Weitere Files findest du auf www.semestra.ch/files DIE FILES DÜRFEN NUR FÜR DEN EIGENEN GEBRAUCH BENUTZT WERDEN. DAS COPYRIGHT LIEGT BEIM JEWEILIGEN AUTOR. Universität Freiburg i.Ü. Institut für Musikwissenschaft Prof. Luigi Ferdinando Tagliavini Seminararbeit OTHMAR SCHOECK VENUS op. 32 September 1997 René Perler Alte Brunnengasse 7 1700 Freiburg i.Ü. 1 Tel. 026 323 29 21 2 Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung S. 3 2. Kurzvita Othmar Schoeck S. 4 3. Venus op. 32 3.1. Besetzung 3.2. Handlung S. 6 S. 6 S. 6 4. Entstehung der Oper 4.1. Schoecks Schaffen für die Bühne S. 9 S. 9 4.1.1. Jugendwerke 4.1.2. Erwin und Elmire 4.1.3. Don Ranudo 4.1.4. Das Wandbild 4.1.5. Penthesilea 4.1.6. Vom Fischer un syner Fru 4.1.7. Massimilla Doni 4.1.8. Das Schloss Dürande 4.1.9. Grundzüge im Schoeckschen Opernoeuvre S. 9 S. 9 S. 10 S. 10 S. 11 S. 11 S. 12 S. 13 S. 14 4.2. Vorgeschichte S. 15 4.3. Mary de Senger S. 16 4.4. Uraufführung am Stadttheater Zürich, 10. Mai 1922 S. 18 4.5. Revision - Wiederaufnahme am Stadttheater Zürich Ende November 1933 S. 20 4.6. Weitere Aufführungsgeschichte S. 21 5. Das Libretto 5.1. Vorlagen S. 23 S. 23 5.1.1. Prosper Mérimée: La Vénus d'Ille 5.1.2. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild S. 23 S. 25 6. Die Musik 6.1. Steigerung in die Individualisierung: der formale Aufbau 6.2. Harmonik 6.3. Leitmotivik?! - Die Venus-Motive S. 26 S. 26 S. 26 S. 27 7. Schlussbetrachtung S. 32 3 8. Literaturverzeichnis 8.1. Primärliteratur 8.2. Sekundärliteratur S. 34 S. 34 S. 34 4 1. Einleitung "Die einz'ge Tugend ist: Ergriffen sein, Das einzige Gesetz; sich ihr zu weih'n, Von ihrem Mund in tödlichem Verlangen Den Feuerkuss der höchsten Lust empfangen!"1 Solches schleudert Horace, neben der stummen Venusstatue die singende Hauptfigur in Othmar Schoecks drittem grösseren Bühnenwerk Venus, seinem Freund Raimond an den Kopf, nachdem ihn dieser an "Ehre, Tugend, Pflichtgefühl"2 erinnert hat. Nun handelt ja ein frischvermählter Gatte nicht unbedingt gemäss den bürgerlichen Moralvorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts, wenn er sich am Tag seiner Heirat unsterblich in ein Hochzeitspräsent (eine heidnische Venusstatue) verliebt, und darob seine Braut, ihr gemeinsames Fest und überhaupt seine Umwelt vergisst. Ein weiteres Mal in ihrer über 300jährigen Geschichte dient die Opernbühne als Projektionsfläche für Gedanken, Vorgänge und Handlungsweisen, die ausserhalb des herrschenden Moral- und Sittenkodex' stehen. Horace, der unglückliche, schönheitssuchende männliche Protagonist der Oper, ähnelt dem Mythos des romantischen "Genius", der Künstlernatur, die einem Sisyphus gleich umherirrt auf der Suche nach der absoluten Ästhetik. Die Anbetung eines absoluten Schönheitsideales und die Unmöglichkeit solchen Handelns in den Schranken einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung wie auch die Unerreichbarkeit jeglicher absoluten Schönheit für einen sterblichen Menschen überhaubt die Hauptproblematik in Othmar Schoecks Venus op.32. Bei der Uraufführung wie bei den sporadischen Wiederaufnahmen war die Venus ein grosser Erfolg, und doch ist ihr Stern heute verblasst, das Werk in Vergessenheit geraten. Es näher vorzustellen, ist das Thema der vorliegenden Arbeit. Nach einer Kurzvita von Othmar Schoeck und einer Zusammenfassung der Handlung soll auf Schoecks Opernschaffen allgemein und die Entstehungsgeschichte der Venus im speziellen eingegangen werden. Anschliessend sollen Libretto und Musik gesondert betrachtet werden. 1Schoeck/Rüeger, Venus, 3.Akt, 2.Szene. 2ebenda 5 2. Kurzvita Othmar Schoeck Othmar Schoeck, neben Arthur Honegger der wohl bedeutendste Schweizer Komponist, wurde am 1. September 1886 in Brunnen am Vierwaldstättersee (Kanton Schwyz) als jüngster Sohn des Basler Kunstmalers Alfred Schoeck (1841-1931) und der aus einer angesehenen Innerschweizer Hotelier-Familie stammenden Agathe Fassbind geboren. Die Jugend verbrachte er zusammen mit den drei Brüdern in Brunnen, besuchte um die Jahrhundertwende die Industrieschule in Zürich, wo er sich mit seinem späteren Librettisten Armin Rüeger anfreundete. Neben seiner Neigung für die Malerei setzte sich schon früh die musikalische Ader durch; noch während der Schulzeit entstanden einige Lieder und sogar eine Karl-May-Oper betitelt Der Schatz im Silbersee. Von 1904 bis 1907 besuchte Schoeck das Zürcher Konservatorium, wo K. Attenhofer, R. Freund, F. Hegar und L. Kempter seine Lehrer waren. In Schüleraufführungen wurden während seiner Konservatoriumszeit bereits ein Symphoniesatz und die Serenade op.1 aufgeführt. Ab 1907 studierte Schoeck auf persönliche Einladung von Max Reger hin in dessen Kompositionsklasse in Leipzig. Schoecks musikalische Eigenart war jedoch schon so stark ausgeprägt, dass Reger keinen nennenswerten Einfluss auf sein Schaffen auszuüben vermochte. 1908 bereits kehrte der junge Komponist nach Zürich zurück, wo er den Rest seines Lebens verbrachte. Er dirigierte vorerst verschiedene Zürcher Chöre (1909-1915 den Männerchor Aussersihl-Zürich; 19111917 den Lehrergesangsverein Zürich) und übernahm 1917 die Leitung der St.Galler Sinfoniekonzerte, bis ihn ein Herzanfall 1944 zur Aufgabe der Dirigiertätigkeit zwang. Othmar Schoeck trat ausserdem vielfach als Begleiter namentlich der Geigerin Stefi Geyer, der Altistin Ilona Durigo, des Bassisten Felix Loeffel und seiner Frau Hilde SchoeckBartscher auf. Verschiedene Auszeichnungen - u.a. die Ehrendoktorwürde der Universität Zürich 1928 - sowie Festwochen aus Anlass zu seinem 50. und 70. Geburtstag (1936 bzw. 1956) würdigten sein Lebenswerk als Komponist. Am 8. März 1957 verstarb Othmar Schoeck in Zürich. Im Mittelpunkt von Othmar Schoecks Schaffen steht das Lied. Von seiner Schulzeit an bis knapp zu seinem Tode schrieb er an die 400 Lieder. Seine Wurzeln lagen in der Romantik, was sich auch in der Wahl der Dichter zeigt, deren Lyrik er mit Vorliebe vertonte: Eichendorff, Uhland, Lenau, Mörike, Keller, Hesse. Sein unverwechselbarer Ton ist gezeichnet von Wärme und Innigkeit in der Melodie und von expressiver Harmonik. Häufig fügte Schoeck seine Lieder zu einem Zyklus zusammen und verwendete, dem gesteigerten Ausdrucksbedürfnis entsprechend, eine orchestrale Begleitung. So war auch der Weg des Lyrikers zur Oper weniger von einer klaren Vorstellung von Musikdrama geprägt als vielmehr vom Verlangen, einer in der Dichtung enthaltenen Gefühlsspannung in grösserem 6 Formzusammenhang intensivsten Ausdruck zu verleihen. In seinen Bühnenwerken steht meist eine tragende Figur im Mittelpunkt, deren persönliches Schicksal gestaltet wird, welches zudem oft mit Schoecks eigenem Erlebnisbereich verbunden ist; dies trifft ganz besonders zu im Falle seiner dritten Oper Venus (1922) und der darauffolgenden, vielleicht geglücktesten und bekanntesten Oper Penthesilea (1927). Neben dem wortgebundenen Musikschaffen Schoecks nimmt sich seine reine Instrumentalmusik eher bescheiden aus: nebst einigen kammermusikalischen Werken und Klavierkompositionen sind hier vor allem die Konzerte für Violine, Violoncello und Horn mit Orchester zu erwähnen. 7 3. Venus op.32 3.1. Besetzung VENUS op.32 Oper in drei Akten nach einer Novelle von Mérimée. Libretto von Armin Rüeger. Komponiert: 1919-1921 in Brissago, Zürich und Genf. Revidiert 1933. Personen: Baron de Zarandelle - Tenor; Horace, sein Neffe - Tenor; Simone, dessen Braut Sopran; Mme de Lauriens, Simones Mutter - Alt; Raimond, Simones Vetter, ein Offizier Bariton; Lucile, Simones Freundin - Sopran; Die Unbekannte; Martin, Zarandelles Gärtner; Hochzeitsgäste, Landvolk, Bediente, Kinder. Ort der Handlung: Auf einem Landschloss im südlichen Frankreich um 1820. Orchesterbesetzung: Pic, 2 Fl, 2 Ob, EH, 2 Kl, Basskl, 2 Fg, Cfg - 4 Hr, 3 Trp, 3 Pos, Tb - Pk, Schlagz (kl Tr, gr Tr, Glck, Tamb, Kast, Gong, Xyl) - Hrf, Cel, Klav - Str. Dauer: 1 Stunde 35 Minuten Verlag: Breitkopf und Härtel, Leipzig 1925. KA von Karl Krebs (E.B. 5257), Textuch. 2.Textbuch (neue Fassung) im Eigenverlag von Armin Rüeger. Aufführungsmaterial leihweise. Uraufführung: 10. Mai 1922 am Stadttheater Zürich (Dirigent: Othmar Schoeck). Erstaufführung der revidierten Fassung: 26. November 1933 am Stadttheater Zürich (Dirigent: Robert F. Denzler). 