Einführung in die Ethnologie INDIENS

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Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
SS 2003
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Einführung in die Ethnologie
INDIENS
Univ.Doz. Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
Vorlesungsunterlage
Rohfassung
(vorläufiger Text; Änderungen möglich; Update
und Erweiterungen erfolgen immer wieder.)
STATUS
Semesterende
© Dr. Traude Pillai-Vetschera
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG
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II. DAS LAND INDIEN
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1. Name
2. geographische Gliederung
2.1. Himalayaregion
2.2. die Flussebenen
2. 3. die Dekkan- Halbinsel
3. das Klima
III. GESCHICHTE
1. Ur- und Frühgeschichte
2. die Harappa-Kultur
3. die Arier
4. die Draviden in Südindien
5. Alexanderfeldzug und das Großreich der Maurya
6. Skythen, Kushana und Gupta-Dynastie
6.1. das Gupta Reich
7. das frühe Mittelalter – erste muslimische Einfälle
7.1. Mahmud von Ghazni
8. das spätere Mittelalter
8.1. die Ghuriden, Sultanat von Delhi, Tamerlan
9. die Neuzeit
9.1. Hegemonie der Großmoghuln
9.2. Europäer in Indien
9.3. die britische Kolonialherrschaft und Staatenbildung
9.4. die Eingliederung der Prinzenstaaten
9.5. der unabhängige Staat Indien
9.6. Verfassung, Parteienlandschaft und Wirtschaft
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IV Sprache und Bevölkerungsgruppen
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1. Sprache
1.1. Die Sprachfamilien
1.2. linguistic area Indien
2. Stammespopulationen
2.1. Adivasi und Scheduled Tribes
2.2. Einteilung der Stammespopulationen
V Das Kastenwesen
1. Was heißt Kaste ?
2. Kastenartige Erscheinungen außerhalb Indiens
3. jati und varna
4. Entstehung des Kastenwesens
4.1. Historische Entwicklung
4.2. Entstehungstheorien
5. Grundlagen des Kastenwesens
5.1. dharma - karma - samsara - moksa
5.2. Was bedeutet Kaste heute ?
VI Die Religionen Indiens
1. Hinduismus
2. Andere indische Religionen
2.1 Jainismus
2.2 Buddhismus
2.3 Sikkhismus
2.4 Parsismus
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I. EINLEITUNG
Indien hat eine Sonderstellung unter den Regionalgebieten, in Europa seit dem Altertum
bekannt; erscheint uns durch diese langen Kontakte irgendwie vertraut; ist trotzdem ein
fremdes, exotisches Land, in dem uns vieles schwer verständlich erscheint.
Beispiel: Vorstellung vom Ablauf der Zeit
Unserem Verständnis nach ist das ein linearer Ablauf (unwiederholbare Ereignisse
folgen aufeinander...)
Indien: Ereignisse laufen zyklisch ab - es gibt nichts, was nicht schon dagewesen ist; ein
Zeitalter (Yuga) folgt auf das nächste. Wir befinden uns im schlechtesten und kürzesten,
im Kali Yuga, das 432.000 Jahre dauert
Das vorherige, Dvapara-Yuga, in dem dharma (das göttliche Gesetz) noch doppelt so
stark war wie im Kali-Yuga, war doppelt so lang, also 864.000 Jahre.
Dementsprechend dauerte das Treta-Yuga drei Kali-Einheiten also 1,296.000 Jahre,
und das erste,
Krita-Yuga oder Satya-Yuga, in dem dharma noch zu vier Vierteln erhalten war,
1,728.000 Jahre (vergl. Ovids Goldenes Zeitalter)
Die Summe aller Yugas beträgt 4,320.000 Jahre (entspricht der Länge von zehn KaliYugas). Dieser gesamte Zyklus wird als Mahayuga, als Großes Yuga, bezeichnet.
1000 solcher Mahayugas, also 4.320,000.000 Jahre nach menschlicher Zeitrechnung,
machen einen einzigen Tag im Bestehen des Schöpfergottes Brahma aus und werden
als kalpa bezeichnet. Jeder "Brahma-Tag" beginnt mit dem neuen Hervorbringen der
Schöpfung und endet mit der Auflösung derselben - der "Abend" bringt pralaya, das
"Chaos", und dann folgt die "Nacht", die genausolange dauert wie der Tag.
Mythologische Ereignisse, die in den alten Büchern beschrieben werden, wiederholen
sich in jedem kalpa..
Nach 100 Brahma-Jahren geht die Zeit "unseres" Brahma zu Ende. Im mahapralaya
("großen pralaya") verschwinden auch die Gottheiten, bis nach einer Ruhepause von
100 Götter-Jahren ein neuer riesiger Schöpfungszyklus beginnt.
II. DAS LAND INDIEN
Indische Union - Subkontinent mit rund 3,3 Millionen .Quadratkilometern. Bevölkerung
seit Mitte 2000 über eine Milliarde Menschen (Census 2001: 1.027,015 247)
1. Name
vom Strom Indus (Sindhu) abgeleitet. Alten Inder bezeichneten ihr Land als
Jambudvipa, "Kontinent des Rosenapfelbaumes", die heutige offizielle Bezeichnung
Indiens ist Bharat.
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2. geographische Gliederung:
Die Form ähnelt grob einem gleichschenkeligen Dreieck, Basis der Gebirgszug des
Himalaya mit einer N-S-Ausdehnung vom 8. bis zum 37.Grad nördlicher Breite (rund
3000 km)
Begrenzung: W Arabische See, O Golf von Bengalen, S Indischer Ozean, im N
Himalaya.
grobe Gliederung in drei Großregionen:
- Himalayaregion
- große Flussebenen
- Hochland von Dekkan
2. 1: Himalayaregion
verhältnismäßig jung (37 Millionen Jahren), höchsten Gebirge der Erde. Schutzwall, der
Indien nach N hin abschließt (gegen Invasoren aber auch gegen eisige Winden aus
Norden) ... Nachteile: Isolation und ein trügerisches Gefühl der Sicherheit.
Von S nach N lassen sich 5 verschiedene Zonen unterscheiden:
- Tarai: der Übergangsraum von der Ebene zum Gebirge, meist sumpfige Wald- und
Buschlandschaft mit Schwemmböden, früher stark malariaverseucht
- Vorgebirge der Siwaliks: Höhen zw. 600 und 1200 m.
- Vorderer Himalaya: im O schmal, im W breiter, Gipfel bis 5000 m hoch; wichtiger
Siedlungsraum (sowohl Gebirgsbecken wie z.B.Kathmandu in Nepal, wie auch
Berghänge und -kuppen besiedelt und landwirtschaftlich genutzt)
- Himalaya-Hauptkamm: höchsten Gipfel der Erde (über 8000 m hoch); 10% sind
vergletschert, wichtiges Wasser-Reservoir! - Flüsse im Norden trocknen nie aus
(Schmelzwasser)
- der "Tibetische Himalaya" nördlich des Hauptkammes; daran hat Indien nur mit
Ladakh Anteil.
Bei einer Gliederung in Quer-Richtung (W-O) oft politische Bezeichnungen verwendet
("Kashmir-Himalaya, Nepal-Himalaya" ...). Geographisch/klimatisch lassen sich drei
unterschiedliche Zonen feststellen:
- östliche Himalayaregion: Grenze zw.Indien und Burma, Berge in NS-Richtung, tief
eingeschnittene Täler, dichter Wald (tropischer Regenwald/Nebelwälder), hoher
Regenfall (Cherrapunji im NO regenreichster Ort der Erde), Bevölkerung lebt in Tälern.
Einwanderung nur über schwierige Bergrouten möglich.
- zentrale Himalayaregion: von Bhutan bis Swat/Chitral (ganz im W, an der
afghanischen Grenze); nördlich davon: Tibet, immer Kontakte zu Indien. Klimamäßig
in dieser Zone große Unterschiede - Regenmenge nimmt nach W zu sehr ab (O: dicke
Wälder, W viel weniger Regen)
- westliche Himalayaregion: ehem. North West Frontier Province (heute Pakistan, in
der Antike Gandhara), Berghänge oft fast kahl, Felswüsten; Wüstenbedingungen noch
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stärker nach SW zu (Belutschistan); hier aber Berge nicht ganz so hoch, Täler breiter,
Bergpässe ....hier verliefen die alten Handels- und Eroberungsrouten nach Zentralasien
und China einerseits, und nach Persien und dem Westen andererseits. Über diese
Routen kamen immer wieder Eroberer ins Land ...(NW Indiens ist "Wetterwinkel", aus
dem die meisten "Stürme"/Invasionen kamen)
2. 2. die großen Flussebenen:
- des Ganges
- des heute zu Pakistan gehörigen Indus
- und des Brahmaputra
Die Wasserscheide zwischen Ganges- und Indussystem: an der sogenannten "Pforte von
Delhi". Im W davon hat Indien Anteil am Punjab ("Fünfstromland"), dessen größter
Teil im heutigen Pakistan liegt. Von den fünf Strömen ist für Indien der Sutlej wichtig
(Rajasthan-Kanal abgezweigt, der große Teile des sehr trockenen Bundesstaates
Rajasthan bewässert)
Gangesgebiet feuchter als Industal, große O-W-Unterschiede (500 mm Niederschlag im
Westen, 2000 in Bengalen). Ganges größte Strom der Indischen Union. Große Nindische Tiefebene wird durch Ganges und Brahmaputra bestimmt. Im W ist
Gangesebene über 320 km breit, östlich, ab Patna, verengt sie sich auf etwa 200 km.
Ganges zusammen mit Nebenfluss Yamuna (engl.Jumna), der für fast 500 km südlich
parallel des Ganges fließt, bildet das indische Zweistromland (Doab). Als Doabs
bezeichnet man hier allgemein Zwischenstromplatten (fruchtbares Ackerland!).
Brahmaputra verbindet sich in der Deltaregion mit dem Ganges; ausgedehnte
Gezeitensümpfe (Sundarbunds) mit Krokodilen, Mangroven...Flüsse haben hier kaum
mehr Gefälle, transportieren enorme Wassermassen; kommen Schneeschmelze,
Monsunregen, tropische Wirbelstürme zusammen Î gefürchtete
Überschwemmungskatastrophen
2.3. die Dekkan- Halbinsel
schließt im Süden an Gangestiefebene an; (ab etwa 25 Grad nördlicher Breite) ; über
nicht sehr hohe aber schroffe Hügel Anstieg auf riesiges Plateau; meisten Bergketten
und Flussläufe in O-W Richtung; eine der ältesten Landmassen der Erde (aus Gneisen,
Graniten und kristallinen Schiefern).
Nördliche Dekkan (Madhya Pradesh, Gujarat) von Basalt bedeckt...fruchtbare, gut
wasserspeichernde Schwarzerden (black cotton soil - Baumwollanbau); der Süden, der
mehr Regen bekommt, ist von tonhaltigen Böden bedeckt, Niederschlag fließ daher
schnell ab , künstliche Bewässerung notwendig
die Küstenzonen:
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begrenzt durch Hügelketten der West Ghats und Ost Ghats; Küstenlinie im Westen
schmäler
- West-Ghats steiler und höher (bis 2600 m) als Ost-Ghats. Im nördlichen Teil der WKüste Halbinsel Kathiawar (Saurashtra), Golf v.Cambay - in alter Zeit wichtige Häfen,
von dort aus alte Handelswege in die Gangesebene; später W-Küste Einfallspforte für
fremde Eroberer (Bombay- "Gateway of India"; Goa...);der südliche Küstenabschnitt
(Malabarküste) hat viel Regen, landwirtschaftlich gut nutzbar, extrem dicht besiedelt.
- die Ostküste (südlichster Teil heißt Koromandelküste) nicht so steil, Berggipfel der OGhats nur bis 1600 m, Küsten sind flach, See nicht sehr tief (nur künstliche Häfen für
gr.Schiffe erreichbar)
Auch die Halbinsel besitzt einige große Flüsse, deren Ufer z.T. seit langem besiedelt
sind (steinzeitliche Fundstätten) .
- von Osten nach Westen fließen Narmada oder Narbada (heute irrsinnige StaudammProjekte), Tapti
- von W nach Osten Mahanadi (Mündung bei Bhubaneswar)
Godavari (Rajamundhy)
Krishna
und Kaveri
Diese Flüsse bilden an der Ostküste ausgedehnte Delta-Landschaften, heute
Kornkammern Südindiens. Verkehrstechnisch waren diese Delta-Landschaften ein
großes Hindernis für die NS-Verbindung entlang der Küste. Durch Brückenbauten und
Eisenbahnlinie wurde die Route vereinfacht, manche Zonen durch ihre
Abgeschiedenheit aber noch sozial und wirtschaftlich rückständig
Ceylon: unabhängiger Staat, geologisch aber Ausläufer d. Dekkan-Hochlandes. Für
Seefahrer wichtig. Ursprüngliche Bevölkerung Veddas (heute in den SO abgedrängt);
seit 5.s.v. Zuwanderer von N-Indien (heutigen Sinhalesen = Buddhisten), leben vor
allem im S; im N Tamilen, meist Hindus. Wann ersten Tamil-Siedler einwanderten ist
ungewiss heute starke politische Spannungen, immer wieder Terroranschläge der
Tamilen. ...Tee und Kaffeeanbau in Bergen im S (viel Regen), einige Mineralstoffe und
Edelsteine im Zentrum.
zu Indien gehören politisch noch: Andamanen, Nicobaren, Inseln vor der W-Küste
(Lakshadweep...)
3. das Klima:
von Monsunwinden bestimmt, wichtig für Landwirtschaft!
- Juni - September: SW-Monsun, relativ flache Strömung, sehr variabel und
unzuverlässig; manchmal bleibt Regen aus. Monsunregen beginnen ca Mitte Mai im
Süden, dringen nach Norden vor...Höhepunkt um Mitte Juli. Der meiste Regen fällt an
den W-abdachungen der W-Ghats sowie in Assam.
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- Oktober - Dezember: Nachmonsun; Regen hört im N ab September, im im S (außer
Koromandelküste) ab November auf; Oktober indienweit ca. 28 Grad ...
- Jänner - März: NO-Monsun, trockene Luft aus Zentralasien. In Zonen kontinentalen
Klimas große Unterschiede zwischen Tag und Nacht (Delhi im Winter bei Nacht bis
unter Null Grad, tagsüber auch bis plus 20).
- April - Mai: Vormonsun, der "indische Sommer", in nördlichen Tiefebenen 38 - 43
Grad, in den Wüsten im NW um die 49 Grad, aber häufig auch höhere Temperaturen
(Delhi auch manchmal über 50 Grad).
Zusammenfassend:
Indien sehr strukturiert, viele Zonen mit ganz verschiedenem Charakter. Inder betonen
gerne die Einheit in der Vielfalt, die Indien prägt (bezieht sich dann auch auf die vielen
Ethnien, Sprachgruppen, Religionsgemeinschaften, die im Land leben....). Seit alten
Zeiten Wunsch, diese "Einheit" auch praktisch herzustellen (das ganze Land auch
politisch zu einen). Dem gegenüber gab es kaum Expansionsbestrebungen
/"Eroberungsfeldzüge".
III. GESCHICHTE INDIENS
1. Ur- und Frühgeschichte
spärliche Kenntnisse, vorwiegend Oberflächenfunde, Alterszuordnungen schwierig.
Prä-neolithische Kulturen finden sich am ganzen Kontinent, außer - bisher - in den
Bergen im Zentrum, im Osten, in der Gangesebene bisher Einzelfunde. Kaum
Skelettfunde und auch keine Überreste das Alltagslebens.
In N-Indien Eiszeiten und Zwischeneiszeiten feststellbar, dadurch Forschung einfacher
(gibt Ablagerungen , Artefakte in entsprechenden Schichten können gut zugeordnet
werden.) Zentralindien liegt außerhalb der Eiszeit-Zone; Versuche, Pluvialperioden
(kühle Perioden mit gesteigerter Regentätigkeit) mit den Eiszeiten auf einen Nenner zu
bringen; ist ziemlich unsicher
Vorläufer des Menschen in Indien der Hominide Ramapithecus (vor ca.14-12 Millionen
Jahren) in den Siwaliks im NW; wahrscheinlich ein baumbewohnender Primate. Es ist
nicht sehr wahrscheinlich, dass das der Anfang einer menschlichen Entwicklung war
Paläolithicum
Knochenfunde fehlen, daher keine Auskünfte über Träger dieser Kulturen. Funde ab ca.
400.000 BC. Viele unbearbeitete Steine als Werkzeuge verwendet; ältesten Artefakte
sind grobe, aber bearbeitete Werkzeuge aus Quarzit, ohne jegliche
Sekundärbearbeitung; überall im Land hergestellt. Zwei Zentren haben diesen frühen
"Kulturen" ihre Namen gegeben:
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Im Norden ist das So(h)an, benannt nach dem Soan-Fluss im Distrikt Rawalpindi im
heutigen Pakistan. In den Flussterassen Fundstücke aus einem Zeitraum von mehr als
300.000 Jahren. In Südindien Madras-Kultur, weil die ersten Funde aus
Attirampakkam bei Madras stammen; gehäufte Funde auch entlang der Narbada. Die
lokalen Bezeichnungen für die Kulturen erscheinen eher willkürlich, die Werkzeuge
ähneln einander in allen Gebieten.
Der Hauptunterschied zwischen Soan und Madras liegt vor allem darin, dass im Norden
viel mehr choppers ("Hacksteine"), später auch Klingen und Schaber, gefunden
wurden, im Süden dagegen mehr ovale oder birnenförmige Faustkeile (hand-axe) und
Spaltbeile (cleaver). Vielleicht im Norden eher Jägerpopulationen, im Süden mehr
Sammler von Knollen/Wurzeln.
Bezüglich der Altsteinzeit Indiens viel mehr offene Fragen als gesicherte Aussagen.
Materielle Kultur der Menschen war sicher reicher, als sich aus den Überresten ersehen
läßt, weil viele Güter aus Holz, Tierhäuten, Pflanzenfasern, Rinden etc. längst verrottet
sind. Fest steht, dass sich die Werkzeuge über lange Zeiträume hinweg wenig verändert
haben.
Mesolithicum und Neolithicum
Übergänge vom Meso- zum Neolithicum sind stellenweise fließend.
Werkzeuge aus dieser Periode - mit vielen Varianten - fast alle in Abschlagtechnik
hergestellt: Flussgeröllstein wird sorgsam ausgewählt, von dem hergerichteten
Steinkern werden dann Stücke abgeschlagen. Die Materialien für die jetzt kleineren
Werkzeuge '(Mikrolithen) sind nicht mehr Quarzite, sondern vor allem kristalline
Gesteine (Quarz, Achat, Jaspis, Chalzedon...); schwerer zu bearbeiten, aber die
Werkzeuge werden feiner, Klingen schärfer
unsicher, ob Träger dieser Kulturen Nachfahren der früheren Bewohner oder NeuEinwanderer (vielleicht aus W-Asien, Europa oder N-Afrika) waren
neue Geräte: Speer- und Pfeilspitzen ( Pfeil und Bogen in Verwendung), vermutlich vor
allem Jägerpopulationen. Fundstellen sind weit verteilt; Zentren waren vor allem
Zentralindien (Narbada), Nevasa (Maharashtra), wieder Soan (Späte Soan-Periode).
Vor allem in Nevasa viele dreieckige, trapezoide und leicht geschwungene
(halbmondförmige) Klingen und Schaber gefunden.
Neolithicum dauert teilweise bis in die letzten Jahrunderte v.Chr.(zeitgleich mit
Dorfkulturen und auch noch mit entwickelter Stadtkultur im Norden);. Nie hatten alle
Bewohner des Landes den "gleichen Standard". Wahrscheinlich war auch die
Bevölkerung keineswegs einheitlich, sondern verschiedene Populationen lebten
nebeneinander. Hintergrundinformationen durch Höhlenmalereien in vielen
Landesteilen (Jagdszenen, viele Tier- und Menschendarstellungen in orange, rot,
manchmal weiß, z.T.mit Kopfschmuck, vielleicht Tanzbewegungen ... )
In späterer zeit werden Mikrolithen noch feiner, ebenfalls mit lokalen Varianten, auch
wieder aus vielen verschiedenen Landesteilen (außer Großteil d. Gangesebene, Berge
im Norden). Technik: vom hergerichteten Steinkern ("Mutterstein") werden mittels
harter Holzspitze oder Knochen, der mit "Hammer" geschlagen wird, Steinsplitter
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abgespalten und weiter verarbeitet. Materialien oft wieder Halbedelsteine, großes
handwerkliches Können notwendig.
Neben sehr feinen Mikrolithen auch zwei charakteristische neolithische Beilformen:
- Walzenbeile - vor allem im Süden; aber auch außerhalb Indiens weitverbreitet (Afrika,
Europ, bis Ostasien)
- Schulterbeile mit einem rechteckigen Querschnitt und sorgfältiger Ausarbeitung der
seitlichen Kanten. Oberfläche geschliffen oder sogar poliert; treten in weiten Teilen
Südostasiens auf, in Indien ist ihre Verbreitung auf den Osten beschränkt,
wahrscheinlich Zusammenhang mit Populationen mit austroasiatischen Sprachen
(Munda...)
Der Ackerbau kam vefmutlich aus dem Westen, vielleicht um 3500 v., nach Indien. Es
ist aber möglich, dass es bereits ältere Kultivationszentren gab, die bisher noch nicht
gefunden wurden.
2. die Harappa-Kultur
Zur Zeit der neolithischen Beilformen im Süden war im NW des Indiens eine
Hochkultur bereits entstanden und auch wieder verschwunden - die sogenannte
"Industal-Kultur" oder Harappa-Kultur, benannt nach dem ersten Ausgrabungsort
Harappa am Ravi-Fluss (Nebenfluss des Indus) im heutigen Pakistan
Ursprung:
schien lange Zeit mysteriös, da man zuerst die voll entwickelten urbanen Zentren
ausgrub
- Mohenjo Daro (Sind), wo in den 30er Jahren vor allem John Marshall arbeitete
- und Harappa (Punjab), intensive Arbeiten seit 40er Jahren
diese Kultur gehört neben Žgypten und Mesopotamien zu den drei ältesten der Welt und
wurde anfangs auf "Inspiration" von Mesopotamien zurückgeführt, bis man bei
Tiefgrabungen in den entdeckten Zentren auf Überreste älterer Besiedlungen stieß und
erkannte,dass diese Kultur eine lokale Entwicklung ist, deren Wurzeln allerdings etwas
weiter im Westen liegen:
Mehrgarh in Beluchistan: anfangs von Halbnomaden besiedelt, zu Beginn des
6.Jahrtausends sesshafte Gesellschaft mit Ackerbau.
Dauerhafte Siedlungen an verschiedenen Stellen im Hochland von Belutschistan im 4.3. Jahrtausend auf, damals Monsunregen dort wahrscheinlich noch stärker als heute.
Um 4000 BC auch bereits im Indus- und Ghaggar-Tal (Ghaggar: "verschwundener"
Fluss östlich des Indus) und im nördlichen Punjab Ackerbauern-Siedlungen. Um 3000
erste Städte. Voraussetzungen am Indus (und wahrscheinlich auch am Ghaggar) ähnlich
wie am Euphrat/Tigris und am Nil: fruchtbares Ackerland durch jährliche
Überschwemmungen, Fluss als Handelsweg... Produktion von Agrarüberschüssen...
gute Voraussetzungen für Entstehen einer Hochkultur
archäologische Tatsachen:
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vor 50 Jahren nur unteres Industal mit berühmtestem Ausgrabungsort Mohenjo Daro
bekannt, dazu einige Stellen in Beluchistan sowie Harappa im Punjab. Ab 1947 - nach
Teilung Indiens - lagen fast alle Fundstätten der Kultur in Pakistan und Inder begannen
mit Erfolg im eigenen Land nach Überresten der Kultur zu graben. Heute Fundstellen in
einem Bereich von 1 Mill. q-km - von den Siwaliks im Norden bis zur Narbada im S,
und von der iranisch-beluchistanischen Grenze im W bis zum Ganges-Tal im O. (1968
waren 100 Fundstellen bekannt, 1975 erst 150, heute mehr als 1000, bzw. auch 2500, da
manche auch noch Fundstellen in Afghanistan und sogar im Oman dazurechnen).
Konzentrationen neu entdeckter Siedlungen in Gujerat und vor allem entlang des alten
Ghaggar-Flusses, der seit langem mit dem mythischen Sarasvati-Fluss des Rg-Veda
identifiziert wird
Charakteristika der Harappa-Kultur:
Gesellschaft hatte städtischen Charakter, das Wirtschaftsleben beruhte offenbar auf dem
Ackerbau (Weizen, Gerste, Hirse, auch Blattgemüse , Erbsen, Sesam, Senf, Datteln,
Baumwolle für Kleidung; an Tieren Schafe, Ziegen, Hühner, Rinder (Buckelrind und
eine zweite, flachbuckelige inzwischen in Indien ausgestorbene Art), Schwein, Büffel.
Bevölkerung in den Städen ca. 35.000 Einwohner.
Wer Träger der Kultur war, ist noch nicht sicher.
Dauer der Kultur:
- Proto (Frühes)-Harappa: alles was vor 2500 war (stellenweise auch früher als 3100
v.Chr)
- Blütezeit/urbane Phase: 2500 - 2000 (nach Ansicht anderer etwa von 2300 bis 1750)
- Spätzeit/post-urbane Phase: 2000 - 1500 oder sogar 1200.
Zu verallgemeinern ist schwierig, da nicht alle Zentren der Kultur gleichzeitig
untergingen
Die beiden zuerst gefundenen Hauptorte sind Harappa und Mohenjo Daro; sind 550 km
voneinand entfernt, durch Indus verbunden, so große Ähnlichkeiten, dass man sie
anfangs als "Zwillingsstädte" bezeichnete (gleiche Maße/Gewichte, gleiche Größe der
verwendeten Ziegel....). Heute weiß man, dass die Kultur nicht so einheitlich war, wie
ursprünglich angenommen (verschiedene Industrien an versch.Orten, Unterschiede in
Ackerbau, Totenbestattung etc.)
Harappa, Mohenjo Daro: und Lothal
Stadtkern: streng geometrischer Grundriß; Häuser waren um einen Innenhof gruppiert,
mit wenigen und kleinen Fensteröffnungen nach der Straße; sorgfältig konstruiertes
Entwässerungssystem, jedes Haus hatte Brunnen und häufig Baderäume. Tonrohre für
Abwässer, überdecktes Kanalisationssystem (das von Lothal in Gujerat ist noch besser
als jenes der anderen beiden Städte; in Lothal auch ein bemerkenswertes Schiffsdock
gefunden, mit Laderampen aus festgestampfter Erde und Rohziegeln - Lothal
vermutlich der wichtigste Hafen der Harappakultur. Es gibt Funde in Lothal, die auf
intensive Handelsbeziehungen zu Ägypten und Mesopotamien hinweisen. Exportiert
wurde Kupfer und Kupfergeräte aus Rajasthan, Pfauen, Elfenbein und Elfenbeinobjekte
(Kämme), Affen, Perlen und Baumwollstoffe ; importiert wurde vor allem
Silber...Handel erfolgte mittels Küstenschiffahrt, Umschlagplätze in Bahrein und Oman
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im Persischen Golf. Die Mesopotamier dürften die Indus-Region Meluhha genannt
haben (Hinweise in Kelischrifttexten); um ca.1750 v. Chr.hören Erwähnungen des
Namens Meluhha in Mesopotamien auf, Handelsbeziehungen waren offensichtlich
unterbrochen.
Mohenjo Daro: kleines Gebäude mit Skulpturenresten war vielleicht ein Tempel, sonst
aber bisher keine Sakralbauten identifiziert. Überreste vieler großer Häuser
(wohlhabender Händler?). -in Harappa und Mohenjo Daro am Westrand auf künstlich erhöhtem Grund eine
Zitadelle, an deren Nordseite "Arbeiter/Sklaven?-Quartiere"; Plattformen mit Mörsern,
in denen Korn zerstampft wurde, Komplexe von Kornspeichern. Vielleicht Regime von
Priester-Königen, denen Tribute in Form von Getreide bezahlt wurden?. In Mohenjo
Daro enthält die Zitadelle ein großes Badebassin (vgl. heutige Badebecken bei
Tempeln), dessen Boden mit Bitumen abgedichtet war, und das mit einem Abflussrohr
aus Ziegeln versehen war. Baumaterial aller Gebäude sind gebrannte Ziegel (keine
großen Natursteinvorkommen) - das setzte Wälder in der Nähe voraus
leider wurde Harappa als riesige Ziegel- und Kiesgruben für Bau der Eisenbahn nach
Lahore verwendet, vieles zerstört. Mohenjo Daro besser erhalten, aber hier hoher
Grundwasserspiegel, der Ausgrabungen in der Tiefe sehr schwierig macht.
Geräte/Kunst
Messer und andere Haushaltsgeräte aus Bronze, von sehr guter Qualität (Legierung von
Kupfer und Zinn, mit Spuren anderer Metalle); wenige Waffen (militärischer Aspekt
dieser Gesellschaft vergleichsweise unbedeutend.). Lothal war wichtiges
Produktionszentrum für Glasperlen, von denen etwa eine halbe Million gefunden
wurden, darunter rund 1000 vergoldete.
Kunst: vor allem Steinskulpturen. Einige Stücke hohes künstlerisches Niveau (bärtiger
Kopf – Gottheit oder Priesterkönig?, berühmter Torso- eingehende anatomische
Kenntnisse Voraussetzung; wenige Bronzefigurinen: darunter "Dancing girl").
Besondere Stellung: Siegel aus Speckstein; Tausende gefunden; dienten vielleicht, um
Warenballen zu bezeichnen bzw. unter göttlichen Schutz zu stellen, viele Darstellungen
offensichtlich religiöser Natur, oft naturalistische Tierdarstellungen von hoher Qualität
(oft Zebu), manchmal menschliche Gestalten, Baumgeister , Mischwesen
(Mensch/Tier/Pflanzen...), Anbetungs- und Opferszenen, Prozessionen von Personen;
Menschenopfer??
