Leseprobe - UVK Verlagsgesellschaft

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Deutschland und Lettland – eine schwierige Beziehung
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Deutschland und Lettland – eine
schwierige Beziehung
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Einführung
Zu Beginn ging alles sehr schnell. Am 22. Juni 1941 überschritten mehr als drei
Millionen deutsche Soldaten die Grenze zur Sowjetunion. Lettland wurde von
den rasch vorankommenden deutschen Truppen schon nach knapp einer Woche erreicht. Die lettische Bevölkerung begrüßte die deutsche Invasion und
hoffte auf die Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit. Denn im Juni
1940 waren sowjetische Truppen in Lettland einmarschiert und hatten dort ein
sozialistisches Regime errichtet, kurz darauf wurde Lettland Teil der Sowjetunion. Am 1. Juli 1941 erreichte die Wehrmacht Riga. Kurz darauf waren auch die
letzten Soldaten der Roten Armee aus Lettland vertrieben worden. Die Wehrmacht setzte eine provisorische Militärverwaltung ein, die Ruhe und Ordnung
sicherstellen sollte und um zu gewährleisten, dass alle wichtigen wirtschaftlichen Anstrengungen gemacht wurden, damit die Wehrmacht optimal unterstützt und versorgt werden konnte. Zeitgleich mit der Militärverwaltung begannen auch die Letten damit, eine neue Verwaltung zu errichten. Sie orientierten
sich dabei an der lettischen Verwaltungsstruktur vor der Okkupation durch die
Sowjets.
Noch hofften die Letten darauf, ihre staatliche Souveränität wiederzuerlangen. Allerdings hatten die eben noch als Befreier gefeierten Deutschen andere
Pläne für Lettland. Sobald die eroberten Gebiete unter Militärverwaltung in
ausreichender Entfernung zum Frontgebiet lagen, gab die Wehrmacht die Verantwortung an das kurze Zeit nach Beginn des Feldzuges gegründete Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete (RMfdbO) ab. Zivile »Hoheitsträger des
Reiches«1 zogen nun in Lettland wie auch nach und nach im gesamten Baltikum
und in Weißrussland ein und errichteten einen mehrstufigen deutschen Verwaltungsapparat. Dieser Verwaltungsapparat war das sogenannte Reichskommissariat für das Ostland (RKO). Allein der Name war schon geeignet, um in der lettischen Bevölkerung traumatische Erinnerung an die bolschewistischen
Kommissare zu wecken – und das war auch beabsichtigt. Die Deutschen waren
nicht als Befreier gekommen und wollten dem Land auch nicht seine Unabhängigkeit zurückgeben. Sie waren als Besatzungsmacht gekommen und das sollte
sich auch in den Amtsbezeichnungen widerspiegeln. An der Spitze des Reichskommissariats stand folgerichtig ein sogenannter Reichskommissar für das Ostland. Diesen Posten übernahm der schleswig-holsteinische Gauleiter Hinrich
Lohse. Das Ostland umfasste das gesamte Baltikum und Teile des heute unab1
Vgl. Lettisches Staatliches Historisches Archiv (LVVA) P 70/5/7, Bl. 3: Die Organisation
der Verwaltung in den besetzten Ostgebieten.
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Deutschland und Lettland – eine schwierige Beziehung
hängigen Belarus (Weißrussland). Der Reichskommissar herrschte damit über
ein Gebiet von fast 241.000 Quadratkilometern auf dem etwa zehn Millionen
Menschen lebten. Hunderte von deutschen Beamten und Angestellten begannen
in den besetzten Gebieten mit ihrer Arbeit, um eine deutsche Verwaltung aufzubauen, die Wirtschaft der besetzten Länder neu zu organisieren und das Baltikum für die deutschen Kriegswirtschaft auszubeuten. Die erhoffte Selbständigkeit der baltischen Freistaaten rückte in weite Ferne.
Dem Reichskommissar unterstellt waren vier Generalkommissare, die die direkte Verwaltung der drei baltischen Länder und Weißrusslands übernahmen.