3.2. Handlung I. Akt Die Szenerie stellt einen freien Platz im Park, umgeben von hohen Bäumen, dar. In einem schlichten Lied besingt die junge Braut Simone den schönen Frühlingsmorgen ihrer Hochzeit. Der Bräutigam Horace und sein Freund Raimond, ein Vetter der Braut, lauschen im Hintergrund dem Gesang. Raimond äussert seine Zweifel an Horacens Bereitschaft, nach Jahren ausschweifenden Lebens für einen Ehebund bereit zu sein. Die drei Stimmen vereinigen sich zu einem Terzett. Lucile, Simones Freundin, erscheint mit den Hochzeitsgästen, und als schliesslich auch die Mutter der Braut, Mme de Lauriens, zur Gesellschaft gestossen ist, herrscht allgemeine Verwunderung darüber, wer die Leute in den Park bestellt hat. Es war Horacens Onkel Zarandelle, der Gastgeber, der sein Hochzeitsgeschenk, eine bronzene Venusstatue, übergeben will. Auf Bitten der Festgemeinde erzählt Baron de Zarandelle von der 8 Ausgrabung dieser seltenen antiken Statue. Unheil waltet über dem Geschenk: Beim Aufstellen wird ein Gärtner verletzt; die Kinder, die zum Reigen aufziehen, fliehen erschrocken auseinander. In einem breiten und ausdrucksvollen Ensemble gibt die ganze Hochzeitsgesellschaft ihrer Bange vor der unheimlichen Schönheit der heidnischen Göttin Ausdruck. Einzig Horace fühlt sich rätselhaft zur Statue hingezogen; sein schwärmerischer Gesang löst sich aus dem Ensemble. Er wird von Raimond zurechtgewiesen, worauf der reuig an die Seite Simones zurückkehrt. Böllerschüsse und Kirchenglocken begleiten das lärmende Finale: Die Gesellschaft bricht zur Hochzeit auf. II.Akt Saal im Schloss mit Blick auf die Venus-Statue im Garten. Abend. Zwei Diener treffen die letzten Vorbereitungen zum Hochzeitsball. Die Hochzeitsgesellschaft tritt in Masken auf. Horace blickt mit wachsender Erregung einer Unbekannten nach und vergisst darüber seine Braut. Raimond rettet die peinliche Situation, indem er die verwirrte Simone um einen Tanz bittet. Horace hängt indessen dem entschwundenen Traumbild nach. Der vom Tanz zurückgekehrten Simone gelingt es noch einmal, Horace aufzuheitern. Die Gesellschaft setzt zu einem wilden Chortanz an, in welchen das Venus-Motiv als schräge Fanfare hereintönt: Horace begegnet der Unbekannten und frägt sie nach ihrem früheren Zusammentreffen; ihm scheint, ihr schon einmal begegnet zu sein. Es folgt ein szenisches Intermezzo: Die als Liebesgott Amor maskierte Lucile wird von der Gästeschar verfolgt und findet bei Horace Schutz. Von der Idee Amors angespornt, nähert sich Horace erneut der Unbekannten und steckt ihr, als diese stumm auf den Trauring an seiner Hand deutet, den Ring an den Finger. In diesem Moment lädt Zarandelle zu einer Pantomime ein, die von der Hochzeitsgesellschaft (auf dem Dominantton d rezitierend) kommentiert wird: Darin wird das Liebesglück von Pierrot und Pierrette durch eine Maskenfigur gestört, die Pierrot in ihren Bann zieht. Als er ihr liebestrunken die Maske vom Gesicht reisst, grinst ihm ein Totenschädel entgegen. Das Geschehen des Dramas wird also als Theater im Theater in Karikatur vor der Hochzeitsgesellschaft gespiegelt. Horace lässt sich durch das Spiel nicht warnen; er sucht die Unbekannte, und auf seine erneute Bitte demaskiert sie sich - er prallt zurück: Ist es nicht die Venus? - der Sockel im Park steht leer. Die Unbekannte (Venus) neigt sich langsam zu ihm und küsst ihn lange. Da tritt Simone herein und sinkt bei diesem Anblick in Ohnmacht. Die Unbekannte flieht, Horace stürzt ihr nach. Das Fest ist gesprengt und nimmt ein jähes Ende; wie ein äusseres Bild des seelischen Vorgangs in Horace zieht ein Sturmgewitter auf. Sturmmusik als Zwischenaktsmusik. III.Akt 9 Horace irrt im nächtlichen Park umher auf der Suche nach der entflohenen Unbekannten. Raimond lauert ihm auf und ruft ihn zurück zu Pflicht und Ehre. In diesem ausladenden Duett prallen die gegensätzlichen Sichtweisen der bürgerlichen Moral und des Künstlers Drang nach absoluter Freiheit der Leidenschaft aufeinander. Raimond verlangt von Horace die Rückkehr zur Braut oder die Rückgabe des Eherings - zu beidem sieht sich Horace ausserstande. So fordert ihn Raimond zum Duell, bei welchem Horace ihm den Degen aus der Hand schlägt. Raimond verflucht ihn und flieht. Horace bleibt allein zurück; er fühlt, dass die Venus von ihm Besitz ergriffen hat. Er fleht die abwesende Simone an, dem Zauber ein Ende zu bereiten. Zarandelle erscheint mit einer Fackel, um der Statue gute Nacht zu wünschen. Der seltsame Onkel befindet sich für einen Augenblick auf der gleichen Fährte wie sein Neffe. Als er aber im Fackellicht den Ehering am gekrümmten Finger der Statue erblickt, entflieht auch er entsetzt. Horace erkennt sein Schicksal. In tiefer Traurigkeit beginnt er seinen grossen Schlussgesang, der sich bis zum leidenschaftlichen Wahnsinn steigert. Er wirft sich in die Arme der Venus und stirbt. In der Fassung der Uraufführung stürzt Simone zum Schluss herein, entdeckt den leblosen Horace, schreit aus: "Nicht klagen will ich - Helfen deiner Not. Freigeben dich!", erkennt schliesslich, dass er tot ist und wirft sich über ihn. Diesen letzten Auftritt Simones hat Schoeck bei der Revision zur Zürcher Wiederaufführung vom 26. November 1933 gestrichen. 10 4. Entstehung der Oper 4.1. Schoecks Schaffen für die Bühne3 Von Othmar Schoecks Schaffen sind heute v.a. die Lieder bekannt, die reine Instrumentalmusik ist wenig, die Bühnenwerke sind nicht im breiten Bewusstsein verankert. Ein kurzer Überblick über das Schoecksche Opernoeuvre soll helfen, die Venus im Gesamtwerk einordnen zu können. 4.1.1. Jugendwerke Othmar Schoeck hat neun grössere Bühnenwerke geschrieben: sieben Opern, eine Pantomime und ein "Grosses Volksschauspiel". Schon als Jugendlicher hatte es Schoeck gereizt, dramatisches Geschehen musikalisch darzustellen; zu nennen sind die um 1901 komponierte Karl-May-Oper Der Schatz im Silbersee, zu der sein Bruder Walter das Libretto schrieb, sowie - neben zwei undatierten Fragmenten - das ebenfalls undatierte, um 1903 anzusiedelnde Singspiel Josephine. An der Fasnacht 1907 in Schwyz wurde Das Glück in der Heimat. Grosses Volkschauspiel der Japanesen-Gesellschaft in Jeddo-Schwyz aufgeführt. Auf einen Text von Jakob Grüninger hatte Schoeck Gesänge für gemischten Chor und Orchester geschrieben. 4.1.2. Erwin und Elmire 1911 machte er sich an die Komposition von Gesängen, einem Vorspiel und einem Zwischenspiel zu Johann Wolfgang von Goethes Singspiel Erwin und Elmire. Erst 1916 war die Arbeit beendet, und das Stadttheater Zürich brachte das knapp neunzigminütige Singspiel am 11. November zur Uraufführung. Hans Heinrich Stuckenschmidt wertet Schoecks Entwicklung hin zu Erwin und Elmire folgendermassen: "(...) Die Zusammenfassung von Liedern zu Zyklen mit einheitlicher Handlung oder Atmosphäre geht oft mehr auf Wolfs Modelle als auf die Schuberts zurück. Schubertisch aber ist die Erweiterung des musikalischen Raumes, die von den Gesängen für Goethes Singspiel zu den symphonischen Musiken des Werkes führt. Theater-Musik im Sinne der italienischen Oper, die Schoeck nicht nur in ihren Mozartschen Formen, sondern auch in denen Pietro Mascagnis und Puccinis liebte, war das nicht. Schoeck ist den Weg zum 3vgl. K.H. David, Schoecks Opern; R.U. Ringger, Othmar Schoeck und seine Libretti; H.H. Stuckenschmidt, Othmar Schoeck; sowie die entsprechenden Kapitel in Corrodis und Waltons Standartwerken. 11 Dramatiker langsam gegangen, mit einer wachsenden Sicherheit in der Beherrschung der theatralischen Mittel und in der Erweiterung durchkomponierter Formen."4 4.1.3. Don Ranudo Nach diesem ersten grösseren Ausflug auf die Opernbühne suchte Schoeck nach einem neuen vertonbaren Stoff. Ferruccio Busoni, der im Oktober 1915 in die neutrale Schweiz geflüchtet war und erstaunlicherweise mit Schoeck in ein freundschaftliches Verhältnis trat, empfahl ihm eine Komödie des dänischen Dichters Ludvig Holberg, eine Donquichottiade mit dem spanisch-pompösen Namen "Don Ranudo de Calibrados". Der Stoff beeindruckte Schoeck. Armin Rüeger, der Bischofszeller Apotheker und Hobbydichter, den Schoeck in Zürich an der Industrieschule kennengelernt hatte, schrieb das Libretto. Es sollte der Anfang einer langjährigen Zusammenarbeit sein. Schon 1918 war die Komposition beendet. Im April 1919 fand die Uraufführung, wie schon bei Erwin und Elmire in Zürich unter der Leitung von Robert F. Denzler statt. In der Titelrolle war der Bariton Alfred Jerger zu sehen. Das heiterskurrile Werk brachte seinem Komponisten grossen Erfolg ein. 4.1.4. Das Wandbild Zur Komposition des Don Ranudo hatte sich Schoeck immer wieder zu Rüeger nach Bischofszell zurückgezogen. Als er im Juni 1918 an der Instrumentierung der Oper arbeitete, bekam er Post von Busoni: ein von ihm selbst verfasstes kurzes Opernlibretto Das Wandbild. Es basierte auf einer chinesischen Legende, auf die Busonis Schüler Philipp Jarnach gestossen war. Ohne Rücksprache mit Jarnach hatte Busoni die Geschichte als Grundlage für einen Operntext verwendet, ihn seinem Schüler gewidmet und ihm zukommen lassen. Jarnach begann mit der Komposition, fand aber bald die Verquickung von Pantomime, Gesang und gesprochenem Text unbefriedigend. Busoni schickte das Buch daraufhin Schoeck und gab ihm zu verstehen, dass er bezweifle, ob er es vertonen könne. Schoeck nahm die Herausforderung an und schrieb die Musik zu Das Wandbild in drei Tagen als Ablenkung von seiner Arbeit an Don Ranudo5. Die halbstündige Oper spielt in einem Pariser Antiquitätenladen im Jahr 1830. Novalis, der den Laden besucht, ist hingerissen von dem Portrait eines jungen Mädchens; das Portrait wird lebendig, und die Szene verwandelt sich in den Eingang zu einem exotischen chinesischen Tempel. Eine Traumpantomime beginnt. Ein Priester singt; ein Frauenchor knotet das Haar des mysteriösen Mädchens; dann erscheint ein Riese und bemächtigt sich seiner. Novalis erwacht und findet sich wieder im Antiquitätenladen. Aber das Haar des Mädchens auf dem 4Stuckenschmidt, 5vgl. O. Schoeck, S. 254. Walton, Biographie, S.104/5. 