Inschriften: längste aus 17 Zeichen; ca.400 Zeichen gefunden, d.h. es kann keine
Buchstabenschrift sein - System von Bildzeichen, die in der ersten Zeile von rechts nach
links, in der nächsten von links nach rechts angeordnet sind. Bisher nicht entziffert,
Schrift ist eines der faszinierendsten Probleme der indischen Frühgeschichte. Es scheint,
dass die Zeichen mit keinem bekannten Schriftsystem verwandt seien (manche sehen
Ähnlichkeiten zur Schrift der Osterinsel). Viele meinen, Sprache von Harappa sei ein
Proto-Dravisch gewesen.(z.B.finnische Linguist Parpola)
Aufgrund der Ausgrabungsfunde wurden Aussagen über die Religion der HarappaLeute versucht:
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Zumindest für Teil der Bevölkerung dürfte das weibliche Prinzip sehr wichtig gewesen
sein , Kult der "Muttergöttin" war offenbar verbreitet; etliche hundert weibliche
Tonfigurinen in Gebäuden gefunden, die als Getreidespeicher interpretiert werden
(Göttin als Spenderin der Fruchtbarkeit??). Die meisten Figurinen sind nackt bis auf
kl.Rock, fächerförmiger Kopfschmuck, Gesichter eher furchterregend (ähnlich denen
von Zhob in Belutschistan...) - vielleicht ambivalente Göttinnen mit Beziehung zum
Totenreich.
männliche Gottheiten selten; eines der bekanntesten Siegel zeigt dreigesichtige
männliche Gottheit (bzw.einen Gott mit einer Maske), der als "in yoga-Stellung
sitzend" interpretiert wird, mit ausgestreckten Armen voller Armreifen, Halsketten,
Hörner-Kopfschmuck; ist umgeben von Tieren (Elephant,Tiger,Rhinozerus und Büffel),
unter dem Schemel sind zwei Rehe/Antilopen abgebildet. Darstellung wird oft als
Prototypus des Gottes Siva in seiner Gestalt als Pasupati (Lord of the beasts)
interpretiert, der allerdings die Haustiere - und nicht Wildtiere - schützt; Siva ist auch
"Prinz des Yoga". Auf den späteren Siva weisen auch Funde von konischen lingas
(Phallus-Symbolen) hin, die in Indien von Siva-Anhängern heute noch verehrt werden.
Vieles, was heute den "Hinduismus" ausmacht, geht offenbar auf die Harappa-Kultur
zurück, und seit Sir John Marshall haben die Wissenschaftler den "hinduistischen"
Charakter der Harappa-Religion betont: die Große Göttin, der Proto-Siva in YogaPosition, Verehrung des linga , die rituelle Bedeutung von Bäumen und Schlangen, das
"große Bad" von Mohenjo Daro, das an die Bäder der heutigen Hindutempel erinnert,
die Verehrung des pipal-Baumes, Verwendung von Turban und Nasenschmuck usw.
Ende der Kultur:
viele Vermutungen, aber wenig konkretes Wissen; verschiedene Ursachen sind möglich
:
- Klimaänderung:
Regenmangel ab etwa 1750 (Pollenanalysen) hätte zum Niedergang beigetragen
- tektonische Verschiebungen:
Entstehen von Barrieren, Dammbrüche, Überflutungen durch den Indus, ...
- andere Umweltkatastrophen:
z.B. durch überstarke Ausbeutung natürlicher Ressourcen (Pflanzen/Boden...
Ziegeleien), durch häufigere Überschwemmungen Bodenversalzung, Verlust von
Anbauflächen, Abwanderung als Folge.
- Žnderungen in der Wasserversorgung:
eigentliche Zentren der Industalkultur waren vielleicht weder Harappa noch Mohenjo
Daro, sondern lagen vielleicht im Tal des jetzt völlig ausgetrockneten Ghaggar-Flusses;
es wird angenommen, dass er früher mächtiger als der Indus war, weil in seinem Bett
früher Yamuna und (Arme des?) Sutlej flossen; durch tektonische Verwerfungen am
Fuß des Himalaya könnte Yamuna nach Osten "umgeleitet" worden sein... Schon 1968
wurde erstmals das Verlassen von Siedlungen am Ghaggar-Fluss (z.B. wichtige
Fundstätte Kalibangan!) auf diese Veränderungen zurückgeführt. Ein Austrocknen der
Zentren würde den raschen Niedrgang der Kultur erklären. Am heutigen Sutlej und auch
an der jetzigen Yamuna gibt es keine Fundstellen, dafür aber viele im ausgetrockneten
Ghaggar-Bett.
- fremde Invasionen:
wurde früher als Hauptgrund gesehen und Einfall der Arier für Zerstörung der Harappa-
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Kultur verantwortlich gemacht; Verfallserscheinungen aber schon ab ca.1750, also
Jahrhunderte vor Eintreffen der Arier sichtbar; allerdings Hinweise auf Brandstiftung
und Zerstörung, Skelette weisen Verletzungen durch Waffen auf, Stadttore verrammelt,
Stadt im Verteidigungszustand; endgültige Zerstörung der bereits stark geschwächten
Kultur wohl zumindest teilweise das Werk von Eroberern.
Die Kultur ging nicht überall zugleich zugrunde. In Lothal z.B. wurden Ruinen der
Stadt wieder besetzt und die Phase der Harappa-Kultur bestand noch 400 - 500 Jahre
weiter, bis um 1200 v.Ch. Im Industal folgte eine rohere Kultur nach, der eine noch
dürftigere folgte. Die Zeit bis etwa 500 v., stellt nochmals ein ganz dunkles Kapitel der
indischen Geschichte dar. Also ein Sonderfall der Geschichte: Für gewöhnlich folgt auf
Zeiträume ohne Schrift eine Epoche, in der die Schrift erfunden wird; von da an wird
das Geschehen zumeist für die Nachwelt besser verständlich. - Hier ist es umgekehrt:
Die Induskultur hatte eine - bisher unentzifferte - Schrift und es gibt reiches
archäologisches Material aus dieser Zeit. Es folgen Jahrhunderte einer schriftlosen Zeit
mit vergleichsweise wenigen archäologischen Funden. Wir haben also von einem
früheren Abschnitt der Geschichte viel bessere Kenntnisse als vom darauffolgenden.
Details und Bilder unter: www.harappa.com
3. die Arier
Der Begriff "Arier" ist innerhalb der Wissenschaften immer noch diffus und kann
unterschiedlichen Inhaltes sein, je nachdem ob er z.B. auf sprachwissenschaftliche,
archäologische oder religiöse Sachverhalte bezogen wird. In Sanskrit heißt arya "frei
geboren", "von edlem Charakter"; Wortwurzel in Ländernamen wie Iran ("Land der
Arier") oder Eire/Irland enthalten. Große Verwirrung bezüglich des Begriffes
(Nazismus) sodass manchmal Zweifel geäußert werden, ob man überhaupt von "Ariern"
sprechen solle. "Arier" ist jedenfalls keine Rassenbezeichnung, sondern sollte nur
linguistisch verwenden werden (Arier: "Menschen, die eine arische Sprache sprachen").
In ältesten indischen Schriften werden Menschen, die die Gottheiten der Veden
verehrten, als arya bezeichnet....
Die indoarischen Sprachen (Persisch, Sanskrit, und von Sanskrit abgeleitet die
modernen Sprachen Nordindiens) bilden den östlichen Teil der großen
indoeuropäischen Sprachfamilie, die von Sir William Jones entdeckt und erstmals 1786
vor der Asiatic Society in Kalkutta skizziert wurde. Obgleich die Bezeichnung "arisch"
auf die Linguistik einleuchtend erscheint, darf man nicht übersehen, dass es im
Altertum Menschengruppen gab, die sich als "Arier" bezeichneten.(Arier-Kontingente
im Heer des Xerxes, usw…)
Arier waren keine geschlossene Gruppe. Es drangen aus NW Wellen verschiedener
arischsprachiger Stämme in den Iran und ab ca. 1200 v. nach Indien ein, die
untereinander genauso kämpften wie mit Nicht-Ariern. Waren kriegerische
Hirtennomaden, "Bronzezeit-Barbaren" ohne städtische Zivilisation, durch
Pferd/Streitwagen strategische Überlegenheit. Überrannten bestehenden Dorfkulturen,
eigneten sich ihr Wissen an und zwangen ihnen ihre Sprache auf. Arische Krieger sollte
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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sein wie ihr Kriegsgott Indra: stark, bärtig, von großem Appetit, große Mengen des
berauschenden Göttertrankes soma vertragend...
Ursprung der Arier:
Die Frage nach dem Ursprung der Arier gilt in Indien gegenwärtig als hochbrisant, weil
sie untrennbar mit der Frage verbunden ist, wem die indische Vergangenheit gehört und
wer die ursprünglichen Bewohner des Landes sind. Sehr vereinfachend lässt sich das
Problem kurz so umreißen: Für lange Zeit gingen die indischen Gelehrtenschichten (die
durchwegs den oberen Kasten angehörten) in Übereinstimmung mit den europäischen
Indologen davon aus, dass die eingewanderten, überlegenen hellhäutigen Arier die
"primitive, dunkelhäutige" Bevölkerung unterworfen und Indien die " Zivilisation"
gebracht hätten. Dieses "zivilisatorische Werk" sei dann viel später, durch die britische
Kolonialmacht, weitergeführt worden, wobei sich die oberen Kasten quasi als Cousins
der neuen, europäischen Machthaber fühlen konnten.
Alles änderte sich dann durch die archäologischen Zeugnisse aus denen hervorging,
dass die autochthone Harappa-Kultur eine hoch entwickelte und verfeinerte Stadtkultur
gewesen war. Die "Zivilisation" war also hier gewachsen und nicht von außen (durch
die Arier) hereingebracht worden. Nun erschien es als wichtige Aufgabe nachzuweisen,
dass in Wahrheit die Arier die Träger der Industalkultur und damit die ursprünglichen
Bewohner des Landes gewesen waren. Der traditionellen arischen Invasionstheorie wird
als nationalistisch motivierte Gegenthese eine arische Emigrations-Theorie
gegenübergestellt: Von Indien, ihrer Heimat ausgehend, seien die Arier nach anderen
Gegenden aufgebrochen. Man geht heute so weit, dass Geschichtsbücher
umgeschrieben werden und die Industalschrift zur Schrift einer arischen Sprache erklärt
wird, ohne dafür Beweise erbringen zu können.
Aus Sprachvergleichen ergab sich aber, dass der "Ur-Baum" der Arier die Birke
gewesen sein dürfte, und der wichtigste Fisch der Lachs - beides Spezies, die in
nördlichen Breiten beheimatet sind. Vielleicht noch überzeugender ist die Frage nach
dem "Pferde-Kulturkomplex": Die Domestizierung von Pferden dürfte zu Anfang des
4.Jahrtausend in der Ukraine stattgefunden haben. Die ersten Anzeichen von
Pferdekultur in Mesopotamien fällt mit der ersten Ankunft von indoeuropäischen
Sprachen in diesem Gebiet zusammen, zu Anfang des zweiten Jahrtausends. - Für die
Arier war das Pferd ungeheuer wichtig. Ihre militärischen Erfolge verdankten sie dem
zweirädrigen pferdegezogenen Streitwagen, auf dem ein Wagenlenker und ein
Bogenschütze Platz hatten. Das Pferd hatte religiöse Bedeutung und das königliche
ashvameda (Pferdeopfer) war die kostspieligste und bedeutsamste Opferzeremonie. –
Pferde fehlen dagegen in der Industalkultur; es gibt erst sehr spät, und auch da nur an
ihren Rändern, Hinweise auf sie, während es von allen anderen Tierarten jede Menge
von Terrakotta-Figurinen gibt. Die ganze Pferdekultur müsste also in der Harappakultur
verloren gegangen sein und dann später wieder eingeführt worden sein, was nicht sehr
plausibel klingt.
All diese Feststellungen bestärken die Vermutung, dass die Arier doch von außerhalb
kamen, irgendwo aus dem Gebiet zwischen östlichem Mitteleuropa und Ural (manche
engen ein auf die Gegend zwischen Donau und Oxus). Von dort aus dürften sie über
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den Kaukasus nach Mesopotamien gezogen sein, wo sie ab 1500 v.Ch. als Herrscher
des Mittanni-Königreiches in Erscheinung treten (also einige Jahrhunderte zuvor dort
eingewandert sein mussten), und allmählich ihre Herrschaft ausdehnten und in den Iran
und nach Indien gelangten.
Die "arische Invasion" Indiens war keine Einzelaktion, sondern ein über Jahrhunderte
gehender Prozess, in den verschiedene Stämme (insgesamt aber wahrscheinlich nicht
mehr als 50.000 - 100.000 Mann) verwickelt waren; war ein Aufeinandertreffen zweier
konträrer Kulturen:
- der sesshaften autochthonen Agrarkultur
- und der kriegerischen Kultur der eindringenden Hirtennomaden.
- frühvedische Zeit (frühe Eisenzeit): 1200 - 900 v.; Sesshaftwerdung der arischen
Stämme im Punjab und im Gebiet von Ganges und Yamuna; kriegstechnische
Überlegenheit durch Eisen (auch wenn Funde spärlich – in Indien gab es anfangs kein
Eisen, Minen wurden erst viel später weiter im Osten gefunden) , Pferd und Streitwagen
- spätvedische Zeit: 900 - 600: Siedlungen der Arier im östlichen Gangestal,
Stammeskönigtümer
die Veden
Über die Frühzeit wissen wir aus sog. "Veden" Bescheid, den heiligsten Büchern der
Inder. Wurden lange von Priestern oral tradiert (mittels mnemnotechnischer Praktiken),
dann ab ca 1200/1000 zusammengestellt; sind älteste indoeuropäische Literatur (aber
Aufzeichnungen aus Ägypten und Mesopotamien sind älter.)
Veda bedeutet "Wissen", später "heiliges Wissen" - d.h. die Kenntnis der
übermenschlichen Mächte und der Methoden, diese Mächte zu beeinflussen. Dieses
Wissen ist ewig, wurde von Gottheiten formuliert und in der Urzeit den Weisen, den
sogenannten rishis mitgeteilt
Die Veden gehören zur sogenannten sruti-Literatur (geoffenbarte, eigentl. "gehörte"
Literatur, die den rsis in einer Art Trancezustand direkt von den Gottheiten enthüllt
wurde)
Es gibt vier "Basistexte" (samhitas = "Sammlungen"), denen dann später entstandene
Literatur jeweils zugeordnet wird. Wenn man von "den Veden" spricht, meint man
eigentlich zumeist diese vier Grundtexte:
- Rg-Veda: Sammlung von über 10.000 Strophen in 1028 Hymnen aus
verschiedenen Epochen, die in 10 `Büchern' (mandalas) angeordnet sind.
Enthalten sind Hymnen, in denen immer andere Gottheiten als "höchste"
angesprochen werden, Gebete, pseudo-historische "Legenden"….
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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- Sama Veda: (saman: Gesang, Melodie)- Verse des Rg-Veda werden hier in
eine singbare Form gebracht. Vom Inhalt her herrscht über weite Strecken große
Übereinstimmung zwischen Rg- und Sama-Veda.
- Yajurveda: unterteilt in einen "weißen" und "schwarzen"; Inhalt bezieht sich
sehr auf Opferrituale - Zeit, in der der brahmanische Ritualismus entstand, und
Yajurveda ist sein Produkt (yajus sind Opferformeln). Priestern kommt immer
mehr Bedeutung im Ritual zu.
Die ersten drei Veden zusammen bilden Triveda - die "vedische Dreiheit", die von
allen Hindus anerkannt wird. Der vierte
- Atharva Veda - hat Sonderstellung; ist sprachlich jünger, inhaltlich aber viel
älter als die anderen drei; zusammengestellt, als sich die Arier weit nach Osten
vorgewagt hatten, Kontakte mit autochthonen Kulturen dürften sich intensiviert
haben - viel Material enthalten, das vermutlich auf diese zurückgeht (mehr
Zauberformeln als in den anderen Texten...)
Jedem dieser 4 samhitas werden später entstandene theologische Abhandlungen
(Brahmanas) zugerechnet. Dazu kommen weiters (ab ca. 750 v.) als dritte Schicht von
Werken , die sog. Aranyakas ("Waldbücher") und – teilweise ihnen eingebettet – die
Upanishaden.
All diesen Texten fehlt jede Absicht, historisch zu erzählen. Inhalte sind nur auf die
Religion bezogen. ... editiert und kommentiert wurden die Hymnen der Veden erst viele
Jahrhunderte später (ab 14.s.n. Chr.)
Neben der sruti-Literatur gibt es dann auch noch die smrti-Literatur, die als weniger
heilig angesehen wird. Zu ihre gehören die Epen., Puranas, Gesetzesliteratur …….
Geschichte der Arier in Indien
trotz der Texte wenig konkretes historisches Wissen, Archäologie (Keramikfunde, erst
graue Keramik, dann schwarze polierte) bestätigt Vormarsch nach Osten, in die
Gangesebene. Bis ca.1100 BC nur ärmliche, sporadische Siedlungen. Auf Beginn des
1.Jahrtausends Siedlungsfunde datiert, die mit bekannten Zentren arischer Dynastien
identifiziert wurden, welche aus der vedischen Literatur bekannt sind. Ausbreitung nach
O durch Kämpfe mit autochthoner Bevölkerung (dasas) bestimmt, die auch in die
Mythologie übernommen werden: schon im Rg-Veda wird Kampf zwischen den devas
("Himmelsgeborenen" = die arischen Einwanderer) und asuras (die Nicht-Frommen,
"Dämonen") geschildert.
Fusionsprozess anhand der Literatur nachvollziehbar: ältesten Teile des Rg-Veda (auf
den meist Bezug genommen wird) sind einfach, entsprechen der schlichten
diesseitsbezogenen Denk- und Lebensart der Arier; spätere Teile enthalten
philosophische Anschauungen über die Schöpfung, Gedanken über Ursprung der Welt,
das Leben nach dem Tod; stark verinnerlichtes Denken.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Auseinandersetzungen zwischen aryas und dasas auch in den großen Epen
nachvollziehbar:
- Mahabharata (entstanden zw.400 v. und 400 n.Chr.): Werk umfaßt 18 Bücher mit
über 100.000 Versen; beschreibt Kampf zweier verfeindeter Cousin-Gruppen, den
Kauravas und den Pandavas; Handlungsort ist Kurukshetra, nördlich von Delhi. Im
Werk eingebettet: Bhagavadgita ("Gesang des Erhabenen")
- Ramayana (zw.400 v. und 200 n.), wird dem Dichter Valmiki zugeschrieben; umfasst
24.000 Verse in 7 Büchern; beschrieben wird der Kampf des Helden Rama mit dem
"Dämonen"/Asura Ravana, der Exponent der ursprünglichen Tradition ist. Grund der
Auseinandersetzung: Ravana hatte Ramas Gemahlin Sita entführt. Sita ("Erdfurche")
gehört ebenfalls der alten Tradition an. Sie wird "integriert" (gilt noch heute als
Idealbild der treu ergebenen Hindu-Ehefrau), Ravana wird dämonisiert....
Lebensweise der Arier
anfangs kriegerische Stämme von Tierzüchtern mit guten Militärtechniken und
Priesterschulen, die die Stammesopfer zu einer Kunst hochstilisiert hatten.
Stammeshäutlinge trugen Titel "raja" (vgl.lat "rex"); ihm zur Seite standen
Ratsversammlungen. Wichtig der Hauptpriester (purohita), der durch
Opfer Wohlfahrt und Siege des Stammes sicherte. Raja war vor allem Kriegsherr und
nicht Priesterkönig - die Trennung von rituellem Status und sekulärer Macht war schon
vollzogen. Für viele Autoren gilt das als eine Grundvoraussetzung für das Entstehen des
Kastenwesens. Gesellschaft zeigte bereits Differenzierung (reiche Grabstätten für
Anführer/Adel, viel ärmere für das "gemeine Volk").
Lebensstil der Arier, und auch Stellung ihrer Frauen, war sicher in der Frühzeit nicht so
großartig, wie später oft beschrieben; kaum "zivilisiert", ewige Konflikte; Land konnte
größere Bevölkerungsgruppen mit Herden nicht ernähren, Ausbreitung war notwendig
aber schwierig (Dschungel im O, Trockengebiete im SW). Ackerbau gewinnt langsam
an Bedeutung (um ca. 800 v. Gebete um Regen, das Pflügen wird betont ...) - also
bereits andere Zeitumstände als die der Bronzezeit. Ressourcen dürften aber knapp
gewesen sein, was für das beständige Zunehmen der Blutopfer zumindest
mitverantwortlich gewesen sein mag...
Religion
Religiöses Vokabular der Indoeuropäer verweist auf Bedeutung des Himmels (deiv
göttlich, himmlisch; deus/lat, deva/skr, div/iran). Gott = "Himmelsvater" . Gottheiten
meist männlich, oft mit Naturphänomenen (Donner/ Regen/ Sonne/ Feuer... ) in
Verbindung gebracht.
Universum ursprünglich in 3 Regionen unterteilt, denen jeweils eine Gottheit vorstand:
- der himmlischen Spähre Savitra oder Surya (Sonne)
- dem mittlerem Raum Indra oder Vayu (Luft)
- und dem Erdraum Agni (Feuer)
Diese Dreizahl wird immer weiter vergrößert, erst auf je 11 pro Region, dann zu einer
Vielzahl von Gottheiten, wobei die "Alten Götter" des Rg-Veda zunehmend an
Bedeutung verlieren. Im Zeitraum zwischen zw.600 v. und 400 n. ändern sich Kultur
und Religion entscheidend. Viel "Altes" kommt wieder an die Oberfläche. Vedismus
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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mit seinem Ritualismus hatte viele Elemente der Volkskultur überlagert, langsam nimmt
"vedische" Oberströmung wieder ab, Göttinnen, magische Riten und kZauberei nehmen
wieder an Bedeutung zu. Manche Autoren sehen die Vorstellungen der vedischen Arier
fast wie ein "Interregnum", nach dem die alten Vorstellungen wieder an Bedeutung
gewinnen.
4. die Draviden in Südindien
Als sich die "Arier" nach Süden ausbreiteten, fanden sie dort eine zivilisierte
Gesellschaft vor, die der Draviden. Literatur über den frühen Süden Indiens ist
fragmentarisch und voller Widersprüche
dravidisch - genauso wie arisch - ein Begriff, der nur in der Linguistik sinnvoll ist;
Versuche, dravidische Sprachen mit anderen Sprachfamilien in Verbindung zu bringen,
waren noch nicht überzeugend
häufige Annahme, dass die Träger der Harappa-Kultur Draviden bzw. Proto-Draviden
waren und dass Proto-Dravidisch die Sprache der Harappa-Siegel war; auch, dass
bereits in der Gangesebene dravidische Worte ins Sanskrit Eingang gefunden hätten,
dass also die Draviden vor den Ariern dort gewesen sein müssen.
Einwanderungstheorien:
1: Einwanderung vor den Ariern (wird von der Mehrzahl - z.B:Heine-Geldern angenommen)
Draviden seien gegen Mitte des 3.Jahrtausends aus NW gekommen, hätten sich
ausgebreitet und seien dann nach Süden abgedrängt worden. Dravidischer "Überrest" in
Belutschistan, an der pakistanisch / afghanischen Grenze; dort sprechen etwa 250.000
Menschen Brahui, eine dravidische Sprache. - Dass die (Proto)Draviden ihre
(Industal)-Schrift "vergessen" hätten, könne durch die Erschütterung erklärt werden, die
sie erlitten, als sie aus ihren früheren Kulturzentren nach Süden abgedrängt wurden.
Dort entstehen im 3.s. v.die ersten Tamil-Inschriften in Brahmi-Schrift
2. Einwanderung gleichzeitig oder sogar nach Ariern:
z.B. von Christoph v.Fürer-Haimendorf vertreten. Die Einwanderung wird in
Zusammenhang mit späten Megalithgräbern Südindiens (vor allem Dolmengräber mit
einem sogenannten Seelenloch) gesehen, in denen Beigaben von Eisengeräten auftreten.
Im Dekkan tritt diese Kultur Eisen-Megalithkultur ziemlich unvermittelt rund 500 Jahre
vor Christus auf, in S-Indien ab ca.200 v.
Fürer-Haimendorf schließt vom plötzlichen Auftreten und der schnellen Expansion der
Kultur, dass sie von einer zahlenmäßig kleinen, aber dynamischen und gut entwickelten
Bevölkerung getragen wurde, die von außen eingewandert sei und sich schnell zerstreut
hätte, wobei verschiedene Lokalkulturen entstanden seien. Die Draviden, seien als
bereits hochentwickeltes "Volk" mit fortgeschrittenen Handwerkstechniken
eingewandert und hätten die dravidische Sprache nach Südindien und in den Dekkan
gebracht. Vielleicht seien sie sogar nach den Ariern angekommen und entlang der
Westküste nach Süden gezogen. Dort hätten jungsteinzeitliche Bauernpopulationen und
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schließlich auch die Jäger- und Sammlerstämme Südindiens die Sprache der "Draviden"
übernommen (und dann lokal umgeformt).
Die beiden Theorien müssen einander nicht unbedingt ausschließen; auch Draviden
könnten in mehreren Wellen nach Indien gekommen sein?? Skelettfunde Südindiens
können uns jedenfalls nicht helfen, das Rätsel der Draviden zu lösen; Knochen stammen
von verschiedensten Ethnien (mediterrane,veddide, australoide ..)
Um umfassendes Bild der frühen Geschichte Südindiens zu bekommen, verwendet man
heute verschiedene Quellen: archäologische, epigraphische, numismatische,
literarische... Ergebnis: Mitte des 1.Jahrtausends B.C. bereits vielschichtige, gut
entwickelte Kultur von Jäger/Hirten und Ackerbauern
Fundgegenstände: Eisengeräte, verschiedene Töpfereiwaren; Perlen aus Gold, Silber,
Kupfer, Horn, Bein, Glas, Terracotta und Halbedelsteinen, Muschel-Armreifen etc....es
muss Handwerksspezialisten und Tauschhandel gegeben haben,.
Meisten Erkenntnisse durch das Studium der sogenannten Sangam-Literatur (sangam:
Akademie von Gelehrten, die Gedichte sammelten, redigierten und zu Anthologien
zusammenstellten). Zeit: Jahrhunderte um Christi Geburt. (zw. ca..3.s.BC - 3.s.n.)
zwei Hauptgruppen
- die "acht Anthologien" und
- die "zehn Idyllen"
Manche Autoren rechnen dann noch eine Grammatik-Abhandlung, 18 didaktische Texte
und zwei Epen zur Sangam-Literatur.
Gedichte 3-400 Jahre oral tradiert, bevor sie in die Anthologien aufgenommen wurden.
"8 Anthologien" : Inhalt der Gedichte teilweise verschlüsselt und schwer verständlich.
Geben Auskunft über Wirtschaftsformen und sozialen Beziehungen. Wichtig: das
sog.tinai-Konzeptes (tinai = "Zone"). Das Land war in fünf solcher tinais unterteilt:
- hügeliges Waldland (Sammeln und Jagen)
- Trockengebiet/Wüste (Plündern und Rinderdiebstahl)
- Weideland (Tierzucht und Wanderfeldbau)
- "nasses Land" (Ackerbau auf bewässertem Land)
- Küstenzone (Fischen und Salzgewinnung.)
jeweiligen Bewohner passten sich in ihrer Lebensart ihrer Öoko-Zone an. Anfangs
wurde das oft "symbolisch" aufgefasst – als Beschreibung des Wandel s von "primitiver
Räuber/Jägerkultur" zu "zivilisierter" Ackerbauern/Händler-Gesellschaft. Heute weiß
man, dass die Gedichte als Abbild der Wirklichkeit gesehen werden können;
archäologische Hinweise für die verschiedenen Produktionsformen in den 5 tinais,
deren Bewohner einander offenbar oft bekämpften
Den Gedichten nach waren Verwandtschaftsbande die Grundlage der Beziehungen,
(Blutsverwandte oder Angeheiratete arbeiteten zusammen). d.h :keine entwickelte
soziale Arbeitsteilung (keine Kasten!!).
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Töpfer hatten rituelle Funktionen inne, waren offenbar aber sonst völlig Teil der
Gemeinschaft. Ausnahmen: Brahmanen, die aus dem Norden gekommen waren. Waren
keine Ackerbauern und brauchten Arbeiter, die nicht mit ihnen verwandt waren unterschieden sich also schon in der Zeit der Gedichte vom Rest der Bevölkerung,
standen außerhalb der Verwandtschaftsbeziehungen der lokalen Clans; ihr "fremder"
Status wird dadurch bekräftigt, dass sie in den Gedichten als "Leute aus dem Norden"
(vatamar) bezeichnet werden; wurden als "hochgeboren" angesehen, es gibt aber (noch)
keine Hinweise auf ihr völliges Abgetrenntsein - sie sind mit den anderen zusammen,
essen und trinken mit ihnen.
Handel auch mit weit entfernten Gebieten/Kulturen wichtig (mit Rom 1.- 3.Jhd.n.Chr.
Plinius bejammert, dass zuviel Gold für Warenimporte von Rom nach Indien ging ;
Handelszentren - z.B.Madurai - entstehen;.) Tamilen betrieben vermutlich nicht selbst
Überseehandel, sondern Ägypter, Griechen, Araber, Abessinier und Perser
exportiert: Gewürze (Pfeffer, Ingwer, Cardamom, Nelken...), wilde Tiere (Pfauen?),
Hölzer (Teak und Sandel), Baumwollstoffe, Edelsteine, Gemmen und Perlen.
aus Mittelmeerraum importiert: Münzen, Topaz, dünne Stoffe, Antimon, Korallen,
Glaswaren, Kupfer, Zinn, Blei und Wein/Weizen/Keramik
In einem Text wird ein Augustus-Tempel an der Westküste (Malabar) erwähnt, der aber
nie gefunden wurde.
politische Organisation:
anfangs Häuptlings-Tümer, deren chiefs Güter ansammelten, die sie wieder "verteilten";
"erwarben" neue Güter durch Plünderzüge (Rinder...). In den Gedichten kommt klar
zum Ausdruck, dass Raub/Plünderzüge in der damaligen Gesellschaft institutionalisiert
waren
Durch Interaktionen und Zusammenschluss der Mikro-Zonen Herausbildung größerer
"chiefdoms" (Häuptlingstümer), die sich wieder zu einer "Region" (nadu, vgl. Tamilnadu). zusammentaten. Unsicher, wie weit das schon "Staaten" im heutigen Sinn des
Wortes waren, denn nadus hatten keine fixe Grenzen, ihre Anführer keine
Steuergewalt...
Das alte Stratum der Anthologien repräsentiert eine nicht-sanskritische Kultur, in
neueren Teilen spürt man stärker die Einflüsse der brahmanischen Kultur: Brahmanen
repräsentieren ein neues Arbeitssystem, und langsam lösen sich auch andere Gruppen in
ihren Interaktionen aus dem Netz der Verwandtschaftsbeziehungen .
Größere Änderungen ab ca., 300 n.: die Zonenhäuptlinge verschwinden, römische
Handelsniederlassungen werden bereits gg. Ende des 2.s.n. verlassen. Es gibt wenige
Funde aus dieser Zeit.
Allgemein dürfte es Zeit der Unruhen gewesen sein, vielleicht Einfälle kriegerischer
Gruppen aus den Bergen Karnatakas . Literatur aus dem 4.5.s.n. betont stark die
Bedeutung von Frieden, Gehorsam, Loyalität und Moral für die Gesellschaft.... das ist
meist Zeichen für besonders unsichere Zeiten.