Letzteres wurde nun Weißruthenien genannt, um alle verbliebenen Erinnerungen an Russland auszulöschen. An der Spitze der deutschen Verwaltung in Lettland stand der Lübecker Oberbürgermeister Otto-Heinrich Drechsler. Ihm waren als Generalkommissar in Riga die deutschen und lettischen Behörden mit
den Apparaten des Generalkommissars, der Gebietskommissare, der lettischen
landeseigenen Verwaltung und der lettischen Kreis- und Kommunalverwaltung
unterstellt. Lettland nahm als einer dieser vier sogenannten Generalbezirke –
die andere waren Estland, Litauen und Weißrussland – eine Schlüsselstellung in
der Ostlandverwaltung ein. Riga wurde nämlich nicht nur Hauptstadt des Generalbezirks Lettland, wo der Generalkommissar für Lettland seinen Dienstsitz
hatte, sondern war zugleich der Dienstsitz des Reichskommissars und seiner Behörde. Auch alle andere Spitzenorganisationen des Besatzungsapparates hatten
ihren Dienstsitz in Riga. Diese Konzentration an Führungsbehörden, sowohl für
Lettland als auch für das gesamte Ostland, machte die Stadt und den Generalbezirk zu einem Brennspiegel deutscher Ostlandpolitik. In ihm bündelten sich
Kompetenzen und Konflikte, Probleme und Chancen der Besatzungsverwaltung.
In Riga trafen sich auf engstem Raum die Behörde des Generalkommissars
mit der des Reichskommissars, ein deutscher Oberbürgermeister für Riga mit
der lettischen Kommunalverwaltung. Ein Gebietskommissar stand einer lettischen Landesverwaltung gegenüber. Der SS- und Polizeiführer (SSPF) Lettlands
musste seine Aufgaben mit seinem Chef, dem Höheren SS- und Polizeiführer
für das Ostland (HSSPF), abstimmen und sich seine Aufgaben mit dem Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) und dem Kommandeur der
Ordnungspolizei (KdO) teilen. Diese ihrerseits konnten sicher sein, dass ihre jeweiligen Vorgesetzten, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD
(BdS), der Befehlshaber der Ordnungspolizei (BdO) und der HSSPF, der Vorgesetzte aller SS- und Polizeieinheiten im Ostland, sie und ihre Amtsführung genauer überwachen würden als die entsprechenden Dienststellen im estnischen
Reval (Tallinn), im litauischen Kauen (Kaunas) oder im weißrussischen Minsk.
Die Organisation Todt, die Landespropagandaämter, die Dienststellen der
Wehrmacht, der Reichspost oder der Eisenbahn, die Truppenwirtschafts- und
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Nachschublager der Waffen-SS oder das SS-Hygieneinstitut – alle diese Organisationen hatten ebenfalls ihren Dienstsitz in Riga.
Riga war aber nicht allein Schauplatz einer herausragenden bürokratischen
Vernetzung und Verdichtung, die Stadt wurde auch zum »Ort des Grauens«, 2 zu
einem Ort des Genozids an der jüdischen Bevölkerung Europas. In Riga existierte bis zum Herbst 1943 das größte von Deutschen eingerichtete jüdische
Ghetto im Ostland. Der Massenmord an den Juden gehörte praktisch zum Besatzungsalltag aller Beteiligten – auch wenn dies von den Mitarbeitern der Zivilverwaltung nach dem Krieg immer wieder wortreich abgestritten wurde. Vor allem gehörte er aber zum Alltag der SS, die einen Gutteil der Mörder stellte, und
bis Mitte 1943 gehörte er zum Teil sicherlich auch zum Alltag der Wehrmacht
und der Zivilverwaltung. Alle drei Institutionen profitierten nicht wenig von
der Ghettoisierung, Zwangsarbeit und Ermordung der Juden in Riga und Lettland. Seit dem Spätsommer 1943 wurde das Ghetto vom Konzentrationslager
Riga-Kaiserwald abgelöst und die entrechteten Juden verschwanden weitgehend
aus dem Stadtbild von Riga. Das Ghetto und das spätere Konzentrationslager
waren aber nicht die einzigen Orte, an denen die nicht nur jüdischen Häftlinge 3
ein verbrecherisches Regime über sich ergehen lassen mussten. Nur unweit der
Stadtgrenze existierten seit spätestens August 1941 verschiedene, durchaus einem Konzentrationslager ähnelnde Lager und Barackensiedlungen. Eines von
ihnen war das sogenannte »Erweiterte Polizeigefängnis und Arbeitserziehungslager« Salaspils. Das Lager vor den Toren der Stadt, nur unweit der Eisenbahnstrecke Riga–Dünaburg gelegen, wurde zuerst unter mörderischen Bedingungen
von jüdischen Häftlingen aufgebaut und diente nach Abzug der Juden als »Erziehungslager« für »arbeitsscheue« Letten oder geflüchtete Angehörige der lettischen Waffen-SS-Einheiten. Ebenfalls vor den Toren der Stadt Riga lag das »SSMustergut« Jungfernhof, wo nicht minder mörderische Bedingungen für die
hier ausschließlich jüdischen Zwangsarbeiter herrschten. Kleinere Ghettos,
Straf- und Zwangsarbeitslager waren über ganz Lettland verteilt oder wurden je
nach Bedarf errichtet.
