Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt

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LITERATURBERICHT
TIERethik
8. Jahrgang 2016/1
Heft 10, S. 126-152
Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem
Aspekt
Literaturbericht 1/2016
Frauke Albersmeier, Regina Binder, Leonie Bossert, Alexander
Christian, Alina Omerbasic, Silke Strittmatter, Florian Leonhard
Wüstholz
Inhalt
1. Philosophische Ethik ..................................................................... 127
1.1 Bernhard H. F. Taureck: Manifest des veganen Humanismus ........ 127
1.2 Arianna Ferrari & Klaus Petrus (Hrsg.): Lexikon der MenschTier-Beziehungen ............................................................................ 129
2. Tiere und Gesellschaft................................................................... 133
2.1 Roland Borgards (Hrsg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches
Handbuch ........................................................................................ 133
2.2 Sven Wirth et al. (Hrsg.): Das Handeln der Tiere. Tierliche
Agency im Fokus der Human-Animal Studies ................................ 137
2.3 Reingard Spannring et al. (Hrsg.): Tiere – Texte –
Transformationen. Kritische Perspektiven der Human-Animal
Studies ............................................................................................. 141
2.4 Cornelia Ortlieb et al. (Hrsg.): Das Tier als Medium und
Obsession — Zur Politik des Wissens von Mensch und Tier um
1900 ................................................................................................. 146
3. Tiere und Recht ............................................................................. 150
3.1 Almuth Hirt, Christoph Maisack & Johanna Moritz (Hrsg.):
Tierschutzgesetz. Kommentar ......................................................... 150
3.2 Anne Peters, Saskia Stucki & Livia Boscardin (Hrsg.): Animal
Law: Reform or Revolution? ........................................................... 151
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Literaturbericht
Literaturbericht |
1. Philosophische Ethik
1.1 Bernhard H. F. Taureck:
Manifest des veganen Humanismus
124 S., Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2015,
14,90 EUR
Wie der Autor in seinem Vorwort schreibt, wird hier
abgerechnet mit einem Humanismus, dem es exklusiv um das Wohl des Menschen ging und geht. Er
schlägt vor, den Weg eines veganen Humanismus
zu gehen. Als Erläuterung, was es bedeutet, sich
vegan zu ernähren, führt Taureck an, dass dies eine
Beschränkung auf pflanzliches Essen sei. Das heißt, keine Meeres- und
Landtiere zu verzehren und ebenso keine Eier, Milch und alle ihre Derivate. Gleichzeitig stellt der Autor klar, dass, wer darin eine kulinarische
Verarmung erblicke, seinerseits an Armut leide – nämlich an Informationsmangel. Nach Aussage des Autors sind die gängigsten Antworten auf
die Frage einer veganen Ernährung ethische, ökologische und medizinische Gründe. Er bezeichnet es dabei als merkwürdig, dass Veganer ihre
Abstinenz vom Fleischkonsum rechtfertigen müssen. Seiner Ansicht nach
bilden Fragen dieser Art Schutzversuche derer, deren Gewohnheiten zur
Qual und zum Tod von Tieren führen. Insofern liege die Beweislast nicht
bei den Veganern, sondern bei den Fleischkonsumenten und der Fleischindustrie.
„Weder artgerechter Umgang mit Tieren noch menschliche Repräsentation von Tierrechten verschaffen uns Gerechtigkeit im Verhältnis zu
den Tieren. Erst die Entnutzung der Fauna erfüllt eine bestimmte Art der
Gerechtigkeit.“ (100) Der Autor führt dazu aus, dass artgerecht auch die
Haltung von Kühen, Schafen und Geflügel auf grünen Wiesen und Weiden meint. Dort dürfen die Tiere so lange leben, bis sie in die Verwertungsmaschinerie der Fleischindustrie geschleust werden. Taureck bezieht klare Position und bezeichnet alles als Übel, was der Mensch den
Tieren antut, wie beispielsweise sie schmerzvoll zu transportieren oder
sie in Experimenten zu quälen.
Er postuliert, dass das Zeitalter eines veganen Humanismus angesagt
sei. Anstatt den Tieren unwirksam Rechte zu verleihen, bestrebt der vegane Humanismus eine Pflicht, die Tiere aus aller Nutzung durch die
Menschen herausnimmt. So ist seiner Auffassung nach ein Recht auf
Tötung von Tieren angemaßt, und das jährliche Verhungernlassen von
Literaturbericht
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geschätzten mehr als 10 Millionen Menschen, weil das Soja und Getreide
zur Tierernährung gebraucht wird, widerspricht der Ethik der Fürsorge
für die Menschen. Aus ökologischer Sicht unterstütze es die Vergiftungen
der Erde, und medizinisch gesehen erweise sich der Tierfleischverzehr als
toxisch. (31)
In einem Kapitel widmet sich der Autor unserer extrem widersprüchlichen Einstellung zu den Tieren. „Tiere sind Objekte unserer innigen
Zuneigung und ebenso Objekte unserer Gaumenlust. Sie leben in unserer
Wohnung und kommen gebraten auf unseren Teller.“ (33) Taureck geht
der Frage nach, wie sich diese Spaltung unserer Einstellung erklärt. Die
Beziehung der Menschen zu den Tieren bezeichnet er als Fraß- und SpaßBeziehung. Das heißt, unser Verhalten ist von einem Widerspruch bestimmt: So schmust der Mensch mit Hunden und Katzen oder trauert um
sie, möchte gleichzeitig aber nicht auf sein Steak oder Brathähnchen verzichten. Für das Wohl der einen werde alles getan, ebenso wie für den
Tod der anderen. Folglich stehen riesige Mengen von gehätschelten
Haustieren riesigen Mengen von für unseren Verzehr getöteten Schlachttieren gegenüber.
Zum Tierschutzgesetz schreibt der Autor, dass dieses den gesellschaftlichen Wunsch ausdrücke, primär die Tiernutzung zu schützen; das
heißt, der Schutz der Tiernutzung als Ausnahme vom Schutz der Tiere
werde mit diesem Gesetz zur Regel. Mit der Aussage in Paragraph 1 des
Tierschutzgesetzes, wo es heißt: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, geht es insofern
nach Ansicht des Autors um die Garantie für die Bedürfnisse der Tiernutzung als Fraß, Spaß und Experiment.
Das Buch ist übersichtlich in sieben Kapitel gegliedert und liefert
zahlreiche Denkanstöße nicht nur für Veganer, sondern auch für alle, die
sich mit dem Ungleichgewicht und Missverhältnis in der Mensch-TierBeziehung auseinandersetzen wollen. Die Argumentation des Autors ist
tiefgründig, gut verständlich und schlüssig.
Silke Strittmatter
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Literaturbericht
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1.2 Arianna Ferrari & Klaus Petrus (Hrsg.):
Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen
482 S., Bielefeld: transcript Verlag, 2015,
29,99 EUR
Menschen und andere Tiere leben in einer Vielzahl
von Beziehungen miteinander. Manche Tiere sind
unsere häuslichen Mitbewohner*innen, andere tragen wir teilweise am Körper, viele verspeisen wir,
und manche stellen wir in Zoos aus, beobachten wir
in der Wildnis oder verwenden wir in Tierexperimenten. Denn diese verschiedenen Beziehungen nehmen in unserer Gesellschaft ganz unterschiedliche Stellungen ein. So genießen beispielsweise sogenannte Haus-tiere in unserer Gesellschaft einen völlig anderen
Status als sogenannte Wildtiere, was sich in unserem beinahe gegensätzlichen Umgang mit diesen Tieren widerspiegelt. Während wir die Familienhündin hegen und pflegen und unter Umständen als Individuum mit
einer eigenen Persönlichkeit betrachten, versuchen wir, Ratten und andere sogenannte Schädlinge kompromisslos zu bekämpfen. Noch sichtbarer
wird die Komplexität der Mensch-Tier-Beziehungen, wenn ein und dieselbe Tierart je nach zugewiesener gesellschaftlicher Rolle mal so und
mal anders behandelt wird. Es wäre aufgrund dieser Komplexität und
Vielfalt der Interaktionen zwischen Menschen und anderen Tieren erstaunlich, wenn wir diese einheitlich verstehen könnten.
Dennoch wirkt es in den Human-Animal Studies bisweilen so, als gebe es nur die Mensch-Tier-Beziehung – wobei diese vielleicht verschiedene Aspekte habe, aber dennoch im Großen und Ganzen einen einheitlichen Ansatz bilde. In Anbetracht dessen ist es dann auch wenig erstaunlich, wenn beispielsweise in der Tierethik unsere moralische Beziehung
zu Tieren beinahe monolithisch behandelt wird. Dabei geht oft vergessen,
welch großer Facettenreichtum sich hinter den bereits skizzierten kontextabhängigen Interaktionen zwischen Menschen und anderen Tieren
verbirgt. Diesem Defizit will nun das Lexikon der Mensch-TierBeziehungen entgegentreten und damit aufzeigen, wie vielfältig andere
Tiere mit uns Menschen in Beziehung treten.