Danach: Zunehmen von Dörfern nach N-indischem Vorbild: das Dorf wird voll
entwickelte Agrareinheit mit strukturierten Landbesitzverhältnissen und
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dienstabhängigen Siedlern. In den alten Anthologien finden wir keine Hinweise auf
solche Dörfer, in Felsinschriften aus dem 4/5.s.n. dagegen schon. Ein Text aus dem
frühen 6.s. zeigt uns diese umgeformte Gesellschaft bereits in voller Blüte
Trotzdem auch heute noch Unterschiede zwischen Nord- und Süd-Indien: die
Kastenlandschaft ist anders strukturiert, die Frau hat eine andere Stellung, es gibt
Unterschiede in Eheregeln und Erbgesetzen und in der Religion
5. Alexanderfeldzug und das Großreich der Maurya
genauere geschichtliche Kenntnisse ab ca. 6.Jhd.v.
Die Machtzentren der vedischen Stämme haben sich in den Osten verschoben, arische
Kleinkönigreiche sind verschwunden, neue Reiche und ausgedehnte Siedlungen in der
Gangesebene (heutiges Uttar Pradesh und Bihar), neue Militärstrategien Kriegselefanten statt Streitwagen
soziale Lage: offenbar starke Spannungen zwischen manchen Herrschersippen
(ksatriya) und der erstarkten Priesterklasse der Brahmanen (Inkarnationen Visnus als
Ksatriya Ramachandra, und als Brahmane Parasuram). Unzufriedenheit der
Bevölkerung über komplizierte Opfer. Herausbildung verschiedener heterodoxer
Lehren, von denen sich Buddhismus und Jainismus dauerhaft als Religionen etablieren
konnten.
Im Kampf um die Vorherrschaft im Gangestal schließen sich ab ca. 600 v. 16 "Staaten"
zu 3 Königreichen zusammen: Kashi, Kosala und Magadha. 543 unterwirft König
Bimbisara von Magadha die anderen beiden und macht Magadha zur Hausmacht
mehrerer Dynastien. Er wird von seinem Sohn Ajatashatru ermordet, der ein Fort in
Pataliputra (dem heutigen Patna) errichtet und die anderen Staaten endgültig
annektiert. In der buddhistischen Literatur wird Ajatashatru als gewandter
Gesprächspartner des Buddha erwähnt.
Die bedeutendste Dynastie von Magadha ist die der Maurya. Begründet wurde sie um
320 v. durch Chandragupta Maurya, einen Mann niedriger Abstammung (die alte
vedische Aristokratie ist weitgehend abgesackt, die "Könige der neuen Art" sind oft
aggressive, skrupellose Emporkömmlinge und Usurpatoren). Chandraguptas Aufstieg
hängt indirekt mit dem
Indienfeldzug Alexanders des Grossen zusammen, der durch griechische Quellen
(z.B. Strabo...) belegt ist.
Alexander (in Indien Sikandar genannt) überquert 327 v. Berge des Hindukush,
überschreitet im Frühjahr 326 den Indus. Vom Herrscher der Universitätsstadt Taxila
freundlich empfangen und nach vedischer Manier bewirtet. Nach Strabo in Taxila "gute
Gesetze", auffallende Sitten wie Witwenverbrennung oder das Aussetzen der Toten,
Heiratsmarkt für Mädchen armer Familien ...
Alexander besiegt ind.König Puru (griech.Poros), setzt diesen als Vizekönig ein und
errichtet Garnisonen; da seine Armee nicht weiterziehen will, schifft er sich ein und
gelangt auf Flussläufen nach Süden ans Meer; an den Ufern begleiten ihn 120.000
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Soldaten zu Fuß, die die Lokalbevölkerungen unterwerfen. 323 stirbt Alexander mit 33
Jahren in Babylon.
Trotz dieser kurzen Zeitspanne ist die griechische Invasion nicht ohne Bedeutung: .
Alexander hatte bewiesen, dass Indien über eine Landroute erreichbar war;
Gedankenaustausch zwischen Indien und Europa (Fabeln, religiöse Einflüsse kamen
nach Europa; hellenistischer Einfluss in der indischen Gandhara-Kunst - vor allem der
Gebrauch von Bildnissen im Buddhismus). ...die Brücke zwischen Europa und Indien
dann später wieder weitgehend unterbrochen, bis die Verbindung im 15.Jhd. endültig
wiederhergestellt wird.
Maurya-Dynastie
Die von Alexander zurückgelassenen Garnisonen wurden vom jungen Chandragupta
Maurya, der aus Magadha verbannt war, angegriffen und vernichtet. Er kehrte dann
nach Magadha zurück, schwang sich zum Herrscher über das Reich auf und wurde zum
Begründer der bedeutenden Maurya-Dynastie. (ca.320 - 185 v.). Er ist die erste
historische Persönlichkeit, die als Kaiser Indiens bezeichnet werden kann.
Alexanders General Seleukos Nikator, der inzwischen König von Syrien geworden war,
wollte die indischen Provinzen zurückgewinnen, überquerte den Indus, stellte sich
Chandragupta und wurde zurückgeschlagen. Chandragupta und Seleukos arrangierten
sich und 302 v. entsandte Seleukos einen Beamten namens Megasthenes an den
Königshof von Pataliputra. Er verfasste einen hervorragenden Bericht über Indien
(Indika), der bis heute als eine der wichtigsten historischen Quellen gilt. Werk ist nicht
ganz erhalten, doch in verschiedenen Abschriften überliefert:
Indien war gut entwickelt, reger Handel zwischen Norden und Süden, Gesetze für den
Land- und Seehandel (aus Ägypten große Handelsflotten), Passzwang für Reisende;
Brahmanen voll anerkannt und überall auch als Berater der Rajas tätig; berichtet über
die Verehrung von Bäumen, und dass Brahmanen damals noch Fleisch aßen...
In den 24 Jahren seiner Herrschaft konnte Chandragupta sein Reich ausdehnen - bis ins
heutige Afghanistan , Punjab, Uttar Pradesh, Bihar und Kathiawar (Gujerat),
wahrscheinlich auch Bengalen. Als er 298 starb, war zumindest ganz Indien nördlich
der Narbada geeint. Chandragupta regierte seinen Staat mit eiserner Strenge. Zur Seite
stand ihm dabei sein Minister Kautilya oder Chanakya, der als Verfasser des
Arthashastra gilt, eines Werkes, das oft mit Machiavellis "Il Principe" verglichen wird.
Einem Herrscher wird darin eine zynische und rücksichtslose Politik empfohlen, um an
der Macht zu bleiben.
Organisation des Maurya-Reiches
große Armee (Söldnerheer), 9000 Kampfelefanten mit je drei Bogenschützen und dem
Elefantenführer, 30.000 Kavallerie, Streitwagen; insgesamt standen etwa 700.000 Mann
unter Waffen. Männer, Pferde und Elefanten trugen Schutzrüstungen. Armee begleitet
von Ambulanzdienst mit Ärzten, Medikamenten und Verbandmaterial, sowie Frauen,
die sich um Essen und Getränke kümmerten.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Pataliputra , am Zusammenfluss von Son und Ganges auf einer Landzunge gelegen, war
von einem mächtigen Palisadenzaun umgeben und konnte leicht verteidigt werden.
Kaiserplalast sehr prunkvoll, dem Palast von Persepolis nachgebaut, großer Luxus der
herrschenden Klasse; Gladiatoren - und Tierkämpfe, Wagenrennen, Wetten ...
Kurtisanen hatten Sonderstellung, am Hof als Friseusen , Girlandenherstellerinnen, etc.
angestellt und für den Geheimdienst tätig (horchten fremde Gäste aus...); Geheimdienst
bediente sich auch chiffrierten Schreibens, verwendete Brieftauben, erhielt
Geheimberichte aus den Verwaltungszentren der Provinzen ...ein Heer von Spionen und
Detektiven in zahllosen Verkleidungen ständig tätig und wurde seinerseits von einem
eigenen Büro überwacht... Folter und Todesstrafe für Verrat, aber auch Diebstahl,
Nichtbezahlen von Steuern und Brandlegung, Strafen für das Deponieren von Abfällen
auf der Straße; nachts Ausgangssperre. Eigene Kommissare für Handwerker und
Ausländer, die bewacht wurden, aber bei Krankheit betreut und nach Tod bestattet
wurden; Aufzeichnung von Geburten und Todesfällen; genaue Gewerbe -und
Preiskontrollen, Eichung von Maßen und Gewichten, Umsatzsteuer. - Alles Land
gehörte dem König und konnte nur gepachtet werden (nach Arthashastra gehört ein
Viertel der Erträge dem Staat... ); Straßenbau war eine der königlichen Pflichten, für
verschiedene Arten von Straßen waren verschiedene Breiten vorgegeben. Handel mit
alkoholischen Getränken gefördert (Steuer-Einnahmequelle!). Alles zusammen:
erstaunlich modernes Bild vom Indien des 4.s. vor Christus; negativ: Härte und Kälte
der Staatsführung
Die überragendste Persönlichkeit der altindischen Geschichte ist Chandraguptas
Enkelsohn Ashoka, der das Maurya-Reich nahezu über die ganze indische Halbinsel
ausdehnte (außer extremem Süden). Er regierte von 274 - 237 v.Chr. Magadha war das
Kernland seines Riesenreiches und wurde von ihm unmittelbar regiert, um dieses lagen
vier Vizekönigtümer: Punjab mit der Hauptstadt Taxila, Avanti in Rajasthan (Ujjain),
Dekkan (Suvarnagiri) und Kalinga (Hauptstadt Tosali). Residenz des Reiches war
weiterhin Pataliputra.
Ashoka wurde auf der Höhe seiner Macht Laienanhänger des buddhistischen Ordens
(angeblich aus Verzweiflung über das Blutvergießen bei der Eroberung von Tosali) und
große Stifterpersönlichkeit (84.000 Stupas errichtet, Trinkbrunnen angelegt, schattige
Mangohaine angepflanzt, Krankenhäuser erbaut...) .Auf Felsblöcken und Steinsäulen
ließ er vor allem an den Grenzen des Reiches (S: Karnataka, NW: heutiges Afghanistan)
Regierungserlässe, Aufrufe zu sittlicher Lebensführung, seine Botschaft der friedlichen
Koexistenz sowie Grundsätze der buddhistischen Laienmoral eingravieren. Sprache:
Prakrit, die Volkssprache und damalige lingua franca (nicht das von den Brahmanen
gepflogene Sanskrit!). 244 v. auf Ashokas Veranlassung das 3. buddhistische Konzil in
Pataliputra einberufen, danach Missionare nach Kashmir, Afghanistan, Südindien und
Ceylon entsandt. Vorwurf, Ashoka hätte einen Ausverkauf des Reiches zugunsten des
Buddhismus betrieben...
Nach Ashokas Tod 237 Verfall des Maurya-Reiches - Vizekönigtümer fallen ab. Die
Brahmanen und die von ihnen legitimierten Könige gewinnen bald wieder die
Oberhand, Sanskrit wird wieder zur Sprache der Herrschaftsmanifestation und bleibt es
auch. In Magadha lösen dann Usurpatoren-Dynastie einander ab.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Bis ins 1.s.v.Chr. stoßen Griechen wiederholt von Baktrien (N-Afghanistan, Teile von
Turkestan und Belutschistan) aus nach Gandhara vor , errichten eine indogriechische
Dynastie – und passen sich sehr an: ihre Münzen tragen neben griechischen auch
indische Schriftzeichen; manche Herrscher nehmen indische Titel an; einer wird zum
Buddhismus bekehrt, ein griechischer Gesandter bekennt sich zu Krsna-Vasudeva,
griechische Städte werden nach indischem, nicht nach griechischem Vorbild errichtet.
("sie kamen, sie sahen, aber Indien siegte".) –
Umgekehrt kommt die hellenistische Beeinflussung in der indischen Kunst erst dann
voll zum Durchbruch, als die politische Rolle der Griechen bereits ausgespielt war: vor
allem an buddhistischen Bauwerken treten korinthische und jonische Stilelemente auf,
die bildliche Darstellung des Buddha taucht - mit überwiegend griechischer
Formgebung- auf: idealisierte Jugendlichkeit (ähnlich Apollo-Statuen), Faltenwurf des
Gewandes, "Haarschopf"...
6. Skythen, Kushana und Gupta-Dynastie
N-Indien wird schließlich von den Saken oder Skythen überrannt, die bis etwa 50 n. die
Vorherrschaft in NW-Indien übernehmen; heute noch ein indischer Kalender aus dieser
Ära in Gebrauch
Skythen werden abgelöst von den Kushana: Konföderation mehrerer Stämme , die
ihrerseits von den Hunnen vertrieben worden waren und nach Indien einströmten. Sie
errichteten ein Reich von Afghanistan bis etwa Benares . Reichshauptstadt das heutige
Peshawar (Purushapura in Gandhara). Chronologie der Kushana-Zeit sehr unsicher, da
alle Jahreszahlen in einer unbekannten Zeitrechnung angegeben sind. Am bekanntesten:
König Kanishka, ein großer Förderer des Buddhismus, errichtete Klöster und Stupas
und gab der buddhistischen Missionstätigkeit neuen Auftrieb.
6.1. das Gupta Reich
Gegen Ende des Altertums gelang es der Dynastie der Gupta nochmals ein Großreich
zu errichten: 320 n. Chr. Thronübernahme durch Chandragupta I. in Pataliputra. Sein
Nachfolger dehnte das Reich von Assam und Nepal bis in den Punjab, nach Rajasthan
und Teile des Dekkan aus. Nach Jahrhunderten der Zerrissenheit war wieder ein großes
Reich entstanden und der König feierte in der Tradition des indischen Weltenherrschers
das Pferdeopfer.
politischer und kultureller Höhepunkt der Dynastie unter Candragupta II (380 bis
414): versammelte an seinem Hof die bedeutendsten Männer seiner Zeit (Dichter wie
Kalidasa, Astronomen, Bildhauer, Philosophen...) ;großen Epen erhielten jetzt ihre
endgültige Form, etliche der Skulpturen und Fresken von Ajanta dürften in dieser Zeit
entstanden sein. Herrschaftszeit der Gupta bis zum Ende des 5.s. war die Zeit der
indischen "Klassik", in der Literatur, Skulptur und Baukunst eine Gestalt annahmen,
die die Formensprache des Mittelalters prägte.
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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7. das frühe Mittelalter – erste muslimische Einfälle
Um 500: Einfall der Hephtaliten oder "Weißen Hunnen" zerstört Reste des GuptaReiches, das aber bereits keine geschlossene Einheit mehr bildete. Auch Hephtaliten
wahrscheinlich wieder Sammelbezeichnung für eine politische und interessensmäßige
Konföderation verschiedener Stämme und Stammesgruppen. Den Hephtaliten gelang
es, kurzfristig weite Teile N-Indiens zu unterjochen, um 600 sind die meisten Hunnen
nach Afghanistan zurückgewichen, die in Indien verbliebenen werden assimiliert.
Die Hunnen hinterließen ein Machtvakuum in Nordindien. Es folgt eine sehr düstere
Zeit: politische Zerrissenheit, einander bekämpfende Kleinstaaten, schlechte soziale
Verhältnisse. Bürgerstand durch Kriegsverwüstungen, Steuerdruck, Geldentwertung fast
vernichtet, nur Militäradel und Hindu-Priestertum in Wohlstand, wobei Priesterschaft
am meisten profitiert, Tempel werden immer reicher. Reaktionen wieder in Form von
Sektierertum, Bewegungen von Priester-Propheten, religiösem Fanatismus.
buddhistische Kirche verliert ihren Einfluss, wird teilweise grausam verfolgt,
gedanklich überwuchert und verschwindet. Dagegen gewinnt die devi, die große Göttin,
an Bedeutung. Schlüsseltext der devi-Verehrung ist das so genannte
Devimahatmayam, (6./7.s.).
In diesen Zeiten gibt es noch einmal einen indischen "Großkönig", Harsa (oder
Harsavardhana) aus einem unbedeutenden Königsstamm; er errichtet wieder für kurze
Zeit (606-647) ein Reich bis nach Assam und an den Narbada-Fluss. Wir wissen über
ihn gut Bescheid: einerseits durch ein Epos, das sein Hofdichter über ihn verfasste,
wichtiger aber durch den Bericht des buddhistischen chinesischen Pilger-Reisenden
Hiuen Tsang (Hsüan-tsang, Yuan Chwang...), der aufgebrochen war, um das
Geburtsland des Buddhismus kennenzulernen. Er betrat Indien um 630 und blieb bis
643, meist im Machtbereich bzw.am Hofe Harshas. Zurück in China verfasste er ein
sehr wichtiges vielbändigen Werk, das über diese Zeitepoche Aufschluss gibt.
Während im Norden großteils Verwirrung herrschte, konnten sich die Staaten
Südindiens ruhiger entfalten, wobei aber nie Großreiche von der Bedeutung eines
Maurya-oder Gupta-Reiches entstanden. Im N und S begannen herrschaftsfreie Räume
zu schwinden. Es gab nirgends mehr "Universalherrscher"; Könige versuchten, sich
einen samanta-chakra (Kreis von Nachbarn) zu schaffen, Beziehungsgeflechte, die ein
Gleichgewicht ermöglichten.
Im N beginnt ab dem 8.s. mit dem Vordringen der Muslims eine neue Entwicklung:
712/713 kam es zu ersten arabisch-islamischen Vorstößen in den Sindh, bis 745 war
auch das Industal weitgehend unterworfen. Diese ersten Vorstöße hatten vielleicht
größere kulturelle als militärische Bedeutung: Araber erlangten von den Indern
mathematische Kenntnisse (Null und Dezimalsystem gelangten nach Bagdad, wurden
Bestandteil der arabischen Mathematik und kamen dann auch nach Europa; indische
Fabeln werden ins Arabische übersetzt...)
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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7.1. Mahmud von Ghazni
Ernstere Vorstöße etwa ab 1000: Sultan Mahmud von Ghazni, der größte Feldherr
des Abbasidenreiches (998-1030) führt vom heutigen Afghanistan aus 17 sich
periodisch wiederholende Raubzüge nach Indien durch, (berittene Bogenschützen). Er
plündert und zerstört die reichen Tempel (z.B.1024 den berühmten und reichen ShivaTempel von Somnath), schleppt Zehntausende Sklaven weg, bereichert seine Wirtschaft
und baut - über südindische Häfen - Seehandel nach China aus; Südindien profitiert
letztlich von der Beraubung Nordindiens. Mahmud von Ghazni wollte Indien berauben,
aber nicht beherrschen. Zwei Jahrhunderte später plant der afghanische Herrscher
Mahmud von Ghor (Ghur) eine echte islamische Invasion vor.
8. das spätere Mittelalter
8.1. die Ghuriden, Sultanat von Delhi, Tamerlan
Ghuriden besitzen schlagkräftige Kavallerietruppen; deren Kommandanten werden als
Lohn für den Sieg Teile der neu eroberten Gebiete zugewiesen, und das Recht
zugestanden, deren Grundsteueraufkommen abzukassieren; für Indien waren das ganz
neue Vorgangsweisen: immer mehr Territorien wurden besetzt, der Krieg wurde aus den
indischen Ländereien finanziert. Hindu-Herrscher bieten ihre Machtmittel auf, werden
aber 1192 an der Pforte von Delhi besiegt (Schlacht von Taraori)- folgenschwere
Überfremdung Indiens durch die Muslims (das Wort "Muslim" hat keinen ethnischen
Gehalt!; "islamisch" oder "moslemisch" wird aber auch außerhalb des religiösen
Bereiches verwendet, um die neuen Herrscher und die konvertierten Schichten Indiens
von der traditionellen indisch/hinduistischen Kulturwelt abzugrenzen).
Hindu-Indien hatte dem Ansturm der Muslims wenig entgegenzusetzen:
Hindu-Dynastien hatten sich gegenseitig aufgerieben; Land in kleine Staaten zerfallen,
die sich dem Feind oft einzeln entgegenstellten oder sich mit ihm gegen unmittelbare
Nachbarn verbündeten; Kriegskunst der Rajputen veraltet (Kriegselefanten fürchteten
Muslim- Kavallerie; heldenmütige Rajputen gewöhnt, dem Gegner im Nahkampf von
vorne zu begegnen; bei Niederlage: johar-Ritual - Männer suchten den Tod in der für
verloren gehaltenen Schlacht, daheim zurückgebliebene Frauen und Kinder verbrannten
sich bei Erhalt der Nachricht, um nicht dem Feind in die Hände zu fallen.
Muslims unterwarfen rasch ganz N-Indien und Teile des Dekkan. 1206 wird das
Sultanat von Delhi begründet, einige Jahre später vom Kalifen von Bagdad offiziell
bestätigt.... kein dynastischer Staat; meist folgte ein Usurpator dem anderen, tüchtigsten
Feldherren waren daher immer im Zentrum der Macht. Als 1221 Dschingis Khan mit
seinen Mongolen am Indus erscheint, können sie von Delhi abgewehrt werden.
Die Sultane unternahmen zunehmend Militärvorstöße in den Süden (Beutezüge), und
die Hindu-Herrscher mussten ihre Militärtaktik und Verwaltung "sultanisieren"; setzten
ihrerseits nayaks (Kavalleriekommandanten) ein. Indien überzogen von Garnisons- und
Verwaltungsstädten, in denen Kavalleriehauptleute saßen (ortsfremd, im Norden oft
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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landfremd, der lokalen Sprache unkundig), die das Sagen hatten und Steuern eintrieben.
Die neue politische Situation im Norden hatte also Auswirkungen auf ganz Indien.
Das Sultanat von Delhi hatte manchmal kurzfristig eine enorme Ausdehnung, löste sich
dann aber wieder in islamische Teilstaaten auf, von denen einige sogar von indischen
Fürsten zurückerobert werden konnten und Keime für spätere Großreiche, wie das von
Vijayanagar ("Stadt des Sieges", 1336-1565), gelegt werden konnten, das zeitweise
fast ganz Südindien beherrschte
1398: "Indienfeldzug" Timurs (Tamerlans), des Herrschers von Samarkand, dessen
90.000 Soldaten Delhi 5 Tage lang plünderten und niederbrannten. Nahm dann alle
Steinmetze mit nach Samarkand, wohin er schon viele Handwerksspezialisten
geschleppt hatte (Maler, Kalligraphen, Architekten aus Persien, Seidenweber und
Glasbläser aus Damaskus, Silberschmiede aus der Türkei). In N-Indien: Anarchie,
Hungersnot und Pestepidemien. Süden besser dran; verschiedene Reiche haben
abwechselnd Vormachtstellung (Vijayanagar, Orissa unter einem nayak-Herrscher,
Bahmani-Sultanat mit einem persischen Pferdehändler als Feldherren, im beginnenden
16.Jhd.wieder Vijayanagar unter seinem größten Herrscher Krishnadevaraya. Er ist
Zeitgenosse Manuels II von Portugal (1495-1521), und Baburs aus Samarkand, die
beide für die weitere Geschichte Indiens wichtig sind. König Manuel wegen seiner
großen Expansionspläne (bereits 1498 war Vasco da Gama an der Malabar-Küste
gelandet) und Babur, weil er die Dynastie der Großmoguln begründete.
9. die Neuzeit
9.1. Hegemonie der Großmoghuln
Babur aus Samarkand war väterlicherseits ein Nachkomme Timurs, mütterlicherseits
ging er auf Dschingis Khan zurück; griff 1526 Delhi an und siegte mit Hilfe seiner
Feldartillerie gegen eine 10fache Übermacht des Sultans von Delhi, Ibrahim Lodi (also
Kampf Muslim gegen Muslim); nahm den Titel Padscha (Kaiser) an, schlug Residenz in
Agra auf und ließ sofort weitere Geschütze gießen, schickte sie per Floß den Ganges
hinunter nach Bengalen und besiegte den dortigen Sultan, und auch noch eine
Konföderation der Hindu-Fürsten von Rajasthan. Er bezeichnete als " Streiter für den
Islam" (Ghasi) und wird von Hindus oft als grausam beschrieben. Er war ein genialer
Feldherr, aber auch Dichter (Memoiren erzählerisches Meisterwerk und auch eine
wichtige Geschichtsquelle), Maler (Tierbilder), Gärtner (brachte Melonen und Trauben
nach Indien einführte), lebensfroh und trinkfest.
Wie bei den Mauryas führte auch hier der Enkel des Dynastiebegründers Akbar der
Große (1556-1605) die Dynastie zu ihrem Höhepunkt. Er vereinte großen Teil des
indischen Subkontinents; war eine überragende Persönlichkeit
- weltoffen (er führte den solaren Kalender anstelle des Mondjahres ein),
- tolerant: wollte Muslims, Hindus und die Überreste der Buddhisten in seinem Reich
friedlich vereinen. Gründete Fatehpur Sikri als Residenzstadt und versammelte
Anhänger verschiedener Religionen dort. (von Jesuiten wollte er allerdings nicht nur
über ihre Religion, sondern auch über Artillerie-Technik Informationen)
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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-politisch geschickt: starke Zentralregierung mit einem kleinen, stehenden Heer und
Kontrolle über die wichtige Feldartillerie; ergänzt wurde Heer durch Reitersoldaten, die
die hohen Beamten in Kriegszeiten stellen mussten. Dafür erhielten Beamten ein Gebiet
zugewiesen, in dem sie die Grundsteuer kassieren konnten ... also Militärfeudalismus
bei gleichzeitig starker Zentralregierung, das war ein sehr erfolgreiches Rezept. Bei
Beförderung erfolgte automatische Versetzung des Beamten und Zuweisung eines
größeren Gebietes... dadurch konnte niemand eine Hausmacht begründen. Positionen
waren nicht erblich, trotzdem Reichsadel, der bis ins 17.s. zumeist aus "Ausländern"
bestand (Muslime türkischer, afghanischer und persischer Abstammung ...viele
Ehefrauen kamen aus Persien...) Doch auch die Hindu-Rajputenfürsten waren
miteinbezogen, ihre Gebiete blieben ihnen weitgehend belassen
- Verwaltungsreform Akbars: er erkannte, dass Indiens Reichtum in der Landwirtschaft
lag, daher ganze Reich in Provinzen / Distrikte / Subdistrikte eingeteilt und genaue
Flurvermessung durchgeführt; Grundsteuer wurde dann der Bodenart/ Getreideart und
dem Ertrag angepasst, im Durchschnitt Wert von einem Drittels der Ernte... viel
humaner als später Engländer
- gezielte Preiskontrolle, Kredit- Wechsel- und Versicherungswesen eingeführt,
einheitliche Münzwerte festgelegt und die Steuern in Bargeld eingehoben...(Münzen
hatten hohen Silbergehalt, Indien hatte kein Silber, musste importiert werden, das
übernahmen die Portugiesen)
Akbars Reformen äußerst wirksam, seine Verwaltungsstruktur erhielt das Reich noch
für lange Jahre nach seinem Tod 1605 stabil ...Leistung, die in der indischen Geschichte
ohne Parallele ist.
Enkel Akbars, Shah Jahan (reg-1628 - 1658) dehnte Reich weiter aus. Islam wird nun
sehr stark gefördert, Rajputen aber weiter mächtige tributpflichtige Feudalherren;
Marathen gewinnen an Bedeutung. Unter Shah Jahan Höhepunkt der MoghulBautätigkeit (Taj Mahal - gilt als Gipfelpunkt der islamischen Kunst in Indien).
Verlegt Hauptstadt von Agra nach Delhi, erbaut Rotes Fort
Großmoghuln hatten keine geregelte Erbfolge; der "geschickteste" Prinz wurde
Herrscher: Shah Jahans Sohn Aurangzeb, ein fanatischer Muslim, nahm den Vater
gefangen, ließ zwei seiner Brüder hinrichten; Moghul-Reich erhielt größte Ausdehnung
(alles außer der Südspitze und den Hochebenen von Afghanistan); war geschickter und
intrigenreicher Herrscher, doch sein religiöser Fanatismus trägt zum Untergang des
Moghulreiches bei: Zerstörung von Hindu-Heiligtümern, die Verfolgung der Sikh und
der Martertod eines ihrer wichtigen Gurus (Guru Tegh Bahdur) führen zur Bildung
eines straffen militärischen Kampfbundes der Hindus gegen den Islam.
Aurangzebs gefährlichster Widersacher wird Shivaji (1627-80), der Führer der
Marathas, mit seiner Guerillastrategie (aufständische Freischärler mit dorfgefertigten
Handfeuerwaffen, Feldartillerie bleibt nutzlos) Shivaji läßt sich 1674 mit HinduZeremoniell zum König krönen - Solange der Moghulkaiser lebt, können die Marathen
nicht die Oberhand gewinnen - nach seinem Tod erobern sie rasch weite Gebiete
Indiens. In fürchterlichen Kämpfen bricht die mehr als 200-jährige Herrschaft der
Moghul-Kaiser in Indien zusammen; sie behalten zwar ihren Titel, haben aber kaum
noch Macht.
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9.2. Europäer in Indien
das 18 Jahrhundert ist durch das Vordringen ausländischer Mächte bestimmt
Portugiesen seit Beginn des 16.s präsent; anfangs als Eroberer, Piraten und Plünderer,
dann auch als Händler. Ihr Hauptstützpunkt in Indien wurde Goa, ursprünglich
Landeplatz persischer Pferdehändler. Portugiesen stiegen groß in dieses Geschäft ein
und wurden für Vijayanagar wichtig. Portugiesische Söldner oft als Artilleristen in
Diensten indischer Herrscher.
Anfangs Europäer nicht als große Bedrohung gesehen (wegen des Monsuns war eine
Invasion zur See unmöglich, hatten keinen Zugriff auf einheimische Grundsteuer und
daher - nach Meinung der Inder - kein Geld für Kriege) Sultan von Bijapur, dem Goa
gehörte, wollte Portugiesen von dort vertreiben und wäre erfolgreich gewesen, wenn
Vijayanagar nicht den Portugiesen Schutz gewährt hätte .... vom ersten Moment an
wurden indische Mächte von den Europäern gegeneinander ausgespielt.
Neben Portugiesen betrieben auch Holländer, Dänen, Franzosen (Pondicherry, Surat)
und Engländer Handel...kurzfristig sogar österr.Niederlassung. Im 17.s. errichten
Europäer an den Küstenzonen befestigte Brückenköpfe, dehnen Einflussbereich weit ins
Hinterland aus. Niederländische Ostindiengesellschaft erkannte bald, dass man indische
Textilien gut in Europa verkaufen konnte, englische Ostindien-Kompanie
(konzessioniert durch Königin Elisabeth I. 1600) stieg in Bengalen noch größer in das
Textilgeschäft ein und ließ bald eigene Muster und Stoffgrößen produzieren.