Lettland unter deutscher Besatzung war damit immer mehr als nur deutsche
Besatzungsverwaltung in Lettland. Das Land spiegelte im Kleinen die Probleme
und Konflikte der Besatzungsverwaltung insgesamt wider. Probleme im Behördenaufbau, in der Organisationskultur und in der Abgrenzung der Zuständigkeiten oder persönliche Konflikte zwischen Amtsträgern eskalierten zumeist in
Lettland und ganz besonders in Riga. Der Generalkommissar musste damit le2
3
So der Titel eines Sammelbandes, über die Orte deutscher Verbrechen im Zweiten Weltkrieg. Auch Riga hat darin ein eigenes Kapitel. Ueberschär: Orte des Grauens und darin
Angrick/Klein: Riga 1941–1944.
Auch Zigeuner‹, kommunistische Kaderfunktionäre, sogenannte ›Asoziale‹ und ›Arbeitsscheue‹, elternlose Kinder oder ganz allgemein widerständige oder oftmals auch nur widerspenstige Einheimische fanden sich rasch und ohne viel Federlesens in national-sozialistischen Haftstätten und Lagern in Lettland wieder.
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ben, dass die Behörde des Reichskommissars, die ja nur wenige Häuserblocks
und Straßen entfernt residierte, seine Verwaltungstätigkeit mit Argwohn betrachtete, und dass der Reichskommissar immer wieder versuchte, dem Generalkommissar seine mitunter sehr verschiedene Sicht der Dinge aufzuzwingen.
Der Gebietskommissar von Riga-Stadt war damit konfrontiert, dass seine eigenwillige Politik sofort kritisch von der lettischen Verwaltung beobachtet wurde,
deren Wege zum Generalkommissar ebenfalls kurz waren. Der ungeheure Massenmord an über 25.000 Juden aus dem Rigaer Ghetto durch Einheiten des KdS
und des HSSPF führte in der Bürokratie zu langwierigen administrativen Verwicklungen und Auseinandersetzungen über das Restvermögen der Ermordeten. Solche Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Behörden konnten durchaus die Grundfesten der Besatzungspolitik erschüttern. Riga und der
Generalbezirk Lettland waren somit ein Brennspiegel und Mikrokosmos, ein gemeinsamer kommunikativer Raum der deutschen Besatzungstätigkeit.
Im vorliegenden Band soll der Versuch unternommen werden, einen kommunikations- und kulturgeschichtlichen Überblick über die Tätigkeit und die
Funktionsweise der Zivilverwaltung in Lettland zu geben. Zwar fanden die Ereignisse in Lettland vor allem aufgrund des Holocausts schon bisher immer wieder die Aufmerksamkeit der Forschung, doch waren bisher Untersuchungen
über die deutschen zivilen Behörden selten.4 Weder der Generalkommissar und
sein Reichskommissar, noch die sechs Gebietskommissare in Lettland, ihre Verwaltungsarbeit oder ihre Konflikte mit anderen deutschen Dienststellen und mit
der landeseigenen Verwaltung der lettischen Generaldirektoren fanden bisher
angemessene Berücksichtigung in der Forschung.5 Es ist nur wenig bekannt
über kommunikative Prozesse, die Arbeitsweisen oder die Binnendifferenzierung innerhalb der Zivilverwaltung, über das Personal und dessen Arbeitsalltag.
