagen wild mit den Flügeln», sagt Stucki, «nützt das nichts, kommt es zu Luftkämpfen.» Das Weibchen legt zwischen März und Juni ein- bis zweimal vier bis sechs reinweisse Eier, die sie alleine 15 bis 17 Tage ausbrütet. «Das Männchen bewacht das Nest», erläutert Stucki. Die Nestlinge werden etwa 20 Tage gefüttert, dann sind sie flügge; das heisst, fliegen können sie erst schlecht und nur über kurze Distanzen. Blutsauger im Gefieder Zuerst kann die junge Wasseramsel tatsächlich schwimmen und unter Wasser gehen. Dann klettern. Und erst danach lernt sie richtig fliegen. Wenn es soweit kommt, denn die Sterblichkeit der jungen Wasseramseln ist gross: Ungefähr ein Zehntel überlebt gemäss Stucki, «das ist aber normal für Singvögel.» Zwar habe man schon elfjährige Wasseramseln gefunden, weiss Burkhardt, ein für Singvögel beachtlicher Wert, «die durchschnittliche Lebenserwartung dürfte jedoch bei rund eineinhalb Jahren liegen». Feinde wie Sperber, Graureiher und Marder stellen der Wasseramsel nach, aber auch Krankheiten und Parasiten machen ihr zu schaffen: «Milben und sehr selten auch Ein seltsamer Vogel Da taucht sie auf, unsere Wasseramsel, ein paar Meter flussaufwärts und lässt sich auf der Wasseroberfläche schwimmend zurücktreiben zu ihrem gischtumrauschten Stein. «Zih-titz» ruft sie wieder und macht ihre spöttischen Knickse, «zih-titz» – ihr Gesang vereint sich mit dem Plätschern des Flusses, in den sie nun ihren Kopf taucht; eine lustige Weile lang wirft sie den Kopf unter Wasser hin und her. Dann reckt sie ihn wieder in die Luft und taucht erneut hinein in den reissenden Fluss. Geschlechtsneutrale Färbung: Bei der Wasseramsel singen Männchen wie Weibchen und sie sind auch identisch gefärbt Foto: Gerd Rossen Zwei bis drei Bruten pro Jahr Da Wasseramseln meist an ihrem Revier festhalten, kommen oft die gleichen Partner wieder zusammen, «wenn einer gestorben ist, wird einfach Ersatz besorgt», sagt Stucki. «Der Standort ist wichtiger als der Partner», bestätigt Burkhardt. Ein Paar beansprucht je nach Nahrungsangebot 200 bis 2000 Meter Flussabschnitt; sie haben klar abgegrenzte Reviere: «Treibt man eine Wasseramsel vor sich her, bleibt sie plötzlich auf einem Stein sitzen – und fliegt dann zurück», sagt Stucki. «Das ist ihre Reviergrenze.» Während der Brut verteidigen Wasseramseln ihr Revier heftig gegen Eindring- Lausfliegen», sagt Stucki, der eine Diplomarbeit über «Ektoparasiten der Wasseramsel» geschrieben hat. «Wenn der Befall gross ist, das heisst Zehntausende bis Millionen Milben, sterben Jungtiere. Und die Eltern erschöpfen, weil sie mehr Nahrung anschaffen müssen, um den Gewichtsverlust der Jungen zu kompensieren, den sie wegen den saugenden Milben erleiden. Ein leichter Befall hingegen macht nichts.» Bleiben die Wasseramseln von Milb und Feind verschont, «sind sie fit bis an ihr Lebensende», sagt Burkhardt: «Vögel zeigen keine Alterserscheinung. Es wurden schon 80-jährige Meeresvögel bei der Fortpflanzung beobachtet.» NATUR Wandern mit WWF Vor dem Tauchen verschliesst sie Nase und Ohren und zieht die