12 Gemälde ist jetzt so zurechtgemacht, wie er es in seinem Traum gesehen hatte. Verwirrt und verstört flieht Novalis aus dem Laden, womit die Oper endet. Walton hat es nicht versäumt, auf die "unverkennbare Ähnlichkeit der Thematik mit Schoecks nächster Oper Venus" hinzuweisen: "die bildhafte Darstellung einer Frau, die lebendig wird und deren Aussehen sich dann auf bestimmte Weise verändert. In beiden Opern bleibt die Protagonistin stumm."6 Ab 1919 bis zur Uraufführung im Mai 1922 war Schoeck mit der Komposition der Venus beschäftigt. 4.1.5. Penthesilea 1923 bis 1925 entstand in Brunnen und St.Gallen Schoecks bekannteste und vielleicht bedeutendste Oper Penthesilea nach dem Trauerspiel von Heinrich von Kleist. Schoeck selbst kürzte den Text, drängte ihn zusammen, vertonte aber kein Wort, das nicht bei Kleist steht. Während Schoeck in der Venus das Melos seiner Musik zu höchster Ausdrucksfähigkeit gesteigert hatte, verzichtet er in der Penthesilea fast gänzlich auf die weitgespannte melodische Linie, entwickelt dafür aber die Harmonie weiter als je zuvor. Über die Wandlung der Tonsprache des Komponisten schreibt sein Biograph Corrodi: "Der Schritt von 'Venus' zu 'Penthesilea' ist wohl - bei erstem oberflächlichem Hinsehen - der verblüffendste, den Schoeck in seiner Entwicklung zurückgelegt hat. Sein bisheriger Weg weist unverkennbar auf die Oper hin; in 'Penthesilea' aber erschafft er ein Musikdrama realistischen Stils, ein Muikdrama mit längeren Sprechpartien."7 In der Tat ist Penthesilea zum Teil Melodram. Auch in dieser Oper geht Schoeck in der Besetzung ganz eigene, neue und der Handlung angepasste Wege: die beiden Heldengestalten sind tiefen Stimmlagen zugewiesen (Penthesilea - Mezzosopran; Achill - Bassbariton), dunkle Klangfarben herrschen vor, im Orchester wirkt der charakteristische Klang von zehn Klarinetten, vierfachem Blech, zwei Klavieren, abwechslungsreiches Schlagwerk (kleine Trommel, grosse Trommel, Becken, Triangel, Rute, Tamtam, Stierhorn), während die Geigen bis auf vier Solostimmen schweigen. Erstmals fand die Uraufführung eines Schoeckschen Bühnenwerkes im Ausland statt: am 8. Januar 1927 brachte sie die Sächsische Staatsoper in Dresden heraus. Schoeck erntete mit seinem Einakter einen grossen Erfolg, die internationale Presse reagierte enthusiastisch. Die Schweizer Erstaufführung in revidierter Fassung übernahm am 15. Mai 1928 wiederum das Stadttheater Zürich. 4.1.6. Vom Fischer un syner Fru 6Walton, 7Corrodi, Biographie, S. 105. Bild eines Schaffens, S.152. 13 Auf die Tragödie folgte ein Märchenspiel, das für den Bühnen- wie für den Konzertgebrauch gedacht war: "Vom Fischer un syner Fru" nach Grimms Märchen. Rüeger, den Schoeck wiederum als Librettisten engagieren wollte, hatte abgesagt8, woraufhin Schoeck die bekanntesten Dialoge Wort für Wort nach der plattdeutschen Version aus der Feder von Philipp Otto Runge zu vertonen begann. Unter dem grossen Dirigenten Fritz Busch kam das gut vierzigminütige Werk wiederum an der Sächsischen Staatsoper in Dresden am 3. Oktober 1930 zur erfolgreichen Uraufführung. Ein Jahr später folgte die Zürcher Premiere. Walton mutmasst: "Vielleicht liegt hier der Schlüssel zu Schoecks Stoffwahl, denn Vom Fischer un syner Fru bringt eine neue Variante des "Kampfes der Geschlechter", der Schoecks ursprüngliches Interesse an Penthesilea geweckt hatte.9 4.1.7. Massimilla Doni 1934 nahm Schoeck wiederum die Arbeit an einer Oper auf. Die Novelle "Massimilla Doni" von Honoré de Balzac hatte ihn schon längere Zeit beschäftigt. Rüeger konnte wieder für das Libretto verpflichtet werden. Im Februar 1936 bekundete die Berliner Staatsoper Interesse an der Uraufführung der Massimilla Doni. "Schoeck sagte Corrodi, es wäre richtig, die Uraufführung nach Zürich zu vergeben - und dennoch, natürlich, das Berliner Haus war Spitzenklasse und die Versuchung gross. Er räumte ein, 'dass sich die Dinge in Deutschland 'merkwürdig' zu seinen Gunsten verändert hätten'"10 Anfang April zeigte auch Dresden Interesse an der Uraufführung, worauf Schoeck dorthin fuhr, um das Werk Karl Böhm und anderen Persönlichkeiten der Dresdener Staatsoper vorzuspielen. Das Ergebnis war, dass Schoeck einige Textkorrekturen ausführen musste, um den erotischen Ton der Oper kompatibel für das nazistische Neue Deutschland zu machen, und die Uraufführung auf Anfang des nächsten Jahres festgesetzt wurde.11 Sie ging am 2. März 1937 über die Sächsische Staatsopernbühne, der Erfolg war gross, Schoeck begeistert über das hohe Niveau, das Karl Böhm erzielte. Die Presse fiel einmal mehr geteilt aus.12 Hans Heinrich Stuckenschmidt schreibt über das Ereignis: "Der Eindruck inmitten einer politisch aufgewühlten, durch das Hitlerregime gleichgeschalteten deutschen Welt war rein und stark. Ich wohnte ihr bei und schrieb in der Wiener 'Neuen Freien Presse': 'Schoecks Bühnenwerke, 8nach Walton war sein Widerstreben "hervorgerufen durch die Kritik, die sich gegen seine Libretti von Don Ranudo und Venus gerichtet hatte." vgl. Walton S. 179. 9Walton, Biographie, S. 180. 10ibidem, S. 215. Er zitiert aus den unveröffentlichten Erinnerungen von Hans Corrodi (23. Februar 1936). 11vgl. ibidem, S. 216. 12vgl. ibidem, S. 220. 14 obwohl nicht 'dramatisch' im Sinne des Wagnerschen Pathos oder gar der veristischen Plakatszene, gehören zum eigenartigsten, was der Opernbühne je zugetragen worden ist.'"13 Eine weitere aufschlussreiche Kritik liefert der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der am 18. März eine Aufführung besuchte und in sein Tagebuch notierte: "Gut inszeniert, herrliche Stimmen. Das Werk stellenweise ganz gut, sonst sehr konstruiert und blass. Keine besondere Aquisition [sic]. Wird sich bestimmt nicht halten. Das Orchester musiziert unter Böhm wunderbar."14 Die Schweizer Erstaufführung in Zürich folgte nur elf Tage nach der Uraufführung. Es ist hier nicht der Ort, die Beziehungen Schoecks zu Nazideutschland und die Umstände der Uraufführungen seiner letzten beiden Opern Massimilla Doni in Dresden und Das Schloss Dürande 1943 in Berlin näher zu betrachten; dies böte Stoff zu einer eigenen Seminararbeit. 4.1.8. Das Schloss Dürande 1937 begann Schoeck mit der Vertonung eines Librettos, das der alemannische Romancier Hermann Burte nach der gleichnamigen Novelle von Eichendorff angefertigt hatte. Die Arbeit zog sich in die Länge, bedingt durch Konzertreisen, andere Arbeiten, aber auch durch die nicht spannungsfreie Zusammenarbeit mit dem neuen Librettisten Burte15. Die Berliner Staatsoper nahm Das Schloss Dürande zur Uraufführung an, die Wiener Universal Edition druckte den Klavierauszug, den Anton von Webern hergestellt hatte. Die Premiere fand sinnigerweise am 1. April 1943 statt. Hält man sich vor Augen, dass die Reichshauptstadt zu dieser Zeit schon häufig bombardiert wurde, muss die Aufführung eine gespenstische Wirkung gehabt haben, umso mehr, als im letzten Bild der Oper das Schloss als Symbol einer auf Wahn gegründeten Welt zusammenbricht. Librettist Burte, obgleich bei der Premiere nicht anwesend, berichtet in einem Brief an Hedwig Thüne in Lörrach, die Explosion des Scholsses Dürande sei derart realistisch gelungen, dass viel Leute aufschrien, weil sie sie für den Volltreffer einer Bombe der Alliierten hielten.16 Der Dirigent der Uraufführung, Robert Heger, leitete ein Spitzenensemble mit Maria Cebotari, Martha Fuchs, Peter Anders, Willy Domgraf-Fassbaender und Josef Greindl. Die Uraufführung hatte nach Stuckenschmidt ein "groteskes Nachspiel: Hitlers Reichsmarschall Hermann Göring, Chef der Preussischen Staatstheater, war nicht in der Premiere. Die Lektüre des Textbuches aber empörte ihn so, 13Stuckenschmidt, Schoeck, S. 258. Tagebücher von Joseph Goebbels, hrg. von Elke Fröhlich im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und in Verbindung mit dem Bundesarchiv. Teil I, Bd 3, 1.1.1937-31.12.1939, München 1987, Eintrag vom 19.März 1937, S. 84. 15vgl. Walton, Biographie, S. 229/30 und 238. 16siehe H. HILTY, Bomben auf Schloss Dürande, in "Die Weltwoche", 3. März 1976; vgl. Walton, Biographie, S. 243. 