In 142 Einträgen werden dabei verschiedene Dimensionen unserer
Beziehungen zu Tieren von 90 Autor*innen aus 20 Fachgebieten be-
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leuchtet.1 Bei den einzelnen Beiträgen handelt es sich jeweils um mehrseitige Übersichtsartikel, die ein bestimmtes Stichwort aus einer bestimmten (methodologischen) Perspektive behandeln. Zu den Autor*innen gehören viele bekannte Personen aus dem Bereich der HumanAnimal Studies, wie z.B. Gary Francione, Markus Wild, Martin Balluch,
Andre Gamerschlag, Friederike Schmitz oder Dieter Birnbacher. Auch
die Herausgeber*innen Arianna Ferrari und Klaus Petrus haben zahlreiche Artikel zum Lexikon beigesteuert. Die inhaltliche Bandbreite reicht
dabei von klassischen Themen der Tierphilosophie und Tierethik wie
Bewusstsein, Fleisch, Moralischer Status, Menschlicher Grenzfall oder
Tierversuch zu bislang vergleichsweise wenig beleuchteten und weniger
prominenten Themen wie Animal Hoarding, Film, Krieg, Ökosozialismus, Repression, Verwundbarkeit oder Zoomusikologie. Mit dieser breiten Ausrichtung will das Lexikon die komplexe Vielfalt der Mensch-TierBeziehungen offenlegen und diskutieren.
Das Lexikon richtet sich damit an jene Leser*innen, die sich „für unsere vielfältigen Beziehungen zu anderen Tieren interessieren und dafür,
welche Rolle sie in der menschlichen Gesellschaft spielen“ (9). Das sind
insbesondere Menschen, die sich im Bereich der Human-Animal Studies
bewegen, sei dies vor dem Hintergrund der Naturwissenschaften, der
angewandten Ethik, der Rechtswissenschaften, des politischen Aktivismus, der Soziologie oder der Philosophie.
Ferrari und Petrus verfolgen mit dem Lexikon mindestens zwei Ziele:
Einerseits sollen nicht-menschliche Tiere darin als Individuen und nicht
als Objekte in den Fokus treten. Während es z.B. in der Debatte um Tierversuche oftmals um die Frage geht, ob gewisse Tiere für menschliche
Zwecke „verwendet“ werden dürfen, wollen Ferrari und Petrus Tiere aus
der gesellschaftlichen Rolle als Objekte, die wir zu unserem Vorteil benutzen, und den damit assoziierten Verwendungszwecken befreien und
sie als eigenständige Wesen respektieren. Diese Ausrichtung zeigt sich
beispielsweise im Artikel über Posthumanismus von Arianna Ferrari.
Entsprechend verläuft die Stoßrichtung des Lexikons in gleichen Bahnen
wie die der Critical Animal Studies. Auch diese wollen die Beziehungen
zwischen Menschen und anderen Tieren nicht bloß deskriptiv begreifen,
sondern kritisch hinterfragen und aktiv umgestalten.
1
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich für das Lexikon den Beitrag „Freiheit“ von Robert Garner aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt habe. Ansonsten
habe ich nicht an der Entstehung des Lexikons mitgewirkt.
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Andererseits soll mit dem Lexikon auch eine inhaltliche wie methodologische Lücke in den deutschsprachigen Human-Animal Studies gefüllt
werden. So gibt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein ähnlich umfangreiches und vielseitiges Nachschlagewerk zu Mensch-Tier-Beziehungen.
Die zahlreichen und umfangreichen Artikel gewähren einen breiten Einblick in ein vielschichtiges Thema. Nur schon deshalb ist das Lexikon
eine willkommene Bereicherung der Literatur zu Human-Animal Studies.
Die Beiträge sind inhaltlich entsprechend pluralistisch und behandeln
die diversen Themenbereiche aus unterschiedlichen Blickwinkeln und
anhand von vielfältigen theoretischen Ansätzen. Einige diskutieren
Mensch-Tier-Beziehungen aus der Perspektive der diversen Weltreligionen. Andere widmen sich einer konkreten Praktik, wie z.B. der Jagd, der
Domestikation oder dem (politischen) Veganismus. Ein Großteil der Artikel behandelt auch verschiedene technologische und naturwissenschaftliche Aspekte im Umgang mit Tieren. So erläutert beispielsweise Arianna
Ferrari in ihrem Beitrag zur Technik, wie Tiere in der Technikdebatte oft
vergessen gehen, obschon es diverse Interaktionen zwischen Tieren und
Technologie gibt, was sich auch in anderen Beiträgen des Lexikons deutlich abzeichnet. Auch die Zusammenhänge zwischen Tierausbeutung und
Nachhaltigkeit werden an verschiedenen Stellen diskutiert. Wie für ein
Lexikon üblich, kommen auch Grundbegriffe der Human-Animal Studies
nicht zu kurz. Besonders hervorzuheben sind hierbei Artikel, die sich
Begriffen zuwenden, die innerhalb der Human-Animal Studies bisher
weniger diskutiert wurden, beispielsweise die Beiträge zu Arbeit, Film,
Krieg, Queer oder Phänomenologie.
Die inhaltliche Ausrichtung der Beiträge unterscheidet sich je nach
Autor*in und lässt sich eher grob mindestens einer von drei Kategorien
zuordnen: Einige Artikel versuchen, die Thematik durch eine möglichst
differenzierte und gleichmäßige Darstellung der verschiedenen Sichtweisen zu erhellen. Markus Wild diskutiert beispielsweise unter dem Stichwort „Geist der Tiere“ sowohl Argumente für als auch gegen die Zuschreibung von Denkfähigkeit, (Selbst-)Bewusstsein und anderen mentalen Eigenschaften an Tiere. Ein anderes Beispiel dieser ersten Kategorie
liefert Helena Pedersen, die sich im Artikel zur Pädagogik mit verschiedenen Arten der Pädagogik in Bezug auf Tiere befasst.
Eine zweite Art nähert sich dem Thema auf eher historische und
wertneutrale Weise. So beschreibt Arianna Ferrari im Beitrag über GenePharming die historische Entwicklung einer bestimmten technologischen
Praktik, in welcher Tiere besonders präsent sind. Ähnlich diskutiert Klaus
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Petrus in einem Artikel verschiedene historische Nahrungstabus und deren Erklärungsmodelle.
Schließlich gibt es drittens mehrere Artikel, die sich argumentativ und
pointiert mit dem entsprechenden Thema auseinandersetzen. So argumentiert Marcel Sebastian im Artikel über den Holocaustvergleich, dass dieser Vergleich zwar nicht per se antisemitisch sei, jedoch gleichzeitig das
Leiden von Holocaustopfern für fremde (politische) Zwecke instrumentalisiere und damit ihre Würde verletze. Ähnlich akzentuiert argumentiert
Gary Francione im Artikel über Abolitionismus gegen utilitaristisch geprägte Strategien innerhalb der Tierschutz- und Teilen der Tierrechtsbewegung.
Dadurch ergibt das Lexikon ein sehr abwechslungs- und facettenreiches Gesamtbild, in welchem einerseits sehr viele Themen überhaupt zur
Sprache und andererseits eine große Breite an methodologischen Ansätzen zur Geltung kommen. Dies bedeutet natürlich auch, dass nicht alle
Artikel durch gleiche Qualität und Ausgewogenheit bestechen. Dies ist
jedoch hinsichtlich der thematischen Breite weder erstaunlich noch in
allen Fällen unerfreulich. Die Lektüre wird dadurch außerdem zu einem
äußerst willkommenen Abenteuer, sich auf bisher unbekannte oder außer
Acht gelassene Aspekte der Mensch-Tier-Beziehungen einzulassen und
dabei mit alternativen methodologischen Ansätzen konfrontiert zu werden.
Das Lexikon erfüllt also einerseits den anvisierten Zweck der übersichtlichen Einführung in die diversen Themenbereiche innerhalb der
Human-Animal Studies und dient andererseits auch als Inspiration zu
weiterführender und vertiefender Lektüre anhand nützlicher Literaturverweise. Aus diesem Grund ist das Buch nicht bloß für jene Menschen
zu empfehlen, die sich noch relativ wenig mit den vielseitigen MenschTier-Beziehungen befasst haben. Auch für viele Expert*innen in einem
der vielen Felder der Human-Animal Studies lohnt sich das Lexikon als
Möglichkeit, über den methodologischen und inhaltlichen Tellerrand
hinaus zu blicken.
Florian Leonhard Wüstholz
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Literaturbericht
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2. Tiere und Gesellschaft
2.1 Roland Borgards (Hrsg.):
Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch
331 S., Stuttgart: J.B. Metzler Verlag GmbH, 2016,
89,95 EUR
Cultural Animal Studies sind für den Herausgeber
des Handbuchs eine wissenschaftliche Methode.
Diese schauen „nicht nur mit einem kulturtheoretischen Blick auf die Tiere, sondern auch mit einem
tiertheoretischen Blick auf die Kultur“ (VII). In der
abendländischen Tradition sind nichtmenschliche Tiere auf ambivalente
Weise gleichzeitig sichtbar und doch unsichtbar, und erst in den letzten
beiden Jahrzehnten haben die Humanities (die Kultur- und Geisteswissenschaften) damit begonnen, die vielfach vertretenen, aber im wissenschaftlich Verborgenen bleibenden nichtmenschlichen Tiere explizit
sichtbar zu machen. Das Handbuch möchte einen Überblick geben über
und eine Einführung in diesen neuen Forschungsbereich der Cultural
Animal Studies. Dafür versammelt es zahlreiche Beiträge, die sich neben
einer allgemeinen Einleitung untergliedern lassen in die Bereiche Zugriffe, Philosophie, Institutionen & Praktiken, Künste und Denkformen.