Diese weitgehende Unkenntnis steht ganz im Gegensatz zum Wissen über den
Verfolgungs- und Tötungsapparat der SS, der vor allem hinsichtlich der Ermordung der lettischen und deutschen Juden in Lettland inzwischen eine mehr oder
minder umfassende Beachtung in der Forschung fand.
Die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist daher eine dreifache: Zunächst
einmal möchte ich einen Überblick über Konstituierung, Aufbau und Struktur
der Zivilverwaltung und der mit ihr konkurrierenden oder kooperierenden
deutschen Behörden und Dienststellen in Lettland geben. Ausgehend von einer
empirischen Beschreibung, soll sodann an markanten Fallbeispielen die Arbeits- und Funktionsweise der Zivilverwaltung analysiert werden. Zugleich soll
4
5
Auch die jüngst erschienene und empirisch gesättigte Monographie Björn Felders über
das Schicksal Lettlands unter sowjetischer, deutscher und dann wieder sowjetischer Besatzung geht nur am Rande auf Struktur und Tätigkeit der deutschen Zivilverwaltung ein.
Siehe Felder: Lettland im Zweiten Weltkrieg.
Siehe dazu das Resümee bei Pingel: Von Kiel nach Riga. Weitere Hinweise zur Forschungsliteratur finden sich im zweiten Kapitel dieser Einleitung.
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der Versuch unternommen werden, Theorieangebote aus dem Umfeld der funktional-strukturellen Systemtheorie von Niklas Luhmann und des prozesstheoretischen Ansatzes von Karl Weick auch für die Analyse historischer Phänomene
fruchtbar zu machen.
Im Grunde sind damit auch die zentralen Ebenen der vorliegenden Arbeit
erwähnt: Einerseits geht es um eine empirisch-deskriptive, gleichsam traditionelle Behandlung des Themas Besatzungsverwaltung. Andererseits soll der Versuch einer funktionalen Analyse dieser Institution unternommen werden. Das
Ziel ist dabei, Erkenntnisse zu gewinnen, die über den konkreten Gegenstand
hinaus reichen, und damit einen Beitrag zu einer Kultur- und Kommunikationsgeschichte nationalsozialistischer Organisationen zu leisten. Folgende Leitfragen stehen bei der Analyse der Besatzungsverwaltung im Vordergrund: Wie
funktionieren Entstehung, Transformation und Wachstum bürokratischer Systeme unter den Bedingungen eines so gut wie alle Regelungsbereiche erfassenden
Krieges? Und auf welche Programme kann eine Verwaltung zur Bewältigung
solcher komplexer Themenbereiche zurückgreifen? Wie geht die Zivilverwaltung mit Themen und Problemen um, die quer zu ihrer institutionellen Gliederung liegen? Damit sind beispielsweise Probleme gemeint, die nicht auf einzelne
Zuständigkeitsbereiche der Behörde heruntergebrochen werden können. Beispiele hierfür wären die Frage der Behördenintegration durch ein neuartiges
Verwaltungsrecht und dessen Ausprägung in einer eigenen Organisationskultur
in Form beispielsweise von Uniformen oder Abzeichen. Oder die Frage nach einer grundlegenden Reform der Ostpolitik, nachdem klar war, dass der Krieg gegen die Sowjetunion wesentlich länger dauern würde als erwartet.