Bengalen war Randzone des Moghul-Reiches gewesen, nach Machtverlust der Moghuln
sank die Bedeutung Delhis und der Häfen an der Westküste, Bengalen wurde wichtigste
Handelszone für Chinesen, Araber und Armenier ... Handel mit Europa anfangs
vergleichsweise geringfügig, aber für etwa 7000 Europäer, die sich in Indien als
Händler niederließen, und für eine Handvoll Leute vor allem in London von immenser
Wichtigkeit. Durch Wirren im zerfallenden Moghulreich oft Nachschubwege
abgeschnitten, Engländer sammelten alle Informationen (neue Bezugsquellen
f.Textilien, sichere Reiserouten, erhielten automatisch politische Informationen...); von
da zu kleinen militärischen Interventionen war ein kleiner Schritt - indische Söldner mit
europäischer Präzision zu Infanterietruppen ausgebildet, europäischen Kaufleute führten
ihre Kriege mit dem Rechenstift (indische Heerführer oft mitten im Krieg kein Geld für
den Sold, Soldaten liefen weg...)
East India Company: anfangs private Handelsgesellschaft; bald ein Netz von
Niederlassungen in Bengalen. Daneben nur noch Franzosen von Bedeutung (ihr
Handelsvolumen etwa Hälfte des britischen). Mitte 18.s. :bewaffnete
Auseinandersetzungen zwischen beiden Mächten als Teil des größeren Krieges in
Europa und N-Amerika. Briten gingen als Sieger hervor.
9.3. die britische Kolonialherrschaft und Staatenbildung
Robert Clive war junger Schreiber der Ostindiengesellschaft; erlernte Militärhandwerk,
verteidigte 1751 erfolgreich die Festung des mit den Briten verbündeten Nawab von
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Arcot gegen eine große Übermacht. 1757 will Nawab von Bengalen die Briten aus
Calcutta vertreiben und wird von Clive geschlagen. Der machtlose Großmoghul in
Delhi trug daraufhin der Ostindiengesellschaft die Steuerhoheit über Bengalen an, die
Clive im Namen der Krone, und nicht im Namen der Ostindiengesellschaft, annehmen
wollte. Das verwehrte ihm der englische Premierminister Pitt aus Furcht, dass
Einnahmen aus Bengalen die Stellung des Königs gegenüber dem Parlament stärken
würden. Erst einige Jahre später durfte Clive das Angebot des Großmoghuln - für die
Ostindiengesellschaft - annehmen.
In Indien war die politische Situation verworren: Briten kämpfen gegen vereinten
Truppen des Großmoghuls und des Nawabs von Bengalen. Vom Gebiet des alten
Magadha ausgehend, setzt die Ostindiengesellschaft zur Eroberung des Subkontinents
an (klassisches Modell: Errichtung und Festigung der Macht im Kernland am Ganges,
dann weitere Expansion). Riesige Gebiete werden unter die britische Herrschaft
gebracht: Delhi, Teile von Orissa, Bengalen, Bihar, weite Teile Südindiens, die
Küstenebenen, später Zentralindien. Sie nützen dabei stets geschickt die Streitigkeiten
der einheimischen Herrscher, den Konflikt zwischen Muslims und Hindus sowie die
Kastenrivalitäten für ihre Zwecke aus ("divide et impera").
Finanzierung: Grundsteuersystem der Großmoghuln übernommen, aber Briten trieben
Steuern viel rücksichtsloser, als oberste Bezirksbeamte fungieren nun britische
Angestellte der Gesellschaft, die genau rechnen konnten. Fruchtbarsten Landstriche
kamen unter direkte britische Herrschaft, der Rest blieb verbündeten indischen Fürsten
überlassen. Großmoghul nur noch Pensionist der Ostindiengesellschaft, die - offiziell in
seinem Namen - das Land regiert
1857: erste große nationale Erhebung (Sepoy-Aufstand); königliche britische Truppen
werden eingesetzt, obwohl Indien immer noch von der Ostindiengesellschaft verwaltet
wird und nicht offiziell der Krone untersteht. Zuerst meutern ind. Söldner, werden von
Bauern und Grundbesitzern unterstützt (Gründe waren politisch, wirtschaftlich – hartes
Steuersystem/Billigimporte, sozial – Einmischung in Traditionen, verwaltungstechnisch
– "Dokumente"/nur britische hohe Beamte, militärisch – Verbot von Turban/Bärten,
religiös – aggressive Missionare);
Aufstand scheitert vor allem an mangelnder Führung und wird niedergeschlagen,
Ostindiengesellschaft wird aufgelöst und übergibt ihre Besitzungen an die britische
Krone, die 1858 direkt die Herrschaft über Indien übernimmt. Königin Victoria nennt
sich ab 1877 Kaiserin von Indien
Reformen in Zivil- und Strafgesetzordnung; westliche Erziehung beginnt
(Brahmanen!!!), in Städten entsteht westlich orientierte Mittelschicht, der die Briten
aber wenig Bedeutung beimaßen.
1885 in Bombay Gründung des indischen Nationalkongresses - anfangs eine Minorität
von städtischen Intellektuellen der oberen Mittelschicht; dann Zustrom aus anti-britisch
eingestellten unteren Mittelschichten, Bedeutung nimmt zu. - In der 2.Hälfte des 19.s
aber sind Briten noch sicher, Technik kam ihnen. zu Hilfe:
- Dampfschifffahrt durch den Suezkanal kürzte den Reiseweg ab
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- Telegraph ermöglichte schnelle Kommunikation mit London
- Eisenbahnnetz ausgebaut (meist zu strategischen Zwecken); viele britische Soldaten
im Land, gut organisierte indische Armee (kämpfte später in Weltkriegen auf allen
Kriegsschauplätzen) .
Weltkriege schwächten schließlich die britische Weltmacht; dazu kam das Erstarken des
indischen Nationalismus (von Petitionen, über Terroranschläge zu Gandhis Kampagnen
der Nichtzusammenarbeit, des bürgerlichen Ungehorsams und gewaltlosen
Widerstands. Dadurch Lahmlegung des bürokratischen Staatsapparats, von dem die
Briten abhingen.). Abertausende Inder in Gefängnissen. Seit Ende des 1.Weltkrieges
war es Mahatma Gandhi gelungen, auch die Bauernmassen politisch zu organisieren;
wollten anfangs nur Gleichberechtigung innerhalb des Empires, Ausgleich zw.Hindus
und Muslims, Ausschaltung westlicher Bildungseinflüsse, Stärkung der Bauern durch
Wiederbelebung der Heimindustrie
1947 waren Briten froh, sich aus Indien zurückzuziehen und die Macht im Land an den
Nationalkongress zu übertragen, was wegen des jahrhundertealten Hasses zwischen
Hindus und Muslims nicht problemlos vor sich ging
schon zu Beginn des 18.s. kriegerische Hindu-Renaissance mit Blutvergießen. Für
Hindus waren die hochrangigen Muslims "Fremde", die sozial niedrigen Konvertiten
aus Unberührbarenkasten, denen die Kastenhindus ihren Religionswechsel nie
verzeihen konnten, dagegen "Verräter". Briten wären mit den Muslims besser
ausgekommen, doch die Hindus (vor allem Brahmanen) ergriffen viel schneller die
Möglichkeiten auf westliche Bildung, waren dann die wichtigsten Geschäftsleute und
Beamte, hatten zusammen mit den Parsen das Bank- und Versicherungswesen
monopolisiert. Muslims behielten trotz ihres neuen Glaubens meist alten Kasten-Berufe.
Also wirtschaftliche, soziale und religiöse Barrieren zwischen Muslims und Hindus
Engländer hatten ein labiles Gleichgewicht zwischen den Kommunitäten bewahren
können. Im Kampf für ein freies Indien, hatten anfangs Hindu-und MuslimIntellektuelleneliten zusammengearbeitet. Zunehmend wurde Gandhis Nationalkongress
aber hinduistischer und Muslims fürchteten, in einem unabhängigen Staat mit HinduMehrheit unterdrückt zu werden. Schon 1933 wurde der Wunsch nach einem eigenen
Muslim-Staat erstmals geäußert und der Name Pakistan vorgeschlagen (aus
Anfangsbuchstaben der Provinzen Punjab, Kashmir, Sind). Idee wurde dann von der
Muslim Liga aufgegriffen, die den 16.August 1946 zu einem "Aktionstag" erklärte und
ein schreckliches Gemetzel unter Hindus inszenierte, die sich zur Wehr setzten; an
diesem Tag 6000 Menschen getötet. Mohammed Ali Jinnah, Führer der Muslim Liga,
drohte mit Bürgerkrieg und Gandhi, der sich immer gegen den Plan eines eigenen
Muslimstaates gewehrt hatte, gab schließlich nach: Aus dem britischen Kolonialreich
entstehen also zwei Staaten
- Pakistan wird am 14.8.
- Indien am 15.8.1947 britisches Dominion.
Trotz der Trennung schreckliches Chaos, größte Massenflucht der Geschichte: in 3
Monaten ziehen 3,5 Millionen Hindus und Sikhs nach Indien, und 7 Millionen Muslims
aus Indien nach Pakistan (von etwa 600.000 Hindus und Sikhs in Lahore bleiben nur
rund tausend zurück....) Furchtbare Massaker begleiten die moderne Völkerwanderung.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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9.4. die Eingliederung der Prinzenstaaten
Ab 1857 eroberten bzw. annektierten Briten kaum mehr neue Gebiete. 1947 wurden 2/3
des indischen Territoriums direkt von der Regierung der Kronkolonie verwaltet. Der
Rest zerfiel in 562 erbliche Fürstenstaaten, die verstreut im Gebiet englischer
Verwaltung lagen und mit individuellen Verträgen unter britischer Oberhoheit standen
(bez. Außenpolitik etc...). Briten erklärten 1946, dass sie diese Oberhoheit weder
behalten noch sie direkt auf die indische Regierung übertragen wollten, sondern die
neue Regierung musste mit jedem "prince" gesondert Beitrittsverhandlungen führen.
Die Fürsten sollten sich entweder Indien oder Pakistan anschließen. Etliche Fürsten
wollten eine Konföderation unabhängiger Staaten bilden, die jedoch niemand
anerkennen wollte. Instrument of Accession ("Beitritts-Vertrag, bzw. AnschlussVertrag") wurde unter Innenminister Vallabhai Patel von den meisten Fürsten
unterschrieben, und den Herrschern politische Rollen und Apanagen zugesichert. Nur
wenige Staaten (wie Mysore, Hyderabad) hätten ihrer Größe wegen an Unabhängigkeit
denken können, doch es gab keine Konzessionen.
Innerhalb einiger Monate hatten alle Fürstentümer mit wenigen Ausnahmen für den
Anschluss an Indien gestimmt. Jänner 1947 waren nur noch drei übrig:
- Junagadh (Kathiawar/Gujerat): ind.Armee eingesetzt, Muslim-Herrscher floh nach
Pakistan, seine Minister unterstellten sich Indien; nachträgliche Volksabstimmung, 90%
für Indien
- Hyderabad: groß und wohlhabend, eigene Armee und Währung; wollten eigenen
Dominion-Status, wäre von Pakistan akzeptiert worden; Bevölkerung: ca. 85% Hindus,
Herrscher Muslim; 1948 mit Gewalt durch Indien annektiert, Nizam erhielt hohes
Kongressamt, Land wurde auf Maharashtra, Karnataka und Andhra aufgeteilt,
Hyderabad wurde Hauptstadt von Andhra Pradesh.
- Kashmir, im Spannungsfeld zwischen China, damaliger UdSSR, Indien und Pakistan;
Bevölkerung 70% Muslims, 30% Hindu und Sikh; Herrscher damals Raja Hari Singh,
arrogant und despotisch; schon seit 1930 gab es eine Front gegen ihn, geführt von
Sheikh Abdullah (der "Löwe von Kashmir"), einem Freund Nehrus, der für einen
Anschluss an Indien plädierte; Hari Singh unterzeichnet den Vertrag nicht; im Oktober
1947 fallen pakistanische Truppen in Kashmir ein, Hari Singh flieht, bittet Indien um
Militärhilfe und unterschreibt; Nehru verspricht eine nachträgliche Volksabstimmung,
sobald Ruhe und Ordnung wiederhergestellt wären, und sendet Truppen nach Kashmir;
im Frühjahr 1948 ruft Indien den UNO-Sicherheitsrat an, 1949 wird eine
Demarkationslinie errichtet, die bis heute als De-facto-Grenze besteht: 1/3 im NW unter
pakistanischer, restliche 2/3 unter indischer Oberhoheit; Sheikh Abdullah wird
Ministerpräsident, ratifiziert aber Anschlussvertrag nie offiziell; 1957 wird Kashmir in
die Indische Union aufgenommen - immer noch ohne Volksbefragung.... Situation blieb
so bis heute, Spannungen heute schlimmer als je, Indien wie auch Pakistan sind
Atommächte und die Kashmirfrage steht immer noch im Zentrum der
Auseinandersetzungen
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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9.5. Staatenbildung innerhalb Indiens
Bildung der Bundesstaaten aus den alten britischen "Presidencies" vor allem aufgrund
der Sprachen. Fürstenstaaten in diese neuen Gebilde eingeschmolzen, viele waren
rückständig und feudal gewesen und mussten jetzt modernisiert und demokratisiert
werden. Prozess der Staatenbildung geht immer noch weiter, das "Sonnenaufgangsland"
Arunachal Pradesh, wurde 1987 gebildet, im Juli/August 2000 entstanden drei neue
Staaten Jharkhand, Chhatisgarh und Uttaranchal.
Goa blieb bis 1961 portugiesische Provinz, wurde dann von indischer Division besetzt
und "befreit".
Heute besteht die Indische Union BHARATA aus 28 Staaten und 7 so genannten
Unions-Territorien, die direkt der Verwaltung durch den Staatspräsidenten unterstehen
9.6. Verfassung, Parteienlandschaft und Wirtschaft
die Verfassung Indiens
Die Arbeit an einer Verfassung für das unabhängige Indien wurde im Dezember 1946
durch die The Constituent Assembly aufgenommen. In Kraft trat sie am 26.Jänner 1950
- genau 20 Jahre, nachdem der Nationalkongress offiziell die völlige Loslösung von
Britannien zu seinem Ziel erklärt hatte (heute Nationalfeiertag...Republic Day) Für die
juristische Gestaltung der Verfassung hatte Nehru allerdings Dr.Ambedkar geholt, der
kein Kongressmann war, sondern als Führer der Unberührbaren sogar zu den schärfsten
Kritikern der Kongresspartei gehörte. Die Unberührbaren wurden auf diese Weise in
den Prozess der Konsensbildung bezüglich der Verfassung eingebunden
In der Präambel zur Verfassung werden die Hauptziele niedergelegt. Darin wird Indien
als unabhängige sozialistische säkulare demokratische Republik bezeichnet. Säkular ist
als "Neutralität des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften" zu verstehen, von
denen der Staat keine bevorzugen, verbreiten oder finanzieren darf. Diese Haltung galt
auch schon für die islamischen Herrscher in Indien, die eine mehrheitlich
andersgläubige Bevölkerung regieren und dabei "neutral" bleiben musste. Ebenso galt
es für die Fremdherrschaft der Briten, die das Prinzip der Neutralität erst durchbrachen,
als sie den Muslims separate Wählerschaften gewährten - angeblich zum
Minderheitenschutz, praktisch sicher auch, um Hindus und Muslims gegeneinand
auszuspielen.
- sozialistisch soll zum Ausdruck bringen, dass wirtschaftliche und soziale Gleichheit
aller angestrebt wird - also Überwindung der Diskrepanzen sehr arm- sehr reich, und
Überwindung der Kastenordnung. Diese Ziele werden als sehr wichtig gesehen;
entsprechende Gesetze wurden geschaffen.
Wichtig ist die starke Betonung des Zentrums: Präsidenten (nach dem Vorbild des
Vizekönigs aus britischer Zeit), wie auch Premierminister (das nach dem Vorbild des
britischen Premierministers, der sehr viele Rechte hat und z.B. das Parlament auflösen
kann und die Minister bestimmt die dann der Präsident ernennt...) haben große
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Machtbefugnisse. In Notfällen kann der Präsident einzelne Bundesländer direkt dem
Zentrum unterstellen (President's rule). Damit können Regierungen von Bundesstaaten,
die dem Premierminister nicht passen, ihres Amtes enthoben werden.
Trotz aller etwaiger Mängel gilt Indien heute als die "größte Demokratie der Welt", und
das verdankt es Nehru. Er hatte die Weichen für eine parlamentarische Demokratie
gestellt.
die Parteienlandschaft
Wie in vielen anderen Bereichen finden wir auch in der Parteipolitik eine Mischung aus
westlich-modernen und indigenen Praktiken, und es gibt einige Besonderheiten.
- So gab es z.B. eine starke marxistisch/kommunistische Bewegung in Indien. In
anderen Ländern führte das unter Umständen zu einer Bedrohung der Stabilität im
Land, oder - anderes Extrem - zu einem Verbot und einer Unterdrückung der Bewegung
(Indonesien). In Indien geschah keines von beidem.
- Die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten und die Zersplitterung der indischen
Gesellschaft haben dazu geführt, dass sich in verschiedenen Staaten regionale Parteien
und dadurch verschiedene Parteienlandschaften bildeten, die nur unvollständig ins
nationale Parteisystem integriert sind. (dravidische....) Die meisten Parteien existieren
allerdings indienweit - d.h.sie beschränken sich nicht auf einzeln Bundesländer, aber
auch dann sind einige davon nur in ein oder zwei Bundesländern stark (Shiv Sena), auch
wenn das nicht ihre ausdrückliche Absicht ist.
- Manche Charakteristika finden sich praktisch in allen Parteien: die Bildung von
Cliquen und Splittergruppen innerhalb der Partei; eine fast dynastische Abfolge in der
Parteiführung (Gandhi - bis Sonja); oft eine erstaunlich geringe "Parteitreue" auch der
hohen Funktionäre - Wechsel von einer zur anderen Partei als Kandidat ist durchaus
üblich
- Das Wahlverhalten unterscheidet sich auch von dem, was bei uns als "ideal"
angesehen wird: nämlich dass jeder Wähler "intelligent, individuell und unabhängig"
entscheidet. Bleibt wohl überall Fiktion, aber in Indien ist sicher die Gruppenbildung
bei Wählern noch viel stärker- sehr oft bilden sich Kastengruppen, die ihre Kandidaten
pushen; abhängige Arbeiter in Dörfern werden manchmal gezwungen, für eine
bestimmte Partei oder einen Kandidaten der Landbesitzerkaste zu stimmen, etc. Solche
Gruppierungen unterscheiden sich von Interessengruppen mit gemeinsamen politischen
Zielen, die es auch anderswo gibt.
Kongresspartei:
seit 1885 - öfters umgeformt; seit 1907 gut organisiert - damals wurde von den
Gemäßigten eine Delegiertenkonferenz eingeführt, um den Einfluss des radikalen
Zweiges einzudämmen. Gandhi führte 1920 ein, dass ein bestimmter Prozentsatz der
Delegierten aus dem ländlichen Bereich kommen müsse, um nicht nur
englischsprachige Vertreter aus den städtischen Schichten dort zu haben. - Gleichzeitig
wurde der Kongress streng hierarchisch organisiert, mit einer lokalen Ebene, DistrictEbene und schließlich einer nationalen Ebene
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Eine Krise befürchtete man, als Nehru 1964 starb. Er hatte nicht seine Tochter Indira zu
seiner Nachfolgerin bestimmt, und es wurde der leicht manipulierbare Brahmane Lal
Bahadur Shastri durch die Parteigrößen zum Premierminister gemacht. Als er nach nicht
einmal 2 Jahren an einem Herzinfarkt starb, kam man auf Indira. Eine Frau würde sich
leicht manipulieren lassen, dachte man. Dass sie unterschätzt wurde, hat ihr dann sehr
genützt und sie konnte - mit Unterbrechungen - lange ihre Machtstellung behaupten und
sich immer wieder gegen die Opposition durchsetzen.
Eine wirksame Opposition konnte sich überhaupt nur zögernd bilden, da lange die
wichtigen politischen Kräfte im Nationalkongress vereint gewesen waren.
- Schon 1934 war innerhalb des Kongresses eine Socialist Party gegründet worden, die
aber vorerst im Kongress verblieb. Erst 1948 - nach der Unabhängigkeit...vorher blieben
alle Kräfte vereint - wurde diese Gruppe von Vallabhai Patel aus dem Kongress
vertrieben und bildete dann eine separate Sozialistische Partei. Sie bekam eigentlich
immer viele Stimmen, wurde aber durch Mehrheitswahlrecht stark benachteiligt und
bekamen wenig Mandate. Gingen schließlich in der Janata-Partei auf und blieben dort
Die Kommunisten gibt es seit 1920 - da wurde im Exil eine kommunistische Partei
gegründet, die anfangs ohne große politische Bedeutung blieb. Innerhalb der Partei gab
es von Anfang an oft Meinungsverschiedenheiten - ob man mit dem Kongress
zusammenarbeiten sollte oder nicht; wer als "revolutionäre Klasse" anzusehen sei - das
sich gerade entwickelnde städtische Proletariat oder die Kleinpächter und Landarbeiter
1964 spaltete sich die Partei in einen Flügel, der eher Moskau anhing, und einen
radikaleren, der den wahren Kommunismus nur noch in China zu finden meinte. Sie
nannten sich Communist Party of India (Marxist) CPI(M). konnten 1967 in W-Bengalen
und Kerala für einige Zeit die Regierungsgewalt übernehmen. Die CPI(M) ist auch
heute noch die stärkste kommunistische Partei in Indien und ist nach wie vor in den
beiden genannten Staaten und auch in Tripura in der Landespolitik wichtig...Die alte
CPI ist wohl landesweit in den Industriegewerkschaften wichtig, kann aber - durch das
indische Wahlrecht benachteiligt - nicht zum Zug kommen.
Eine rechte Opposition gab es anfangs nicht, obwohl die Grundsteine dazu schon lange
gelegt waren.
Schon 1915 oder 1919 (versch.Bücher, versch.Angaben) war die Hindu Mahasabha
gegründet worden - die "Große Hindu-Versammlung", als kommunale politische Partei,
die anfangs nur Hindus in ihren Reihen Platz bieten, die Politik hinduisieren und Hindu
Interessen schützen wollte
Ein zweites wichtiges Ereignis war die Gründung des RSS (Rashtriya Swayamsevak
Sangh...Nationaler Selbsthilfe-Bund) 1925 durch Keshev Hedgewar. Er sollte eine
Wiederbelebung von Hindukultur und -spiritualität bewirken. RSS war keine politische
Partei, sondern eine "kulturelle Organisation" der oberen Kasten.
1951 entstand ein parlamentarischer Flügel des RSS - also eine politische Partei:
Bharatiya Jan Sangh (Indischer Volksbund), der die Interessen der Hindus vertreten
wollte.
Bewegung in die politische Szene kam unter der Amstszeit Indira Gandhis - der
"Verlegenheitskandidatin" nach dem Tod Shastris. Sie spaltete den Kongress und war
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bei den Wahlen 1971 erfolgreich. 1971 begannen in O-Bengalen die
Sezessionsbestrebungen zu eskalieren; im Dezember marschierten indische Truppen ein
und besiegten Pakistan - Bangladesh entstand, und Indien mit Indira Gandhi and der
Spitze war dabei von großer Bedeutung gewesen. Bei den Wahlen in Bundesstaaten
1972 konnte der Kongress unter Indira in allen großen Staaten die Mehrheit erzielen.
Sie regierte dann sehr autoritär und zentrumsbezogen.
Als es zu Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung und Preissteigerungen,
Massendemonstrationen und Ausschreitungen kam und 1975 das Höchstgericht in
Allahabad die Wahlergebnisse von 1971 für ungültig erklärte, da Korruption
vorgekommen wäre (hatte Regierungsgelder für Wahlpropaganda ihrer Partei benützt)
ließ Indira alle Oppositionsführer verhaften und brachte den Staatspräsidenten dazu,
unter Artikel 352 der Verfassung den nationalen Notstand (Ausnahmezustand Emergency) zu verhängen.
Bei Wahlen 1977 verliert sie gegen die Janata Partei, ein Konglomerat verschiedener
Oppositionsparteien (inklusive Jan Sangh, die damals zwei Minister stellte: der jetzige
Premierminister Vajpayee war damals Außenminister. Er, wie auch andere Spitzenleute
des BJS, geben sich gemäßigt, gehören aber zu den RSS-Kadern). Schon 1980 kommt
es allerdings zu einem überraschenden comeback Indira Gandhis. 1984 wird sie – nach
blutigen Unruhen im Punjab - von ihren Sikh-Leibwächtern ermordet. Noch 1989
erzielte die Kongresspartei unter Indiras Sohn Rajiv eine knappe Mehrheit, (nachdem
sie 1984 noch 80% der Stimmen hatte), überließ aber einer Minderheitsregierung unter
Visvanath Pratap Singh (Rajput) die Regierung und ging in die Opposition. (Rest-Janata
Partei und andere werden zur Janata Dal; diese wieder ging ein Bündnis mit
südindischen Parteien (DMK , Telugu Desam aus Andhra, und der Asom Gana Parishad
aus Assam) ein und alle zusammen bildeten die Nationale Front, deren einzige
"Gemeinsamkeit" es war, gegen Gandhi zu opponieren.
die BJP und Ayodhya:
Die BJP (Bharatiya Janata Party) war mehr oder weniger aus dem früheren Jan Sangh
hervorgegangen, der ziemlich geschlossen aus der ehemaligen Janata-Koalition
ausgetreten war und sich dann "umbenannt" hatte. Die BJP widmet sich einem
militanten Hindu-Nationalismus, der nach Ansicht vieler mit dem Prinzip des
Säkularismus nicht mehr vereinbar ist. Sie beruft sich auf das in den 20er Jahren
geprägte Schlagwort Hindutva. Kreiert wurde es von Vinayak Damodar Savarkar in
seinem Manifest "Hindutva" (Hindu-tum): Für sie gilt jeder Inder, der Indien als sein
!"heiliges Land" betrachtet, ohne Rücksicht auf Kastenzugehörigkeit, als Hindu.
Wichtige Elemente sind die gemeinsame Kultur ("Sanskriti") und die Zugehörigkeit zur
"Hindu-Rasse" (wobei "race" hier nicht biologisch gemeint ist sondern im Sinne des
indischen Begriffs jati d.i. "Geburtsgemeinschaft". Andersgläubige werden durch diese
Konzepte weitgehend abgeschreckt, auch wenn es in den BJP-Reihen manche Muslime
und Christen gibt.
Die BJP war bei den Wahlen 1989 plötzlich sehr stark geworden. 1984 hatten sie nur 2
Sitze (hatten Anti-Korruptionskampagne im Wahlkampf propagiert und damit nur
mäßig Erfolg gehabt). 1989 bereits 86 in der Lok Sabha (neue Strategien: spielten
Ressentiments vieler Hindus gegen die Muslims aus. z.B. hieß es , an den heiligsten
Pilgerplätzen müssten Moscheen, die auf den Mauern früherer Hindutempel errichtet
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worden waren, zerstört werden und Tempel wieder aufgebaut werden. Vorerst
konzentrierte man sich auf den Tempel von Ayodhya und schon Mitte der achtziger
Jahre begann die entsprechende Propaganda.)
heutige Ayodhya dürfte nicht älter als 400-500 Jahre sein. Streit ging um die 1528
errichtete Babri Masjid (Babur Moschee, nach dem Begründer der Moghulherrschaft),
die angeblich an der Stelle gebaut wurde, wo Rama geboren war und wo ein Tempel
stand. Schon 1986 wurde die Zerstörung der Moschee und Wiedererrichtung des
Tempels gefordert. Tausende Sadhus verpflichteten sich, ihre ashrams zu verlassen und
umherzuziehen und das Volk zur Tat aufzurufen. ...eine wahre "Hindu Renaissance".
1989 kam Bewegung in die Sache. Pilger sollten von überallher nach Ayodhya kommen
und einen Baustein für den Ramatempel mitbringen. Der Zeitpunkt der
Grundsteinlegung wurde nach astrologischen Kriterien für den 9.November festgelegt;
das war auch der Monat der Nationalratswahlen, bei der die BJP ihren Wahlsieg errang.
Hilfe für die Wahl war zufällig durchs Fernsehen gekommen, weil das Ramayana
verfilmt war und wöchentlich ausgestrahlt wurde (ein Jahr später das Mahabharata 85% aller Fernsehzuschauer sahen es regelmäßig, 93 Folgen jeden Sonntag Vormittag
lang).
Am 6.Dez.1992 kam es schließlich zur Katastrophe, zum Sturm auf die Moschee.
Blutige Unruhen in ganz Indien - vor allem in Gujerat und Bombay - brachen aus. In
Pakistan riefen Muslims zum Heiligen Krieg auf und zerstörten 50 Hindutempel. In
England kam es zu Brandstiftungen und Plünderungen.
Nach einem zwischenzeitlichen Absacken konnte die BJP wieder an die Macht
gelangen, allerdings nur mit Koalitionspartnern bzw. mit der Hilfe anderer Parteien, die
sie "von außen" stützen. Die 90er Jahre waren sehr interessant, vor allem weil nun auch
Parteien politisches Gewicht erlangten, die von niedrigen und niedrigsten Kasten
getragen wurden, von denen sich z.B. die Bahujan Samaj aus machtpolitischen Gründen
sogar zeitweise mit der BJP verbündete.
Manche Autoren meinen dass es falsch sei, die BJP vereinfachend als
"fundamentalistische" religiöse Partei anzusehen. Sie benütze religiöse Vorstellungen
und Symbole dazu, um eine nationale Identität unter den Indern zu schaffen bzw. zu
stärken, dass die wahren Ziele der Partei aber säkulare seien: Dass sie Indien in einen
modernen Industriestaat umwandeln wollen, der auch militärische Macht hat
(Atombomben-Tests im Mai 1998), der als eine einheitliche (nicht zersplitterte) Nation
erscheint und der auf dem Arbeitssektor Disziplin zeigt. Sie will Bürokratismus
abbauen, die Marktwirtschaft und Privatunternehmen fördern. Viele Parteifunktionäre zwar nicht die erste Garde, aber immerhin die der zweiten Reihe - kommen aus
"modernen" Gesellschaftsschichten, sie sind bedeutende Geschäftsleute, Lehrer,
Ingenieure, pensionierter Armeegeneräle etc., und gehören zur englischsprachigen
Intelligenzschicht.