In der Einleitung macht Roland Borgards deutlich, wie Cultural Animal Studies im Rahmen des Handbuchs verstanden werden. Im weiteren
Sinn können die Animal Studies als zusammenfassend für alle Disziplinen
gesehen werden, die sich überhaupt mit nichtmenschlichen Tieren auseinandersetzen. In einem enger gefassten Sinn wird in den Human-Animal
Studies davon ausgegangen, dass nicht das nichtmenschliche Tier selbst,
sondern stets sein Verhältnis zum Menschen untersucht werden kann.
Dabei wird ein epistemologischer Anthropozentrismus anerkannt, sprich
der Umstand, dass die Erforschung nichtmenschlicher Tiere immer aus
menschlicher Perspektive vonstattengeht, da die Forscher_innen Menschen sind. Dieser epistemologische Anthropozentrismus wird im Rahmen einer Gesellschaftskritik von den Critical Animal Studies kritisiert.
Die Cultural Animal Studies sind innerhalb des weiten Forschungsfeldes
Tierstudien mit einer eigenen Schwerpunktsetzung, in deren Zentrum
Philosophie, Geschichte und die Künste stehen (4). Auch ist es nach Borgards zentral für die Cultural Animal Studies, dass die thematische Hinwendung zu nichtmenschlichen Tieren mit einer Neufassung der theoretischen, methodischen und begrifflichen Prämissen der jeweiligen DiszipLiteraturbericht
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lin einhergeht. Dies bezeichnet Borgards als doppelten Spielzug der Cultural Animal Studies: die Erweiterung des Gegenstandsbereichs einerseits
und die Revision facheigener Begriffe und Methoden andererseits.
Zugriffe auf das Themenfeld der Kulturellen Tierstudien werden im
Handbuch aus geschichtlicher, umweltbezogener, medialer, auf Methaphern bezogener und gesellschaftlicher Perspektive beschrieben. Aus
letzterer schildert Marcel Sebastian, welche große Rolle nichtmenschliche Tiere in unserer Gesellschaft spielen und dass sie dennoch in der
(deutschsprachigen) Soziologie lange Zeit ignoriert wurden. Erst seit ca.
2005 setzt sich die Soziologie intensiver mit nichtmenschlichen Tieren
auseinander. Eine Ausnahme stellt die Kritische Theorie der Frankfurter
Schule dar, da sich Horkheimer und Adorno mit dem Mensch-nichtmenschliches-Tier-Verhältnis auseinandersetzten. Als Gründe für diese
„Tiervergessenheit“ in der Soziologie nennt Sebastian wissenschaftskulturelle Vorbehalte dem Thema gegenüber, die dezidiert anthropozentrische Ausrichtung der Disziplin sowie die Verbannung nichtmenschlicher
Tiere als angeblichen Teil der Natur in die Naturwissenschaften (17).
Der Philosophieteil des Handbuchs führt ein in die Thematiken Anthropologische Differenz, Geist der Tiere, Tierethik sowie Tiere in der
Politischen Theorie. Der Tierethik-Beitrag von Herwig Grimm, Samuel
Camenzind und Andreas Aigner beginnt mit einer historischen Einordnung dieses Ethikbereichs und behandelt dann zentrale Praxisfelder und
ihre ethischen Implikationen: Tierversuche, „Nutztier“-Haltung, „Heimtier“-Haltung und Wildtiere. Während bei der ethischen Evaluierung von
Tierversuchen sowohl die Positionen einer Tierschutz- als auch einer
Tierrechtsethik dargestellt werden, ist der ethischen Bewertung sogenannter Nutztierhaltung eine tierschutzethische Position implizit. Die
Verdinglichung und Instrumentalisierung nichtmenschlicher Tiere werden zwar kritisiert, der Fokus liegt jedoch darauf, wie die Haltungsbedingungen nichtmenschlicher Tiere verbessert werden könnten (z.B. durch
die Five Freedoms, ein englisches Konzept für Verbesserungen in der
„Nutztier“-Haltung). Die tierrechts- und tierbefreiungsethische Forderung
nach Beendigung dieser Haltung wird nicht benannt. Im Anschluss an die
Darstellung der Praxisfelder gibt der Beitrag einen äußerst gelungenen
Überblick über die philosophischen Grundlagen der Tierethik. Häufig
vertreten in der Tierethik ist der moralische Individualismus, wonach es
individuelle Fähigkeiten und Eigenschaften sind, die zur moralischen
Berücksichtigung eines Lebewesens führen. Aber auch der moralische
Relationalismus wird in der Tierethik vertreten, wonach nicht Eigenschaften und Fähigkeiten moralisch relevant sein sollten, sondern die
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Literaturbericht
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konkret gelebte, normativ geregelte Praxis. Es folgt ein Überblick über
die Ethiktheorien, die den in der Tierethik vertretenen Positionen zugrunde liegen: Utilitarismus, Deontologie, Kontraktualismus und Tugendethik. Besonders hervorgehoben werden sollte die – den Beitrag abschließende – Einführung in post-anthropozentrische und post-humanistische Ansätze, da diese häufig beim Tierethik-Überblick nur am Rande erwähnt werden oder fehlen. Die postmoderne Position von Jacques
Derrida wird erläutert, der die Kategorien „Tier“ und „Mensch“ dekonstruiert und das identitätslogische Konzept des Menschen als eines erkenn- und bestimmbaren Subjekts kritisiert (93). Positionen wie die Derridas problematisieren den humanistischen Subjektbegriff und die Auffassung von Autonomie und moralischen Agent_innen. Eine klar definierte Sphäre von Rechtssubjekten ist damit nicht möglich. Dagegen gibt
es auch postmoderne Positionen wie die Gary Steiners, die für konkrete
Tierrechte argumentieren und an Derrida kritisieren, dass er keine handlungsorientierenden Prinzipien für eine Besserstellung nichtmenschlicher
Tiere in menschlichen Gesellschaften biete.
Der vierte Teil des Handbuches (Institutionen & Praktiken) gibt einen
Überblick über historische Abläufe verschiedener Tierthematiken. Behandelt wird die Geschichte von Jagd, „Nutz“-Tieren, „Haus“-Tieren,
Zoologie, Tiermedizin, Tierversuchen, Tierschutz und Zoos. Im darauf
folgenden Abschnitt zu Künsten beschreiben die Autor_innen, welche
Rolle nichtmenschliche Tiere in der Musik, Literatur, in Theater, Performance & Tanz, im Film und in der Bildenden Kunst spielen. Ihren Beitrag zur Bildenden Kunst beginnt Jessica Ullrich mit einem Überblick
über die Bedeutung nichtmenschlicher Tiere in verschiedenen Epochen.
Während es in der Antike naturalistische Darstellungen nichtmenschlicher Tiere gab, finden sich in der mittelalterlichen Kunst kaum „echte“
Tiere, sondern sie dienen stets als christliche Symbole. In der Frühen
Neuzeit begegnen einem namhafte Künstler wie Leonardo da Vinci, der
für seine Zeichnungen zur Pferdeanatomie Pferde sezierte, und Albrecht
Dürer, dessen Kunstwerke Feldhase, Tote Blauracke und Panzernashorn
Weltruhm erlangten. Im Barock „füllten Tiere […] als bloßes Fleisch,
d.h. in Form ihres geschlachteten Körpers, die ganze Bildfläche“ (197)
und transportierten dabei eine moralische Kritik an Maßlosigkeit und
Sittenlosigkeit. Im 19. Jahrhundert erhöhte sich durch die Etablierung
vieler Zoos und besserer naturkundlicher Bildung die Nachfrage nach
Tierdarstellungen, und z.B. die Zeichnungen Ernst Haeckels boten einen
wissenschaftlich detaillierten, aber zugleich ästhetischen Blick auf tierliches Leben. Nach 1945 wurde Tiermalerei überwiegend durch Fotografie
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abgelöst, doch finden sich auch in der Pop Art etliche nichtmenschliche
Tiere, wie z.B. bei Andy Warhol. Neben dieser Epochenübersicht bietet
Ullrichs Beitrag einen Überblick, wie nichtmenschliche Tiere selbst in
der Kunst wirk(t)en, wie Kunst einzuordnen ist, die sich konkret für Tierrechte einsetzt, welche Literatur zum Thema existiert und welche Ausstellungen sich wo und in welcher Form mit nichtmenschlichen Tieren
beschäftigen. Zum Kunstschaffen nichtmenschlicher Tiere selbst sind die
Werke Rosemarie Trockels bedeutend, die (schon) 1990 nichtmenschlichen Tieren gewisse Handlungsmacht zusprach, indem sie das NetzWeben einer Spinne mit dem Satz „Jedes Tier ist eine Künstlerin“ versah
und 1993 eine Motte als Künstlerin ansah, die durch ihren Fraß alte
Strukturen zerstört und neue schafft.
Im letzten Abschnitt des Handbuches bieten die Autor_innen eine
Einsicht in die Denkformen Mythologie, Theologie, Ethnologie und Psychologie und darin, wie nichtmenschliche Tiere in diesen repräsentiert
werden. So zeigt Christoph Ammann das Potenzial christlich theologischen Nachdenkens über nichtmenschliche Tiere auf. Er führt in seinem
Beitrag in die Diskussionen über den Status nichtmenschlicher Tiere in
der akademisch systematischen Theologie ein und weist mit guter Begründung die in der Tierethik häufig angebrachte Kritik zurück, wonach
Juden- und Christentum „Schuld“ tragen würden am menschlichen Umgang mit nichtmenschlichen Tieren in westlichen Gesellschaften. Aus
alttestamentlicher Perspektive besteht kein grundsätzlicher Unterschied
zwischen Mensch und nichtmenschlichem Tier, beide existieren als nepesh, dessen Bedeutung Ammann ausführlich darlegt. Und auch eine
Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Gottebenbildlichkeit führt zu
dem Schluss, dass der Mensch einen gewaltfreien, friedvollen Umgang
mit anderen Kreaturen pflegen sollte, der von Liebe geprägt ist. Daraus
lässt sich ein christlicher Vegetarismus ableiten: „Christian vegetarianism
might be understood as a witness to the world that God’s creation is not
meant to be at war with itself.“ (286) Der Beitrag wird mit einer Auseinandersetzung mit Andrew Linzeys Befreiungstheologie für Tiere abgeschlossen. Diese erweitert die Befreiungstheologie über die Speziesgrenze hinaus auf nichtmenschliche Tiere, da auch diese in menschlichen
Gesellschaften auf zahlreiche Art und Weisen unterdrückt werden.