Welche Aufschlüsse und Erkenntnisse lassen sich über die Funktionsweise
der Zivilverwaltung erreichen, wenn man davon ausgeht, dass ihr hervorstechendes Merkmal nicht eine wie auch immer geartete nationalsozialistische
Sonderverwaltung ist,6 sondern dass die Verwaltung letztlich nicht viel anders
funktionierte als jede andere ministerielle Bürokratie auch? Aussagen über den
angeblichen nationalsozialistischen Gehalt der Zivilverwaltung im Ostland verkennen, dass auch ein jenseits des Völkerrechts stehendes Besatzungsregime
nicht völlig voraussetzungslos und ahistorisch entstehen konnte, sondern sich
auf bereits etablierte Normen und Traditionen oder erprobte Organisationsansätze und Binnenstrukturen stützen musste. Dadurch ergibt sich für die historische Analyse eine Fokusverschiebung, die den Blick auf alltäglichen Leistungen
und Funktionen der Verwaltung als eine Folie lenkt, auf deren Hintergrund sich
mögliche Dysfunktionalitäten und pathologische Tendenzen sowie Konkurrenzen und Konflikte mit anderen Organisationen oder Behörden eventuell besser
abbilden lassen. Davon ausgehend ergibt sich die Frage, ob sich über die Untersuchung interner Kommunikationsprozesse der Zivilverwaltung, sozialer Praktiken und entsprechender Behandlung von Themen Aussagen darüber machen
6
Vergleiche Rebentisch: Führerstaat und Verwaltung im Zweiten Weltkrieg, S. 326.
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lassen, woraus diese Verwaltung jeweils Faktoren der Stabilisierung und der Destabilisierung erzeugte? Wie sahen die sozialen und kommunikativen Integrationsprozesse aus, die trotz des Wegbrechens des eigenen Gegenstandes, trotz zunehmender Konkurrenz und Einschränkung des eigenen Geschäftsbereiches der
Zivilverwaltung erlaubten, ihre Organisation auf Dauer zu stellen?
Somit ordnet sich diese Arbeit auch in das immer breiter werdende Feld der
Historischen Kulturwissenschaft ein.7 Organisationen wie die Zivilverwaltung
sind eben kulturelle Phänomene und dies auch in dem Sinne, dass sie quer zu
fachwissenschaftlichen Disziplinen liegen können. Organisationen sind ein Teil
jenes von Menschen erzeugten Gesamtkomplexes von Kultur, der sich in Symbolsystemen manifestiert, die aus unterschiedlichen Denkformen, Normen, Ritualen, Werten oder Bedeutungen gewoben sind. Ein kulturwissenschaftlicher
Zugriff muss so einerseits auf etablierten fachspezifischen Methoden der Geschichtswissenschaft gründen. Die empirische Basis, die Beschreibung der
Strukturen und der Ereignisse muss andererseits zugleich durch den Einsatz
von Theorien kulturwissenschaftlicher Nachbardisziplinen, wie beispielsweise
durch die Organisationssoziologie oder die Systemtheorie, von der Frage, was
passierte auf die Fragen wie und warum etwas passierte, erweitert werden.8 Eine
Kommunikations- und Kulturgeschichte der Zivilverwaltung in Lettland zu
schreiben heißt damit im vorliegenden Fall auch, dass hier neue Perspektiven
ausprobiert werden und ungewohnte Zugänge erprobt werden können. Im Vordergrund steht dabei immer die Überzeugung, dass die Kultur der Verwaltung
beziehungsweise die Organisationskultur ein dynamisches und vor allem kommunikatives Phänomen ist. Verwalten oder Organisieren bedeutet eben mehr
als den linearen, weitgehend statischen Vollzug von fixierten Verordnungen und
nur in Grenzen auslegbaren Gesetzen durch Beamte oder Bürokraten. Die Tätigkeit des Verwaltens und Organisierens ist vielmehr ein »kreativer Akt des Organisierens soziokultureller Wirklichkeit«, der sich als Kommunikationsprozess
manifestiert und so auch beschrieben werden kann. 9 In diesem Sinne versteht
sich die vorliegende Arbeit als eine Kommunikations- und Kulturgeschichte nationalsozialistischer Organisationen, die dem »kreativen Akt des Organisierens«
am Beispiel der Zivilverwaltung in Lettland nachgehen will.
Die Fragestellungen und Ansätze spiegeln sich auch im Aufbau der vorliegenden Arbeit wider. Nach einführenden Bemerkungen zur bisherigen Forschung und zur Quellenlage, erfolgt die Einordnung der deutschen Besatzungsherrschaft in Lettland in die deutsch-baltische Geschichte nach dem Ersten
Weltkrieg. Dies sind die Themen des ersten Teils. Der zweite Teil der Arbeit gibt
7
8
9
Zur Begrifflichkeit siehe beispielsweise Daniel: Kompendium Kulturgeschichte und Jaeger/Straub: Handbuch der Kulturwissenschaften. Bd. 2, S. 518-545.