14Die 15 dass er ein wütendes Telegramm an den Generalintendanten Heinz Tietjen schickte:"17 "Es ist mir unfassbar, wie die Staatsoper diesen aufgelegten Bockmist aufführen konnte. Der Textdichter muss ein absolut Wahnsinniger sein. [...]"18 Die Schweizer Erstaufführung, welche kurze Zeit später in Zürich erfolgte, stiess auf Ablehnung, nach Stuckenschmidt "wegen des Textes, aber auch aus politischem Groll."19 4.1.9. Grundzüge im Schoeckschen Opernoeuvre Im Opernschaffen Othmar Schoecks lassen sich, bei aller Verschiedenheit der Stoffe, ihrer musikalischen Umsetzung und der wechselnden Umstände bei der Komposition wie bei den Uraufführungen, verschiedene Wesensmerkmale festhalten: einmal die Geistes- und Charakterverwandtschaft der männlichen Protagonisten, die Walton wiefolgt beschreibt: "Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass es Schoecks Opernhelden in auffallender Weise an Eigeninitiative mangelt. Ihre einzigen Entscheidungen laufen darauf hinaus, dass sie ihre Geschicke in die Hände eines anderen legen. Erwin, Gonzalo und Emilio (in Erwin und Elmire, Don Ranudo und Massimilla Doni) gelingt es nur durch den Einfluss eines weiseren, erfahreneren Mannes (Bernardo, Pedro und Vendramin), ihre Liebe zu verwirklichen." Die einzige Entscheidung, die Horace in der Venus treffe, sei, "seine Frau zu verlassen zugunsten eines vagen Schönheitsideals in Gestalt der Venus-Statue; für den Rest der Oper vermag er kaum noch zu interessieren. Der Achilles der Penthesilea wirft seine Waffen weg und ergibt sich dem Willen siener Geliebten (die ihn auch prompt tötet). Der Fischer (in Vom Fischer un syner Fru) verhält sich während des ganzen Stückes passiv, während sich Armand (in Das Schloss Dürande) allem Anschein nach von nichts ernsthaft berühren lässt, bis die Oper fast zu Ende ist."20 Hand in Hand mit dieser Passivität der primi uomini, welche Walton in Beziehung setzt zu Schoecks persönlichen Charakter, geht die überragende Stellung der Frauenfiguren: in allen Opern (Ausnahme: Don Ranudo) beherrschen die Primadonnen die Handlung. Sie machen eine signifikante Entwicklung durch, nach Rolf Urs Ringger eine "decrescendierende"21. Werner Vogel unterhielt sich mit dem Komponisten über dessen Frauenbild und notierte am 12. Mai 1956, zehn Monate vor Schoecks Tod, in sein Tagebuch: "Es war die Rede von den Frauengestalten in Schoecks Bühnenwerken, von der überirdischen Venus, der sagenhaften, furchtbaren Penthesilea, der herrschsüchtigen Ilsebill, der Madonna Massimilla und der sich opfernden Gabriele. Ich sagte zu Schoeck, es falle mir auf, dass die 17Stuckenschmidt, Schoeck, S. 259. STUCKENSCHMIDT, Reichsmarschall und Intendant, in "Neue Zürcher Zeitung", 13. Dezember 1967. 19Stuckenschmidt, Schoeck, S. 259. 20Walton, Biographie, S. 290. 21Ringger, Schoeck - Libretti, Schluss. 18H.H. 16 Frauengestalten von Werk zu Werk 'normaler', erdnäher und fraulicher würden. Schoeck erwiderte, das sei eine Folge des Älterwerdens und der Lebenserfahrung. Er wies auf das Lebenswerk Gottfried Kellers hin und meinte, bei dem Dichter könne man ähnliche Beobachtungen machen, ich solle nur an die mütterliche Frau Salanders denken."22 Weiter fällt einem nachgeborenen Betrachter auf, dass alle Uraufführungen seiner Opern Publikumserfolge waren - nicht immer so rauschende und enthusiastische wie die Venus zwar -, und Schoeck in seiner Zeit in beiden Qualitäten eines Lieder- wie eines Opernkomponisten gleichermassen im Bewusstsein des Publikums verankert war. Heute hingegen gilt Schoeck fast ausschliesslich als "letzter Vertreter des deutschen Liedes"; seine Opern aber sind, zumindest beim breiten Publikum, im In- und Ausland in Vergessenheit geraten.23 Dass dies bei seinen drei bedeutendsten Werken Venus, Penthesilea und Massimilla Doni zu Unrecht geschah, zeigen das Aufsehen und die Erfolge, welche sie bei sporadischen Wiederaufnahmen erzielen. 4.2. Vorgeschichte Im folgenden soll näher auf die Entstehung der Venus eingegangen werden. Die in der Sekundärliteratur oft zitierte Vorliebe Schoecks für Wanderungen im Tessin und in Italien, sein Sehnen nach dem Süden, kann wohl gewertet werden, wie Walton es formuliert: "Die Reisen nach Italien als Flucht vor seinen persönlichen Problemen waren für Schoeck ein Nachvollziehen eines Traums, der auch bei den deutschen Romantikern zu einer idée fixe geworden war; man denke nur an den Helden von Aus dem Leben eines Taugenichts des von Schoeck heissgeliebten Eichendorff; an Goethes Italienische Reise, angeblich unternommen, um den Komplikationen mit Charlotte von Stein zu entfliehen; oder an Wagners Komposition des Tristan in Venedig, angeblich als Denkmal seiner Liebe zu Mathilde Wesendonck."24 Wie dem auch sei, ging es zwei Wochen nach der Uraufführung des Don Ranudo (16. April 1919) wieder ins Tessin, diesmal zusammen mit Armin Rüeger und dessen Freund Paul Loewensberg. Nach Walton war es Loewensberg, der Schoeck auf Prosper Mérimées Novelle 22Vogel, Tagebuch, S. 170. hat dies an seinem Lebensende schon beobachtet und sich verschiedentlich darüber beklagt, vgl. z.B. Vogels Tagebucheintrag vom 8. Januar 1955, S. 148: "[…] In alten Autographen zu stöbern, erregte Schoeck auch heute heftig. Sie erinnerten ihn wohl an die Jahre der grössten Erfolge. sicher verglich er mit der gegenwärtigen Situation: Er sieht sich jetzt übergangen und hat Mühe, Verleger zu finden. 'Nach der 'Venus' sehne ich mich am meisten. In dieser Musik möchte ich noch einmal untertauchen', gestand der Meister traurig." 24Walton, Biographie S. 57. 23Schoeck 17 La Vénus d'Ille aufmerksam machte. Rüeger selbst berichtet laut Schoeck-Grüebler: "So kam es, dass einer von uns die 'Venus von Ille' vorschlug. Schoeck fing sofort Feuer. in einer Garage stand ein altes Klavier. Darauf entwarf Schoeck die Schlussszene, ohne überhaupt ein Libretto zu haben. Die Verse musste ich zu der bereits vorliegenden Musik hinzuschreiben!"25 Der vielbeschäftigte Apotheker fuhr am 7. Mai nach Hause; am selben Tag schrieb Schoeck an seine Eltern: "[Ich] warte ungeduldig auf den neuen Operntext, den Rüeger und ich hier besprochen. - Ich bin geladen!"26 Wie schon bei Don Ranudo, war Rüeger keine Atempause vergönnt. Schoeck schrieb ihm aus Brissago am 12. Mai: "O dass ich Dich nicht hier habe! Ich habe schon die halbe Oper zusammen componiert, wie gerne würde ich Dir vorspielen! Wenn ich den Text hätte, ich glaube, ich brächte das Ganze in einigen Wochen zusammen. Bitte bitte, schicke mir bald etwas hierher."27 4.3. Mary de Senger Mitte August 1918 hatte sich bei Schoeck eine junge Genfer Pianistin namens Mary de Senger gemeldet mit der Bitte, ihm für ein eventuelles Konzertengagement in St. Gallen vorspielen zu dürfen. Der Kontakt war durch den Bruder der Pianistin, den Architekten Alexander von Senger, zustande gekommen, den Schoecks Bruder Paul als Studenten in Zürich gekannt hatte und mit dem Othmar selbst seit einigen Jahren befreundet war. Die Pianistin wurde am 12. Mai 1887 als Tochter des Hugo von Senger, eines bayerischen Adligen, der sich 1869 in Genf niedergelassen hatte und als Komponist, Dirigent und Pädagoge das dortige Musikleben dominierte, geboren und auf den Namen Louise Maria von Senger getauft. Später hatte sie ihren ersten Vornamen abgelegt, Maria zu Mary anglisiert, das Adelsprädikat von aber zum französischen de verändert und sich so einen dreisprachigen Namen zugelegt. Als sich die Konzertpianistin im Sommer 1918 dem Dirigenten der St. Galler Sinfoniekonzerte vorstellte, befand sie sich mitten in einem Scheidungsprozess, der sich noch viele Monate hinziehen sollte. Sie erinnerte sich später an diese erste Begegnung: "Ich lernte ihn am 12. August 1918 in der kleinen Wohnung im ersten Stock kennen, die er am Zeltweg gemietet hatte mit den Fenstern zum Garten. Ich spielte J.S. Bachs 'Italienisches Konzert'. Er 25Schoeck-Grüebler, Post nach Brunnen, S. 137. S. 138. 27Karte von Schoeck an Rüeger, Poststempel Brissago, 12. Mai 1919 (im Schoeck-Archiv), zitiert in Vogel, Schoeck - Leben und Schaffen, S. 132. 26ibidem, 18 sagte nur diese zwei Worte: 'Restlos vollkommen'."28 Schoeck verliebte sich nicht nur in das Spiel der Pianistin; Mary de Senger wurde stante pede seine Geliebte.29 Nach den Frühlingswanderferien im Tessin schrieb Schoeck an Mary in Genf. Sie antwortete per Telegramm, sie habe ihm eine Wohnung besorgt, wo er bleiben könne. Er rief sie auf der Stelle an, um seine sofortige Ankunft anzukündigen. Am 3. Juli 1919 traf Schoeck in Genf ein und setzte dort auch seine Arbeit an der Venus fort, deren erste Szene er noch vor seiner Abreise nach Genf begonnen hatte. Der ganze erste Akt wurde mehr oder weniger in diesem Sommer in Genf fertig, wo Schoeck drei Monate blieb. In der Liebesbeziehung ging es auf und ab; bis Ende Oktober 1919 war der erste Akt komponiert mit Ausnahme des abschliessenden Hochzeitschores. Walton sieht den Grund hierfür in der "Unvereinbarkeit mit seiner gegenwärtigen Situation."30Ausserdem entstand in diesem Herbst ein kleines Klavierstück mit dem Titel Consolation, das ein Thema aus der Schlussszene von Venus verwendet, die er im Mai im Tessin geschrieben hatte. Neben der deutschen Erstaufführung des Don Ranudo in Stuttgart im November 1919, seiner fortlaufenden Dirigiertätigkeit in St. Gallen und einem Gastengagement mit dem Orchestre de la Suisse Romande, wo er Ernest Ansermet vertrat, floss die verbleibende Zeit in die Vertonung mehrerer freier Übersetzungen des persischen Dichters Hafis von G.F. Daumer. Die Arbeit an der Venus wurde beiseite gelegt. Wahrscheinlich Ende März 1920 war die Gruppe der zwölf Hafis-Lieder op. 33 abgeschlossen. Am 2. Juni reiste Schoeck ab, um wiederum den Sommer in Genf zu verbringen. Rüeger hatte ihm noch vor der Abreise den Text des zweiten Aktes der Venus geliefert. Schoeck forderte aber schon bald mehr: "Ich bitte inständig um den IIIten! Auch der IIte ist so gut wie fertig und ebenso 'fertig' wie gut geworden." Das schrieb Schoeck am 14. Juli, und am 7. August: "Bitte, lass mich nicht länger im Stich! […] Lass mit nicht mehr länger warten." Und fünf Tage später, am 12. August: "Lass bald von Dir hören."31 Neben all seiner Arbeit fand Rüeger irgendwie die Zeit, Schoeck mit dem Benötigten zu versorgen. Schoeck schrieb am 19. August: "Dein Text ist w u n d e r voll! Er gefällt mir von allen III Aufzügen am besten." Dann folgte ein detailliertes Exposé, wie er sich den 3. Akt vorstellte. Am 30. August konnte Schoeck an Rüeger schreiben: "Dein Text [ist] bereits komponiert […] Das einzige, was Dir noch zu tun geben wird, ist der Text zur S c h l u s s - A r i e des Horace" (die Arie, die Schoeck im Mai 1919 im Tessin geschrieben hatte). 