kräftige Nickhaut über die Augen, die kurzen gerundeten Flügel stellt sie leicht angewinkelt nach oben – so presst die Strömung sie auf den Grund, wo die Wasseramsel mit ihren langen, ausgesprochen dicken und kräftigen Beinen gesenkten Kopfes stromaufwärts stapft. Sie kann ihre Flügel auch als Schwimmflossen nutzen, ähnlich wie die flugunfähigen Pinguine. Dann und wann dreht sie mit ihrem dünnen Schnabel kleine Steine um, stets auf der Suche nach Beute: Larven von Libellen, Eintags-, Köcher- und Steinfliegen, sie verschmäht auch Krebstiere, Kaulquappen, Fischbrut und Pflanzen nicht und pickt mitunter nach Schnecken, Insekten und Würmern am Uferrand. Unverdauliche Nahrungsbestandteile, zum Beispiel Chitinreste, spuckt sie als Speiballen aus, ähnlich dem Gewölle der Eule. «Zehn bis zwanzig Sekunden bleibt sie unter Wasser, selten länger», sagt Stucki. Legt sie die Flügel an den Körper, schnellt sie wie ein Korken an die Oberfläche. Dann lässt sie sich zurücktreiben zu ihrem Ansitzplatz oder fliegt direkt davon, sehr schnell und äusserst knapp über dem Wasser dem Fluss folgend, ähnlich dem Flug des Eisvogels. Bis ins Mark angepasst Obwohl sie sich auf den ersten Blick kaum von anderen Singvögeln unterscheidet, ist die Wasseramsel doch bestens angepasst an ihr Leben am und im Wasser: Sie hat rund 50 Prozent mehr wärmeisolierende Federn als andere Singvögel ihrer Grösse und, wie Wasservögel, eine grosse Bürzeldrüse, mit deren Sekret sie ihre Federn pflegt, sodass sie geschmeidig bleiben und nicht brüchig werden; die Wasser abstossende Wirkung erlangt die Feder durch ihre Struktur. Ihre Augen sind flach wie eine Taucherbrille, so sieht sie auch unter Wasser; dank ihren äusserst dicken und kräftigen Beinen findet sie selbst in kräftiger Strömung Halt. Die Knochen sind nicht pneumatisiert, heisst, sie haben keine luftgefüllten Hohlräume wie die der meisten anderen Vögel, sondern sind mit Mark gefüllt – so ist ihr Skelett sehr viel schwerer, das ermöglicht ihr überhaupt erst das Tauchen. Trotz Extragewicht hat sie, erwachsen, mit dem Fliegen keine Probleme, wie unsere Wasseramsel demonstriert: Kaum an die Oberfläche geschnellt, fliegt sie direkt aus dem Wasser auf und geradlinig, sehr schnell und dicht über dem Fluss davon. ■ I N FO B OX Literatur zum Thema: • «Vögel in der Schweiz», Verlag Schweiz. Vogelwarte 2001, ISBN 3-9521064-6-4, Fr. 58.– • Sacchi/Laeser/Ritschard/Rüegg: «Vögel beobachten in der Schweiz», Ott Verlag, 2006, ISBN 3-7225-0023-0, Fr. 38.– • Bezzel: «BLV Handbuch Vögel», Verlag BLV 2006, ISBN 3-8354-0022-1, Fr. 25.50 • Streffer: «Magie der Vogelstimmen», Verlag: Freies Geistesleben 2003, ISBN 3-7725-2240-6, Fr. 67.50 • Biert-Bonorand: «Bündner Wanderführer Bd. 4 Unterengadin», Verlag Terra Grischuna 2001, ISBN 3-7298-1134-8, Fr. 19.– Links zum Thema • www.youthhostel.ch/sta.maria • www.stamaria.ch/tourismus.htm • www.birdlife.ch • www.vogelwarte.ch Foto: Okapia Foto: ????? Ein einzigartiger Vogel: Kein anderer der rund 4000 bekannten Singvogelarten kann schwimmen und auch tauchen 34 Natürlich | 2-2007