Das Handbuch hält, was es verspricht, und gibt eine gelungene Einführung in und einen gelungenen Überblick über die verschiedenen Forschungsbereiche, die unter dem Begriff Cultural Animal Studies subsummiert werden können. Hierbei ist es sowohl geeignet, Fachfremde
oder „Fach-Neulinge“ in ein bestimmtes Thema einzuführen, als auch
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dafür, für Expert_innen die relevanten Punkte einer Disziplin zusammenzufassen.
Leonie Bossert
2.2 Sven Wirth et al. (Hrsg.):
Das Handeln der Tiere. Tierliche Agency
im Fokus der Human-Animal Studies
269 S., Bielefeld: transcript Verlag, 2016,
26,99 EUR
Den Herausgebern dieses interdisziplinär ausgerichteten Sammelbandes zufolge besteht die Aufgabe
der relativ jungen Disziplin der Human-Animal
Studies (HAS) darin, verschiedene Mensch-TierVerhältnisse in ihrer Breite und Ambivalenz zu
studieren und darzustellen. Die Frage nach „tierlicher Agency“ stelle eine
Forschungslücke dar, und mit diesem Band möchten sie die Diskussion
um tierliche Agency vorantreiben. Sie möchten deutlich machen, wie
komplex die Debatte und wie problematisch eine Übertragung bisheriger,
auf den Menschen ausgerichteter Agency-Konzepte auf Tiere sei.
Fest stehe, dass die Trennung zwischen Mensch und Tier kaum noch
haltbar sei, und auch, dass „Tiere“ nicht als eine homogene Gruppe aufzufassen seien. So zeigten einige Tiere in Tests immer wieder Fähigkeiten, die man ihnen auch innerhalb der meisten Konzepte von Agency
abgesprochen hatte. Tatsächlich sei keines der hier einleitend vorgestellten Konzepte auf Tiere übertragbar, da sie allein auf den Menschen und
menschliches Handeln ausgelegt seien. Eine interdisziplinäre Analyse
und Kritik dieser könne aber helfen, um herauszufinden, welche Kriterien
tierliche Agency erfüllen müsse, und genau zu dieser Annäherung sollen
die im Folgenden zusammengetragenen Texte beitragen.
Im ersten Beitrag des theoretischen Teils des Sammelbandes widmet
sich Mieke Roscher aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive zunächst der Genese und Kritik verschiedener Agency-Begriffe. Im Fokus
steht die Frage, ob Tieren analog zum Menschen „Handlungsmacht“ zukomme, und wenn ja, in welcher Weise Tiere auf soziale und historische
Prozesse einwirken können.
Die Autorin diagnostiziert ein Spannungsverhältnis zwischen Handlungsmacht und sogenannter „Wirkungsmacht“, welches weitere Fragen
aufwirft, beispielsweise ob tierliche Wirkungsmacht menschliches HanLiteraturbericht
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deln bedingt und daher nur als „indirekte Handlungsmacht“ definiert
werden kann. Sehr anschaulich führt sie durch diverse Begriffsverwirrungen und semantische Probleme, welche die Diskussion erschweren, durch
die aber deutlich wird, was für eine Definition tierlicher Agency von
Bedeutung ist.
Im zweiten philosophisch ausgerichteten Text geht es um den Begriff
der Verwundbarkeit und dessen problematisches Verhältnis zu bisherigen
Agency-Konzepten. Dominik Ohrem plädiert hier für eine Annäherung an
den Agency-Begriff durch Verwundbarkeit und möchte somit nicht nur
mit der weit verbreiteten dichotomen Vorstellung von „Handlungsmacht
vs. Verwundbarkeit“ aufräumen, sondern auch tradierte Konzeptionen
von Verwundbarkeit als reine Passivität und Negativität verwerfen. Er
will zeigen, dass sie sich bedingen und dass Verwundbarkeit letztlich als
Grundlage menschlichen und tierlichen Handelns zu verstehen ist.
Im dritten philosophischen Beitrag betont Leonie Bossert, dass man,
wenn man sich mit tierlicher Agency auseinandersetzt, nicht daran vorbei
komme, sich auch mit der Frage nach der Befähigung zu moralischem
Handeln bei Tieren auseinanderzusetzen. In der westlichen, von Kant
geprägten Tradition werde Moralbefähigung immer mit kognitiven Fähigkeiten verbunden und zwischen sogenannten „moral agents“ und „moral patients“ unterschieden; erstere haben kognitive Fähigkeiten, letztere
eher nicht. Die Autorin legt dar, wie problematisch diese Differenzierung
schon bei Menschen sei, und fordert auf, deutlicher zwischen Handlungsfähigkeit und moralischer Handlungsfähigkeit zu unterscheiden.
Letztlich weist sie auf die Wichtigkeit von Empathie in der Debatte
hin und fragt, warum eine rational motivierte Handlung besser sei als eine
empathisch motivierte Handlung. Empathische Handlungen seien wertvolle Handlungen, zu denen Tiere durchaus fähig seien, unabhängig davon, ob man ihnen Moralbefähigung zuspreche oder nicht.
Aus sozialtheoretische Perspektive befasst sich Sven Wirth mit der
Diskussion um Donna Haraways These, nach der einige Tiere, beispielsweise Laborratten, als sogenannte „workers in labs“, d.h. als handelnde
und mit Freiheitsgraden ausgestattete Entitäten, zu verstehen seien. Haraways Ziel sei es, damit nicht nur an dem bestehenden Subjekt-ObjektDualismus zwischen Mensch und Tier zu rütteln, sondern auch gewisse
Tierrechtspositionen zu kritisieren. So würden Tiere auch in der Tierrechtsbewegung oftmals bloß aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit Menschen
inkludiert und somit letztlich auch auf diese zurechtgestutzt. Sehr erhellend setzt sich der Autor mit Haraways Kritikern auseinander und fragt,
was sich aus diesem Streit lernen lasse und welchen Beitrag die HAS
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leisten können, um eine herrschaftssensible und den Subjekt-ObjektDualismus reflektierende Theorie tierlicher Agency zu entwickeln.
In dem ersten Beitrag des praktischen Teils befasst sich Katharina
Dornenzweig sehr anschaulich mit Versuchen, Tieren menschliche Sprache beizubringen, und mit den dahinter liegenden Konzeptionen tierlicher
Agency.
Während man beim sogenannten „alten Anthropozentrismus“ von einer untrennbaren Kluft zwischen Mensch und Tier ausging, ein sprechendes Tier undenkbar war und es folglich nicht zu einer „Aufnahme des
Gesprächs“ mit ihm kam, brachte eine Welle von Tiersprachexperimenten in den 70er-Jahren die Wende hin zu einem „neuen Anthropozentrismus“. Auch hier wurde die Welt noch immer vom Menschen aus gesehen, doch immerhin sah man nur noch graduelle Unterschiede zwischen
Mensch und Tier. Nichtsdestotrotz wurden diese Unterschiede – insbesondere zwischen Menschen und Menschenaffen – normativ aufgeladen,
was sich besonders bei Sprachexperimenten und der Diskussion um ihre
Bedeutung zeigte. So wurden der Autorin zufolge viele Versuche für
gescheitert erklärt, was aber letztlich bloß auf den falsch gewählten anthropozentristischen Maßstab zurückzuführen sei. Aktuell sei der Stand der,
dass nicht-menschliche Tiere menschliche Sprache besser beherrschen als
Menschen nicht-menschliche Sprachsysteme und dass Tiere in verschiedenen Versuchsreihen deutliche Formen des Widerstandes zeigten. So
erweiterten sie ihren Handlungsspielraum, indem sie durch die erlernte
Sprache den Versuchsaufbau torpedierten oder den experimentellen
Raum nutzten, um sich auszudrücken und ihre Umgebung zu verändern.
Deutlich werde jedenfalls, dass man diesen Tieren hier als agierenden
Subjekten begegne und sie somit das Verhältnis zwischen menschlichen
Experimentierenden und tierlichen Probanden veränderten. Jeder Versuch, sich einen Begriff der Agency nicht-menschlicher Tiere zu machen,
könne zu schnell diffus erscheinen. Daher sei ein flexiblerer Begriff –
oder gar eine Vielzahl von Begriffen – nötig, um der Agency verschiedener Spezies gerecht werden zu können. Wie dieser aussehen könne, sei
unklar; klar sei jedenfalls, dass über die Handlung von Tieren gesprochen
werden müsse.
In den folgenden zwei Beiträgen widmen sich die Autoren im Speziellen Hunden. Martin Balluch beschäftigt sich mit der Frage nach Autonomie und der Bedeutung von Freiheit bei Hunden. Während beim Menschen allein durch das Festketten Grundrechte verletzt würden, unabhängig davon, ob er sich bewegen wolle oder nicht, stelle sich beim Hund die
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
Frage, ob er bereits am Angekettet-Sein leide, d.h. an seiner eingeschränkten Freiheit, oder nur dann, wenn er an ihr Ende gelange.