28Vogel, Schoeck - Leben und Schaffen, S. 133. dazu Walton, Biographie, S. 109ff. 30ibidem, S. 117. Walton bezieht sich auf einen unveröffentlichten Aufsatz von Corrodi. 31Alle Karten und Briefe befinden sich im Schoeck-Archiv. Die Mitteilungen vom 14. Juli und 7. August sind undatiert; die Daten gehen aus den Poststempeln hervor. 29Siehe 19 Am 27. Januar 1921 stand in Bern die Uraufführung eines "Intermezzos" aus Schoecks neuer Oper Venus unter der Leitung des Komponisten auf dem Programm. Es handelte sich vermutlich um das Sturm-Zwischenspiel, das in den abschliessenden 3. Akt überleitet.32 Als Schoecks Verpflichtungen in St. Gallen im April ausliegen, fand er mehr Zeit für seine eigene Arbeit. Bis Anfang Mai hatte er die Orchestrierung der Venus bis zum Es-DurEnsemble des ersten Akts vorangetrieben. Er hatte gehofft, den Sommer mit Mary am Wörther See in Kärnten verbringen zu können, aber dieser Plan zerschlug sich, möglicherweise wegen eines Streites zwischen beiden. Mary fuhr jedenfalls zu Verwandten an den Chiemsee, während Schoeck den Sommer zuerst zu Hause in Brunnen und dann bei Verwandten in Engelberg verbrachte. An Rüeger schrieb er am 9. August: "Ich sitze hier in Engelberg, allein mit meiner Venus (wäre nur die andere auch da!) und arbeite wie eine Uhr an der Partitur. Gut, dass ich die Arbeit habe, sonst würde ich mich recht einsam fühlen."33 Schoeck trug sich in dieser Zeit mit dem Gedanken, Mary zu heiraten.34 Jedenfalls war er Mitte September 1921 in der Stimmung, den Hochzeitschor für den ersten Akt der Venus zu komponieren. Er begann nun, Pläne für die Uraufführung zu machen. Hierfür lud er den Direktor des Stadttheaters, Paul Trede, dessen musikalischen Leiter, Robert F. Denzler, und den Bariton Karl Schmid-Bloss in seine Wohnung ein, um ihnen die Oper vorzuspielen. Schoeck berichtete, sie hätten schweigend zugehört, dass Trede sich aber ab und zu über die Schwierigkeiten der Tenor-Hauptpartie ausgelassen hätte. Wütend sprang Schoeck auf, ging aus dem Zimmer, schlug die Tür hiner sich zu und zündete sich eine Zigarette an. Als er sich wieder gefasst hatte, eröffneten ihm seine Gäste, sie seien bereit, die Oper anzunehmen, sie könne jedoch erst im folgenden Herbst aufgeführt werden.35 4.4. Uraufführung am Stadttheater Zürich, 10. Mai 1922 Die Uraufführung der neuen Schoeck-Oper war nunmehr als Eröffnungsvorstellung der Internationalen Musikfestwochen Zürich im Mai festgesetzt worden. Der Komponist sollte dirigieren und die Hauptrolle des Horace von Curt Taucher, dem Startenor der Dresdener Staatsoper, gesungen werden. Die stumme Rolle der Venus wurde von einer Tänzerin, "Frl. Alice Ulmer aus St. Gallen", dargestellt, während die Statue das Werk von Schoecks Freund, dem Bildhauer Hermann Hubacher, war. Schoeck hatte ihm für seine Arbeit nur wenig Zeit 32vgl. Schoeck-Grüebler, Post nach Brunnen, S. 156. im Schoeck-Archiv, Poststempel Engelberg, 9. August 1921, zitiert in: Vogel, Leben und Schaffen, S. 146. 34nähere Umstände siehe Walton, Biographie, S. 126ff. 35Walton, Biographie, S. 128. 33Karte 20 gelassen; sie musste binnen zwei Tagen und zwei Nächten ausgeführt werden. (Die Statue fand später ein nasses Ende; nachdem Venus abgespielt war, überwachte Hubacher persönlich ihre Versenkung im Zürichsee.)36 Trotz der ungewöhnlich hohen Eintrittspreise für die Premiere war das Haus ausverkauft. Die ganze Schoeck-Familie war gekommen und auch die meisten Freunde: die Reinharts aus Winterthur, Hermann Hesse, Ilona Durigo, Franz Wiegele, Gustav Gamper, Walter Schulthess und Stefi Geyer (jetzt Mann und Frau), Fritz Brun, Hermann Haller und dazu einer internationale Auslese von Kritikern. Rüeger hatte sich in eine Ecke des Zuschauerraums zurückgezogen, wo er rechtzeitig entkommen konnte, um den Schlussapplaus nicht mit Schoeck zusammen entgegennehmen zu müssen.37 Einzig und allein Mary schien abwesend zu sein; Schoeck hatte seit ein Uhr mittags vergeblich auf sie gewartet. Die Premiere war ein Erfolg. Taucher übertraf alle Erwartungen und der Schlussapplaus dauerte etwa fünfzehn Minuten (nach der zweiten Vorstellung wurden Taucher und Schoeck sogar noch auf der Strasse mit Bravorufen bedacht).38 Die Venus bekam eine gute Presse. Rüegers Libretto musste einige Kritik entgegennehmen, aber die Musik wurde gut aufgenommen. Ernest Newman schrieb in der Sunday Times: "Das Libretto […] ist, was die literarische Qualität betrifft, nicht bemerkenswerter als jedes Durchschnittstextbuch", rühmte aber die Musik und urteilte über Schoeck, er sei "ein Komponist, dessen Ruf bald über die Grenzen seines Heimatlands hinausdringen wird […] Ich erwarte mit Ungeduld die Veröffentlichung der Partitur und werde Schoecks weitere Laufbahn mit Interesse verfolgen."39 Auf die Veröffentlichung der Partitur musste er noch viele Jahre warten - es war aber nur der Klavierauszug, denn bloss drei der Bühnenwerke Schoecks - Das Wandbild, Penthesilea und Vom Fischer un syner Fru - erschienen zu Lebzeiten des Komponisten in Partitur. Den gleichen Grundtenor schlägt der Musikkritiker der Neuen Zürcher Zeitung an: "Durch Prosper Mérimées, in ihrer phantastisch-mystischen Tendenz zur Dramatisierung wenig geeigneten Novelle 'La Vénus d'Ille' angeregt, hat Armin Rüeger […] einen Operntext verfasst, der, in seinem verwirrenden Durcheinander schemenhafter Nebenfiguren zu wenig klar gegliedert, den dramatischen Kern verwischt und wenig Sinn für bühnenwirksame Situationen zeigt." Rüeger habe auch das "geheimnisvolle Dunkel", mit dem Mérimée die Venus umgeben hätte, nicht zu wahren gewusst. Für Schoecks Musik hingegen ist der Berichterstatter voll des Lobes: "Othmar Schoecks, weniger motivisch angelegte, 36ibidem, S.133. Leben und Schaffen, S. 149. 38Walton, Biographie, S.133. Er verweist auf einen unveröffentlichten Aufsatz von Corrodi Die Uraufführung der "Venus". 39E. Newman, Besprechung der Uraufführung von Venus, in: The Sunday Times, 21. Mai 1922, zitiert in: Walton, Biographie, S. 134. 37Vogel, 21 stimmungschildernde, halb dramatische, (mit sinfonischem Einschlag), bald lyrische Musik, kann die Mängel des Librettos gelegentlich vergessen lassen. […] Und dann in der nie überladenen Instrumentation diese Einfachheit und durchsichtige Klarheit, und doch dabei die Farbenfreudigkeit, der Duft und Glanz, ein Geigenüberschwang, ein Jauchzen, Klagen, Dröhnen im Orchester." Abschliessend wertet der Kritiker: "Othmar Schoeck wandelt eigene Bahnen, das beweist seine 'Venus' aufs neue, die musikalisch zweifellos zu den bedeutendsten Erscheinungen der modernen Opernliteratur gehört." Ebenfalls überwältigend fällt das Urteil über den Heldentenor Curt Taucher aus: er sei der "denkbar geeignetste Interpret" für die Hauptrolle, er habe eine "Prachtleistung" vollbracht.40 Ins gleiche Horn stösst auch der Musikkritiker des Tages-Anzeigers. Er fragt rhetorisch: "War der geistvolle Komponist auch wirklich glücklich in der Auswahl seines Librettisten?", lobt hingegen den Tonsetzer: "Schoecks Erfindungskraft ist unendlich reich. Aus seiner Partitur strömt eine Leidenschaft, ein Sehnen, ein Ringen um Ausdrucksmöglichkeiten des musikalischen Willens, das eine echte tiefe Künstlerseele verrät."41 4.5. Revision - Wiederaufnahme am Stadttheater Zürich Ende November 1933 Nach der Uraufführung im Mai 1922 gingen elf Jahre ins Land, bevor die Venus wieder aufgeführt wurde. Robert F. Denzler dirigierte Ende November eine kurze Aufführungsserie wiederum am Stadttheater Zürich. Schoeck hatte das Werk geringfügig revidiert: der erste Akt blieb unverändert, am Ende der Oper entfiel Simones Auftritt nach Horaces Tod, und ein von Lucile geführtes Maskenensemble in der Mitte des zweiten Akts wurde als reines Orchesterzwischenspiel an seinen Beginn gerückt. Diese Änderungen waren auf Anrregung von Karl Schmid-Bloss erfolgt, der bei der Uraufführung den Raimond gesungen hatte und jetzt in Zürich Direktor war. Er erklärte gegenüber Corrodi einige Jahre später, wie die Revision zustande gekommen war: "Gegen die heftige Opposition im eigenen Hause habe ich nach zehnjähriger Pause das Werk wieder aufgenommen und Schoeck dabei gewisse Bedingungen gestellt. Er nahm diese widerwillig an, weil wir sonst das Werk nicht gemacht hätten. Aber schon bei den Proben versuchte er, diese Zusagen wieder rückgängig zu machen, allerdings ohne Erfolg."42 40Feuilletonartikel Internationale Festspiele. Stadttheater: "Venus" von Othmar Schoeck (10. Mai), in "Neue Zürcher Zeitung", 11.5.1922, Nr. 622, 1.Abendblatt, S.1. 41Berichterstattung von den Internationalen Festspielen in Zürich in der Rubrik Theater und Konzerte, in "Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich", 13. Mai 1922. 42aus Corrodis unveröffentlichten Erinnerungen zitiert in Walton, Biographie, S.205, auch in Schuh, Schweizer Musik der Gegenwart, S. 71. 