Siehe zur methodischen Vorgehensweise das entsprechende Kapitel III, 1 im vorliegenden
Band.
Haas/Hengerer: Im Schatten der Macht, S. 9-22, Zitat siehe S. 10.
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einen empirisch-deskriptiven Überblick über die Strukturen und die Organe
der deutschen Herrschaft im Baltikum und in Lettland. Neben dem institutionellen Gerüst, das vom Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete vorgegeben wurde, sind das die Dienststellen des Reichskommissars für das Ostland
und des Generalkommissars in Riga für Lettland. Außerdem gehören zu den
Besatzungsstrukturen die Konkurrenten der Zivilverwaltung. Das waren vor allem die SS und der Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums (RKFdV). Aber auch die wirtschaftlichen Interessen waren nicht immer
deckungsgleich mit denen der Zivilverwaltung, so dass die Wirtschaftsdienststellen zwar innerhalb der Organisationsstruktur der Zivilverwaltung agierten,
ihre relevanten Entscheidungsprämissen jedoch von externen Organisationen
wie dem Vierjahresplan bezogen. Der stärker analytisch geprägte dritte Teil
wird anhand von mehreren themenbezogenen Fallbeispielen, die jeweils in ihrer
Art sowohl für die Binnenkonstitution und Binnendifferenzierung der Verwaltung als auch für ihre Umwelt wichtig waren, die Funktionsweise der Verwaltung beschreiben. Im Gegensatz zum zweiten Teil werden hier in erster Linie
nicht Institutionen untersucht. Der Untersuchungsgegenstand ist vielmehr der
Umgang von Bürokratien mit Regelungsgegenständen, die quer zur engeren institutionellen Struktur liegen. Die Untersuchung strebt daher auch keine enzyklopädische Aufarbeitung aller Sachgebiete an, mit denen sich die Zivilverwaltung zu befassen hatte, sondern will eine problemorientierte Analyse der
kommunikativen Dimension des Arbeitsfeldes der Verwaltung leisten. 10 Zugleich soll dieser Teil einen Überblick über die Politik der Zivilverwaltung in
den drei Jahren ihres Bestehens geben. Daher finden die methodischen und
theoretischen Diskussionen auch zu Beginn des drittens Teils Kapitel statt. Im
darauffolgenden Kapitel geht es um die Problematik von Rang und Disziplin in
der Zivilverwaltung. Im dritten Kapitel soll anhand des Beispiels des Streits um
die Zukunft Rigas gezeigt werden, wie sich Konflikte über eine zukünftige Verwaltungsstruktur von Lettland an Personen und Themen entwickeln. Im vierten
Kapitel soll anhand der Diskussion über mögliche Modifikationen der Ostpolitik gezeigt werden, welche Funktion Reformen, auch scheiternde Reformen, für
moderne Organisationen haben. Die Kapitel fünf, sechs und sieben stellen einige typische alltägliche und außeralltägliche Konflikte in der Zivilverwaltung anhand unterschiedlicher Personen und Themen vor. Im achten Kapitel soll es um
die Ermordung der Juden im Baltikum gehen. Das neunte Kapitel thematisiert
schließlich das langsame Ende des Besatzungsregimes von 1944 bis zur Kapitulation des Deutschen Reichs im Mai 1945. Zum Schluss der Arbeit wird dann
zusammenfassend nochmals nach dem Ertrag des methodischen und theoreti10 Nicht oder kaum erwähnt wird beispielsweise die Wirtschaftspolitik, der Einsatz von
Zwangsarbeitern und deren Lebensumstände oder die Interaktion zwischen Letten und
Deutschen im Besatzungsalltag außerhalb der Behörden und Bürokratien. Zu letzterem
siehe Felder: Lettland im Zweiten Weltkrieg.
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Deutschland und Lettland – eine schwierige Beziehung
schen Vorgehens, wie er vor allem zu Beginn des dritten Teils vorgestellt und
dann an Beispielen erprobt wurde, gefragt.
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