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Wirtschaft
Indiens Wirtschaft durch 200 Jahre Kolonialherrschaft geprägt. - Im 19.s. musste Indien
billigst Indigo, Opium, Baumwolle, Jute, Reis und Weizen exportieren, britisches
Kapital strömte wenig ins Land; Billigimporte aus Englandbeeinträchtigten die
Wirtschaft. 1907 wurde mit indischem Kapitaleinsatz das erste Stahlwerk gegründet;
wäre pleite gegangen, wenn es nicht der I.Weltkrieg gerettet hätte. Daneben gab es nur
etwas Baumwoll- (Garn und grobes Tuch) - und Jutetextilindustrie (Säcke). Inder, die
Geld hatten, kauften lieber Land - beständige Wertsteigerung. Gegen Ende des
19.Jahrhunderts gab es Hungersnöte, dann bis etwa 1920 Seuchen; dadurch von 1891
bis 1921 nur ein Bevölkerungswachstum von 9% . Ab 1921 begannen
Bevölkerungszahlen zu steigen, womit das pro-Kopf-Einkommen bis zum Ende der
Kolonialzeit mehr oder weniger stagnierte.
Unfreiwillig kamen die Briten Indien im II.WK zu Hilfe: Indien stellte mehr als 2
Millionen Soldaten und sollte Heeresbedarf liefern. Dafür musste rasch ein
entsprechender wirtschaftsbürokratischer Apparat aufgebaut werden: Behörden, die den
Agrarmarkt kontrollierten, Getreide ankauften und lagerten, Lebensmittelkarten und
Bezugscheine ausstellten; andere, die Armeebedarf organisieren mussten (UniformTextilien, Eisen, Stahl...). Hatten die Engländer früher kaum in Indien gekauft, so kam
es nun zu Engpässen, weil die indische Industrie schwer im Rückstand war.
Hätte es dieses verwaltungstechnische Instrumentarium nicht gegeben, so hätte Nehru
später seine sozialistisch-planwirtschaftlichen Wirtschaftsvorstellungen nicht so leicht
verwirklichen können - so aber war ein Grundgerüst da. Nehrus Ziel war eine forcierte
Industrialisierung ist auch heute erklärtes Ziel vor allem in landwirtschaftlich
dominierten Staaten wie z.B. dem Punjab)
Ab 1950 wurden durch eine Planungskommission Fünfjahrespläne erstellt: Vorbild
waren dabei anfänglich die sowjetischen Fünfjahrespläne; im Gegensatz zur SU war
aber die indische Wirtschaft keine reine Planwirtschaft, sondern eine "Mixed Economy"
- eine Wirtschaft, in der es neben dem Staatssektor auch einen privatwirtschaftlichen
Sektor gab.
die 5-Jahres-Pläne
Oft hing deren Erfolg von den Ernten ab. Anfangs stand die Nahrungsmittelfrage und
die Verbesserung der Infrastruktur ( Strassen, Eisenbahnen, Dämmen etc. ) im
Vordergrund. Im 2.Plan (1955-1960) die Vorantreibung der Industrialisierung mit
BEtonung auf der Schwerindustrie (Eisen, Stahl, Lokomotiven, daneben
Zementherstellung und Kohleabbau), Verstaatlichungen. Militärausgaben nahmen zu,
als ab 1955 von Amerika aus Militärhilfe nach Pakistan zu fliessen begann. 1962 zwang
der Krieg mit China, die Prioritätenliste umzustellen.
Indira Gandhi stellte sich vor allem die Entfernung der Armut zum Ziel (Garibi Hatao
wurde zum Schlagwort)
In den 80er Jahren wurden "Grundbedürfnis-Programme" (Minimum Needs
Programme) erstellt:
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- Bildung (95% der 6-11 Jährigen, 50% der 11-14 j 100% der 15-35 mit informellen
Programmen)
- rural health (600 Gesundheitszentren, 1000 kleinere Einheiten, je einen Community
Health Volunteer für 1000 Einwohner, etc.)
- rurale Wasserversorgung : alle Dörfer bis 1985, ausser schwer zugängliche (Berge,
Wüsten)
- rural Strassen und Elektrifizierung: 20.000 neue Dörfer anschliessen, 46.200 Dörfer
elektrifizieren
- "Wohnbauförderung" für rural landless labourers: alle sollten Grundstück bekommen,
25% (3,6 Millionen Haushalte) Hilfe für Hausbau
- slum-Verbesserungsprogramme (Wasser, Müllabfuhr, Abflusskanäle, Toiletten.
Viele der Programme waren angeblich erfolgreich, in Wahrheit mussten aber auch die
Regierungen immer wieder Mängel zugeben. 1985 bis 90 galten wieder als Hauptziele:
die Getreideproduktion zu steigern, Arbeitsplätze zu schaffen, die Produktivität zu
erhöhen - also alles Dinge, die von Beginn an auf den Plänen gestanden hatten.
Bis zu Beginn der 90er Jahre gab es über alle Parteigrenzen hinweg einen Konsens, dass
der Sozialismus die bestimmende politische Ideologie sein solle. Dann brach dieser
Konsens zusammen und wurde durch Wirtschaftsreformen in großem Ausmaß ersetzt,
bei denen die Liberalisierung im Vordergrund stand.
Die Reformen haben mit dem Jahr 1991 begonnen, als das Land in einer schweren Krise
steckte und fast pleite war: die Devisenreserven waren aufgebraucht, das Budgetdefizit
explodierte, die Inflation nahm zu.
Der damalige Premier Rao und sein Finanzminister entschieden sich für radikale,
marktorientierte Reformen, um mit der Krise fertigzuwerden. Sie werteten die Rupie ab
und machten Neugründungen von Unternehmen leichter, indem sie die
Industrielizenzen abschafften (vorher hatte jeder, der ein Unternehmen gründen wollte,
eine staatliche Lizenz gebraucht ...wahrscheinlich nur schwer zu bekommen, wenn man
indische Bürokratie kennt ...Schmiergelder). Die Importzölle wurden drastisch gesenkt
(auf 50% von früher 300%, z.B. für ausländische Autos etc, - daher früher alles was
"foreign" war, Zeichen für Wohlhabenheit und Exklusivität ...Whisky …es florierte der
Schmuggel, z.B.bei Zigaretten u.v.a.m). Private (auch ausländische) Investoren wurden
gesucht und dem Monopol des öffentlichen Sektors wurde in vielen Bereichen (Energie,
Häfen, Luftverkehr, Telekommunikation) ein Ende bereitet - boom von
Tragbartelefonen etc. Bestimmungen für ausländische Investoren wurden erleichtert, es
wurde allgemein auf eine stärkere Integration Indiens in die Weltwirtschaft abgezielt.
Die alte Vorstellung von Indien als einem "autarken" Land (Selbstversorger) wurde
umgestoßen.
Wirtschaftsexperten wünschten sich eine schnelle Durchsetzung der Reformschritte.
Diese Freude machte ihnen der PM nicht. Rao vergewisserte sich immer, wie seine
Aktionen in der Bevölkerung aufgenommen wurden, nur bei Akzeptanz machte er
weiter. Er hütete sich auch vor Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften, die sehr
stark sind. Die Arbeitsgesetze sind sehr streng, Entlassungen schwierig. Es ist
unmöglich, viele Arbeitskräfte gleichzeitig zu entlassen, oder z.B. verlustmachende
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Teile von Unternehmen zu schließen. Sogar der Staat muss seine schlechtesten Betriebe
weiterführen.
Dadurch, dass die Reformen langsam vorangetrieben wurden, waren ihre Ergebnisse
auch nicht spektakulär und das Wirtschaftswachstum nicht beeindruckend im Vergleich
zu anderen asiatischen Staaten (dafür aber vielleicht beständiger). Allerdings müsste
Indien pro Jahr 8 Millionen neuer Arbeitsplätze schaffen, um mit dem
Bevölkerungswachstum Schritt zu halten, und ob das jemals erreicht werden wird,
bleibt sehr fraglich.
IV. SPRACHEN UND BEVÖLKERUNGSGRUPPEN INDIENS
1. Sprachen
1.1. die Sprachfamilien
die indo-arischen Sprachen
die dravidischen Sprachen
munda- und sinotibetische Sprachen
1.2. linguistic area Indien
1. Sprachen
Der erste große Versuch, die Gesamtheit der indischen Sprachen zu klassifizieren, geht
auf A.G.Grierson zurück, der von 1903 bis 1927 ein einschlägiges Werk in 21 Bänden
veröffentlichte; er gab die Zahl der Sprachen mit 179 und der Dialekte mit 544 an.
Innerhalb der Dialekte können dann noch regionale Dialekte existieren, und auch
innerhalb dieser oft noch Unterschiede im Sprachgebrauch, je nachdem welcher
sozialen und religiösen Gruppe jemand angehört (Gujerat: Hindu/Muslim/Parse lassen
sich nach Sprache unterscheiden).
Bei Revision lassen sich die Zahlen etwas reduzieren, aber trotzdem bleibt eine
ungeheure Vielfalt bestehen, was wieder beweist, dass Indien kein "Land" im
herkömmlichen Sinn ist.
Offiziell sind von der Verfassung 18 Schriftsprachen anerkannt, darunter Sanskrit, das
als "Neo-Sanskrit" aber bereits stark verfälscht ist und nur noch von einer
verschwindend kleinen (brahmanischen) Minderheit gesprochen wird (Dorf mit
Sanskrit-sprechenden Brahmanen...). Die Sprachnamen enden in Nordindien zumeist
auf i (feminine Adjektiv-Form, bhasha, die Sprache, ist zu ergänzen, also Gujerati
(bhasha) ist "die gujeratische Sprache", Marathi die "marathische Sprache" etc...).
Im allgemeinen fallen die Teilstaaten der indischen Union mit den Sprachgrenzen
zusammen. Natürlich verlaufen die politischen Grenzen nicht immer ganz genau der
Sprachgrenzen, außerdem gibt es manchmal Sprachenklaven, die sich in fremder
Umgebung manchmal sehr lange halten können (Brahui in Belutschistan, Malto in der
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Gangesebene, ... Gujerati sprechende Weberkaste siedelte im 11.s. in dravidischsprechende Umgebung ab, hat dort nicht einmal ein geschlossenes Siedlungsgebiet, aber
altertümliches Gujerati beibehalten …vergleichbar mit Rumänendeutschen).
Historisch lässt sich feststellen, dass meist die Eliten anders sprachen als das
"gewöhnliche Volk".
Das war bereits in ältesten Zeiten so: Das vedische Sanskrit war immer Sprache der
Priester, und sogar diese dürften in ihrer Alltagskultur eine Sprache verwendet haben,
die sich von der in den Veden niedergeschriebenen Sprache unterschied. Die Sprache
der säkularen oberen Schichten wieder war anders als jene der Priester, und zwischen
der Sprache der Unterschichten und der Priestersprache muss ein immenser Unterschied
bestanden haben, der so groß wurde, dass sich schließlich die so genannten Prakrits
als eigenständige regionale "Volkssprachen" herausbildeten (in Dramen sprechen
Brahmanen und Adelige Sanskrit, niedrige Kasten und Frauen aber Pali, die wichtigste
der damaligen Prakrit-Sprachen). Als Sprache der Hindu-Priester behielt Sanskrit aber
seine Bedeutung bis in die Gegenwart bei, und auch Buddhismus und Jainismus
gebrauchen Sanskrit für ihre späteren Texte, allerdings ein verändertes Sanskrit, das
viele Prakrit-Wörter enthält. Auch im heutigen Indien sind manchmal innerhalb einer
Sprache die Schrift- und Umgangssprache so stark verschieden, dass die Schriftsprache
in manchen Fällen wie eine Fremdsprache in der Schule gelernt werden muss (heute
sehr stark beim Tamil, auch beim Bengali...).
In später Zeiten hatten die Regierenden überhaupt eine andere Sprache als das Volk.
Unter islamischer Herrschaft nahm das Persische an den Fürstenhöfen die Stellung des
früheren Sanskrit ein. Gleichzeitig drangen in Regionalsprachen Wörter aus dem
Persischen, Arabischen und Türkischen ein. Im Umkreis der Moghulherrscher
entwickelte sich als persisch-arabisch-indische Mischsprache das Urdu, das arabische
Schriftzeichen verwendet und bis jetzt in Indien als "Sprache der Muslims" gilt. Es ist
heute in Pakistan Staatssprache, obgleich es dort für die meisten Menschen nur
Zweitsprache ist (die indigenen Sprachen sind Punjabi, Sindhi….). und nur für die
Flüchtlinge aus dem heutigen Indien Muttersprache war.
Das Hindustani ("Sprache Indiens") entwickelte sich in den Bazaren und Militärlagern
um Delhi aus dem in der Gegend von Delhi gesprochenen Dialekt (Khari Boli) zur
lingua franca. Es war mit dem Urdu anfangs praktisch identisch. Eine Spaltung erfolgte
dann erst im 19.s. nach Religionszugehörigkeiten sich als Sprache der urbanen
hinduistischen Mittelklasse entwickelte sich Hindi , und Urdu als Sprache der Muslime.
Die linguistischen und literarischen Repertoires wurden dementsprechend aufgebaut:
Hindi ersetzte persisch-arabische Bestandteile durch Sanskritwörter und baute
überhaupt den Anteil an Sanskritwörtern aus, Urdu den von persisch/arabischen
Wörtern. Die Grammatik beider Sprachen blieb dieselbe, und auch ein großer Teil des
Wortschatzes, nur wird Urdu mit arabischer Schrift geschrieben und gilt in Indien als
dem Hindi überlegen (auch am Moghulhof verwendet, Dichtung...). Hindi dagegen
übernahm die Devanagari-Schrift des Sanskrit, wobei der Prozess gebietsweise
unterschiedlich verlief, etwa 1870 begann und bis zum Beginn d. 20 Jahrhunderts
fortdauerte.
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Im 19. s schließlich ersetzte Englisch das Persische als Sprache der Regierenden und
Gebildeten. Missionare unternahmen gebietsweise den Versuch, das Englische zu
unterlaufen und die bestehenden Regionalsprachen für den modernen Gebrauch tauglich
zu machen, indem sie fehlende moderne Worte "schufen". Diesen Bemühungen wirkten
aber die offiziellen Stellen der Briten entgegen, weil sie ganz allgemein das traditionelle
Bildungssystem als dem britischen weit unterlegen ansahen, die "englische Bildung"
und damit auch die englische Sprache forcierten.
Im post-kolonialen Indien wollte man vom Englischen
als gesamtindischer
"Gemeinsprache" abrücken und suchte eine eigene Sprache für das unabhängige Land.
Da inzwischen Hindi Muttersprache für ca. 40 % der Bevölkerung war, entschied man
sich dafür. Hindi ist aber auf N-Indien beschränkt. Da Menschen in vielen Landesteilen
Benachteiligungen befürchteten (z.B. bei government jobs, Machtverlust….) kam es in
den 60er Jahren zu "language riots", also heftigen Ausschreitungen, in deren Zentrum
das Sprachproblem stand. Dazu kommt, dass das moderne Hindi von vielen angelehnt
wird, weil es aufgrund seiner Entstehung als eine "künstliche Sprache" gesehen wird (
im Gegensatz z.B. zum südindischen Tamil, das eine lange literarische Tradition hat).
Hindi behielt die Grammatik und Struktur des Urdu bei, wurde aber "gereinigt", indem
man "fremde Wörter" durch sanskritische ersetzte, wobei oft weit übers Ziel
hinausgeschossen wurde. Denn es wurden nicht nur fehlende, neue Wörter eingeführt
sondern auch im Gebrauch befindliche ersetzt (vgl. Luther, der aus "Nase"
Gesichtserker machen wollte). Man versuchte auch, die in der Kolonialzeit
massenweise aus dem Englischen eingedrungenen Fremdwörter durch Kunstwörter aus
dem Sanskrit zu ersetzen (z.B.Säkularismus = übersetzt als "Gleichgültigkeit gegenüber
der Religion"...So steht das auch in der Verfassung und solche Übersetzungen können
zu falschen Deutungen führen. Sprachpuristen gaben und geben eigene "gereinigte"
Wörterbücher heraus, wo für alle Anglizismen Übersetzungen angegeben werden).
Gegenwärtig kann man allerdings beobachten, dass trotz aller "Reinigungsversuche" der
Einfluss des Englischen auf die indischen Sprachen immer stärker spürbar wird. Vor
allem im urbanen Indien verändern sich die indigenen Sprachen und es entstehen die
verschiedensten "camp languages" (so wie früher die Mischsprache der Militärlager),
die jeweils aus einer lokalen indischen Sprache bestehen, in die viele Wörter aus dem
Englischen und dem Hindi übernommen werden. Der Versuch, Hindi als alleinige Staatssprache einzuführen scheiterte also, und 1967
gab es eine Novelle zum Official Language Act von 1963 in der festgelegt wurde, dass
Englisch als zweite offizielle Sprache solange beibehalten würde, bis sich alle Staaten
auf die ausschließliche Einführung des Hindi einigen könnten.
Englisch ist bis heute die Sprache der Elite und ist heute auch wegen der
Modernisierung und Globalisierung wichtiger denn je (Computersprache, moderne
Naturwissenschaften und Technik….), wobei ein eigenes "indisches Englisch"
entstanden ist mit einer besonderen Aussprache (retroflexe Laute), Gebrauch veralteter
Worte und grammatikalischen Besonderheiten (Weglassen des bestimmten Artikels);
dazu kommt eine Vorliebe für sehr geschwollene Wendungen und Konstruktionen,
wodurch z.B. indische Geschäftsbriefe ein ganz eigenes "flair" bekommen.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Durch die besondere
Sprachsituation wird die indische Bevölkerung
"auseinanderdividiert" in jene die gut Englisch können (geschätzte 5 – 10% der
Bevölkerung beherrschen Englisch so gut, dass sie wirklich auf gute jobs hoffen
können) und jene, denen wegen ihrer mangelnden Sprachkenntnisse viele Chancen
versperrt bleiben. Wenn sie also nicht gerade ländliche Großgrundbesitzer sind, bleibt
vielen somit der Zugang zu Wohlstand und "Macht" verwehrt, auch wenn sie oft
mehrere indische Sprachen gut beherrschen. Das alles ist für Indien ein ziemliches
Problem geworden. Niedrigen Schichten Englisch beizubringen, ist ein viel zu
langwieriger Prozess, obwohl oft auch untere Bevölkerungsschichten einen passiven
englischen Wortschatz haben. Es werden also die Regionalsprachen unterrichtet (auch
in englischsprachigen Schulen als Pflichtfächer), und man redet nun darüber, ob die
government jobs nicht auch nach "Sprachquoten" vergeben werden sollten
(EPW vol.XXXVII, no.50, 2002, p.4993-4)
1.1. die Sprachfamilien
Die Vielfalt der indischen Sprachen ist dadurch gegeben, dass es in Indien vier
verschiedene Sprachfamilien gibt: indo-arisch, dravidisch, austro-asiatisch, sinotibetisch, wobei die beiden ersten mit Abstand am wichtigsten sind
Wie wurden Sprachfamilien festgestellt: durch ein simpel erscheinendes Mittel, nämlich
durch Vergleiche von Vokabellisten. Das geht auf die Theorie zurück, dass nämlich jede
Sprache ein ihr ureigenes Grundvokabular besitzt und für bestimmte Begriffe eigene
Wörter hat (Zahlen, Verwandtschaftsbezeichnungen, Körperteile, Nahrungsmittel).
Wörter für komplexe, fortgeschrittene Ideen, Kunst, Wissenschaft, neue Technologien
etc. können dann von anderen Populationen und fremden Sprachen geborgt werden. Die
eigentliche wissenschaftliche Arbeit besteht dann im Zusammenfinden von
Oppositionspaaren: Kern/Peripherie der Sprache (wichtigste Wörter und weniger
wichtige)¸einfachen / komplexe Ideen, und damit zusammenhängend
ursprüngliche/entlehnte Wörter. Die zu vergleichenden Vokabellisten beschränken sich
auf den Kernwortschatz, höhere (und oft entlehnte) Begriffe werden aus den Listen
weggelassen
die indo-arischen Sprachen
Entdeckung der indo-europäischen Sprachfamilie wird Sir William Jones
zugeschrieben, der sie erstmal 1786 in einem Vortrag skizzierte. Dieser gilt als
epochales Ereignis und als erste Entfaltung einer vergleichenden Philologie. Er war
Arabisch und Persisch-Gelehrter, bevor er sich auch intensiv mit Sanskrit beschäftigte,
als erster wissenschaftliche Vergleiche anstellte und räumlich weit voneinander
getrennte Sprachen miteinander in Beziehung setzte, wobei sich dann zwei Blöcke
miteinander verwandter Sprachen feststellen ließen: ein östlicher mit persisch/indischen
Sprachen und ein westlicher mit den meisten europäischen Sprachen. Getrennt sind die
beiden Gruppen durch Gebiete mit semitischen und türkischen Sprachen. Jones wurde
für seine Entdeckung außerordentlich geehrt: in St.Paul´s Cathedral steht seine Statue,
bekleidet mit einer Toga, in der Hand das Gesetzbuch des Manu, das er übersetzte. Er
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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bezeichnete Sanskrit als "vollendeter als das Griechische und reicher als das Latein und
auf feine Art kultivierter als beide".
Die Ähnlichkeiten zwischen Sanskrit, Griechisch, Latein, Deutsch bis Irisch im Westen
waren so auffallend, dass es anhand dieser Vergleiche möglich wurde, allmählich einen
nicht länger existenten gemeinsamen "Vorfahren" zu entwickeln und diese Sprache
hypothetisch in ihrer Phonologie (Lautlehre), Syntax und ihrem Vokabular zu
rekonstruieren. Diese gemeinsame Ahnen-Sprache wurde als "Indo-Europäisch"
bezeichnet (im deutschsprachigen Raum wird dafür manchmal die Bezeichnung Indogermanisch verwendet) und der indische Zweig dieser Sprachfamilie sind die indoarischen Sprachen In der Antiken Literatur (Latein, Griechisch, Sanskrit) hat sich keine
Erinnerung an eine gemeinsame "Urheimat", in der man vermutlich indo-europäisch
sprach, bewahrt. Und für die indischen Pandits war die Ableitung des ewigen, heiligen
Sanskrit von einer älteren Ursprache und die Herkunft der Sanskritsprecher von
außerhalb Indiens nur schwer zu verkraften.
Das sich im 18.s. entwickelnde intensive Interesse der Briten an der Beherrschung
indischer Sprachen hing wohl mit dem Übergang von einer anfangs kaufmännischen
Unternehmung zu kolonialen Bestrebungen zusammen. Nach der Schlacht von Plassey
1757 entstanden zuerst in Calcutta, dann in Madras und Bombay Institute, in denen
Beamten aus England Unterricht in orientalischen Sprachen erteilt wurde.
Kolonialismus und Entstehung zweisprachiger Wörterbücher und Grammatiken hängen
eng zusammen– aber natürlich ging dann die Sprachforschung weit über die koloniale
Nützlichkeit hinaus.
Anfangs war Kalkutta das Zentrum der Forschung, bis in Europa fast eine Besessenheit
für Sanskritstudien begann und sich erst Paris, dann Deutschland als neue Zentren der
Forschung etablierten und Max Müller der berühmteste Gelehrte und SanskritÜbersetzer wurde.
In Indien gab es regen Austausch zwischen europäischen Forschern und indischen
Pandits. Den Europäern begegnete in Indien eine ausgefeilte und sehr alte
Sprachtheorie, die erste Höhepunkte bereits im 4. (Panini)– 2.s.v. (Patanjali). erlebte.
Man hatte schon in vorchristlichen Jahrhunderten eine Liste von Wortwurzeln und von
Transformationsregeln zusammengestellt, um Sprachen analysieren zu können, wobei
das Sanskrit im Zentrum der Analysen stand. Diese frühen indischen Grammatikwerke
sind unendlich kompliziert. Die phonologische Wissenschaft (Lautlehre), die die
Voraussetzung für die Grammatikwerke bildete, war aber auch für Europäer gut
zugänglich.
Um die Leistung der frühen indischen Sprachwissenschaftler würdigen zu können, muss
man einen Blick auf die verwendeten Schriftzeichen werfen:
Die meisten heutigen Schriftsysteme sind Nachfahren der antiken semitischen Schrift.
Das trifft auch auf die Brahmi-Schrift zu, von der die modernen Schriften Indiens
abstammen (entsprechende Schriften, von Brahmi abgeleitet, gibt es dann auch für
Tibetisch, Burmesisch….) Allerdings haben bereits die frühen Inder, weil ihre
phonologische Analyse sehr verfeinert war, Änderungen vorgenommen und die Anzahl
der Buchstaben verdoppelt, um eine Übereinstimmung zwischen den Lauten des Sankrit
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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und den Zeichen des Schriftsystems zu erzielen. Sie führten auch bezüglich des
Alphabets eine sehr rationale Ordnung ein und übernahmen nicht die alphabetische
Ordnung, die alle anderen Nachkommen der semitischen Schrift plagt (a,b,c,d… im
Indischen viel logischer). Nach einer Abfolge der Vokale ā, a, ī, i… und gefolgt von
den Konsonanten, die nach dem Ort der Artikulation vom hinteren zum vorderen Teil
des Mundes gruppiert werden: k, kh, g, gh, n , c, ch, j, jh, ñ…wenn man
Sanskritalphabet lernt, ist das gleichzeitig eine Lektion in Phonologie.
Die südindischen Sprachen haben dieselbe alphabetische Reihenfolge übernommen,
Zeichen eingesetzt für Laute, die es im Sanskrit nicht gibt und dafür andere
weggelassen für Laute, die in ihren Sprachen nicht existieren.
Man nahm dann die indische Sprachanalyse her, um eine lateinische Transkription zu
entwickeln und dann Sprachen mit verschiedenen Schriftzeichen (Sanskrit, Arabisch,
Griechisch….) miteinander vergleichen zu können. In Europa wird eine modernisierte
phonologische Analyse, die dann im internationalen phonetischen Alphabet resultiert,
zu der Zeit sichtbar, als die Europäer ihre ersten Sanskritkenntnisse erlangen. Die
spätere universale phonologische Notation geht also auf die indische Phonologie zurück
(d.h. die indische phonologische Analyse wurde in die westliche Phonologie
übernommen und für den Rest der Sprachen in der Welt verallgemeinert). Man sieht
also an der Sprachanalyse deutlich, dass die oft kolportierte Vorstellung "modern =
westlich" nicht stimmt und von großer Voreingenommenheit zeugt– es gibt entschieden
indische Inputs in die Moderne (neben der Phonologie auch in der Mathematik, denn
die universal gewordene Zahlenreihe 1, 2, 3….10, 11, 12….mit Null und Dezimalzahlen
stammt ebenfalls aus Indien)
Natürlich hat sich das Indo-arische im Laufe der Zeit verändert, wobei diese
Änderungen verschiedene Ursachen hatten:
- spontane (neue Generationen haben ihre "neuen" Wörter ... z.B.heute ur-super....); im
Mittel-Indischen gehen durch "spontane Änderungen" Laute "verloren"
- durch Kontakte mit anderen Sprachen. Für das Indo-arische ist dieser Punkt am
wichtigsten. Langsame Entwicklung begann, als die ersten Kontakte mit
fremden Populationen im NW Indiens hergestellt wurden (also ca. 1500 BC).
Der Sprachwissenschaftler Emenau meint, dass der "Indisierungs-Prozess'", dem
die einwandernden Arier unterworfen waren, nur durch eine weit verbreitete
Zweisprachigkeit der Bevölkerung zu erklären sei. Die zahlenmäßig überlegene
indigene Bevölkerung dürfte Indo-arisch als Zweitsprache gelernt haben und
dann vor allem die Retroflexen ins Sanskrit eingeführt haben.
Für die Sprachentwicklung wichtig war vermutlich die Zeit, in der die Arier von
Pastoralwirtschaft auf Ackerbau umstiegen; sie hingen hierbei stark von den
Indigenen ab, die sich auskannten und die Werkzeuge hatten. Als die Kontakte
enger werden, nimmt die Anzahl der neuen Lehnworte zu. - Die Ergebnisse der
Sprachwissenschaft können uns also zu einem besseren Verständnis der
Wanderwege und der gesamten Siedlungsgeschichte verhelfen.
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Sicher wurden Fremdworte bereits lange in der Umgangssprache verwendet,
bevor sie die Priester in ihre heilige Sprache aufnahmen, deren Reinheit sie
eifersüchtig bewachten. Sogar im Rg-Veda finden sich aber trotzdem bereits
Lehnwörter, die vor allem mit Ackerbau zu tun haben (Getreidestampfer,
Dreschplatz, langalam - "Pflug" als Lehnwort einer Bodenbauern-Kultur!)....); in
späteren Samhitas kommen dann andere dazu wie bilva (Holzapfelbaum),
kurkura (Hund) im Atharvaveda, etc... In den Epen ist dann ein ganzer Haufen
Wörter aus nicht-arischen Sprachen (vor allem dravidische) ins Sanskrit
aufgenommen. Die Zeit, in der am meisten aus dem Dravidischen entnommen
wurde, liegt weit in vorchristlichen Jahrhunderten.
Das ist historisch interessant, denn in der frühen vedischen Periode gab es
vermutlich noch keine Kontakte zwischen N- und S-Indien - diese sind erst seit
der Maurya-Zeit nachgewiesen. Da aber trotzdem bereits dravidische
Lehnwörter im Sanskrit auftauchen folgt daraus, dass es im NW und in der
Gangesebene dravidisch-sprechende Populationen gegeben haben muss.
Neue Lehnwörter (Bezeichnungen für Perle, Koralle, und für Schmuckstücke
wie kambu - ein Armreif aus Muschel, cudaman - Schmuckstück für den Kopf,
etc), die sich im Mahabharata und in Pali-Texten finden, können dagegen bereits
aus dem Süden zusammen mit den entsprechenden Objekten "importiert"
worden sein, weil es damals schon Handelsbeziehungen gab.
Verständlicherweise kommen viele Lehnwörter im Bereich der Fauna und Flora
aus den Sprachen der indigenen (eingeborenen) Bevölkerung, oder - wenn man
nicht ein in einer anderen Sprache existierendes Wort übernahm - wurden
beschreibende Bezeichnungen "erfunden" (für Elefant hastin, "ein Tier das eine
Hand hat"). Die Mehrzahl der Lehnwörter im IA kommen aus dem
Dravidischen, daneben finden wir auch austro-asiatische (für Betel), oder tibetoburmesische (matanga für Elefant) Einflüsse.
- Änderungen parallel zu sozialen Veränderungen, z.B. die Förderung der
"Volkssprachen" (Prakrit-Sprachen) durch manche Herrscher, wie Kaiser Aśoka
und andere, die dem Buddhismus und Jainismus nahe standen.
Heute finden wir "neuindo-arische" Sprachen in ganz N-Indien, bis etwa zum
18.Breitengrad; sie haben sich über verschiedene Zwischenstufen aus dem Sanskrit
entwickelt, ohne aber ihren Grundcharakter zu verlieren. In manchen Punkten, z.B. der
reichlichen Verwendung von Hilfszeitwörtern, ähneln sie europäischen Sprachen.
Wichtigste Sprache ist das oben erwähnte Hindi, das heute - außer in Tamilnadu Pflichtsprache in den Schulen ist.