Der Autor spricht sich für Grundrechte für Hunde aus, mit der Begründung, dass auch sie – ganz im Sinne Kants, aber entgegen dessen
Grundannahme – zu vernünftigem Handeln fähig seien, sich selbst Zwecke setzen und ihre Affekte kontrollieren können. Denker wie Descartes
und Kant irrten schlichtweg darin, dass es Rationalität, Bewusstsein und
entsprechend Autonomie nur „ganz oder gar nicht“ gebe; weder bei Menschen noch bei Tieren treffe dies zu. Sehr anschaulich stellt Balluch dar,
wie u.a. biologische Erkenntnisse, die Verhaltensforschung und die Neurobiologie diese These bestätigen und somit Kants Grundannahme verändern, nach der nur Menschen zu diesen Leistungen fähig seien. Die aus
diesen Erkenntnissen resultierende Position verleihe Tieren Singularität
und Einzigartigkeit, und habe die Konsequenz, dass man auch ihnen –
ähnlich wie bei Will Kymlicka – Bürgerrechte und Autonomie, d.h. die
Freiheit, seine Handlungsziele in einer Multi-Spezies-Gesellschaft frei
auswählen zu dürfen, zuschreiben müsse.
Während Agency hier also als Fähigkeit zu intentionalem, zielgerichtetem Handeln verstanden wird, kommt bei Natalie Geese neben der Fähigkeit, die Welt zu transformieren, noch ein Faktor hinzu: Agency könne nur
in „interaktiver Kooperation“ verwirklicht werden, was sich besonders
deutlich am Beispiel von blinden Menschen und ihren Führhunden zeige.
In dem abschließenden Beitrag „Jedes Tier ist eine Künstlerin“ geht
Jessica Ullrich der Frage nach, ob und inwiefern man von tierlicher Autorschaft oder Co-Autorschaft in der Kunst sprechen könne, und will
letztlich zeigen, dass auch Kunst nicht mehr als klares Distinktionsmerkmal zwischen Menschen und anderen Tieren gelten könne. „Agency“
werde hier verstanden als „unauflösbare Kombination aus Handlungsund Wirkungsmacht“; Tiere drücken ihre Agency der Autorin zufolge
nicht nur, wie in einigen der von ihr diskutierten Beispiele, durch das
Hinterlassen von Körperspuren oder Destruktion aus, sondern auch durch
aktives Gestalten ihrer Umwelt. Man betrachte beispielsweise die Erbauung kunstvoller Schlafnester gewisser Vogelarten oder die immer populärer gewordene Elefantenmalerei. Aufgrund der Tatsache, dass es schon
immer veränderlich war, was als „Kunst“ oder „Kunstwerk“ und wer als
„Künstler“ zu gelten habe, gibt es der Autorin zufolge keinen Grund,
diese Deutungshoheit nicht zu nutzen und nicht auch von „Tierkunst“ zu
sprechen. Dies werde zwar ein gewisses Umdenken über Kunst und
Künstlertum erfordern, es sei aber auch als Chance zu verstehen. Denn
von Tierkunst zu sprechen, bedeute, Tiere nicht mehr nur noch als „welt| 140 | TIERethik, 8. Jg. 12(2016/1)
Literaturbericht
Literaturbericht |
arme Wesen“, sondern als „kreative Individuen mit Gestaltungswillen“
aufzufassen. Dies wiederum biete die Chance, dass die Akzeptanz tierlicher Agency auch in anderen Bereichen erkannt und vorangetrieben werde. Insofern sei dies ein politisches Instrument, das eingesetzt werden
könne, nicht nur um die Vorstellung eines „hierarchisch gedachten
menschlichen Exzeptionalismus“ weiter zu unterminieren, sondern auch
um diverse Handlungsformen und Mensch-Tier-Verhältnisse ethisch zu
bewerten, was, wie zu Beginn dieses Bandes betont, ein wichtiger Bestandteil der HAS ist.
Obwohl hier, wie angekündigt, keine einheitliche Antwort auf die
Frage nach tierlicher Agency geliefert wird, stößt dieser Sammelband
eine interessante Debatte an. Durch den gemeinsamen Fokus auf die Frage nach tierlicher Agency werden die verschiedenen Beiträge – trotz verschiedener Ansätze, Disziplinen, Stile und Blickwinkel – zusammengeführt. Insbesondere der letzte Beitrag, der durch seinen Titel zunächst
künstlerisch-esoterisch anmutet, verdeutlicht die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit tierlicher Agency, die letztlich als Instrument genutzt
werden kann, um Tiere in vielen Bereichen ihrer Interaktion mit Menschen von ihrem bloßen Objektstatus zu befreien.
Alina Omerbasic
2.3 Reingard Spannring et al. (Hrsg.):
Tiere – Texte – Transformationen. Kritische
Perspektiven der Human-Animal Studies
390 S., Bielefeld: transcript Verlag, 2015,
29,99 EUR
Die zweisprachige (engl./dt.) Anthologie Tiere –
Texte – Transformationen versammelt 21 Beiträge
aus überwiegend geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu einem breiten Spektrum an Fragen zur Beziehung zwischen Menschen und nichtmenschlichen
Tieren. Die Herausgeber wollen den Titel des Bandes dabei als – offenbar
nicht allzu starres – ordnendes Prinzip verstanden wissen (10): Einem
Abschnitt („Tiere“), der historische und gegenwärtige Beziehungen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Tiere dokumentiert und analysiert, folgt ein literatur- bzw. sprachwissenschaftlich und philosophisch
geprägter Teil („Texte“), woraufhin abschließend Argumente für Veränderungen („Transformationen“) in Interspeziesbeziehungen und Reflexionen zu sich bereits vollziehendem Wandel Raum bekommen.
Literaturbericht
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
Der historische Teil reicht von einer Betrachtung der Rolle und Außenwahrnehmung von Pferden in der mongolischen Nomadenkultur des 13.
Jahrhunderts (Gießauf) über einen „historischen Abriss zum Wildtierhandel“ (Penz) bis zur Untersuchung des Motivs Artgrenzen überschreitender quasi-mütterlicher Fürsorge („Interspecies Mothering“) in der zeitgenössischen Kunst (J. Ullrich). Daneben finden sich Beiträge über tiermedizinische Maßnahmen für Nutztiere im antiken Mesopotamien (Isola),
die Haltung Marx Fuggers gegenüber Pferden, insofern sie aus seinem
Text über Pferdezucht ersichtlich wird (Cuneo), eine Studie über die
Verwendung (stereotyper) Tier-Symbolik in propagandistischen Karikaturen, die in den sechziger bis frühen achtziger Jahren in der Zeitung
Prawda erschienen (Kangas), und schließlich ein sehr knapper Text zu
musikalischen Kompositionen für nicht-menschliche Zuhörer (M. Ullrich).
Der dem Titelbegriff „Texte“ zugeordnete Abschnitt wird von Überlegungen zur Eignung der anthropologischen Grundannahmen Heideggers als theoretischem Ausgangspunkt für Arbeiten im Bereich der Human-Animal Studies eröffnet (Beinsteiner). Es folgen eine vergleichende
Arbeit über die pejorative Verwendung von Tier-Bezeichnungen für
Menschen in der deutschen, französischen und italienischen Sprache
(Mussner) und zwei Beiträge (Fill, Trampe), die jeweils einen Überblick
über ökolinguistische Themen geben. Dazu gehören etwa sprachlicher
Anthropozentrismus, die sprachliche Verschleierung negativer Seiten
verschiedener Tiernutzungen, aber auch das im Bereich der HumanAnimal Studies immer wieder begegnende Motiv einer sogenannten
„anthropomorphisierenden“ Repräsentation von Tieren, die einmal als
Problem (Trampe, 202), einmal als Lösungsansatz (Fill, 188) erscheint.
Dem sprachkritischen Teil folgen Beiträge zur Repräsentation der Titelfigur aus dem Roman „Die Möwe Jonathan“ als Akteur (Virdis), zur literarischen Gestaltung von Begegnungen zwischen Menschen und Vögeln in
ausgewählten Texten zweier zeitgenössischer Autoren (de Felip) sowie
schließlich eine von Autoren wie Judith Butler und Jacques Derrida beeinflusste Kritik eines vermeintlichen „extremen Materialismus“ (245) in
den Human-Animal Studies, der die Rolle der Sprache in der Auseinandersetzung mit tierlicher Körperlichkeit („embodiment“; 247) vernachlässige (Piskorski).
Die Zusammenfassung der Ergebnisse von Interviews mit britischen
Landwirten, deren Tiere Opfer der Maul- und Klauenseuche 2001 – bzw.
der damit einhergehenden Vernichtungsmaßnahmen – wurden, rechnen
die Herausgeber bereits dem Abschnitt „Transformationen“ zu, wobei die
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Literaturbericht
Literaturbericht |
Autoren (Döring, Nerlich) auch ihre Arbeit im Bereich ökolinguistischer
Ansätze verorten (265). Auch die Auseinandersetzung mit rhetorischen
Mitteln des „Corporate Greenwashing“ (343) (Alexander), also Bemühungen um ein umweltfreundliches Image tatsächlich ökologisch unverantwortlich handelnder Konzerne, hätte sicher ebenso gut in die Reihe der
textkritischen Beiträge gepasst. Der dritte Abschnitt versammelt weiterhin ein Plädoyer für die Anerkennung tierlichen Widerstands gegen Menschen als politische Kommunikation (Cohen), eine Kritik ontologischer
Annahmen der Human-Animal Studies (Straubinger), eine kurze Betrachtung der Rolle biologischer Erkenntnisse für das menschliche Selbstverständnis und die Beziehung zu nichtmenschlichen Tieren (Birkl) sowie
einen Text über die ethischen Grundlagen des Veganismus (Steiner).