22 Die Aufführungen waren gut besucht; die Presse wagte nun, anders als nach der Uraufführung, die Oper in einen Rahmen des Schoeckschen Gesamtwerkes zu stellen und zu werten. "Schoeck hat […] dem dichterischen Vorwurf eine Menge schöner und gefühlshaltiger Musik entlockt, deren lyrisches Ausbreiten den Gang der Handlung freilich unnötig hemmt und beschwert." So der Tages-Anzeiger nach der Premiere der revidierten Fassung am 26. November 1933. Die Bewertung der Revision der Oper gibt dem Kritiker Gelegenheit, gegen die Entwicklung des Musiktheaters in seiner Zeit im allgemeinen anzuschreiben: die Neufassung "bestätigt den Grundirrtum des Komponisten, der ihn in eine Linie bringt mit unsern heutigen, am Dramatischen vorbeikomponierenden Opernproblematikern, und der darin besteht, dass seelische Spannungen mit forcierter Klangdynamik verwechselt werden. In dieser Hinsicht hat namentlich der erste Akt zuviel Gewicht mitbekommen, während Schoeck anderswo nach einem kammermusikalisch vereinfachten Ausdruck strebt."43 Im Gegensatz dazu stimmt der Berichterstatter der Neuen Zürcher Zeitung eine Lobeshymne auf die Venus und auf Schoeck an: "Der kühnen, die Realität der Bühne scheinbar übersehenden Werkanlage zum Trotz behauptet sich die 'Venus' als ein dramatisches Kunstwerk von stärkster Innenspannung". Das Werk wird als erstes einer Reihe von "Bekenntniswerken" gedeutet: "An einer Schicksalswende stehend, hat Schoeck in seiner 'Venus', dem ersten in der Reihe der grossen Bekenntniswerke - 'Venus', 'Elegie', 'Lebendig begraben' und 'Notturno' -, die ganze Melodienfülle seines Jugendschaffens noch einmal herrlich aufblühen lassen, um von ihm Abschied zu nehmen und, der Stimme seines Genius folgend wie Horace der göttlichen Erscheinung der Venus, in jene geheimnisumwitterten neuen Klangreiche aufzubrechen, von denen die Werke seiner reifen Mannesjahre künden." Während ihm im Tages-Anzeiger die Diskontinuität zwischen dem ersten und den beiden folgenden Akten zum Vorwurf gemacht wird, sieht der Kritiker der Neuen Zürcher Zeitung gerade darin den grossen Wurf: "Die Bearbeitung rührt in keiner Weise an das Verhältnis zwischen dem ersten und den ineinander übergehenden beiden nachfolgenden Akten - dieses eigentümliche Verhältinis, das mehr als nur die Bedeutung der 'Venus' im Gesamtschaffen Schoecks und nicht nur ihren Rang als 'Oper' oder als 'Musikdrama', sondern als künstlerische Tat schlechthin festlegt." Die Diskrepanz der Tonsprache innerhalb der Oper wird weiter ausgedeutet: "Dem edlen Gleichmass der in Schönheit ruhenden Musik des ersten Aktes stellt Schoeck im zweiten und dritten eine Klangwelt gegenüber, die durch ungeahnte Intensivierung der Tonsprache fasziniert, eine seltsam erregende, doppelschichtige, hintergründige Musik. Er dringt in bisher unerschlossene Klangsphären vor, in eine Region 43Kritik Venus. Premiere im Zürcher Stadttheater, in "Tages-Anzeiger für Stadt und Kanton Zürich, 28.11.1933. 23 letzter seelischer Verfeinerung, die den Hörer in atemloser Spannung hält. So gewinnt er eine kaum für möglich gehaltene Steigerung durch höchste Konzentration."44 4.6. Weitere Aufführungsgeschichte Der Abstand von elf Jahren zwischen Uraufführung und Zweitaufführung der Venus ist symptomatisch für die weitere Aufführungsgeschichte: das Werk kam nur sehr sporadisch auf die Bühne und fast ausschliesslich in der Schweiz. Als Hauptgrund dafür wurde von Anfang an und von allen die sehr grossen sängerischen wie darstellerischen Anforderungen der Hauptrolle genannt. Wie oft betont wurde, steht und fällt der Erfolg einer Aufführung mit der Besetzung des Horace. Stuckenschmidt führt überdies an, das Werk sei "dramatisch nicht einheitlich genug", um ins Theaterrepertoire eingehen zu können.45 1992 wurde die Oper mit Unterstützung des Migros-Genossenschafts-Bundes zum ersten Mal eingespielt. (James O'Neal - Horace, Lucia Popp - Simone, Boje Skovhus - Raimond, Philharmonische Werkstatt Schweiz, Dir. Mario Venzago). Das Grand Théâtre de Genève brachte die Venus in der Saison 1996-97 in einer szenisch wie musikalisch sehr überzeugenden Produktion, welche vom Westschweizer Fernsehen TSR aufgenommen wurde, auf die Bühne (Regie - Francisco Negrin, Dir. - Mario Venzago, Paul Frey - Horace, Adrianne Pieczonka - Simone, David Pittman-Jennings - Raimond). Es bleibt zu hoffen, dass diese zwei Produktionen den Beginn einer Wiederausgrabung der Venus bedeuten. 44Kritik Schoecks "Venus" in "Neue Zürcher Zeitung", 27.11.1933, Abendausgabe, Nr. 2151, S. 1/2. 45Stuckenschmidt, Othmar Schoeck, S. 255. 24 5. Das Libretto 5.1. Vorlagen Anders als im Untertitel der Oper vermerkt, basiert Armin Rüegers Libretto auf zwei literarischen Quellen: neben Prosper Mérimées Novelle La Vénus d'Ille, welche das Opernprojekt auf der Wanderung im Tessin überhaupt ausgelöst hatte, spielte Eichendorffs Erzählung Das Marmorbild eine immer wichtigere Rolle. Das Motiv der erotischen Bindung eines Menschen an eine Statue ist alt und gewissermassen ein Spezialfall des Pygmalion-Stoffes. Während aber bei Ovid das Kunstwerk sich kraft der Liebe belebt, wird die bindende Wirdkung des Ringes am Finger erstmals im 12. Jahrhundert greifbar, in der Chronik des William von Malmesbury "De gestis regum Anglorum" (11241125). Wenig später, immer noch in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, erscheint in der "Kaiserchronik" eine Variante des Stoffes, wo der Ring von einem ausdrücklichen Treueversprechen begleitet wird, weil der Held sich in die Statue verliebt, ein Element, das bei Mérimée völlig fehlt, in Schoecks Oper aber, als Spontanparallele, von der Schlussszene her bestimmend wird. Genau diese Schlussszene, der Liebestod Horacens in den Armen der Statue, verlangte nach einer anderen Vorgeschichte, als sie bei Mérimée gestaltet ist. Diese andere Geschichte gab es bereits, und sie gehörte seit Jahren zu Schoecks geistigem Besitz, nur dass sie bis zu Venus nicht zum Durchbruch gekommen war: die Erzählung Das Marmorbild von Joseph Freiherr von Eichendorff. Bereits 1914 hatte Schoeck in Lucca eine Karte an Hermann Hesse mit Florio Schoeck, dem Namen der Hauptfigur in Das Marmorbild, unterschrieben.46 Warum im Titel nur Mérimée erwähnt ist, klärt ein Tagebucheintrag Werner Vogels:"Wir sprachen auch wieder von Eichendorff. Schoeck: 'Ich hätte gern 'Nach Mérimée und Eichendorff' auf die Partitur der <Venus> gesetzt. Aber Rüeger war damit nicht einverstanden...'"47 Eintrag vom 11. Dezember 1952. 5.1.1. Prosper Mérimée: La Vénus d'Ille In Prosper Mérimées Erzählung aus dem Jahre 1837 wird die Kerngeschichte des Ringes am gekrümmten Finger der Venusstatue und des Todes des Ehemannes in der Hochzeitsnacht in eine Rahmenerzählung gebettet, die im Archäologenmilieu spielt. 46Elisabeth Schoeck-Grüebler merkt an, die Karte "sei im übrigen so eichendorffsch formuliert, dass Hesse sich später - in der 'Festgabe der Freunde' zu Schoecks 50.Geburtstag - zu erinnern glaubte, sie habe nichts als den ersten Satz des 'Marmorbildes' enthalten." (Marmor oder Bronze?, S. 69.) 47Vogel, Tagebuch, S. 94. 25 Mérimée hatte 1834 als frischbestallter "Inspecteur général des Monuments historiques" selber den kleinen Ort Ille-sur-Têt am Fusse der Pyrenäen besucht. Der Bericht, den er darüber veröffentlichte, wurde von einem Lokalhistoriker aus der Gegend in einem anonymen Artikel vehement angegriffen. Dessen Namen, Puiggari, verwendet Mérimée in leicht verfremdeter Form als Namen der Braut (Mlle. de Puygarrig), vor allem aber karikiert er den Mann selbst in der skurrilen Figur des Hobbyarchäologen und dilettantischen Linguisten M. de Peyrehorade. Zentrum der Erzählung, als Bericht eines persönlichen Besuchs des IchErzählers abgefasst, ist die bronzene Venusstatue, die Peyrehorade auf seinem Gut gefunden hat. Der Sohn des Hauses, Alphonse, feiert dieser Tage gerade seine Hochzeit. Kurz vor der Kirchenzeremonie spielt er mit Freunden eine Pelotapartie (baskisches Ballspiel), bei der ihn der für die Braut bestimmt Diamantring stört; also steckt er ihn der in der Nähe stehenden Venusstatue an den Finger. Am Ende des Spiels vergisst er den Ring und eilt zur Kirche. Als er diesen später holen will, entdeckt er zu seinem Schrecken, dass die Statue den Finger gekrümmt hat, so dass er den Ring nicht mehr abziehen kann. Am nächsten Morgen wird der junge Ehemann tot im Schlafgemach aufgefunden; der Diamantring liegt am Boden. Die junge Braut hat über dem Unglück den Verstand verloren und rede nur von der Venusstatue, die Alphonse in ihren Armen erwürgt habe. Die Spuren am Körper des Toten könnten, meint der Erzähler, auch von einem mit Sand gefüllten schmalen Ledersack herrühren, dessen sich in Spanien gedungene Mörder bedienen; man verdächtigt also einen der spanischen Gegner beim Ballspiel vom Vortag, der Alphonse bedroht hatte, aber der Mann hat ein Alibi, und die Geschichte verläuft im Sand. Der Schriftsteller hinterlässt den Leser in einer ganz anderen Stimmung als das LibrettistenKomponisten-Duo: Das Opfer Alphonse wird gezeichnet als grobschlächtiger, protziger, unsympathischer Landjunker, dessen Tod keineswegs grosse Trauer der Leserschaft erheischt. Eher ist man am Ende dankbar, dass der jungen Braut die Ehe mit Alphonse erspart blieb. M. de Peyrehorade interessiert sich sowieso mehr für seine Hobbyarchäologie als für seinen Sohn, und die Mutter, eine beschränkte Provinzlerin, verscherzt das Mitleid des Lesers spätestens im Postskript der Erzählung, wenn wir erfahren, dass sie die Statue nach ihrer ursprünglichen Absicht in eine Glocke hat umgiessen lassen. Rüeger hat von Mérimées Novelle den äusseren Rahmen, den Ort und das Personal übernommen, das Ende und vor allem die Charaktere der Figuren jedoch vollkommen umgestaltet.48 48Wie dies vor sich ging, zeigt Elisabeth Schoeck-Grüebler in einem vorzüglichen Artikel bis ins Detail auf. (Marmor oder Bronze? Mérimée und Eichendorff als Grundlage zu Othmar Schoecks Oper "Venus", in "Neue Zürcher Zeitung", 27./28.4.1991, Nr. 97, S. 69/70.) 