Zur indo-arischen Gruppe gehören weiters
-Punjabi,
-Kashmiri (hat, wie auch Stammessprachen in Gebirgstälern, eine Sonderentwicklung
durchgemacht),
-Gujerati: bildete noch im Mittelalter mit den Sprachen Rajasthans eine Einheit; keine
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große moderne Literatur außer Gandhis Autobiographie
-Marathi: geht auf einen alten Dialekt Maharashtri zurück, der von den Jainas
verwendet wurde; im Mittelalter bedeutende religiöse Literatur der Bhakti-Bewegung
-Konkani: in Goa, wird vor allem von Christen auch in lateinischen Buchstaben
geschrieben, sonst in Nagari
- im Osten noch Bengali, Assamesisch und Oriya: haben viel gemeinsam (keine langen
und kurzen Vokale...). Bengali am wichtigsten (Rabindranath Tagore...), ist auch
Staatssprache Bangladeshs - dort wird es mit arabischen Schriftzeichen geschrieben.
Außerhalb Indiens gehört das Singhalesisch auf Srilanka zur Gruppe und hat reiche
Literatur; allerdings hat es sich in 2000 Jahren Isolation so sehr verändert, dass der
Zusammenhang mit nordindischen Sprachen erst nachgewiesen werden musste. Auch
auf den Malediven und Lakkadiven werden dem Singhalesisch verwandte Sprachen
verwendet. Das Sindhi im heutigen Pakistan stellt einen besonders altertümlichen
Abkömmling des Sanskrit dar (hohe Literatur aus dem 18.s.); Nepali, das zu einer
Untergruppe des Hindi gehört, ist seit dem 18.s. Staatssprache von Nepal. Zuletzt ist
noch das Romani zu nennen, die Sprache der Sinti und Roma (Zigeuner), die zu einer
nicht mehr bestimmbaren Zeit aus Nordindien ausgewandert sind - es wurden viele
Wörter aus den Sprachen der Gastvölker übernommen, aber die Grammatik ist
erstaunlich treu erhalten worden. Schon britische Sprachforscher hatten die
Erkenntnisse gebracht, dass die Sprache der Roma auch zu den indo-arischen gehört
und nicht ägyptischen Ursprungs ist (wie der Name "gipsy" vermittelt).
die dravidischen Sprachen
Mit den dravidischen Sprachen wird der Name Robert Caldwell in Verbindung
gebracht, aber die Feststellung, dass die dravidischen Sprachen zusammenhängen und
sich nicht von Sanskrit herleiten (eine Aussage, die indischen Pandits sehr gegen den
Strich ging, weil sie von einer gesamtindischen Spracheinheit ausgingen) wird von
Francis Whyte Ellis (p.27) und vom Kreis um ihn erstmals formuliert. Caldwell
erstellte dann später eine Vergleichstudie der dravidischen Sprachen. Ellis erkannte aber
bereits, dass die dravidischen Sprachen eng miteinander verwandt sind und viele vom
Sanskrit stammende Wörter enthalten. Er erkannte auch bereits im Malto eine
dravidische Sprachenklave im Gangestal.
Die dravidischen Sprachen stellen gegenüber den Sprachen des Nordens einen eigenen
Sprachstamm dar, der mit größter Wahrscheinlichkeit schon vor Ankunft der Arier in
Indien beheimatet war Protodraviden waren nach Ansicht vieler Wissenschaftler Träger
der frühen überlegenen urbanen Kultur des Industals. Erst in nachchristlichen
Jahrhunderten unterlag der dravidische Süden einer sprachlichen und kulturellen
Überlagerung aus dem Norden. Indo-arische Lehnwörter haben das Dravidische stark
beeinflusst, und zwar die einzelnen dravidischen Sprachen zu verschiedenen Zeiten. Die
Sprachen wurden weniger in ihrer Struktur, aber umsomehr im Vokabular durch die
indo-arischen Sprachen beeinflusst. Alle haben viele Wörter aus dem Pali oder Sanskrit
übernommen.
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Vier große Literatursprachen
- Tamil (Tamilnadu)
- Malayalam (Kerala)
- Kanaresisch (Karnataka, früher Mysore)
- Telugu (Andhra Pradesh)
Daneben gibt es eine Reihe von illiteraten Stammesidiomen (Gondi, Toda...). Das Tulu,
zwischen Kanaresisch und Malayalam, hat reiche mündliche Überlieferung und beginnt
sich zu einer Schriftsprache zu entwickeln. Brahui in Belutschistan früher erwähnt...Die
Dravida-Sprachen gehören dem sog. agglutinierenden Typus an, d.h. sie sind in ihrem
Bau dem Türkischen, Finnischen, Ungarischen näher verwandt als den vom Sanskrit
abstammenden Sprachen Nordindiens.
Von den Literatursprachen ist Tamil am bedeutendsten - Literatur reicht in
vorchristliche Jahrhunderte zurück; die schon erwähnten Sangam-Gedichte sind in einer
kunstvollen Dichtersprache geschaffen. Tamil konnte sich viel mehr dem Einfluss des
Sanskrit entziehen als die anderen drei dravidischen Literatursprachen und wurde erst
ab dem Mittelalter stärker beeinflusst. Heute gibt es wieder Tendenzen, die ein
sanskritfreies Tamil verlangen. Der Unterschied zw. Umgangs- und Schriftsprache ist in
Tamil von allen Sprachen Indiens am größten (Filme in Umgangssprache, nur
mythologisch-historische in Schriftsprache...)
Malayalam ist ein alter Dialekt des Tamil, der seit Ende des ersten nachchristlichen
Jahrhunderts eine eigene Entwicklung durchgemacht hat; es unterscheidet sich durch
grammatikalische Eigentümlichkeiten, eine eigene Schrift und einen hohen Anteil an
Sanskrit-Lehnwörtern von Tamil.
Telugu und Kanaresisch haben erst seit dem Mittelalter eine literarische Tradition; beide
sind von Anfang an stark hinduistisch und sanskritisch beeinflusst, auch ihre
Lautstruktur ist den Sprachen des Nordens ähnlicher.
munda- und sinotebetische Sprachen
Gehören zu bedeutenden, in Indien aber nur in verstreuten Stammessprachen
vertretenen Sprachfamilien. Gedruckte Literatur gibt es nur in Ansätzen. Die Sprachen
sind aber für die Erforschung der sprachlichen Vorgeschichte Indiens von großer
Bedeutung.
Munda-Sprachen bilden den westlichen, indischen Zweig einer Sprachfamilie, die seit
P.W. Schmidt die "austroasiatische" genannt wird; es gehören bedeutende
Literatursprachen wie das Khmer in Kambodscha und das Mon in Burma dazu. Sicher
waren diese Sprachen in Indien früher viel stärker verbreitet, darauf deuten Lehnwörter
im frühen Sanskrit hin, z.B. für Pfau, Betel, Elefant...also Wörter aus dem typisch
indischen Milieu.
Die wichtigste Munda-Sprache ist das Santali, das von 5 Millionen Menschen im
östlichen Bihar und in W-Bengalen gesprochen wird; andere Stammesidiome sind
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Mundari, Korku, Gadaba u.a. Das Khasi in Assam ist eine austroasiatische Sprache,
gehört aber nicht zur Mundagruppe.
Abkömmlinge des sinotibetischen Sprachstamms sind auf das an Burma grenzende
Gebiet von Assam beschränkt; sie dürften erst durch verhältnismäßig rezente
Einwanderungen nach Indien gelangt sein. Nur das Manipuri hat eine ältere literarische
Tradition. Rein tibetische Dialekte werden im Himalaya an der Grenze zu Nepal
gesprochen.
1.2. linguistic area Indien
Indien ist also ein riesiges Gebiet, in dem Sprachen verschiedener Sprachfamilien
gleichzeitig verwendet werden. Der Sprachwissenschaftler Emeneau bezeichnet ein
solches Gebiet als linguistic area. Charakteristisch für ein solches ist, dass bei allen
Sprachen gemeinsame Züge aufzutreten beginnen. Das heißt, es bilden sich
Ähnlichkeiten, die nicht auf einen gemeinsamen Ursprung, sondern auf gegenseitige
Beeinflussungen zurückzuführen sind. Die Untersuchung solcher linguistic areas kann
uns Aufschluss über historische Kontakte geben, über soziale Bedingungen, unter
denen die Einflüsse zustande kamen ("Pflug")...
Wenn wir Indien als ein linguistic area untersuchen können wir feststellen, dass
moderne indische Sprachen ungeachtet der Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie
bemerkenswerte Ähnlichkeiten aufweisen. Die linguistischen Merkmale, die indo-arisch
mit indo-europäisch einerseits, bzw. modernes Dravidisch mit Alt-Dravidisch
andererseits verbinden, nehmen allmählich ab. Gleichzeitig nimmt die gegenseitige
Anpassung zwischen indo-arischen und dravidischen Sprachen zu. Es wird (z.B.vom
Sprachwissenshaftler Andronov) behauptet, dass irgendwann die genetischen Grenzen
zwischen den Sprachfamilien verschwinden werden und eine neue Sprachfamilie
entstehen wird, die weder indo-arisch noch dravidisch ist. Bei manchen Sprachen ist
aufgrund von Veränderungen längst nicht mehr eindeutig feststellbar, welcher Familie
sie angehören (Zugehörigkeit muss von Wissenschaftlern nach "eingehender
Untersuchung" festgestellt werden, wie im Fall des Singhalesischen, das schließlich
doch als indo-arische Sprache "identifiziert" werden konnte...in Rothermund)
Obwohl die indischen Sprachen also viele Wurzeln haben, haben sie im Laufe der Zeit
im linguistic area Indien gemeinsame Züge entwickelt:
phonologisch (Laute):
retroflexe Konsonanten: sind allen indischen Sprachen eigen (im IA ist das
erworben - wahrscheinlich durch dravidisch-Sprechende, die IA als
Zweitsprache lernten und die Worte dann nach dem Muster ihrer eigenen
Sprache aussprachen) ... Inder sprechen Englisch entsprechend aus
Vereinfachung von Konsonanten-Clusters nach dravidischem Vorbild (z.B.
aagni zu aagi)
Verschwinden von "Stops" zwischen Vokalen: vadana zu vana
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morphologisch (Wortstruktur untersuchen durch Zerlegen in Morpheme, d.s. sinnvolle
Einheiten):
Echo-Wörter: cay - vay (Tamil: puli-kili)
Verlust des Duals: im Alt-IA vorhanden, im Mittel-Indischen nicht mehr
(Prakrit), hat nur noch Singular und Plural (für "ein Paar" - ...zwei)
in der Syntax (Bedeutung von Worten im Satzgefüge):
- Gebrauch des Gerundiums (having gone home, he eats rice)
- Dativ-Konstruktionen: usko bhukh lagi hai (ihm ist Hunger , d.h. er ist
hungrig) - wie im Tamil
- enklitische Worte (d.s. Wörter, die nicht alleine stehen und übersetzt werden
können, sondern nur in bestimmten Verbindungen, z.B. api in Sanskrit, das je
nach Zusammenhang verschiedene Bedeutungen haben kann: auch, und, sogar,
zusammenfassend, interrogativ.
Entsprechendes gibt es im Tamilischen...
- zusammengesetzte Verba: karke dekho (tuend schaue, d.h. schau dass du es
tust, versuche es zu tun) Hindi/Tamil
- Fehlen d. Hilfszeitwortes "haben": er hat ein Auto im Hindi: uske pas car hai
(bei ihm ist ein Auto)
- Postpositionen Sanskrit/Hindi/Tamil...: śahar ke pas (nahe der Stadt)
Wortstellung :
- Subjekt-Objekt-Verb: in Hindi-Bengali-Tamil
usne ek gadi kharidi: er ein Auto kaufte
- dem Hauptwort geht Adjektiv, Genitiv, Demonstrativpronomen, Zahlwort etc.
voran (teilweise wie im Deutschen):
* accha ladka - guter Bub
* kutte-ki puch - Hund's Schwanz, Schwanz des Hundes
* vah ladka - dieser Bub
* tin ladkon - drei Buben
Gemeinsam haben alle Sprachen auch Sanskrit-Lehnwörter (wie die Lateinischen und
Griechischen in den westlichen Sprachen), und ferner die aus dem Brahmi entwickelte
Schrift, die den einzelnen Sprachen angepasst ist.
Im alten Indien gab es zwei verschiedene Schriften:
- Kharoshthi (in Gandhara ca 5/4..s. B.C. - 200 AD), aus dem aramäischen Zweig der
semitischen Schrift entwickelt, wurde von rechts nach links geschrieben
- Brahmi: ebenfalls semitischen Ursprungs; kam vermutlich um 800 v. über die
phönizische Schrift und dann über die Assyrer nach Indien. Münzfunden nach (4.s.BC.)
wurde auch sie zuerst von rechts nach links geschrieben. Schöne frühe Beispiele sind
uns erhalten in den Inschriften Aśokas aus dem 3.s.BC. Hat sich dann in viele
Varianten aufgespalten, die aber wieder viel gemeinsam haben:
Vokale werden durch diakritische Zeichen statt durch Buchstaben angezeigt. Am
weitesten verbreitet ist das Devanagari, in dem Sanskrit, Hindi, Marathi, Nepali u.a.
geschrieben werden; persisch-arabische Schriftzeichen werden von muslimischen
Bevölkerungsgruppen verwendet (Urdu, Punjabi, Kashmiri...)
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Emeneau erwähnt noch ein anderes indienweites Phänomen, das sich aus
Sprachuntersuchungen herausfiltern lässt und mit der Position der Frau im Land
zusammenhängt: Berufsbezeichnungen kumbhakara (Töpfer), brahmana … gelten für
Männer und bedeuten "derjenige, der den und den Beruf ausübt"; der weibliche
Terminus kumbhakari , brahamani… bedeutet dagegen nicht "diejenige, die ...Beruf
ausübt", sondern "diejenige, die zu dem gehört (als Ehefrau), der den und den Beruf
ausübt". Die Frau wird also – im ganzen Land und in jeder Sprache – mehr oder
weniger zum "Anhängsel des Mannes"
Ebenfalls indienweit gilt, dass Hausbezeichnungen mit Kastenstrukturen verbunden sein
können, d.h. dass Behausungen von Mitgliedern verschiedener Kasten mit
verschiedenen Bezeichnungen belegt werden: z.B. ist in Kerala illam das Haus eines
Nambudiri-Brahamenen, vitu das eines Nayar, im Sanskrit pakkana die Hütte eines
Chandala etc.
2. Stammespopulationen
2.1. adivasi und Scheduled Tribes
was heißt tribe?
adivasi und die indische Verfassung
allgemeine Situation
2.2. Einteilung der Stammespopulationen
2.2.1. nach Wirtschaftsformen
2.2.2. nach geographischen Zonen und Sprachen
Zentralindien
indo-arisch
munda (austro-asiatisch)
dravidisch
westliches Indien
ursprünglich nomadische Stämme
Bhil-Stämme
Koli und andere
Süd-Indien
nomadisierende Jäger-und Sammler
Brandrodungsbauern mit ergänzender Jagd- und Sammelwirtschaft
abhängige Pflugbauern/ Pächter oder Feldarbeiter
Stämme mit höherem sozialen Status
NO-Indien
2. Stammespopulationen
2.1. adivasi und Scheduled Tribes
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1981 zwischen 6 und 7% der indischen Bevölkerung, 1991 bereits 8.08% (67,7
Millionen) werden zu den sogenannten adivasi ("Stammespopulationen") gerechnet.
Aus praktischen Gründen bezeichnet UNO etc. die ST als "indigene Völker"; mit 8.08%
hat damit Indien die höchste "indigene-Völker-Konzentration" der Welt und besitzt die
meisten Indigenen in einem Staatsgebiet. Adivasis werden oft als die "ältesten Siedler"
bezeichnet, obgleich manche Gruppen nicht zu den Ureinwohner gehören, sondern
wahrscheinlich verhältnismäßig spät einwanderten.
verschiedene Bezeichnungen:
- adivasi (erste Siedler, Urbewohner)
- vanvasi (Waldbewohner)
- pahari (Hügelbewohner),
- Adimjati ("ursprüngliche Kommunitäten")
- Regierung bezeichnet sie als Anusuchit Janjati (Scheduled Tribes) und hat
verschiedene Vorkehrungen für sie getroffen, um ihren Lebensstandard zu verbessern
(s.u.)
Seit etwa 200 Jahren beschäftig(t)en sich Verwaltungsbeamte,
Anthropologen/Soziologen, Missionare, Census Beamte, Historiker, in letzterer Zeit
zunehmend Sozialarbeiter und Politiker mit den adivasi, wobei man verschiedene
Haltungen beobachten kann:
- idealisierend: alle Verschlechterungen innerhalb der Stämme werden auf Kontakte mit
der Außenwelt zurückgeführt; "Edle Wilde"...
- fast gegenteilig: Stammesleute als "unterentwickelte Hindus" gesehen, die in die
Hindu-Gesellschaft integriert werden sollen; Probleme dabei: müssen hart um einen
guten Platz in der Kastenhierarchie kämpfen (essen z.B. Rindfleisch, das bedingt
Einstufung als Unberührbare).- sensationslüsterne Haltung: (Bücher über adivasi, die sich in ihrer Berichterstattung
auf "Sex and Crime" konzentrieren) - offizielle Stellen betrachten Stammesleute heute oft als Störfaktoren (oft Bodenschätze
in Stammesgebieten; leben an Flüssen, wo Staudämme errichtet
werden...Umsiedlungsprogramme nötig; leben im und vom Wald, der immer weiter
wirtschaftlich genutzt wird);
was heißt tribe?
Es gibt eine unüberwindliche Schwierigkeit, eine anthropologische Definition für
"tribal" in Indien zu finden, sei es in Bezug auf Ethnizität, Sprache, Sozialordnung oder
Lebensweise.
Verschiedene Versuche einige Kriterien festzulegen, um "Stamm" zu bestimmen. Ich
führe als Beispiel Kriterien an, die der indische Anthropologen T.B.NAIK festgelegt
hat, um gleich auch exemplarisch an diesen zu zeigen, welche Schwierigkeiten bei der
praktischen Anwendung auftreten können und wie wenig zutreffend diese Kriterien
dann manchmal erscheinen:
Um als Stamm angesehen zu werden sollte eine Gruppe
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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1. geringe funktionale Interdependenz innerhalb der Gesamtgesellschaft aufweisen (im
Hindu-Kastensystem besteht hohe gegenseitige Abhängigkeit; Kasten waren oft
Berufsgruppen, die füreinander tätig waren...) - ein Stamm hat keine besondere
Funktion im Gesamtsystem
2. wirtschaftlich rückständig sein
- Geldwirtschaft nicht voll entwickelt
- primitive Mittel der Ausbeutung
- innerhalb der Kommunität sollten verschiedene wirtschaftliche Tätigkeiten ausgeübt
werden, also keine Spezialisierung
(aber: wirtschaftliche "Rückständigkeit" ist relativ; Jagd- und Fisch-techniken der
adivasi sind oft viel Umwelt schonender als "entwickelte Wirtschaftsformen")
3. in geographischer Isolation leben
aber: manche Stämme millionenstark ( Santal, Gond, Bhil...)
4.einen gemeinsamen Dialekt sprechen (u.U.mit regionalen Variationen) .
aber: z.B.Naga-Gruppe spricht so verschiedene Dialekte , dass sie einander kaum
verstehen können.
andererseits gibt es z.B.in Bengalen verschiedene sehr kleine Gruppen (200 Menschen)
die dieselbe Sprache sprechen, die aber behaupten zu verschiedenen Stämmen zu
gehören - es gibt keine Heirat und kein inter-dining, haben eigene pancayats
(Ältestenrat). Sind sie nun als ein Stamm oder als verschiedene anzusehen?
5. politisch organisiert sein mit dem pancayat als einflussreicher Institution .
aber: Ein Stamm muss nicht unbedingt einen Ältestenrat haben; andererseits haben auch
Kasten pancayats
6. einen geringen Wunsch nach Änderung zeigen ("psychologischer Konservatismus"
lasse sie an ihren alten Bräuchen festhalten) - also Sturheit/Inflexibilität quasi als
Charaktermerkmale .
aber: oft ist Unverständnis der Behörden schuld an ablehnender Haltung der adivasi;
viele adivasi machten schlechte Erfahrungen bei ihren Kontakten mit Kastenhindus und
wollen sich deswegen nicht "integrieren" lassen.
7. Gewohnheitsrecht haben, aufgrund dessen sie in den Gerichtshöfen benachteiligt sein
können
aber: Customary Law (Gewohnheitsrecht), das von den Staatsgesetzen abweicht, gibt es
auch bei vielen Non-Tribals.
Nach Naik müsse eine Gemeinschaft all diese Merkmale aufweisen, um als Stamm
gelten zu können. Eine Gruppe mit einem sehr hohen Grad von Akkulturation
(Anpassung an die Hindu-Gesellschaft) könne nicht mehr als Stamm bezeichnet
werden. Da heute praktisch alle adivasis Kontakt zur mainstream-Kultur haben, sei
eigentlich die einzige vernünftige Frage "wann hört ein Stamm aufgrund der
Akkulturation auf, ein Stamm zu sein (und wird zu einer Kaste)?"
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Naik hat aus seinem Fragenkatalog das Problem der Religion ausgeklammert, das früher
als wichtig erachtet wurde. In älteren früher Census-Berichten werden Stammesleute oft
als Animisten bezeichnet und von den Hindus unterschieden, obwohl man sich der
großen Schwierigkeiten solcher Unterscheidungen bewusst war, da man keine scharfe
Trennlinie zwischen beiden ziehen kann. Animistische Vorstellungen sind auch im
Hinduismus vorhanden und es ist eigentlich unmöglich zu sagen, ab wann man
jemanden als "Hindu" gelten solle.
Im Census 1921 wurde Animismus durch Tribal Religions ersetzt, wobei aber auf die
großen Ähnlichkeit zwischen Stammesreligionen und Vorstellungen vor allem der
niedrigen Hindukasten hingewiesen wird. Die adivasi selbst wollen sich allerdings
zumeist nicht als Hindus bezeichnen lassen, solange sie sich nicht ausdrücklich
"bekehren" ließen und verschiedene Praktiken wie Rindfleisch- und Alkoholgenuss,
Witwenheirat, leichte Scheidung, etc. aufgaben
adivasi und die indische Verfassung
Die indische Verfassung von 1950, hat in Teil XVI, Artikel 330, bestimmte
Hilfsmaßnahmen für gewisse Bevölkerungsteile vorgesehen, nämlich für
a) die Scheduled Castes (SC)... werden später besprochen
b) die Scheduled Tribes (ST) (außer in Assam)
c) die Scheduled Tribes in den autonomen Bezirken Assams.
Die SC und ST sollten besondere Erleichterungen erhalten, weil sie rückständig und ein
"Klotz am Bein der Gesellschaft" seien; Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit
kommen hinzu, um "das Unrecht der vergangenen Jahrhunderte auszugleichen"
Um in den Genuss dieser Privilegien zu kommen, muss ein Stamm offiziell als
"Scheduled Tribe" anerkannt werden, d.h. dass wir es in Indien mit zwei Konzepten von
Stamm zu tun haben:
- Mit dem anfangs erwähnten anthropologisch nicht klar definierbaren Begriff "tribe"
- mit der aus verwaltungstechnischen Zwecken von offiziellen indischen Stellen "zum
praktischen Zweck der Integration" zuerkannten Bezeichnung "Scheduled Tribe"
("scheduled" deswegen, weil diese Stämme in eigenen Listen/schedules aufgelistet sind)
Eine Gruppe, die ein Ethnologe als "tribe" bezeichnen würde, muss nicht als "Scheduled
Tribe" anerkannt sein - und umgekehrt; oft gibt es Übereinstimmung, aber es wurden
manche Gruppen nicht in die ST-Listen aufgenommen, die besondere Hilfe gebrauchen
könnten, andere dagegen wurden aufgenommen, denen ein Anthropologe den "tribal"Status kaum mehr zuerkennen würde. Bei adivasis war bis kürzlich
Religionszugehörigkeit für die Einstufung als ST kein Hindernis (bei Kasten dagegen
schon lange - Christen werden nicht in SC- Listen aufgenommen)
In der Verfassung sind die Kriterien zur Bestimmung der ST nicht genau festgelegt
worden (Backward Classes Commission führt z.B. "a peculiar way of living" als
"Kriterium" an, das heißt, dass die adivasi immer nur in Beziehung zu den Stereotypen
der sie umgebenden Hindu-Zivilisation definiert werden ...)
Im 1981-Census 650 verschiedene Eintragungen, wo aber z.B. der große Stamm der
Bhil für jeden Bundesstaat eigens angeführt wird (siebenmal); 61 der Gruppen leben nur
in Landgebieten, drei aber ausschließlich in Stadtgebieten, bei 47 ist der Anteil derer,
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die in Stadtgebieten leben, größer als der in Landgebieten ("bergige Rückzugsgebiete"
sind also heute oft nur noch Fiktion!). 9 Namen wurde noch mit Mitgliederanzahl
"Null" angeführt, bei 100 Stämmen weniger als 100, bei 78 weniger als 50, bei 41
weniger als 10 Mitglieder; andererseits gibt es 21 ST mit mehr als 500.000 Mitgliedern.
SC/ST nehmen stärker zu als andere Bevölkerungsteile:
1961 machten die SC 14,87% und die ST 6.76% der Gesamtbevölkerung aus (ohne
Assam), 1981 bereits 15,75% bzw.7.76%. Zunehmender Zuzug in die Städte:
- bei SC lebten 1961 noch 89,29% in Dörfern, 1981 nur noch 84%
- bei ST
1961 noch 97,36% in Dörfern, 1981 nur noch 93,8%
Keine indische Gesamtregelung, Aussagen immer nur staatenweise möglich, da
folgendes eintreten kann:
- Kommunität, die in einem Staat als eigenständiger ST anerkannt wird, gilt in anderem
Staat nur als Untergruppe eines Stammes
- Kommunität, die in einem Staat als ST angesehen wird, gilt in anderen Staaten
manchmal als SC
- Stämme, deren Namen in manchen Staaten nur als Synonym eines anderen ST geführt
wird, gelten in anderen Staaten als unabhängige ST
- manchmal sind unter demselben Stammesnamen in verschiedenen Staaten ganz
offensichtlich verschiedene Kommunitäten gemeint.
allgemeine Situation
(www.pucl.org/Topics/Dalit-tribal/2003/adivasi.htm…besucht 11.5.2003)
ST werden also in 209 Artikeln der indischen Verfassung angesprochen, die
"schützend" und paternalistisch sind. Artikel 341 und 342 befassen sich mit der
Klassifizierung als ST, Artikeln 330, 332 und 334 mit Reservierungen von Sitzen im
Parlament und den Assemblies. Es gibt ein Programm-Paket, das in Gebieten mit hoher
tribal-Konzentration in Anwendung kommt und 69% der tribalen Bevölkerung abdeckt.
Trotz alledem ist der Überlebenskampf schlimmer und intensiver als je zuvor und auf
die besonderen Bedürfnisse der adivasis wird eigentlich nie Rücksicht genommen.
Adivasis gehören zu ihrem Lebensbereich, einem bestimmten geographischen Gebiet,
das Wohnsitz der Ahnengeister und Quelle ihres eigenen Wissens, ihrer Technologien,
ihrer Lebensweise, ihrer Religion und Kultur ist. Die Kommunitäten verwalteten sich
selbst:
In der Geschichte bildeten die adivasis "erste Staaten", die sie unabhängig regierten. In
vor-kolonialer Zeit lebten sie jeweils im "unbekannten Grenzgebiet" der verschiedenen
Staaten, außerhalb des Herrschaftsbereiches der jeweiligen Herrscher.
Die Briten führten dann das den Stammesleuten fremde Konzept privaten Eigentums
und forcierten das "zamindari"-System– ernannten Feudalherren, die für die Briten die
Steuern eintrieben.. Dadurch wurde der Bezug zwischen adivasis und ihren Ländern
aufs schwerste gestört, und ebenso die Machtbeziehungen zwischen adivasis und den
"anderen". Die auf Kasten basierende Religion mit ihrem diskriminierenden,
hierarchischen System prägte die Sichtweise, welche die anderen von den adivasi
hatten. Es war nur natürlich, dass sie den adivasi die niedrigsten Ränge in der sozialen
Hierarchie zuschrieben; die von hohen Kasten verfassten altindischen Schriften
legitimierten diese Haltung. Gefördert wurde das noch durch die zunehmende
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ökonomische Machtlosigkeit der adivasi: durch Kapitalismus, Privateigentum, die
Schaffung eines landesweiten Marktsystems zerbrachen die traditionellen
Wirtschaftsformen.
Innerhalb der adivasi gibt es große Unterschiede, sie lebten immer unter verschiedenen
historischen und sozialen Bedingungen. Sie gehören den vier Sprachfamilien an, haben
verschiedene ethnische Ursprünge und verschiedene Religionen. Über die Zeit hinweg
haben sie sich von feudalen Staaten und brahmanischen Hierarchien ferngehalten. Die
Epen und Puranas allerdings berichten über Interaktionen und Kriege zwischen Hindus
und den Wald- und Bergstämmen.
Untersuchungen des Ramayana ergaben, dass Ravana und seine "Dämonen"
Stammesleute waren, vermutlich die Gond, und die Varanas ("Affen") des Hanuman
die Savara oder Korku. Heute noch wird bei den Gond Ravana zutiefst verehrt, während
Rama als "Schlächter der Wald-Dämonen" gefeiert wurde.
Das Mahabharata beschreibt die Tötung Krishnas durch einen Bhil-Jäger. Die den
hohen Kasten heiligen Schriften beschreiben die adivasi als gleichsam nicht-menschlich
– eben als Rakshasa (Dämonen), Vanara (Affen, als Schlangen-, Krähen-, Eber- oder
Adler-Leute). Im Mittelalter gab es herabsetzende Bezeichnungen für sie, und
diejenigen, die unterworfen wurden, nannte man DASA ("Sklave"), andere, die sich
nicht unterwerfen wollten, DASYU ("feindliche Räuber"). – Der Hinduismus ging sehr
unfreundlich mit ihnen um, doch sie sind älter als der Hinduismus und auch der
Aryanismus – und die meisten Züge des großen Hindugottes Siva gehen wahrscheinlich
auf Stammessreligionen zurück, genauso wie Kali als Jagdgöttin einen StammesUrsprung hat.
Während der Zeit der späteren Hindu-.und Muslimherrscher gibt es vereinzelte
Hinweise auf Allianzen zwischen Rajputenfürsten und adivasis, und auch auf Kriege,
Kriege auch zwischen den Ahom-Königen von Assam und den Nagas.