Der Band bündelt laut Untertitel „Kritische Perspektiven der HumanAnimal Studies“, und als verbindendes kritisches Element geben die Herausgeber die Prüfung von verallgemeinernden Vorstellungen, die das
Mensch-Tier-Verhältnis prägen, aus (10). Eine dieser Kritiklinie verpflichtete, wiederkehrende, aber in ganz unterschiedlichen Bereichen
konkretisierte Frage ist die nach der Wahrnehmung von domestizierten
Tieren durch ihre menschlichen Nutzer. Tatsächlich ergibt sich darauf
eine gewisse Bandbreite an Antworten: So zeigt sich etwa Helena Isola in
ihrem Beitrag über die (medizinische) Versorgung domestizierter Tiere in
Mesopotamien bei der Auswertung der verfügbaren schriftlichen Quellen
über tiermedizinische Kenntnisse und Praktiken zurückhaltend, wenn es
darum geht, Rückschlüsse auf genuine Besorgnis um das Wohlergehen
von nichtmenschlichen Tieren zu ziehen (46, 48). Martin Döring und
Brigitte Nerlich weisen in ihrer Studie hingegen auf die unterschiedlichen
Dimensionen persönlicher Betroffenheit britischer Landwirte hin, deren
Tiere im Zuge der Eindämmung der Maul- und Klauenseuche getötet
wurden. Diese Betroffenheit sei dabei u.a. in der identitätsstiftenden Rolle der Tiere oder ihrer Wahrnehmung als Familienmitglieder begründet
(267), wobei die Autoren im Blick behalten, dass ökonomische Interessen
die Sicht auf die Tiere dennoch stark prägen (272). Bei der theoretischen
Einordnung eines ähnlichen persönlichen Interesses an für menschliche
Zwecke genutzten Tieren geht Pia Cuneo demgegenüber noch einen
Schritt weiter. Ihre Auseinandersetzung mit Marx Fuggers PferdezuchtHandbuch läuft darauf hinaus, dem Mitglied der Augsburger Kaufmannsfamilie eine in Ansätzen „posthumanistische“ Haltung zuzuschreiben, da
der Text nicht nur von der Liebe zu Pferden zeuge, sondern Fugger sich
zum einen bewusst von Inhalten seiner humanistischen Bildung distanziere, während er in der Praxis erworbene Kenntnisse aufwerte (77), und
Literaturbericht
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
zum anderen Aufmerksamkeit für Gemeinsamkeiten zwischen Menschen
und nichtmenschlichen Tieren beweise (82). Inwiefern aber die Betonung
des Werts praktischer Erfahrung im Kontext einer Praxis wie der Tierzucht Rückschlüsse auf eine Überwindung humanistischer Ideale zulässt,
bleibt dabei klärungsbedürftig und ist nicht zuletzt abhängig von einer
genaueren Explikation des Begriffs Posthumanismus.
Etliche Beiträge zeigen sich implizit oder explizit dem für den Forschungsbereich der Human-Animal Studies einschlägigen Anliegen verpflichtet, nichtmenschliche Tiere als Akteure in Erscheinung treten zu
lassen. So wenig eine skeptische Grundhaltung gegenüber diesem Anliegen gerechtfertigt ist, so nahe liegt andererseits offenbar die Gefahr, in
Einzelfällen die Daten einseitig zu interpretieren, und zwar mindestens
ebenso sehr, was die menschliche Wahrnehmung tierlicher Akteure angeht wie die Reichweite tierlicher Handlungen selbst. Das zeigt sich beispielsweise in Eleonore de Felips Interpretation von Friederike Mayröckers Gedicht „Die Amsel“. Das lyrische Ich dieses Textes, das scheinbar
zunächst an einen unerreichbaren (verstorbenen menschlichen) Gesprächspartner denkt, hört anstelle einer menschlichen Antwort „nur den
Gesang eines Vogels“ und konzentriert sich im Folgenden auf die Vogelstimme (229). De Felip sieht das Gedicht als einen Text, in dem sich
menschliches und nichtmenschliches Tier „auf Augenhöhe“ begegnen
und die Artgrenze „unterlaufen“ wird (230f.). Sie präsentiert ihn als ein
Beispiel für eine „,nicht-invasive‘ Begegnung“, während der das Tier
nicht vereinnahmt wird (228). Wie in den anderen von ihr behandelten
Texten komme es schließlich zu einer Selbsterkenntnis durch die Erkenntnis des Anderen sowohl seitens der menschlichen als auch der
nichtmenschlichen Figur (242). Diese Interpretation scheint Anzeichen
für tatsächlich erkennbare Vereinnahmungen („der Vogel singt sein Lied
nur für mich zärtlich und süsz“, Mayröcker, 229) ignorieren zu müssen
und gleichzeitig die Wahrnehmung des nichtmenschlichen Tieres letztlich
doch in den Dienst der menschlichen Selbsterkenntnis zu rücken. Eine
andere Gefahr der Interpretation tierlicher Handlungen zeichnet sich in
Aylon Cohens politiktheoretischem Beitrag über tierlichen Widerstand
ab. Ausgehend von radikaldemokratischen Ansätzen und Überlegungen
Latours interpretiert er drei Beispiele von Angriffen auf menschliche
Unterdrücker bzw. Ausbrüche von Tieren als Akte der Opposition gegen
„den Ausschluss aus der politischen Gemeinschaft“ (286). So sehr Widerstand von Tieren als Ausdruck eines bedeutsamen Willens ernstgenommen zu werden verdient, so wenig hilft es jedoch dieser Perspektive,
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Literaturbericht
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wenn im Folgenden eine cartesische Sicht auf Tiere als gefühllose Maschinen als die Gegenposition diskutiert wird (286).
Den Abschluss des Bandes bildet die kritische Auseinandersetzung
von Eberhart Theuer mit dem konzeptuellen Rahmen der Human-Animal
Studies. Theuer weist auf die begrifflichen Schwierigkeiten hin, die in der
Gegenüberstellung von „Human“ und „Animal“ als programmatischem
Benennungsversuch für das Forschungsfeld liegen, und fragt nach Kriterien, die dieses Feld für die Zuordnung einzelner, insbesondere rechtswissenschaftlicher Arbeiten zur Verfügung stellt. Die Aufmerksamkeit für
begrifflichen und forschungsstrategischen Klärungsbedarf innerhalb des
multidisziplinären Felds der Human-Animal Studies macht Theuers Text
zu einem der lesenswertesten Beiträge in diesem Band, mit dem die Herausgeber „dazu anregen [wollen], gedanklich oder handelnd mit posthumanistischen Transformationen zu experimentieren“ (Klappentext). Diese
Zielsetzung ist relativ weit gefasst und – so könnte der bereits für die
Herausforderungen der Human-Animal Studies sensibilisierte Leser meinen – vielleicht übermäßig bescheiden, insofern sie weder Autoren noch
Lesern allzu konkrete Ergebnisse abverlangt. Dass einzelne Beiträge eher
den Charakter allgemeiner Bemerkungen zu ihrem Thema haben, mag in
Kombination mit der multidisziplinären Ausrichtung und der Vielzahl an
berücksichtigten Arbeiten womöglich von dieser Zurückhaltung bei der
thematischen Eingrenzung und Formulierung von Erkenntniszielen begünstigt sein.
Frauke Albersmeier
Literaturbericht
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
2.4 Cornelia Ortlieb et al. (Hrsg.): Das Tier
als Medium und Obsession — Zur Politik des
Wissens von Mensch und Tier um 1900
317 S., Berlin: Neofelis Verlag, 24,00 EUR
Ein oftmals vertretener Anspruch im multidisziplinären Forschungsgebiet der Human-Animal Studies ist die Relativierung oder gar Überwindung
des Anthropozentrismus in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung. Der vorliegende
Sammelband, herausgegeben von Cornelia Ortlieb,
Patrick Ramponi und Jenny Willner, teilt diesen programmatischen Anspruch und präsentiert zehn Beiträge aus der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. Im Fokus steht darin der Gestus literarischer Werke um 1900, in denen die „Destabilisierung des Menschenbildes nicht etwa als Kränkung bedauert wird, […] sondern – im Gegenteil –
lyrisch überhöht oder als emanzipatorisch zelebriert wird“ (13). Untersucht werden verschiedene Beispiele für neue Sprachformen und
Sprechweisen, mit denen die nach der Popularisierung der Darwinschen
Evolutionstheorie kontrovers gewordene Mensch-Tier-Dichotomie reflektiert wird. Präsent ist in den eloquent und subtil differenzierten Beiträgen des Sammelbandes immer die Frage nach den Beweggründen für
die Neubestimmung von Menschsein und Tiersein (14). Nicht faktische
Tiere mit Fell und Schnauze, sondern die in spezifischen Diskursen vorkommenden Tierrepräsentationen und -erwähnungen, mit denen Menschsein konstituiert oder eben demontiert wird, sind hierbei die Gegenstände
literaturwissenschaftlicher Analyse und Interpretation. Solche diskursiven
bzw. textuellen Tiere haben, wie Ramponi und Willner in ihrem einleitenden Beitrag erklären, vielfältige mediale Funktionen. Sie dienen etwa
als exemplarische Metaphern und Symbole; auch vermitteln sie zwischen
Diskursebenen (13ff.) und werden in der prosaischen und populärwissenschaftlichen Literatur affirmativ bis euphorisch thematisiert. Differenziert
wird herausgearbeitet, dass mit der Obsoleszenz der vordarwinistischen
kategorischen Unterscheidung zwischen dem Menschen und dem Tier die
Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren auch literarisch virulent wurde.