26 5.1.2. Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild Der junge Florio, den in Lucca eine Neigung zum einfachen Mädchen Bianca erfasst, begegnet, nachts umherstreifend, einem Marmorbild, das ihm wie eine langgesuchte Geliebte erscheint. Wenig später gelangt Florio zum phantastischen Palast einer namenlosen Schönen, in der er das Venusbild wiedererkennt und die ihn Bianca vergessen lässt. Gefangen in einer heidnisch-mystischen Welt sieht er unter nächtlichem Gewitter die antiken Steinbilder im Palast gleich der Venus zu drohendem Leben erwachen. Nur der fromme Gesang seines Freundes Fortunato rettet Florio aus der somnambulen Verstrickung; er gewinnt am nächsten Morgen Bianca zurück. Ganz eindeutig aus der eichendorffschen Welt stammt das Gefühlsleben des Horace, welcher ganz bezaubert den Verlockungen der Statue verfällt. Auch die Ballszenen im zweiten Akt, die Gewitterszene am Ende des zweiten Aktes, und überhaupt die deutsch-romantische Atmosphäre der letzten beiden Akte wurzeln in Eichendorffs Erzählung. Schoeck kannte die Novelle seines Lieblingsdichters sehr gut; die bronzene Statue aus Mérimées Novelle scheint sich in Schoecks Phantasie unlösbar mit der steinernen Venus aus der Eichendorffschen Erzählung verbunden zu haben. Der Charakter der Hauptfigur ist, wie Schoeck am Ende seines Lebens im Gespräch mit Werner Vogel selbst erwähnt, gänzlich eichendorffisch: "Schoeck kam dann auf seine <Venus> zurück: 'Die <Venus> ist weder ganz Mérimée noch ganz Eichendorff, an den ich stark gedacht habe. Die edle Gestalt des Horace und seine Dämonie sind viel mehr eichendorffisch als mériméeisch. Rüeger und ich haben eben etwas ganz Neues aus dem Stoff gemacht.' Mérimées Horace ist ein Sportler und Materialist, Schoeck-Rüegers Held dagegen ein romantischer Idealist. Mérimées <Venus> ist eine Rachegöttin; sie rächt die betrogene Verlobte. Schoecks Venus ist ein Symbol für die Vollkommenheit, für die absolute Schönheit. Horace verzehrt sich in der Sehnsucht nach diesem Traum- und Trugbild. Seine Sehnsucht nach der Ganzheit erfüllt sich in der Selbstzerstörung, denn Vollendung ist nur im Tode möglich. Schoeck sagt dazu: 'Ich habe während der Komposition gar nicht an die Symbole gedacht, von denen immer die Rede ist, sondern die Musik absolut aus dem Affekt heraus komponiert. Ich schuf zum Beispiel zuerst die Musik zum Schlusshymnus der Oper. Rüeger setzte dann zu dieser präexistenten Musik sehr geschickt die passenden Verse. Die <Venus> ist die schönste Huldigung an die Schönheit, die ich kenne! Ihr Motto heisst: Das ewig Weibliche zieht uns hinan!…Es ist doch ganz natürlich, dass ein junger Mann vor der Ehe der Schönheit folgt!' Im einzelnen sagte Schoeck: 'Am meisten liegt mir die Stelle vor dem letzten Ensemble des ersten Aktes am Herzen.' Ich weiss nicht, ob er den Satz meinte: Dass wir unsre Wünsche beschränken, 27 Ist der Schlüssel zu jeglichem Glück!"49 49Vogel, Tagebuch, S. 173, Eintrag vom 6. Oktober 1956. 28 6. Die Musik 6.1. Steigerung in die Individualisierung: der formale Aufbau Die Hauptfigur Horace macht im Laufe der Oper eine rasante Entwicklung durch: Von der idyllischen Welt des ersten Aktes, wo der junge Bräutigam seinen glücklichsten Tag erleben soll, durch das vom Tanz dominierten Fest, in dem sich Traum und Wirklichkeit zu verwischen beginnen bis hin in den dritten Akt, in dem die Realität von keinem Belang mehr ist und nur noch die Sehnsucht Horacens nach einem erotischen Ideal und dem absolut Schönen zum Thema hat. Dieser kontinuierlichen Reise hinein in das Innenleben der Hauptfigur entspricht auch der formale Aufbau der Oper: der erste Akt ist eine Abfolge von Liedern, Chören und Ensembles, in denen eine klare Melodienführung und relativ einfache Kadenzharmonik vorherrschen. Die klanglichen Abgründe der Venus-Welt öffnen sich im Verlauf des II. und III. Aktes. Den zweiten Akt könnte man als durchkomponierte sinfonische Tanzsuite bezeichnen: südliche Tanzrhythmen durchziehen das ganze Hochzeitsfest, durchbrochen nur von Horacens lyrischen Gesängen. Im Moment, da sich die Unbekannte vor Horace demaskiert, vollzieht sich der Bruch zur idyllischen, bürgerlichen Welt des ersten Aktes: vielschichtige, oszillierende Streicher- und Mixturklänge, Überlagerungen ganzer Akkordkomplexe, die das tonale Gefüge sprengen, eine bisher ungehörte Farbpalette der Orchestrierung lassen eine klanglich neue Welt erblühen. Die Streicher werden oft in viele Stimmen aufgeteilt, was den Klängen einen seidenen Glanz verleiht. Die Venus wurde oft als Streicheroper charakterisiert. Das Gewitter-Zwischenspiel, das zum dritten Akt überleitet, markiert eine Konzentration auf die ausschliessliche Gedankenwelt des Horace. Weder Raimond noch Zarandelle können viel ausrichten, um ihn aus seiner Traumwelt herauszuholen. Auch der abschliessende Akt ist durchkomponiert. Beginnt das Werk als Belcanto-Oper mit klar durchnummerierten Liedern und Chören, so endet sie als Monodram. Die Oper steht damit gewissermassen auf dem Kopf: der Hochzeitschor als eine Art Finale steht im ersten Akt, während ein Sologesang die Oper beendet. 6.2. Harmonik Die Klangsphäre der Venus-Welt ist bestimmt durch freie Akkordverknüpfungen, polytonale Schichtungen und dissonante Spannungen. Letztlich aber bleibt die Oper tonal bezogen und bietet einen festen Rahmen. Die Basis der gesamten Oper ist der Ton b in der Dur- und Mollvariante. Der I. Akt beginnt und schliesst in B-Dur, über die beiden 29 zusammenhängenden Akte II und III zieht sich ein tonaler Bogen von b-Moll, Des-Dur, GDur, es-Moll/Dur zurück nach b-Moll; im Schlussakkord erklingen B-Dur und b-moll gleichzeitig. 6.3. Leitmotivik?! - Die Venus-Motive Corrodi stellt zwar die Frage, ob Schoecks Venus eher zur Kategorie der Oper oder des Musikdramas gehöre, gibt aber keine Antwort.50 Er unterlässt es hingegen nicht, auf eine gewisse "Linientreue" Schoecks in bezug auf Wagners Konzept des Musikdramas hinzuweisen, was sich als Qualitätsausweis für den Schweizer Komponisten ausnimmt: "Schoeck hat es [das Werk Venus] eine Oper genannt. Trotzdem erfüllt es die hohen Ziele, die Wagner für das Musikdrama aufgestellt hat: das Drama ist alles andere, denn blosser Vorwand zu konzertantem Musizieren; es ist Leben vom Leben seines Schöpfers; es enthält schicksalhaftes Geschehen. Gestaltung dieses Konfliktes, wenn auch in letzter Linie mit den Mitteln der Musik, ist höchstes Ziel; es handelt sich, im weitesten Sinne, um eine dichterische Leistung."51 Zwingend folgt darauf die Erörterung der Leitmotivfrage. Corrodi schlägt den Begriff "Erinnerungsmotiv" statt Leitmotiv vor, "denn niemals 'leitet' oder beherrscht ein solches Motiv das Liniengewebe ganzer Szenen, nur an entscheidenden Wendepunkten tritt es vereinzelt, aber immer tief bedeutungsvoll auf."52 Dieser Vorschlag wirkt einleuchtend, wie folgende Aufzählung des Auftretens von bestimmten Motiven zeigen soll: Es treten im Laufe des neunzigminütigen Werkes zwei Motive auf, die als Erinnerungsmotive gelten können. Sie sind der stummen Hauptrolle Venus, oder besser ausgedrückt dem Verhängnis, welches die bronzene Schönheit über Horace bringt, zugeordnet. Das eine davon, nennen wir es VenusMotiv I, fällt an neuralgischen Punkten der Handlung ins Ohr und hat untrügliche Signalwirkung. 50Corrodi, Bild eines Schaffens, S.123. 51ibidem 52ibidem 30 An folgenden Stellen tritt das Venus-Motiv I auf: Akt/Szene/Seitenzahl des Klavierauszuges Handlung Musikalische Gestaltung I.Akt/1.Szene; S.6 - 4 T. vor 8 Horace bemerkt, dass sein Freund "Verzehrend-sehnsüchtiger Raimond drohendes Unheil ahnt. Lockruf"53; fünfstimmig, Streicher Er frägt ihn: "Wo siehst du, nahe und Holzbläser, pp. oder fern, das dunkle Schicksal Unheil brüten?" I.Akt/Ende der 5.Szene; S.37 - 1 Zarandelle beschliesst seinen 1. Mal: Oboe und Hörner, pp. T. nach 33; 7 T. nach 33 Bericht von der Auffindung der 2.Mal: Streicher, p, poco Statue. Direkt nach dem zweiten espressivo, darüber singt Ertönen des Motives Aufschrei des Zarandelle: "Das Standbild einer Gärtners Martin, da ihm die Venus Venus so berückend schön, wie es auf das Bein gefallen ist. von euch noch keiner je gesehn." Horace erblickt die Statue und ist leichte harmonische Umdeutung; I.Akt/8.Szene; S.69 - 1 T. nach 55 wie hypnotisiert. Er betet sie an mit Geigen, Trompeten, Klarinetten; den Worten: "Liebe schaffst du, cresc. ins molto ff. dass Leben nicht Raum hat daneben, könnt' ich dir mich ergeben." Simone schauert über der Szenerie, Raimond bedauert still Simone. I.Akt/9. und letzte Szene; S.87 Schlusschor des I.Aktes: Alle Simone und Horace unisono, ff singen auf das Heil des espressivo. Brautpaares. Die schicksalshafte Göttin ist musikalisch präsent. S.121f. - 3 T. nach 36 Mitten in den rauschenden fis- Vier Trompeten hinter der Bühne moll-Walzer dröhnen vier schmettern in Oktaven zweimal Trompeten wie aus einer anderen hintereinander, zuerst ff, dann fff, Welt das Venus-Motiv. Auf der das Motiv völlig arhythmisch in Bühne sind alle in einen Reigen den Walzer. eingebunden, Horace an der Hand der bekannten Unbekannten. 