Heute bezeichnet man sie oft herabsetzend als ati-sudra oder jangli. Wurden sie
unterworfen, so wurden sie zu niedrigsten Kasten, denen man verunreinigende
Tätigkeiten aufzwang: Straßenkehren, Exkremente wegschaffen, Tote zu versorgen –
also sie wurden zu Unberührbaren. Diejenigen, die außerhalb bleiben konnten, haben
geschafft, ihre Traditionen und oft auch ihre Sprachen beizubehalten und auch
Institutionen wie Witwenverbrennung, hierarchische Gesellschaftsstruktur etc. nicht zu
übernehmen. Obgleich es immer Kontakte und Handel mit den nicht-adivasis gab,
wurden soziale Kontakte niemals gefördert. Auch das Kasten-Indien bemühte sich nicht
ausdrücklich, sie in die Gesellschaftsstruktur mit einzubeziehen, doch trotzdem gibt es
einen fortdauernden Prozess der De-tribalisierung, wodurch auch überall immer wieder
auch die Hindus beeinflusst wurden, da viele Elemente der sozio-religiösen adivasiKultur Eingang fanden.
Adivasis werden – so lange sie nicht "integriert" sind - nicht allgemein so wie die Dalits
als "unrein" angesehen, doch begegnet man ihnen mit Vorurteilen und oft mit Gewalt,
sieht sie als "primitiv" an und integriert sie auf der niedrigsten Stufe, vor allem seit die
Hindutva-Kräfte Bedeutung bekommen haben.
Man erkennt auch ihr politisches Engagement nicht an: Keiner der tapferen adivasiAufstände gegen die Briten wird als Teil des "nationalen Freiheitskampfes" eingestuft,
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von Aufständen bereits 1772 bis zu Revolten in Orissa 1942. Die adivasis rebellierten
im NO, O und im zentralen tribal belt (Bhils im W). Oft konnten sie nur sehr schwer
oder gar nicht niedergerungen werden und die Briten erfüllten die anstehenden
Forderungen, um wieder Ruhe zu haben. Tribal-Helden werden in den Liedern und
Geschichten der adivasis erinnert, in den offiziellen Textbüchern aber ignoriert.
In britischer Kolonialzeit waren Stammesgebiete sog. Agency Areas, wo ein britischer
Vertreter (Agent) im Namen der Krone regierte, die lokalen SelbstverwaltungsInstitutionen aber unberührt ließ. Dann gab es noch die Excluded Areas im NO, wo der
Vertreter der Krone lediglich als Scheinfigur existierte. – Nach der Machtübergabe an
Indien unterschrieben die Fürsten den Beitrittsvertrag und bekamen Privilegien
zugesprochen. Mit den meisten unabhängigen Stammes"staaten" allerdings gab es keine
Verträge, es wurde vorausgesetzt, dass sie sich der Indischen Union angeschlossen
hätten, und ihre Gebiete wurden mit jenen des neuen Indien verschmolzen – manchmal
mit Gewalt, wie im Falle von adivasi-Erhebungen im Gebeit des Nizam von Hyderabad.
Der gesamte NO gehörte politisch nie so recht zum "Hauptland" und kam erst viel
später unter britische Oberhoheit (Ende des 19.s., als man schon anderswo längst
aufgehört hatte, Gebiete zu annektieren), und der Kampf um die Selbstbestimmung ging
dann hier auch anders weiter (eigene Staaten für Nagas, etc. )
Der gesamte Waldbestand in Indien beträgt ca. 765 000 qkm, davon sind 71% adivasiLand. Davon aber sind 416 ooo qkm als "reserved" und 223 000 qkm als "protected
forests eingestuft. Von letzterem wieder gelten 32% als "Wild Life Sanctuaries" und
Nationalparks, wodurch alleine eine halbe Million adivasis abgesiedelt wurde. Von
1864 an, als der erste "Forest Act" erlassen wurde, bis zum Indian Forest Act 1927,
wurden die Rechte der adivasi permanent eingeschränkt und auf "Privilegien" reduziert,
die vom Staat vergeben wurden. – Auch das nur, weil man die Regierung mehr oder
weniger aufgrund der früheren Kämpfe der adivasi dazu zwang. Aber verschiedenste
Gesetze (Wild Life Protection Act, Forest Conservation Act…) beeinträchtigten diese
Privilegien permanent.
1991 waren 23.o3% der adivasi Alphabeten (Bevölkerungsdurchschnitt 42.83%); aus
dem 8. Regierungsplan geht hervor, dass 52% ST unter der Armutsgrenze lebten
(gegenüber 30% bei Gesamtbevölkerung). Im gut entwickelten (und egalitäreren)
Kerala waren 64,5% ST unter der poverty line, gegenüber 47% SC und 41% bei
anderen. – 95% der adivasi leben in Landgebieten, weniger als 10% sind noch Jäger und
Sammler, aber mehr als die Hälfte hängen von Waldprodukten ab. Sie werden häufig
von Polizei, Forst- und anderen Beamten eingeschüchtert, belästigt, fast routinemäßig
verhaftet und eingesperrt, oft wegen minimaler Vergehen.
Nur wenige der Waldbewohner-Kommunitäten wurden nicht umgesiedelt (in Teilen von
MP, Orissa, Andamanen…). Tausende Korku-Kinder starben 1990 wegen
Unterernährung, in Bihar, Orissa leiden sie immer wieder unter NahrungsmittelKnappheit; in 41 an sich nicht von Hunger bedrohten Distrikten mit hohem adivasiAnteil gibt es unter dieser Bevölkerung immer wieder Hungertote.
Seit dem Land Acquisition Act 1894 wird den adivasi im Namen des "öffentlichen
Interesses" Land weggenommen. In der post-kolonialen Periode hat sich das
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verschlimmert. Die meisten adivasi-Länder wurden vom Staat beansprucht; mehr als 10
Millionen wurden wegen verschiedenster Projekte umgesiedelt: Dammbauten, Minen,
Industrieanlagen, Straßen, "geschützte Gebiete", usw. Obwohl die meisten Dammbauten
auf adivasi-Land errichtet wurden, hatten sie 1980-81 nur 20% bewässertes and
(gegenüber 45,9% allgemein). Indien produziert 52 wichtige Bodenschätze (neben
anderen nicht so bedeutenden), 45 davon werden in adivasi-Gebieten abgebaut,
wertmäßig entspricht das 56% des Staatseinkommens in der nationalen
Gesamtproduktion (Kohle, Eisenerz, Magnetit, Mangan, Bauxit, Graphit, Dolomit,
Uran, etc.)1991-92 lagen von 4175 funktionierenden Minen liegen 35oo in adivasiLand. Der Staat verdiente am Wald in den Siebziger-Jahren 13 Milliarden Rupien
gegenüber fünfeinhalb Millionen 1869-70.
Durch die Öffnung der adivasi-.Gebiete und sogenannte "tribal development projects"
kamen Wellen von Immigranten. Im reichen Mineral-Gebiet von Jharkhand ist der
adivasi.-Anteil an der Bevölkerung von 60% 19121 auf 27,67% im Jahr 1991
zurückgegangen. Adivasis suchen Überlebensmöglichkeiten in den slums der Städte.
Allein in Delhi dürften ca. 40.000 Stammesfrauen als Haushaltsgehilfinnen arbeiten.
Manchmal emigrierten adivasis in die Gebieter anderer tribals, was zu heftigen
Konflikten führte (zwischen Santhals und Bodo in Assam…)
Durch Privilegien und Wohlfahrtsmaßnahmen profitiert nur ein kleiner Teil der ad. Oft
scheint die ST-Bevölkerung rapide anzusteigen (von 1971 bis 1991 in Maharashtra um
148%), das geht aber oft darauf zurück, dass aus politischen Gründen eine Anzahl
ökonomisch entwickelter Gruppen in die ST-Listen eingereiht werden. Das verzerrt
nicht nur das demographische Bild sondern führt auch dazu, dass diese "neuen" den
Löwenanteil der Vergünstigungen einstreifen und die echten, armen adivasis durch den
Rost fallen und hinuntergedrückt werden. Adivasis stellen den Großteil jener Menschen,
die – trotz des Bonded Labour Abolition Acts 1976 – heute noch in Schuldknechtschaft
leben.
Trotz der Anstrengungen der Regierung wird die Lage der adivasi immer präkerer:
schrumpfende Wälder, zerstörte Fischereigebiete, Arbeitslosigkeit, Hunger und
Konflikte sind an der Tagesordnung. Die adivasis hatten die Artenvielfalt
(schätzungsweise 90%) der indischen Natur bewahrt, heute sind sie durch die
städtischen Märkte zu Lieferanten von Rohmaterial geworden Adivasis, die hunderte
Tiere und Pflanzen kennen, die exquisitesten Handarbeiten herstellen, gelten als
"ungeschickt" oder "primitiv".
Ein ganz schlimmer Fehlgriff war die Einführung der Bezeichnung "Criminal Tribe"
und des Criminal Tribes Act von 1871: darin wurden 150 Kommunitäten – darunter
etliche adivasi- als (natürlich) kriminell eingestuft. Das Gesetzt wurde natürlich
abgeschafft, aber der "Ruf" blieb an den Kommunitäten haften
Es gibt jede Menge Gesetze um den Landbesitz der adivasis zu schützen, beginnend mit
1879. Zur Anwendung gelangen sie zögerlich – In AP z.B. wurden nur 28% des
verlorenen Landes rückerstattet, in Kerala sogar nur 5%. Das zeigt, wie wenig man sich
um die Rechter der adivasi in Wirklichkeit kümmert und wie mit den verfassungsmäßig
festgelegten Gesetzen in der Praxis umgegangen wird.
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Was die Religion betrifft: die Verfassung sieht adivasis zwar als eigene kulturelle
Gruppe an, zwingt sie aber sich als Hindus einzutragen, wenn sie nicht ausdrücklich
Christen, Muslime oder Buddhisten sind. Hindus wie auch Christen haben versucht, die
adivasi zu "zivilisieren" - das eine nennet man "Sanskritisation", das andere
"Westernisation". Im 1981-Census trugen aber immerhin 5% der adivasis ihre Religion
mit dem jeweiligen Stammesnamen ein, 1991 waren es schon 10% was zeigt, dass es
ein erstarkendes Stammesbewusstsein gibt.
Artikel 350A der Verfassung garantiert, dass die Grundschulausbildung in der
Muttersprache erfolgen muss. In Stammesgebieten hielt man sich nur dort daran, wo die
adivasis durchsetzungsfähig waren. Die offiziellen Stellen haben kein Interesse an den
Stammessprachen. Der Anthropological Survey of India hat den Verlust von zwei
Drittel der gesprochenen Sprachen registriert, die meisten davon Stammessprachen. –
Es werden auch ethnische Zugehörigkeiten ignoriert – viele Stämme vor allem im NO
leben getrennt von ihren Stammesbrüdern in China, Myanmar, Bangladesh oder Bhutan
– die künstlichen politischen Grenzen wurden quer durch Stammesgebiete hinweg
gelegt – vor allem im NO führt das immer wieder zu bewaffneten Konflikten . – In
Indien selbst hat man natürlich die Staaten entlang der Sprachgrenzen der
"Hauptsprachen" gezogen, die Stammessprachen fielen dabei wieder durch den Rost.
Jharkhand wurde zwischen Bihar, W-Bengalen, UP und Orissa aufgeteilt, obgleich nun
nach Jahrzehnten der Kämpfe der Bihar-Teil ein unabhängiges Jharkhand wurde. Das
Gond-Gebiet ist zwischen Orissa, AP, M und MP aufgeteilt, Bhil zwischen M, MP, G
und R.
In den Staaten hat man dann die Verwaltungseinheiten oft noch so aufgeteilt, dass die
Konzentrationen der Stammespopulationen aufgebrochen wurden, was wieder zu ihrer
politischen Machtlosigkeit führte. Vorkehrungen für Selbstverwaltung haben sich
bisher immer als Flop erwiesen; erst seit 1996, mit dem sogenannten Panchayat Raj
Gesetz, besteht Hoffnung auf eine tatsächliche Neu-Definition der Selbstverwaltung.
Bisher aber hat der indische Staat in Wirklichkeit eine rassistische und imperialistische
Haltung gegenüber den adivasis eingenommen und der "homogenen Hindu-Kultur"
alles andere geopfert. Die Haltung war zumeist, dass man die "Unterentwickelten"
zivilisieren müsse, was aber jeder rationalen Grundlage entbehrt. Auch in Indien gilt
die Produktion von Überschuss mehr, als vernünftige Lebensformen in Einklang mit der
Natur zu finden.
2.2. Einteilung der Stammespopulationen
2.2.1. nach Wirtschaftsformen
Häufig Vorstellung, dass Stammesleute in erster Linie Jäger/Sammler seien (Männer
jagen/ stellen Fallen, Frauen sammeln...). In Indien fallen höchstens noch einige wenige
südindische Stämme (wie Kadar, Chenchu u.a.) in diese Kategorie, während die meisten
anderen gleichzeitig verschiedenen Tätigkeiten nachkommen und - als die
Waldnutzungsrechte noch nicht so eingeschränkt waren - jagten, Honig sammelten,
Brandrodungsbau betrieben, Tiere domestizierten, etc. Heute sind viele Stämme mehr
oder weniger zwangsweise zum Pflugbau "bekehrt"; allgemeine Aussagen sind schwer,
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weil heute adivasi alles von Jägern/Sammlern über Ackerbauern zu Industriearbeitern
sein können (manchmal in einer Kommunität alle Tätigkeiten gleichzeitig vertreten)
Früher waren für drei geographischen Zonen drei Haupt-Wirtschaftsformen
charakteristisch:
- Terrassenfeldbau mehr oder weniger sesshafter Bevölkerungsgruppen, bes. im NO
- Brandrodungsfeldbau (Schwendbau) mit Axt und Grabstock in Zentralindien, in
geringerem Ausmaß auch im NO und S
- Jagd/Sammelwirtschaft vor allem in Südindien
Überall, aber vor allem wo Pflug nicht verwendet werden kann (Berghänge), wurde
Schwendbau betrieben: Vegetation abgebrannt, erosionshemmendes Wurzelwerk im
Boden belassen; lange Brachzeiten (etwa 5 Jahre) notwendig; ist bei geringer
Bevölkerungsdichte schonende Form bäuerlicher Landnutzung; bei Verkürzung der
Brachezeit (wegen heutiger Landknappheit) werden Böden ausgelaugt – es kommt zu
Bodenzerstörung und damit zu einem Teufelskreis, weil wegen der geringen Erträge
dann noch intensiver bearbeitet wird. Schwendbau ist heute weitgehend verboten und
nur noch in wenigen Distrikten erlaubt, wo vorwiegend Stammespopulationen leben
(z.B im Bastar- und Mandla-Distrikten von Madhya Pradesh)
Übergang von Schwendbau zu Pflugbau bringt grundlegende Veränderungen mit sich
- Übergang vom kommunalen zum privaten Landbesitz (hohe Kosten für Pflügen,
Düngen, Bewässern...tut Bauer nur für "sein" Land)
- manche Stammesmythen verbieten Pflügen (Baiga)
- Pflugbau bedingt Rinderhaltung - andere Lebensbedingungen (festere Wohnsitze,
Ställe...)
Durch den Pflugbau kommt ers auch zu einer stärkeren Umstellung der Lebensweise:
Adivasis ergänzten ihre Lebensbedürfnisse durch Dschungel (Erholung, Jagd, Nahrung:
Wurzeln, Wildgemüse, Früchte, Honig, Blüten, Insekten/-larven...Rohmaterialen für
Körbe, Hausbau, Schmuck...). Unterschied zw. "reinen Sammlerstämmen" und
"Agrarstämmen" sind aber nur graduell. In den 70er Jahren bestritten "wilde Bihor"
Lebensunterhalt zu 5/6 aus Waldprodukten, Schwendwirtschaft betreibende adivasi zu
3/5, aber auch Ackerbau betreibende Munda, Oraon, Ho noch zu 50% von
Waldprodukten abhängig. Sicher Änderungen in letzten 30 Jahren, weil Waldbestand
drastisch zurückgeht!
Heute Pflugbau für die meisten adivasi Haupterwerbszweig. Etliche Gruppen sind
allerdings keine sehr erfolgreichen Ackerbauern, Ergebnisse in der Viehzucht ebenfalls
mager (viele Rinder, aber Qualität sehr schlecht - oft waren ihnen Schweine und Hühner
wichtiger). Ackerbau setzt Landbesitz voraus - Probleme, da trotz gegenteiliger
gesetzlicher Vorkehrungen der Landbesitz der tribals ständig abnimmt (Enteignungen,
inkonsequente Anwendung der Gesetze zum Schutz der Landrechte;
Schutzbestimmungen wenden sich gegen adivasi, z.B. "wer Land bearbeitet, dem soll es
gehören", adivasi haben keine Rinder zum Pflügen und müssen das Land von anderen
bearbeiten lassen...) Bräuche und Traditionen (große Feste, Gastfreundschaft) führen
zur Verpfändung; gesetzliche Schutzbestimmungen sind den ST meist unbekannt, oder
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sie sind zu arm, um die komplizierte gesetzliche Maschinerie in Gang zu setzen. Seit
1986 erstellen eine Ministerkommission und die Tribal Research Institute Studien zur
Landsituation der adivasi
Die Situation der Stammespopulationen ist in Nepal und Bangladesh (Chittagong Hill
Tracts) ähnlich triste.
2.2.2. nach geographischen Zonen und Sprachen
ZENTRALINDIEN:
lose verbundene Gruppen vor allem in Hügel-Waldgebieten v.Gujarat, Madhya Pradesh,
Maharashtra, Bihar, Orissa, W-Bengalen; zahlenmäßig größte Teil der adivasi lebt in
diesem Gürtel ("tribal belt"); manche Stämme (Bhil, Gond) mehrere Millionen
Mitglieder, andere nur ein paar Tausend (ungefähr ein Dutzend große, und etwa 200
kleine Stämme) Fast alle großen Stämme bezeichnen sich als die "ursprünglichen
Siedler und Herren des Landes", die früher viel mehr Land besaßen als heute. Letzteres
stimmt sicher, dass sie tatsächlich die "ersten Siedler" in ihren heutigen Wohngebieten
waren, ist aber oft nicht richtig (viele Wanderungen...)
Klassifikation der zentralindischen Stämme nach ihrer Sprachzugehörigkeit:
indo-arisch
manche davon gehören vielleicht tatsächlich zu ältesten Siedlern, haben schon vor sehr
langer Zeit arische Dialekte übernommen; besonders einfache Agrarmethoden, hängen
mehr von Jagd und vom Sammeln von Waldprodukten ab als Angehörige der anderen
Sprachgruppen.
Vielleicht Baiga am ältesten; bis vor kurzem einfacher Schwendbau, dürfen aufgrund
ihrer Mythen keinen Pflug verwenden; 1981 gab es rund 250.000. Haben ein SchweineOpfer, das in vielen Punkten an das berühmte Pferde-Opfer der vedischen Arier
(ashvamedha) erinnert. Sie leben in enger Nachbarschaft und "wirtschaftlicher und
kultureller Symbiose" mit den Gond. Baiga ist auch Bezeichnung für einen Beruf,
nämlich den des "Zauberers"
Pardhan (110.000): Sänger, Barden und Diener der Gond, von denen sie als sozial
niedrigerstehend und unrein angesehen werden; ziehen ihre Tätigkeit der Feldarbeit vor;
müssen Register über ihre Kunden führen und haben daher verhältnismäßig hohe
Alphabeten-Rate.
Nahal (75.000) in westlichen Vindhyas; hatten eine Sprache, die nirgends einzuordnen
ist und von der noch Überreste vorhanden sind
einige Stämme mit anderen Sprachen sind den angeführten sehr ähnlich
Juang in Orissa (30.000) sprechen heute Mundari; in der Literatur oft erwähnt, weil sie
früher Blätterkleider trugen und Jugendschlafhäuser als Zentren des sozialen Lebens
hatten.
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Maler (40.000) sprechen heute dravidischen Dialekt; betreiben, wenn irgendwie
möglich, noch immer Brandrodungsbau (vor allem Mais, dessen Pflanzen mit Opfern
und Riten verbunden ist)
munda (austro-asiatisch)
bes.in Chota Nagpur; Populationen wahrscheinlich östlichen Ursprungs, auch wenn das
von manchen Autoren aufgrund äußerer Merkmale bezweifelt wird. Sprachliche
Verwandtschaft mit den Khasi in Meghalaya (Assam) und den Nicobaren-Bewohnern.
Munda (1,5 Millionen; ständig zunehmende Zahlen - 1941: nur 400.000!), vor allem in
Bihar, bes.in Chota Nagpur; als auffallend wird die oft sehr dunkle Hautfarbe genannt;
einfache Ackerbauern (Reis u.a.Getreidearten, Hülsenfrüchte...), jeder Bauer baut alles
an was er braucht - das wird immer schwieriger, Familien groß, Land wird weniger;
zuviel Alkoholkonsum, zu große Ausgaben für Feste, Zeremonien, Beschwichtigungen
für böse Geister....Mundas nahmen ihren Landverlust nie stillschweigend hin - von 1789
bis 1832 sieben große Revolten gegen Hindus, Muslims und Engländer - immer
niedergeworfen. Mundas verließen sich dann auf einen religiösen Führer, der sie
enttäuschte; viele wandten sich dann christlichen Missionaren zu; heute etwa 20%
Christen.
Mundas in verschiedene Gruppen unterteilt, die verschiedenen Rang haben, deren
oberster mit Rajputen Eheverbindungen eingehen konnte (also: auch bei adivasi sind
nicht "alle gleich"!); heute Industrialisierung, Urbanisierung; Sitten und Gebräuche
haben sich "angepasst", jetzt allerdings Wiedererwachen des Stammesbewusstseins Betonung der eigenen Sprache und Kultur, Bewusstwerden der politischen Bedeutung.
Die Ho (600.000) sehen sich als "höchster" Munda-Stamm an; ho ist ein Mundawort
und bedeutet "Mensch". Früher gab es Heiraten zwischen ihnen und Munda, Santal und
Bhumij; ihr zentrales Wohngebiet ist ein fruchtbarer District in Chota Nagpur, den sie
erbittert und einigermaßen erfolgreich gegen Eindringlinge verteidigten; heute Land
knapp, viele arbeiten in Minen und Fabriken. Hatten - wie Munda und Birhor Jugendschlafhäuser.
Traditionsgemäß gutes Beispiel für gemischte Wirtschaft: Ackerbau als
Haupterwerbszweig, dazu Jagd und Fischfang. Kooperation war wichtiger Zug des
täglichen Lebens. Die Ho besitzen Spezialisten in bestimmten Handwerken, die aber nie
mit Geld entlohnt wurden, sondern oft um des Prestiges willen tätig waren ...
Barzahlung für Leistung ist daher ein wichtiger Faktor der Desintegration. - Pflügen,
Fischen und Jagen immer in Gruppen, dabei strenge Arbeitsteilung. Reis als
Grundnahrungsmittel. Pflügen gemeinschaftlich (mehrere Geräte auf kleinem
Landstück, dann pflügen alle zusammen das nächste...). Frauen nehmen am
Wirtschaftsleben sehr aktiv teil.
Kol (130.000): weitgehend sanskritisiert, von den Hindus bereits als niedrige Kaste
eingestuft. - Noch stärker hinduisiert sind die Kharwar (560.000), die gegen hohe
Zahlungen sogar als Ehepartner für Rajputen akzeptiert werden. Für sie - und ganz
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allgemein - gilt: je weiter entfernt sie von Chota Nagpur leben, desto mehr haben sie
Munda-Sprache und Stammesreligion aufgegeben
Santal: größter (4,260.000) und östlichster Munda-sprechender Stamm, seit einem
Jahrhundert ständig auf Suche nach neuem Land; auch sie in große Aufstände
verwickelt, die die Briten nur mit großen Verlusten und einjähriger Kriegsdauer
niederwerfen konnten; totemistische Vorstelllungen; recht gute Ackerbauern, wenn sie
Land haben; Jäger-Traditionen durch zeremonielle Jagd einmal im Jahr erhalten; haben
immer noch Stammesgottheiten, vor allem Sonne und "den Berg"; jede Familie hat ihre
eigene Gottheit, deren Namen vom Vater auf den Sohn weitergegeben wird und vor den
Frauen der Familie geheim gehalten wird.
Korku: westlichster der mundari-sprechenden Stämme; vier endogame Unterteilungen
mit totemistischen exogamen Clans; früher Schwendbauern, heute Pflugbauern mit
besonderer Siedlungsweise (keine Streusiedlungen, sondern Häuser aneinandergebaut);
ergänzen Nahrung durch Sammeln im Wald; Holzarbeiter; ähneln äußerlich sehr den
Munda; zusätzlich zu Hindu-Gottheiten noch eigene Stammesgötter, starker Glaube an
Hexerei, Schamanismus;
Bei manchen Stämmen sprechen verschiedene Unterabteilungen verschiedene
Sprachen; z.B. sind die Gadaba (80.000) in S-Orissa und N-Andhra-Pradesh mundarisprechend, während ihre Untergruppe der Ollar einen dravidischen Dialekt, das Ollari,
spricht.
Als größerer mundari-sprechender Stamm bleiben die Savara zu erwähnen (660.000 in
Orissa/Bihar und östl.MP), die manchmal mit den antiken Suari der südlichen
Gangesebene identifiziert werden. Grierson u.a. glauben, dass sie einst der
dominierende Zweig der mundari-sprechenden Stämme waren und ihre Wohngebiete
sich über Zentral- und Ost-Indien erstreckten, und dass sie durch Gonds und andere
Stämme aufgesplittert wurden.
dravidisch
Oraon oder Kurukh: wichtigster Stamm in Chota Nagpur (1,9 Mill), ihren Legenden
nach gehörten ihnen einst weite Teile S-Bihars, wurden von Muslims vertrieben und
mussten sich neue Heimstätten suchen; ursprünglich kamen sie aus dem Süden und
verdrängten langsam Munda aus vielen Gegenden des Ranchi Plateaus, wo heute
Hauptwohngebiete der Oraon liegen. Der Überlieferung nach brachten sie den Pflugbau,
sind oft bessere Ackerbauern als andere Stämme des Gebietes.
Gond: 7,3 Millionen; Bezeichnung umschließt viele voneinander sehr verschiedene
Gruppen; Name vielleicht vom Telugu-Wort konda ("Hügel") abgeleitet;
Hauptkonzentration: in Satpura-Bergen. Viele Untergruppen, davon zwei
"aristokratische": die Raj-Gonds beanspruchen höheren Rang, weil sie die Landbesitzer
sind; manche heute als Rajputen anerkannte Kommunitäten dürften schon vor langem
aus Gonds hervorgegangen sein; vom 16.-18.s. waren die Gonds offizielle Landesherren
mit eigenem Staat. Die N- und Zentral-Gond sind stark sanskritisiert, mehr im SO
(Chattisgarh bis Orissa) nicht so sehr, leben dort eher in Waldgebieten (z.B. Maria
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Gond, die "wildeste" Unterabteilung, betreiben wo immer möglich heute noch
Schwendwirtschaft und verachten den Pflug; Bison-Horn Maria haben ihren Namen
vom entsprechenden Kopfschmuck, der beim Hochzeitstanz verwendet wird).
Die Muria-Unterabteilung sind erfolgreiche Ackerbauern, die durch Jagd und Sammeln
ihren Lebensunterhalt ergänzen. Mahua-Schnaps (bassia latifolia) spielt in Religion und
sozialem Leben eine wichtige Rolle. Ihr soziales Leben dreht(e) sich um das besonders
gut "erforschte" gotul, das Jugendschlafhaus, in dem sich die Burschen und Mädchen
des Dorfes treffen/trafen.
Halba: gute Ackerbauern; 1971 nur 180.000, dann 1981 fast 500.000....keine echte
Zunahme, sondern offenbar hat eine Weber-Kaste, die auch Halba heißt, die
Gelegenheit ergriffen, sich mit den tribal-Halbas zu identifizieren, um so zu einem
höheren sozialen Rang zu kommen. Es gibt unter den echten Halba sogar zamindars
(Großgrundbesitzer), die von den Gond, als diese das Land regierten, für Kriegsdienste
mit Land belohnt wurden.
Khond (1,3 Mill): wieder in Berg- und Ebenen-Gruppe unterteilt (letztere stark
hinduisiert) Einfacher Ackerbau, gute Jäger; Überbetonung der "Fruchtbarkeit der
Erde", besonders für den Anbau des haldi (curcuma longa) sollen sie früher
Menschenopfer (meriah) dargebracht haben ... heute berechtigte Zweifel an der
Darstellung dieser Opfer durch die Briten.
WESTLICHES INDIEN
drei verschiedene Gruppen, alle mit indo-arischen Sprachen
ursprünglich nomadische Stämme
vor allem Tierzüchter, vermutlich aus Inner-Asien, enge Beziehung zu den Rajputen; als
Scheduled Tribe werden heute nur noch die Mina anerkannt
Mina: 2 Millionen; haben muslemische Gruppe, die Meo, die im 11.Jahrhundert
bekehrt wurden (Beschneidung der männl.Kinder, ansonsten leben sie fast wie Hindus)
Mina/Meo waghalsige Räuber und Plünderer, heute großteils friedliche Bauern
geworden, aber Verherrlichung der "Helden" als halbgöttliche Wesen erinnert an ihre
kriegerische Vergangenheit.
vielleicht im Gefolge der Rajputen u.a. Eroberer als deren Diener/Knechte/Soldaten aus
Innerasien mitgekommen. Manche Autoren nennen sie "Überreste skythischer
Eroberer". Es kann tatsächlich sein, dass sie den größten Teil dieser "Eroberer" stellten,
dann Frauen von den Lokalbevölkerungen nahmen und sich mit diesen vermischten,
während ihre Anführer nur Töchter höherer Klassen ehelichten und zu "Rajputen"
wurden.
Einige andere Stämme halten noch mehr an ihrer Vergangenheit als Hirten-Nomaden
fest; am bekanntesten davon vielleicht die Kamele-züchtenden Rabari im Kutch (1931
waren 415.000 verzeichnet, heute nur noch 5000 als Scheduled Tribe eingetragen, die
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sehr traditionsverbunden sind und wenig Kontakt zu anderen Kommunitäten pflegen;
wollen keine "Bildung" und Modernisierung; dem Rest geht es offenbar wirtschaftlich
gut genug, dass sie auf die Privilegien der ST verzichten);
Bhil-Stämme
viele Stämme sind unter dem Sammelnamen Bhil bekannt, wobei manche Untergruppen
heute als unabhängige Stämme angesehen werden und z.B.die Bhilala ihren Ursprung
auf Verbindungen zwischen Rajputen und Bhils zurückführen, obgleich gleichzeitig
traditionsgemäße Feindschaft zu den Rajputen bestand, die sich allmählich alles
fruchtbare Land aneigneten. Die Bhils haben Überreste von Totemismus
Heute gelten 7,4 Millionen Menschen im W von Madhya Pradesh, Rajasthan, O-Gujarat
und N-Maharasthra als Bhils. Sie besaßen früher viel mehr Land als heute
Ursprung der Bhils ungeklärt; haben ihre eigene Sprache komplett verloren, auch ihre
Religion und Mythologie sowie Volkserzählungen scheinen großteils entliehen zu sein,
auch wenn sie jetzt sehr komplex sind (Entstehung von Welt und Menschen, große Flut,
Ursprung gewisser Sitten; halb-professionelle Geschichtenerzähler; viele Lieder, z.T.
bei Tänzen gesungen); wir wissen nicht, wann sie nach Indien kamen, woher sie kamen,
in welcher Verbindung sie zu Stämmen weiter im O und S stehen. Sie können prä-arisch
und prä-dravidisch sein; waren ursprünglich Jäger, Fischer und Sammler, übernahmen
später Ackerbau.