An den einleitenden Beitrag von Patrick Ramponi und Jenny Willner
(Nachdarwinistische Obsessionen. Eine Vorgeschichte der HumanAnimal-Studies, 9-46) schließen zehn literaturwissenschaftliche Untersuchungen über das Mensch-Tier-Verhältnis in der europäischen Literatur
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Literaturbericht
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um 1900 an. Cornelia Ortlieb (Mitten ins Graue. Tierfang und Affenliebe
bei Hagenbeck und Kafka, 47-72) wendet sich zunächst der romantisierenden Darstellung von Jagdszenen, Zoos und Haustierhaltung um 1900
zu, wobei sie insbesondere in Carl Hagenbecks Schriften nachweist, dass
mit der schleichenden Annahme des darwinistischen Weltbildes die Einnahme einer ambivalenten literarischen Haltung gegenüber nichtmenschlichen Tieren einherging. Diese umfasst die Darstellung liebevoller – fast
schon sexueller – Zuwendung, aber auch extremer Gewalt. Als früher
Diagnostiker dieser Tendenz wird Frank Kafka herangezogen, der es
vollbringe, „die Ambivalenzen, Unbestimmtheit und Grauzonen der Tierliebe zu rekonstruieren und dar[zu]stellen“ (72). Patrick Ramponi (Das
Tier als spiritistisches Medium. Tierpsychologie und Okkultismus bei
Franz Kafka und Maurice Maeterlinck, 73-106) beschäftigt sich mit dem
kulturgeschichtlichen Phänomen der sog. Haus- und Dressurtiere und der
Emanzipation der experimentellen Ethologie von okkultistisch-spiritistischen Narrativen. Besondere Beachtung findet hierbei der von Wilhelm
von Osten vorgeführte Kluge Hans, ein durch biedere Schulbildung mit
mathematischem Wissen beglücktes Pferd. Ausgehend von der geistesphilosophischen Forschung über die Seele der Tiere von Maurice Maeterlinck (92) wird wiederum bei Kafka, nämlich im Prosastück „Ein junger
ehrgeiziger Student“, von Ramponi herausgearbeitet, dass spiritistische
Narrative die geistigen Fähigkeiten in der Tierwelt lesbar machten. Werner Michler (Zauberer. Weiße Magie in Biologie und Literatur um und
nach der Jahrhundertwende (Paul Kammerer, Konrad Lorenz), 107-131)
interessiert sich für die zeitgenössische Faszination für die frühe ethnologische Forschung. Unglücklicherweise stellt Michel hierfür eher konstruierte Bezüge zum Begriff der Magie her, die der Wortwahl nach zwar
vorliegen, allerdings nicht wörtlich genommen werden sollten. Beispielsweise wird den Werken von Ethologen, die durch ihr enges Zusammenleben mit Tieren Einblicke in deren Seelenleben gewinnen und
dies literarisch ansprechend zu Papier bringen, eine gewisse Magie unterstellt. Elisabeth Strowick (Ausdrucksbewegungen. Zum Verhältnis von
Literatur und Naturkunde bei Durs Grünbein, Ian McEwan und Charles
Darwin, 131-152) unterzieht in ihrem Beitrag neuere darwinistisch inspirierte Strömungen in der Literaturwissenschaft, nämlich den sog. Literary
Darwinism einer Kritik (131-135). Ausgehend von einer vergleichenden
Lektüre von Texten Durs Grünbein, Ossis Mandelstamm und Ian
McEwans, die sich auf die Ausdruckstheorie Darwins beziehen, entwickelt sie einen programmatischen Gegenentwurf. Damit macht sie Darwins The Expression of Emotions in Man and Animals aus einer primär
Literaturbericht
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
literaturwissenschaftlichen Perspektive lesbar und belegt dessen Relevanz
für die moderne kulturwissenschaftliche Forschung.
Im Unterschied zu den Beiträgen von Ortlieb, Ramponi, Michler,
Strowick und Willner, die direkt oder indirekt Bezüge zu naturwissenschaftlichen Texten herstellen, nimmt Kári Driscoll in seinem Artikel die
Literatur des Fin-de-Siécle in den Blick (Die Wurzel aller Poesie. Hofmannsthals Zoopoetik, das Tieropfer und die Sprachkrise, 153-192). Seine Lektüre von Texten Hugo von Hofmannsthals ergibt, dass dessen
Zoopoetik – Poesie durch in Sprachform präsentierte Tiere (162-167) –
morbide wie lebensbejahende Motive umfasst, durch die eine abstrakte
begriffliche Sprache transzendiert werden soll.
Die Beiträge von Sandra Fluhrer, Hanna Engelmeier und Annette
Keck setzen sich mit der Funktion spezifischer Tierdarstellungen
(Maulwurf, Affe und Kröte) auseinander. Sandra Fluhrer (Vom Lesen
und Schreiben, wo andere aufhören. Kafkas Riesenmaulwurf zwischen
Paranoia und Erzählung, 193-220) wendet sich hierbei Kafkas „Der
Dorfschullehrer“ zu und strebt den Nachweis der psychologisierenden
These an, dass der Riesenmaulwurf Subjekt und Objekt der Paranoia
inkorporiere. Hanna Engelmeier setzt sich in ihrem Beitrag mit Gustav
Klimts Beethovenfries auseinander, welches im mittleren Bild ein affenähnliches Geschöpf zeigt (Klimts Gorilla. Feindliche Gewalt, Typhon
oder Gesamtkunstwerk?, 221-248), der vor dem Hintergrund von Friedrich Nietzsches dionysisch-apollinischer Dichotomie und Wilhelm Bölsches Kunsttheorie interpretiert wird. Annette Keck widmet sich schließlich der Erzählung „Regine“ von Gottfried Keller und zeigt auf, wie
darin durch die Darstellung der Kröte traditionelle Geschlechterrollen
rekonstruiert werden. Weiterhin geht sie auf die kultur- und kunstphilosophische Bedeutung der Krötenmetapher ein (Kröten schreiben. Überlegungen zum tierischen Medium einer antiväterlichen Poetologie der
Moderne, 249-264).
Abgeschlossen wird der Sammelband mit Beiträgen von Jenny Willner und Jaques Lezra, die sich der mittelbaren und unmittelbaren Bedeutung des Animalischen für die Psychoanalyse Sigmund Freuds bewusst
werden wollen. In Jenny Willners Beitrag geht es in erster Linie um die
erotisierende Rezeption der klassischen Evolutionstheorie in Wilhelm
Bölsches „Das Liebesleben in der Natur“ („Vom Fisch an aufwärts giebt
es keinen Rückfall“. Bedrohlicher Optimismus in Wilhelm Bölsches Das
Liebesleben in der Natur, 265-302). Sie zeigt, dass Bölsche einem teleologisch-optimistischen Naturalismus verpflichtet bleibt, dessen ideologische Konnotation Willner scharfsinnig hinsichtlich seiner anthropologi| 148 | TIERethik, 8. Jg. 12(2016/1)
Literaturbericht
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schen Valenz befragt. Jaques Lezra (Bestialität: Vermittlung more ferarum, 303-316) untersucht, wie Freud durch die Transgression der
Mensch-Tier-Dichotomie das Unterbewusstsein analytisch zugänglich
macht und damit den anthropozentrischen Narzissmus in jeder menschlichen Beziehung entlarvt.
Über den Sammelband kann viel Lobendes gesagt werden. Er bietet
detailreiche Untersuchungen, und insbesondere die Herausgeber_innen
Ramponi und Willner liefern eine ausgewogene Darstellung des Forschungsstandes in den Human-Animal Studies (30-9). Die einzelnen Beiträge sind durchgängig eloquent geschrieben und zeugen von umfassender Quellenforschung. Sie stellen in subtiler und prägnanter Weise die
lyrische Überhöhung oftmals imaginativer Tiere dar, mit denen die besprochenen Literaten zwischen dem Animalischen und dem Humanen
neu zu vermitteln suchten. Wer an literaturwissenschaftlichen Perspektiven auf das Mensch-Tier-Verhältnis in genau diesem Kontext interessiert
ist und einer teils ausschweifend assoziativen Hermeneutik nicht ablehnend gegenübersteht, hat mit dem vorliegenden Sammelband sicher eine
Referenz gefunden.