53Corrodi 31 II.Akt/Ende der 10.Szene; S.161 - Maskenspiel: Pierrot + Pierrette. 1 T. nach 86 Pierrot entdeckt eine maskierte Trompeten steigern sich bis ins ff. Schönheit, lässt von seiner Pierrette ab, um der Maske zu folgen, reisst ihr die Maske ab - es ist der Tod. Die Festgemeinde kehrt, dem Maskenspiel folgend, wieder ins Innere des Hauses zurück. Draussen auf der Bühne bleiben Horace und die maskierte Unbekannte zurück. Horace unmittelbar nach dem Motiv: "Ein niedlich Spiel mit einem finstern Schluss!" III.Akt/2.Szene; S.202-204 - 1 T. Im grossen Duett will Raimond Fünfstimmiges Frauensoli hinter vor 24; 1 T. nach 26. Horace zur bürgerlichen Vernuft der Bühne, auf Ah! vokalisierend, zurückbringen. Raimond fragt: zuerst p, dann pp. "Kommst du zu ihr zurück?", worauf das Venus-Motiv erklingt. Horace antwortet: "Ich kann nicht mehr!" Der Vetter der Braut fordert daraufhin zur Ehrrettung den Ehering zurück, das Motiv erklingt, und Horace antwortet ppp: "Das kann ich nicht!" III.Akt/5.Szene; S.214 - 1 T. vor 48 Einleitung zum grossen III.Akt/Ende 5.Szene; S.221 Picc. Clar. und Violino solo, mf Schlussmonolog des Horace. molto espressivo Nach Horacens Liebestod Fünf Soloviolinen, sehr weit hinter der Bühne, p espressivo, "Abgesang" Es gelingt Schoeck, an diesen Schlüsselstellen der Oper mit aller Deutlichkeit auf das Verhängnisvolle, die Gefahr und die übernatürliche Aura, welche von der stummen Liebesgöttin ausgehen, zu erinnern. Dabei nutzt er die ganze Bandbreite des musikalischen Ausdrucks: dynamisch treten alle Stufen zwischen pp und fff auf, durch die höchst 32 abwechslungsreiche, erfinderische Besetzung (fünf vokalisierende Frauenstimmen!) lassen die Venus in schillernden Farben erscheinen. solistische Corrodi und K.H. David haben auf ein zweites, weniger ohrenfälliges Motiv hingewiesen, das mit der Göttin verbunden ist.54 Nennen wir es Venus-Motiv II.55 Es tritt im Orchestergraben nur fünfmal auf: Akt/Szene/Seitenzahl des Klavierauszuges Handlung Musikalische Gestaltung I.Akt/6.Szene; S. 43 - 1 T. nach 38 Regieanweisung: "Der Gärtner ist Sehr breit und eindrucksvoll, unterdessen zu seinem Gesellen Flöten in Oktaven spielen Motiv zurückgetreten und hat die Statue über Zarandelle, der singt: "Nun aufgerichtet. Nun steht sie, allen wendet euch, ihr Lieben! So bringt sichtbar. Ein Wolkenschatten nun euren Tadel an, wenn ihr vor verdüstert leicht die Bühne, ferne diesem Abdel den Blick nicht hört man leise Donner verrollen." niederschlagt!" Unheimlich- 54Corrodi, Bild eines Schaffens, S. 125; David, Schoecks Opern, S. 54. David schlägt die Bezeichnung "Venus-Statuenmotiv" vor, was aber insofern missverständlich ist, als dass die Venus lediglich beim ersten und beim letzten Ertönen des Motivs als Statue auf der Bühne präsent ist, an den übrigen Stellen aber als agierende Unbekannte. 55K.H. 33 Die Festgemeinde hält inne, um die drohender Eindruck. Venus zu betrachten. II.Akt/Ende der 7.Szene; S.126 - 2 Auf dem Höhepunkt der Das Motiv klingt an in der T. nach 43 Verzückung Horacens über die Singstimme des Horace. Er singt bekannte unbekannte Schöne. "Lebt noch ein Wesen, so ergreifend schön?" auf der ersten Hälfte des Tonmaterials des Venus-Motivs II (mit dem charakteris-tischen Sextsprung)56, die Trompeten übernehmen und führen das Motiv, harmonisch umgedeutet und leicht verändert, zu Ende. II.Akt/11.Szene; S.162/63 - 3 T. Die Unbekannte demaskiert sich, "Breit, doch etwas bewegter", nach 90 Horace sieht der Venus lange ins Horn, Fagott und Viola p. Angesicht. II.Akt/Ende der 11.Szene; S.168/69 Horace "gleitet ihr zu Füssen, und Tutti, Motiv in Violinen, Celli, - 1 T. nach 102 umklammert brünstig ihre Knie." Fiati Ottoni ff; beim Kuss tritt Dann "neigt sie sich langsam zu Harfe dazu, poco rit., decresc. ins ihm, - und küsst ihn p. lange"(Regieanweisung) III.Akt/Ende der 2.Szene; S.204/05 Im Duell zwischen den beiden Trompeten und Hörner fff. Die - 1 T. vor 29. Freunden ist Horace "gleichsam Venus steht Horace auch von einer höheren Macht musikalisch zur Seite. durchdrungen." Er schlägt Raimond "beim zweiten Hieb die Waffe aus der Hand." 56In der Schlussarie der Oper hat Schoeck dieselbe Melodie wieder aufgenommen auf die Worte: "Du bist das Traumbild, das ich stets geliebt" (Kl.A. S.216, 4 T. vor 51). 34 7. Schlussbetrachtung "Othmar Schoeck war Deutsch-Schweizer […] und blieb sein Leben lang mit dem Erbe klassischer und romantischer Musik aus Deutschland und Österreich verbunden. Doch seine Geisteswelt reicht weit hinüber in romanische Lande, namentlich nach Italien, das er auf vielen Reisen besucht hat."57 Soweit Hans Heinz Stuckenschmidt zur Stellung des Schweizer Komponisten in den europäischen Strömungen seiner Zeit. Wie in Kapitel 6.3. gezeigt, wurde versucht, Schoecks Opernschaffen vor allem in die Nähe des deutschen Musikdramas zu rücken, wie es von Wagner als Modell geschaffen wurde. Dies misslingt ebenso wie der Versuch, ein italienisches Belcanto-Ideal in Schoecks Behandlung der Singstimmen herauskristallisieren zu wollen. Seine Verwurzelung im Lied ist zumindest in der Venus unmittelbar spürbar, als deutlichstes Beispiel ist Simones Frühlingslied zu nennen, mit dem die Oper beginnt. Dass Horacens Gesänge in ihrer sinfonisch-melodiösen Linienführung der italienischen Oper nahe stehen, soll dabei nicht geleugnet werden. Wie der Schweizer Schoeck zwischen Richard Wagner und Giuseppe Verdi seinen individuellen, neuen Weg gegangen ist, lässt sich auch an der Freundesbeziehung zwischen Horace und Raimond exemplifizieren: Horace steht für den impulsiven, lustgeführten Typus. Seine Leidenschaft ist so stark, dass sie den Verstand auszuschalten vermag, wenn sie, wie durch die Schönheit der Venus, gereizt wird. Seine einzige Tugend ist Ergriffen-Sein. Dagegen steht sein Freund Raimond, dem der bürgerliche Ehrenkodex über alles geht: er verlangt von Horace, dass er seiner Braut treu bleibe bis ans Grab; als er sieht, wie Horace der Statue verfällt, gibt er Freund und Freundschaft verloren, verlangt aber Simones Ring zurück, um ihre Ehre zu retten. Da dies Horace nicht gewähren kann, fordert er den ehemaligen Freund zum Duell auf. Horace und Raimond stellen die absolute Schönheit einerseits und die bürgerliche Moral andererseits über ihre Freundschaft. Ganz anders gestalten sich die Freundesbeziehungen zwischen Tannhäuser und Wolfram in Richard Wagners Tannhäuser und zwischen Don Carlos und dem Marquis von Posa in Giuseppe Verdis Don Carlos: Wagners romantische Oper basiert ganz auf dem Topos des Heils, der Errettung. Eigentlich beginnt Tannhäuser dort, wo Schoeck seinen Helden sterben liess: im Venusberg, in der amoralischen Gegenwelt zur sittenstrengen realen Welt. Auch Tannhäusers Tod ist vorprogrammiert, doch geht es Wagner darum, wie er sein Heil findet. Tannhäuser ist im Grunde ein zweiter Fliegender Holländer, den nur ein Opfertod, das 57Stuckenschmidt, Othmar Schoeck, S. 252. 35 Sterben Elisabeths, erlösen kann. Eine wesentliche Rolle spielt sein Freund Wolfram, der seine eigene Liebe zu Elisabeth zugunsten Tannhäusers immer zurückgehalten hat und den Freund auf den Weg der reinen Liebe zurückbringen will. Wolfram opfert sich also für seinen Freund auf, auch wenn er sein Handeln nicht gutheissen kann. Dasselbe tut der Marquis von Posa für Don Carlos: er opfert sogar sein Leben. Das Freundesverhältnis ist hier ungleich genauer gezeichnet und durch die fatalen Handlungsstränge von grösserer Wichtigkeit als bei Schoeck und Wagner. Posa und der Infant bekräftigen im Laufe der Oper zweimal ihre Freundschaft, bevor Posa den Freund vor dem Zorn Philipps rettet, indem er sich selbst beschuldigt und beim Zusammentreffen im Kerker sein Leben für den Freund gibt und von einer Kugel der Inquisition getötet wird. Schoeck ist bei der Komposition der Venus in vielerlei Hinsicht zwischen zwei Polen gestanden: zwischen Musikdrama und Belcanto-Oper, zwischen Mérimée und Eichendorff, zwischen absolutem Schönheitsideal und bürgerlicher Moral. Er hat, zusammen mit Armin Rüeger, Neues, Eigenes geschaffen. 36 8. Literaturverzeichnis 8.1. Primärliteratur Joseph von EICHENDORFF, Das Marmorbild in "Eichendorffs Werke", hrg. von Adolf von Grolman, Bd. 2, Leipzig 1928, Bibliographisches Institut. Prosper MERIMEE, Colomba. La Vénus d'Ille. Les âmes du Purgatoire, Paris 1898, Calman Lévy. Othmar SCHOECK, Post nach Brunnen. 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