Legt man – ungeachtet der literaturwissenschaftlichen Qualität der
versammelten Beiträge – den Maßstab an, dass sich die Human-Animal
Studies besonders sensibel gegenüber sozialen Machtasymmetrien zwischen menschlichen und tierlichen Individuen in unserer Gesellschaft
zeigen sollten, dann kann man sich allerdings an der affirmativen bis
euphorischen Hinwendung zu textuellen Tieren, die ja eine essenziell
imaginäre Kategorie sind, stören. An Tieren als tatsächlichen fühlenden
Lebewesen wird hier programmatisch vorbeigedacht. Solche Bücher
braucht kein Tier, könnte man einwenden. Hierzu sollte gesagt werden,
dass die Einbeziehung textueller Tiere in den literaturwissenschaftlichen
Diskurs wohl aber gerade das ist, was die Allgemeine und die Vergleichende Literaturwissenschaft zum multidisziplinären Forschungsgebiet
der Human-Animal Studies beitragen können. Eben nicht die Beziehung
von realen tierlichen Individuen zu realen Menschen, sondern die literarische Inszenierung – von menschlichen Autor_innen für menschliche Leser_innen – ist hier der Untersuchungsgegenstand. Das hiermit eine seltsame ontologische Schieflage in den Human-Animal Studies erzeugt
wird, in der der reale Mensch das imaginäre Tier im Griff literarischer
Vereinnahmung hält, kann durchaus bedauert, aber nicht der Literaturwissenschaft angelastet werden.
Alexander Christian
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3. Tiere und Recht
3.1 Almuth Hirt, Christoph Maisack & Johanna
Moritz (Hrsg.): Tierschutzgesetz. Kommentar
1.210 S., München: Vahlen Verlag, 3. Auflage,
2016, 89,00 EUR
Aktuell herausgekommen, bietet die über 1.200
Seiten starke Neuauflage des Kommentars zum
Tierschutzgesetz von Almuth Hirt, Christoph Maisack und Johanna Moritz nicht nur gewichtige, sondern auch sehr umfassende und fundierte Erläuterungen zur einschlägigen Rechtsprechung verschiedener Tierschutzbereiche. Zentrale Tierschutzthemen wie das Schächten, der Umgang mit
Fundtieren, verschiedene rechtliche Aspekte zum Thema Tierversuche
oder auch im Tierschutzgesetz festgesetzte Begriffe wie der „vernünftige
Grund“ werden aufgegriffen und umfassend erörtert. Hinzugekommen
sind Kommentierungen der neuen EU-Verordnungen zu Tiertransporten
und zum Schlachten und Töten von Tieren sowie der entsprechenden
deutschen Verordnungen, zur Tierversuchsverordnung und zu den neuen
Teilen der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung.
Die neue Tierversuchsverordnung in Deutschland, welche der Umsetzung von EU-Regelungen dient, wird ausführlich beleuchtet. Hinsichtlich
des § 8 des Tierschutzgesetzes erläutern die Autoren vor dem Hintergrund
der EU-Tierversuchsrichtlinie und dem Gebot zu richtlinienkonformer
Gesetzesauslegung die Prüfungsbefugnis und Prüfungspflicht, die die
Behörden und Gerichte im Hinblick auf die gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für Tierversuche haben. So war vor Inkrafttreten des Artikels 20a des Grundgesetzes, also vor der Aufnahme des Tierschutzes ins
Grundgesetz, in der Rechtsprechung überwiegend angenommen worden,
dass sich die Behörde bei den Genehmigungsvoraussetzungen „Unerlässlichkeit“ und „ethische Vertretbarkeit“ auf eine qualifizierte Plausibilitätskontrolle der Darlegungen des Antragstellers zu beschränken habe. Demnach stand es der Behörde nicht zu, selbst Ermittlungen anzustellen und
eine eigene Bewertung der Unerlässlichkeit und ethischen Vertretbarkeit
vorzunehmen oder die Wahrscheinlichkeit des angestrebten Versuchserfolges selbst zu beurteilen. Dagegen wird seit der Aufnahme des Tierschutzes ins Grundgesetz von einer umfassenden Prüfbefugnis und einer
entsprechenden Prüfungspflicht der Behörde ausgegangen, auch inhaltli| 150 | TIERethik, 8. Jg. 12(2016/1)
Literaturbericht
Literaturbericht |
cher Art. Ganz im Gegensatz dazu vertritt das OVG Bremen in seinem
Urteil aus 2012 zu den Bremer Affenhirn-Versuchen die Ansicht, dass
Genehmigungsvoraussetzungen, die einen spezifischen Wissensbezug
aufweisen, nämlich die Frage nach der Zuordnung des Tierversuchs zu
einem der nach § 7a Abs. 1 erlaubten Versuchszwecke, nach wie vor nur
einer qualifizierten Plausibilitätskontrolle unterliegen sollen (352).
In den Ausführungen wird die langjährige Expertise der Kommentatoren deutlich, welche juristisches und veterinärmedizinisches Wissen vereinen, für die Praxis aufbereiten und so Licht in den Dschungel tierschutzrelevanter Gesetze, Verordnungen und Rechtsprechungen bringen.
Ein Sach- und Literaturverzeichnis erlauben bei Bedarf eine vertiefte
Befassung mit ausgewählten Themen. Der Kommentar kann daher als
wertvolles Nachschlagewerk empfohlen werden, das zahlreiche Fakten
und gut verständliche juristische Interpretationen bietet, die am Tierschutz interessierte Menschen für Diskussionen und die fundierte Argumentation rüsten. Er sollte darüber hinaus bei keinem deutschen Gericht
als Pflichtlektüre fehlen.
Silke Strittmatter
3.2 Anne Peters, Saskia Stucki & Livia
Boscardin (Hrsg.): Animal Law:
Reform or Revolution?
152 S., Zürich/Basel/Genf: Schulthess Juristische
Medien AG (Schriften zum Tier im Recht 14),
2015, 59,00 CHF
Der vorliegende Sammelband fasst die Beiträge einer
Konferenz zusammen, die 2013 anlässlich der Eröffnung des Doktorandenprogramms „Law and Animals“ an der Universität Basel veranstaltet wurde. Neben einer kurzen
Einführung in das europäische Tierschutzrecht und einem knappen Abriss
zur Tierethik enthält der Band Beiträge, die sich mit der Grundsatzfrage
befassen, ob das Medium „Recht“ überhaupt geeignet ist, einen wirksamen
Schutz von Tieren sicherzustellen, bzw. unter welchen Voraussetzungen
dieses Ziel erreicht werden kann. Der Band leistet damit einen Beitrag zur
bekannten Kontroverse zwischen Vertretern eines mehr oder weniger „gemäßigten“ Tierschutzes (Reformismus) einerseits und dem avantgardistischen Ansatz des Abolitionismus andererseits, dessen Vertreter jegliche
Nutzung von Tieren für menschliche Interessen als Ausbeutung betrachten
und folglich ablehnen. Während das Tierschutzrecht für die Reformisten
Literaturbericht
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| Die Mensch-Tier-Beziehung unter ethischem Aspekt
trotz zahlreicher Unzulänglichkeiten durchaus geeignet ist, die Lage der
Tiere zu verbessern, indem ihrer Nutzung weiterreichende rechtliche
Schranken auferlegt und auch konsequent vollzogen werden, kann Tierleid
nach Auffassung der Abolitionisten ausschließlich durch ein verändertes
Bewusstsein der Gesellschaft beendet werden. Da die Berechtigung zur
Nutzung von Tieren in der „klassischen“ Tierschutzgesetzgebung weitestgehend unhinterfragt bleibt, ist die rechtliche Regelung des Tierschutzes
aus abolitionistischer Sicht generell abzulehnen. Als „Tiernutzungsrecht“
legitimiert und perpetuiert es die Ausbeutung von Tieren, „humanisiert“
den inhumanen Umgang mit Tieren und ist zudem kontraproduktiv, weil es
letztlich auch einer Bewusstseinsänderung im Wege steht. Neben der Tierschutzgesetzgebung spielt in dieser Debatte auch die im Zivilrecht verankerte Rechtsstellung von Tieren eine zentrale Rolle, da ein effektiver
Schutz von Tieren aus abolitionistischer Sicht nur dann möglich ist, wenn
der Eigentumsstatus an Tieren und damit ihre rechtliche Verfügbarkeit
beseitigt werden.
Auch wenn die Logik des abolitionistischen Ansatzes überzeugend
und seine visionäre Zielsetzung aus der Sicht des Tierschutzes als erstrebenswert erscheinen, kommt man nicht umhin, dem Ansatz eine gewisse
Realitätsferne zu attestieren. Zum einen ist zu bedenken, dass Rechtsnormen dynamisch sind, im demokratischen Rechtsstaat auf einem gesamtgesellschaftlichen Konsens beruhen und damit auch für einen Wertebzw. Bewusstseinswandel offen sind. Ob ein Verzicht auf jegliche Form
der Tiernutzung jemals mehrheitlich konsensfähig ist, darf bezweifelt
werden. Ein Verzicht auf eine rechtliche Regelung des Umgangs mit
Tieren würde jedoch einen Freibrief für den Missbrauch von Tieren darstellen, sodass ein Verzicht auf eine Tierschutzgesetzgebung – ganz abgesehen von supranationalen Verpflichtungen – auch aus Gründen des
Tierschutzes nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden kann. Andererseits muss bei jeder Gelegenheit und in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass das geltende Tierschutzrecht in vielen Bereichen
erhebliche Defizite aufweist und sowohl in materiellrechtlicher als auch
in verfahrensrechtlicher Hinsicht reformbedürftig ist. Geht es also darum,
eine zweckdienliche Entscheidung zwischen „Reform“ und „Revolution“
zu treffen, so dürfte die Lösung – wie so häufig – in der Mitte liegen. Sie
sollte damit zugunsten einer intensiven tierschutzethischen Aufklärungsarbeit ausfallen, die zumindest mittelfristig einer Grundsatzreform des
Tierschutzrechts den Weg bereitet und zu einer Aufwertung der Rechtsstellung des Tieres führt.
Regina Binder
| 152 | TIERethik, 8. Jg. 12(2016/1)
Literaturbericht
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