Auch hier "tribal hill section" und hinduisierte Ebenen-Bewohner ("Sanskritised
Bhils"), die aber keinen hohen Status in der Hindu-Gesellschaft einnehmen; heute viele
als schlecht bezahlte Hilfsarbeiter tätig, große Teile unter der Armutsgrenze.
Zahlenmäßig sehr im Zunehmen - ländliches Proletariat. Haben kein gemeinsames
Stammesbewusstsein entwickelt, das über Unter-Gruppe hinausreicht - könnten sonst
bedeutende politische Macht werden und sich besser für ihre Rechte einsetzen.
Koli und andere
dritte Gruppe großteils hinduisiert, nur noch fragmentarisch als Stammespopulationen
einzustufen: die über 6,5 Millionen Koli sind aufgespalten in viele Gruppen mit
verschiedenen Namen. Name manchmal mit dem ins Englische übernommenen Wort
Cooly in Zusammenhang gebracht, der aber vielleicht von der Kaste von See-Fischern
gleichen Namens entlang der W-Küste Indiens stammt (beförderten dann mit ihren
Booten auch Waren etc…). Im Inland waren Kommunitäten dieses Namens früher vor
allem Jäger und Flussfischer und Bewachungspersonal der Bergfestungen der
Marathas). Während der britischen Zeit galten Kolis als Räuber und Viehdiebe, heute
vor allem landwirtschaftliche Hilfskräfte....keine Stammes-Solidarität.
Als rückständigster und niedrigster Stamm im westlichen Indien werden oft die Katkari
(180.000) in den W-Ghats des Dekkan angesehen, die soweit wie möglich auch heute
noch als halbnomadischer Waldstamm von Sammeln, Jagen und Fischen leben;
außerdem sammeln sie Brennholz, fällen Bäume und stellen Holzkohle her. Da die
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Wälder nicht mehr intakt sind, begehen sie oft kleine Diebstähle,...Regierungsversuche,
sie als Bauern sesshaft zu machen, hatten bisher wenig Erfolg. Kümmern sich nicht um
"Reinheitsvorschriften", essen "alles", sind als mächtige Zauberer bekannt.
Oft zitiertes "Gegenbeispiel": die auch aus den Ghats stammenden Warli (Heimat
wahrscheinlich weiter im Süden); heute 520.000 vor allem entlang der Küste. Sind
fleißige Arbeiter geworden, die von den Hindus einigermaßen akzeptiert und von den
Landbesitzern, für die sie arbeiten, gnadenlos ausgebeutet werden. Heute auch als Maler
bekannt (weiße Strichzeichnungen auf dunklem Untergrund)
SÜD-INDIEN
Südindien schon seit früher Zeit bewohnt (Madras Industrie!), Stämme teilweise
vielleicht sehr alt. Alle sprechen dravidische Lokaldialekte, oft mit ungewöhnlichen
Akzenten; wenn sie eigene Sprachen hatten, gingen diese verloren. Leben in kleinen
Gruppen
- entweder, weil sie versprengte Überreste größerer Stämme waren
- oder weil Jagd/Sammeltätigkeit nur kleine Gruppen gestattet.
Durch Waldverlust/Landhunger immer weiter abgedrängt; fanden früher im Wald alles
was sie brauchten; seit wenigen Jahrzehnten in Abhängigkeiten gebracht, Bedürfnisse
geweckt (Alkohol, Opium, Tabak, "anständige" Kleidung, Luxusgüter...tribals arbeiten
für Geld); Stammesmoral/Sozialstruktur durch Fremdeinflüsse unterminiert.
starke Verunsicherung durch zu plötzlichen Übergang vom freien Jäger/Sammler-Leben
zu dem des sesshaften Bauern; früher als Übergangsphase Schwendwirtschaft; das ist
heute nicht mehr möglich. Heute Dschungelstämme oft als Hilfsarbeiter in den Feldern
und Plantagen der anderen; im günstigsten Fall erhalten sie selber kleine Landstücke zur
Bebauung.
Wegen der starken Veränderungen in den Lebensbedingungen heute nur noch wenige
"reine Jäger und Sammler", die meisten Gruppen mussten sich neuen Verhältnissen
anpassen, es gibt daher heute verschiedene Wirtschaftsformen
nomadisierende Jäger-und Sammler
Außer in S-Indien und Stammesgebieten (wie Chotanagpur) gelten solche adivasiKommunitäten oft als "criminal tribes", werden der Herumtreiberei, des Stehlens und
Betrügens beschuldigt (vgl. "Zigeuner" in Europa...); Behörden stets auf Seiten der
Steuern zahlenden Ackerbauernkasten.
Im Süden kleine Gemeinschaften in den W-Ghats. Einige Beispiele:
Hasalar (10.000), werden von Hindus als Unberührbare eingestuft; keine Brahmanen,
Barbiere oder Wäscher dienen ihnen.
Irula (130.000): waren Experten im Fangen von Reptilien, kleinen Tieren und
Schlangen (Ko-operative!). Gute Fischer (mittels Gift)
Palliyar: in Periya-Hügeln in höheren Bergregionen; bekannt für Errichtung von
"Baumhäusern" (Plattformen in den Bäumen); wenn ein Mitglied der Gemeinschaft
starb, wurde es nicht vergraben, sondern im Wald liegen gelassen und Platz wurde für
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Monate gemieden. Jetzt begraben sie ihre Toten, um nicht beliebte Rastplätze zu
verlieren.
Kattunayakar (35.000) in Kerala und Tamilnad glauben, dass sie von hohen Kasten
abstammen oder Nachkommen der alten Pallava sind, die im 7.s. von den Chola besiegt
wurden - dürften aber ein ganz gewöhnlicher indigener Hügel-Stamm sein.
Kadar (2200) von manchen als "primitivster indischer Stamm" bezeichnet- sehr arme
materielle Kultur, mehr oder weniger nomadisch...; kleiner Stamm der Arunadar (236)
sogar von den Unberührbaren als noch niedriger stehend angesehen, "verunreinigen für
Kastenhindus alles im Umkreis von 100 yards" (wegen Eßgewohnheiten...Schlangen,
Würmer, Aas)
Von anderen als "primitiv" gesehen, aber viele haben ein gutes Wissen medizinischer
Pflanzen, stellen Medizinen her, fangen Kobras...
Lebenssituation dieser Gruppen heute besonders tragisch: Überall Anzahl der
nomadischen Jäger/Sammler im Schwinden, weil kein Freiraum mehr existiert. Haben
wenig Widerstandskraft gegen Krankheiten, mit denen sie früher nicht in Berührung
kamen. Je geringer Stammespopulation ist, desto stärker wird Inzucht... trägt zum
schlechten Allgemeinzustand dieser Populationen bei. Frage der Zeit, bis letzten
Sammlerstämme Indiens verschwunden sein werden.
Brandrodungsbauern mit ergänzender Jagd- und Sammelwirtschaft
meisten jetzt sesshafte Ackerbauern oder landwirtschaftliche Hilfskräfte anderer
Gruppen;
manche haben komplexe soziale Institutionen:
z.B.Mannar (6000) haben Polyandrie sowie auch Polygynie.
Kanikkar (15.000) haben eine Junggesellenhalle, die Frauen streng verboten ist;
Stamm in zwei moities geteilt, Männer müssen ihre Frauen jeweils aus der anderen
nehmen.
Bei manchen, z.B. Malayali (209.000) vielleicht "sekundäre Primitivität" - gehörten
ursprünglich wahrscheinlich zur Vellala-Kaste, zogen sich in Berge zurück, als sich die
Muslims in S-Indien durchzusetzen begannen.
abhängige Pflugbauern/ Pächter oder Feldarbeiter
Manche Stämme S-Indiens arbeiten in den Ebenen an und sind vollständig von anderen
Gruppen abhängig.
Adiyar: (8000) behaupten, von einem Brahmanen abzustammen, der eine Heirat mit
einem nicht-Brahmanen-Mädchen eingegangen war; Regierung anerkennt sie als
Scheduled Tribe. Auffallend: sie sind einzelnen Landbesitzer-Familien angeschlossen
und waren in der Vergangenheit möglicherweise Sklaven.
Mala Vettuvan (3000): abgespaltene Gruppe der sozial niedrig stehenden VettuvanKaste
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Stämme mit höherem sozialen Status
Kurumba (6000) der Nilgiri und Kuruman (36.000) behaupten, früher die
Herrscherdynastie im Land gestellt zu haben und (im 8.Jahrhundert) von den Chola
besiegt worden zu sein. Manche Autoren meinen, ihre Vorfahren hätten die Dolmen in
S-Indien errichtet.
Die Kurichchians (30.000) behaupten, Nachfahren von Nayar zu sein; haben einen
guten sozialen Status und legen großen Wert auf rituelle Reinheit; strenge Behandlung
von Frauen und Kindern - werden bei Verstoß gegen Stammesgesetze ausgeschlossen
Toda sind klassisches Beispiel einer Hirtenwirtschaft; ganze Sozial- und
Wirtschftsorganisation der Toda beruht auf dem Büffel.
NO-INDIEN
bergreiches Land mit nur zwei fruchtbaren Ebenen; zwischen östl.Himalaya, S-Tibet,
China, Burma und Bengalen; von überallher Einwanderer, die wegen der
unzugänglichen Gegenden lange Zeit verhältnismäßig isoliert geblieben sind und viele
Bräuche und Institutionen beibehalten haben.
ersten Bewohner waren vielleicht Negrito-Gruppen
dann kamen Stämme mit austro-asiatischen Sprachen (Khasi) im jungen Staat
Meghalaya; stellen dort mit rund 800.000 Menschen etwa 80% der Bevölkerung. Von
ihren mundasprachigen Stammesverwandten im NO von Zentralindien werden sie durch
indoarisch-sprechende Hindu-Kasten getrennt, die etwa um Christi Geburt von W nach
Assam eingewandert sein dürften, sich der fruchtbaren Gebiete bemächtigten und die
dominierende Klasse bilden.
Die nächsten Einwanderer waren vermutlich Angehörige der Bodo-Gruppe mit tibetoburmesischen Sprachen (Bodo heißt Bhot, i.e.Tibet), heute vor allem am N-Ufer des
Brahmaputra; viele betreiben heute als Teegarten-Arbeiter in großer Zahl
saisonbedingte Migration; kämpfen für ein unabhängiges Bodo-Land. Zur BodoGruppe gehören z.B.
Miri (260.000) mit einer Berg- und Ebenen-Unterteilung, Mishmi aus Burma: gute
Händler aber schlechte Ackerbauern; auch Hirten-Tradition (Anzahl der Ehefrauen und
Rinder erhöht Prestige)
Südlich des Brahmaputra die Rabha (138.000), mit einer stark sanskritisierten und einer
konservativen Abteilung; leben von Ackerbau, haben aber 3 - 4 mal jährlich eine
zeremonielle Jagd.
Apa Tani (13.000) in einem fruchtbaren Tal, gut bewässert; besonders geschickte
Reisbauern auf bewässerten Terrassen in den unteren Tal-Lagen, höher oben Hirse;
harte Arbeiter, ihr heute übervölkertes Tal ist "Oase der Stabilität" in einer weniger
stabilen Welt
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Garo (340.000): etliche waren nach O-Pakistan ausgewandert, aufgrund von
Verfolgungen durch die Muslims kehrten 1964 etwa 100.000 nach Indien zurück;
behaupten, tibetischer Abstammung zu sein; waren verwegene Räuber und Kopfjäger,
die von Briten "befriedet" wurden.
Im jetzigen Mizoram leben die Mizo (240.000) und Chin - Stämme; waren erst im
18.Jahrhundert aus Burma eingewandert; wollten sich 1966 von Indien loslösen; 1972
Kompromiss ausgehandelt und das Unions-Territorium Mizoram geschaffen (früher war
praktisch jedes Dorf ein eigener "Staat" mit einem Häuptling oder Vorsteher gewesen,
jetzt zentraler Verwaltungsrat, dem die Räte der Dörfer verantwortlich sind).
Die Naga (845.000 im Jahre 1971) stammen aus NO-Tibet; sie kamen über Umwege
aus dem Süden nach Assam und breiteten sich nordwärts hin aus; scheinen Teil einer
großen Population zu sein, die in SW-China beheimatet gewesen war und sich
hauptsächlich über Burma und Malaya nach Indonesien hin ausbreitete, während ein
Seitenzweig nach Assam kam und sich im Osten niederließ
In der äußeren Erscheinung große Unterschiede zwischen einzelnen Naga-Stämmen und
auch zwischen Mitgliedern eines Stammes. Angami Nagas: Terrassenbau auf den
steilsten Hügeln ,wobei Wasser von einer Stufe zur nächst niedrigen geleitet wird); die
meisten anderen Naga-Stämme (Ao, Sema...) betreiben hauptsächlich Schwendbau
früher bei vielen Stämmen, bes.Naga, Kopfjagd sehr verbreitet; Gründe: Glaube an
Seelenstoff, der dem eigenen Dorf zugute kommt; Kopfjagd hinderte nachbarliche
Beziehungen zwischen Stämmen und sogar Dörfern. Auch bei Mizo bekamen Burschen
nur Bräute, wenn sie erfolgreiche Kopfjäger waren; außerdem halfen erbeutete Schädel
einem Mizo, ins "Dorf der Toten" einzugehen.
V. DAS KASTENWESEN
1. was heißt KASTE?
Wort Kaste kommt aus dem Portugiesischen und Spanischen, geht letzten Endes auf das
Lateinische zurück, wo es soviel wie "rein" im Sinne von unvermischt bedeutet. In
Indien wurde das Wort zuerst von den Portugiesen verwendet: als sie nach Indien
kamen und die Hindugesellschaft in viele Gruppen aufgespaltet vorfanden, nannten sie
diese castas und wollten damit offenbar eine sich gegen andere abgrenzende Gruppe
(Stamm, Klan oder Familie) benennen. Diese Bezeichnung wurde dann für die ins Auge
fallenden "sozialen Gruppen" der Hindus angewendet.
Im Englischen taucht das Wort "Cast" zuerst im Sinne von Klasse/Gruppe auf, im
heutigen indischen Sinn treffen wir auf das Wort cast erst zu Beginn des
17.Jahrhunderts. Die franz. Schreibweise mit dem "E" am Ende beginnt sich erst um
1800 durchzusetzen .
Sowohl im Englischen wie im Französischen gab es von Anfang an Konfusion in der
Verwendung des Ausdruckes und bis in die Gegenwart gibt es keine zufriedenstellende
Definition für den Begriff. Manche Autoren (z.B.Mandelbaum) gehen soweit zu sagen,
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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dass der Ausdruck "Kaste" schwer auf irgendeine soziale Realität angewendet werden
kann, sondern dass bloß Soziologen verschiedene Gruppen unterscheiden und als "real"
ansehen (endogame Gruppen, kommensale Gruppen, usw.), dass aber eine
unüberbrückbare Diskrepanz zwischen den Kategorien der Inder und jenen der
Beobachter bestehe.
Trotz der Definitionsschwierigkeiten glauben wir zu wissen, was wir unter "Kaste" zu
verstehen haben. Allerdings sind mit dem Begriff gängige Vorstellungen verbunden, die
nicht ganz der Realität entsprechen.
Landläufige Vorstellung sind: es gibt hohe und niedrige Kasten. Hohe: hellhäutig,
"arisch", gute Berufe/wohlhabend, herrschen; niedrige Kasten: dunkel, "nicht-arisch",
ungebildet/arm, werden beherrscht.
All das mag manchmal zutreffen, ist aber nicht notwendigerweise so.
Kaste ist nicht identisch mit Klasse:
K. hat viel mit sozialer Klasse zu tun, beide sind aber nicht untrennbar miteinander
verbunden, und diese Verbindung schwächt sich zunehmend ab
In jeder Kaste
- Gebildete/Analphabeten
- Arme/Reiche
- "gute Familien"/"nicht-so-gute"
Praxis: oft immer noch starker Zusammenhang
hohe Kaste-Bildung-bessere soziale Schichte
niedrige Kaste-arme-ungebildet-niedrige soz.Schicht
Diese Zusammenhänge verschieben sich aber durch Reformprogramme und Gesetze/
Landverteilung/ Missionsschulen, etc., Korrelationen zwischen Kaste/Klasse werden
schwächer, sind aber nicht verschwunden (Emporkömmlinge der armen Kasten
distanzieren sich oft von den übrigen, statt sie auch hochzubringen)
Kaste ist nicht immer gleichbedeutend mit Beruf
unter Handwerkern und bei Dienstleistungsberufen sind viele Berufsbezeichnungen
gleichzeitig Kastennamen (dhobi, teli, sonar, phulmali....); aber z.B. Ackerbau ist (fast)
allen möglich (Einschränkungen bei manchen Brahmanen); immer Soldaten, die nicht
aus Kriegerkasten stammten, Händler muss nicht Bania sein; Priester muss nicht
Brahmane sein.
Kaste ist nicht durch Hautfarbe bestimmt
weit verbreitete Vorstellung: die hohen Kasten seien direkte Nachfahren der
hellhäutigen arya, niedrige Kasten die der autochthonen dasa; aber Arier haben sich
im O und S nie völlig durchgesetzt, außerdem war ihre Zahl wahrscheinlich ziemlich
gering; hohe Kaste in einem Gebiet manchmal heller als niedrige...helle Hautfarbe der
Braut gelegentlich noch verlangt (Kashmiri- Mädchen als Ehefrauen für Muslims, heute
noch in Heiratsannoncen als Kriterium angegeben)...aber: im Süden dunkle Brahmanen,
gehören zu höchsten Brahmanen-Kasten / im Norden hellhäutige Unberührbare (mit
allen Konsequenzen); im Süden kaum Kriegerkasten – waren autochthone
Stammesfürsten, die zu "Kriegern" gemacht wurden; Europäer: letzten Endes
unberührbar
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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am erstaunlichsten: Kaste ist nicht einmal nur Hindu:
alle Religionsgemeinschaften beeinflusst, Goanesen seit mehr als 400 Jahren christlich
(erst Brahmanen); S: Ex-Unberührbare und "Ex-Brahmanen" (denn Christentum
anerkennt theoretisch keine Brahmanen, praktisch aber sehr wohl) in Kirche getrennt;
Rajput Muslim akzeptiert nicht Schwiegersohn, der nicht Rajput ist; winzige jüdische
Gemeinde von Cochin: aufgespaltet in schwarze, braune und weiße Untergruppe, eine
darf nicht Synagoge der anderen betreten.
Versuche von Definitionen für Kaste sind zahlreich. G.Wint (The British in Asia,
London 1947) fasst wesentliche Aspekte in einfacher Form zusammen: "Eine Kaste ist
eine Gruppe von Familien, deren Mitglieder einander heiraten können und die
miteinander speisen können ohne befürchten zu müssen, dadurch rituell verunreinigt zu
werden".
Mit diesem Definitionsversuch ist eigentlich ziemlich viel gesagt, denn er beinhaltet den
wesentlichen Aspekt der rituellen Verunreinigung: kastenartige Erscheinungen gab es
nämlich zu verschiedenen Zeiten auch außerhalb Indiens, aber anderswo hatte der
rituelle Aspekt kaum Bedeutung, und nirgends entstand eine so komplexe und religiös
bedingte Institution wie das Kastenwesen in Indien
2. Kastenartige Erscheinungen außerhalb Indiens:
unsere eigene Gesellschaft...bei Gastarbeitern, Asylanten etc. finden sich einige
Kriterien, nach denen in Indien Kasten voneinander unterschieden werden und von
denen jedes einen eigenen Kastenstatus begründen könnte: andere ethnische
Zugehörigkeit, damit verbunden anderes äußeres Erscheinungsbild (Hautfarbe,
Kleidung), andere Sprache, oft andere Religion, bei Gastarbeitern der ersten Generation
oft "niedere Dienste" (Reinigungspersonal…)
solche Beispiele gemischter Populationen in vielen Teilen der Welt: schwarze
Bevölkerung in Amerika/Südafrika; Kanada: englisch- und französischstämmige
Kanadier durch Sprache und Religion getrennt; jüdische Bevölkerung: Ghetto oder
Städtel....Juden unterschieden aufgrund von Sprache, Religion, Tätigkeit (manche
Berufe den Juden verboten, andere ausschließlich von ihnen ausgeübt)
weströmisches Reich 5.s.n.Ch: gesetzliche Verordnungen bestimmten, dass manche
Berufe zwangsweise vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurden, um gewisse
notwendige Funktionen in der Gesellschaft zu garantieren. Manchmal musste junger
Mann sogar Beruf des Schwiegervaters übernehmen - gab es Mangel an Bäckern,
musste Bäckersohn und auch der Mann, der Bäckertochter heiratete, den Beruf
übernehmen . Alle öffentlichen Ämter waren erblich; curiales (Ratsherren, die auch
Steuern eintreiben mussten) wurden sogar von außerhalb in Geburtsstädte zurückgeholt,
um Tätigkeit auszuüben. Weinhändler, Ölverkäufer, Fleischer, Schweinefleischer,
Heizer in öffentlichen Bädern....erbliche Tätigkeiten. Menschen heirateten meist
innerhalb ihrer Gilde. Also große Ähnlichkeiten mit Kasten, aber auch gr. Unterschiede:
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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in Rom im Gegensatz zu Indien:
- Institutionen nicht durch Religion gefördert bzw. auch nur gebilligt
- Tabus und Reinheitsvorschriften spielten in Zusammenhang mit Gilden kaum Rolle
- Berufsgruppen nicht über langen Zeitraum hinweg entwickelt, sondern durch Gesetze
etabliert
Kastenähnliche Institutionen manchmal aufgrund ethnischer Unterschiede: Süden der
USA - Mischlinge verschiedener Schattierungen heirateten oft nur untereinander: d.h.
Mulatten oder Menschen mit Viertel- oder Achtel Anteil von afrikanischem Blut hatten
eigenes jus connubii (Eherecht), nach dem sie Eheverträge abschlossen
In Indien wurde aus Anglo-Indern eigene Kaste; trotzdem wieder große Unterschiede:
auch wenn anderswo große Vorurteile gegen Verbindungen mit "Leuten anderer
Farbschattierung" bestehen mögen, tauchen Fragen nach Tabus oder "ritueller
Verunreinigung" nicht auf. Weißer mit schwarzem Koch/Diener leicht vorstellbar,
Brahmane mit Unberührbarem als Koch ist undenkbar.
Kastenunterschiede in Indien sind nicht mit sozialen Unterschieden in anderen Ländern
gleichzusetzen: Beispiel HUTTON:
- England: Heirat der Tochter aus reichem Haus mit dem Koch wäre Mesalliance.
- Indien: herrschende/reiche Familie niedriger Kaste mit Brahmanenkoch: reguläre Ehe
zwischen ihm und der Tochter des Hauses wäre bei Orthodoxen schwer möglich;
Verbindung des "gottgleichen Brahmanen" mit einem Mädchen niedriger Abstammung
würde von der ganzen Kaste verurteilt (früher noch unmöglicher: Verbindung von
Brahmanenmädchen mit Mann niedriger Kaste).
größte Ähnlichkeit mit Indien: vielleicht im Alten Ägypten, von verschiedenen Autoren
berichtet; Herodot schreibt über 7 Klassen:
Priester, Krieger, Hirten, Schweinehirten, Handelsleute, Dolmetscher, Schiffer.
Krieger: in zwei Klassen unterteilt, durften kein Handwerk lernen oder Handel treiben,
Sohn musste Vater folgen. Schwein war unrein, Kontakt damit bedingte reinigendes
Bad (!) ....Schweinehirten waren Ägypter, durften aber Tempel nicht betreten, heirateten
untereinander, konnten keine anderen Mädchen bekommen. Priester: badeten viermal
täglich mit kaltem Wasser, kahl rasiert außer wenn sie in Trauer waren, durften nur aus
Kupfergefäßen trinken und Bohnen waren für sie unreines Essen. Ägypter verehrten
Rind (Stieropfer - Rinderopfer auch im vedischen Ritual)....all das ruft Brahmanen ins
Gedächtnis. Das Prinzip der rituellen Verunreinigung hatte hier offensichtlich Geltung:
kein Ägypter durfte einen Griechen auf den Mund küssen oder dessen Spucknapf oder
Messer benützen oder Fleisch eines Tieres verzehren, das mit einem griechischen
Messer zerteilt worden war (also auch Vorstellungen über die Übertragbarkeit von
Unreinheit)
.....Hier auch Existenz der Gruppen über lange Zeiträume: Manche ägyptische Clans mit
spezifischen Berufen über Jahrhunderte nachgewiesen (Mumienhüter in Theben, von
680 v.Chr. bis zur römischen Besatzung).
.....Einzelne Berufsgruppen mit verschiedenen Farben assoziiert, wie wir das auch in
Indien finden.
Trotz alledem auch wieder Unterschiede; außer beim Schweinehirten keine Gesetze
oder religiösen Vorschriften, die Verbindungen zwischen einzelnen Gruppen verboten;
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Mischehen dürften auch vorgekommen sein. Ganze Einteilung scheint auch wieder eher
verwaltungstechnischer Natur wie später im Alten Rom gewesen zu sein, und nicht
organisch entstanden.
Ähnlich wie die indischen Unberührbaren wurden auch überall und zu allen Zeiten
Berufsgruppen abgesondert :
- Gerber und Lederarbeiter im mittelalterlichen Europa (übel riechende Tätigkeit)
- Mittelalter: Henker; Sohn gezwungen, Beruf d. Vaters zu übernehmen. So verachtet,
dass Priester kaum Sakramente spendete; unmöglich, Bürgerstochter zu heiraten...durfte
sich Frau aus den zur Exekution verurteilten Frauen aussuchen.
- auch außerhalb Europas: Ainu in Japan, Schmiede in N-Afrika und Arabien...
Indien bleibt aber trotz aller Ähnlichkeiten, die in verschiedensten Kulturen auftreten,
ein Sonderfall. Nirgends anders hat sich die Unterteilung der Gesellschaft so
verselbständigt und zu solchen Konsequenzen bzw. Auswüchsen geführt wie hier. Um
die Komplexität zu zeigen und darzustellen, welch verschiedenste Ursprünge Kasten
haben können, führt HUTTON folgenden Vergleich an:
"Wenn man das Kastenwesen verstehen will, dann müsste man in England die
Bewohner aufteilen in Familien normannischen Ursprungs, in Beamte verschiedener
kirchlicher Kongregationen, in Adelige, in Positivisten, in Eisenhändler, in Vegetarier,
in Kommunisten, in Schotten usw...
In England überschneiden einander diese Kategorien natürlich, denn ein Schotte kann
ein Eisenhändler und gleichzeitig Kommunist sein; ein Adeliger normannischer
Abstammung kann Vegetarier sein und eine positivistische Lebensanschauung
haben.....in Indien genügt jeder einzelne dieser Faktoren, um eine neue Kaste entstehen
zu lassen."
3. jati und varna
Wenn wir die indische Situation besser verstehen wollen, müssen wir versuchen, die
Kategorien der Inder verstehen zu lernen; am besten, von den traditionellen indischen
Bezeichnungen ausgehend; davon gibt es verschiedene, die dann letzten Endes mit
"caste" übersetzt werden. Die beiden wichtigsten sind:
jati und varna
Die - vor allem in Indien – weit verbreitete Vorstellung lautet: varna seien die vier so
genannten Ur-Kasten, aus denen im Laufe der Jahrtausende durch Mischehen die weit
mehr als 3000 (eine Zahl, die durch die Literatur spukt, aber Zahlenangaben sind
sinnlos, wie später gezeigt werden wird) modernen "Kasten" (d.i. jati) hervorgegangen
seien. Im 18. und 19. Jhd. übernahmen vor allem die Engländer gläubig diese
traditionelle Ansicht der Inder und verbreiteten sie weiter. Sie erhielten ihre
Informationen von (brahmanischen) Pandits und gaben damit auch deren Ansichten
weiter.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Wie sehen die Tatsachen aus:
varna: "Farbe"; caturvarna...."vier Farben", die vier Menschengruppen zugeordnet
wurden, wird manchmal mit der Hautfarbe in Verbindung gebracht, aber jedem varna
war auch eine Farbe zugeordnet; (nicht typisch indisch, gab es ähnlich auch in
Ägypten).
Varnas waren ursprünglich noch keine festgefahrenen Gruppen, Ausbrechen war
möglich; die varna-Einteilung ist wie eine Einteilung in funktionale Klassen zu
verstehen, wobei Wechsel von einer Klasse in die andere vorkam
mythische Entstehung der varnas:
Rg-Veda X.Buch: purusa-sukta, Entstehung der vier "Ur-Kasten" aufgrund eines
Opfers: Aus dem Körper des göttlichen Opfers (Purusa, der "Urmensch") geht das
gesamte Universum und auch die vier Menschenklassen hervor. Zwei wichtigen Verse
in diesem Zusammenhang:
Als (die Götter) den Purusa zerteilten, in wie viele Teile zerschnitten sie ihn? Was war
sein Mund? Welche Arme (hatte er)? Welche (zwei Dinge) sollen seine Hüften und
Füße sein?...
Der Brahmane war sein Mund;
der rajanya wurde zu seinen Armen,
das Vaishya (genannte Wesen) war seine Hüften,
der Shudra sprang aus seinen Füßen"
Der Rg-Veda ältester Sanskrit-Text; das X.Buch ist allerdings ein junger Teil und es
scheint gesichert, dass diese Strophe dem Haupttext ganz zum Schluss hinzugefügt
wurde. Manchmal wird sogar behauptet, dass sie eine Fälschung der Brahmanen aus
späterer Zeit ist, um deren eigene Sonderstellung "als gottgegeben" abzusichern.
Aufgaben der vier varna, die dann später in der Gesetzesliteratur deutlich beschrieben
werden: nach Manu soll
- Brahmane Veda studieren, lehren und opfern,
- rajanya (die später Kshatriya genannt wurden) : Menschen beschützen
- Vaishya: Handel, Ackerbau, Viehzucht. Alle drei dürfen den Veda kennen; man soll
innerhalb seines Standes heiraten.
- Shudra soll bescheiden den anderen drei dienen.
Obersten beiden Stände sind Träger einerseits des Brahman ("übernatürliche
Kraft/Macht"...manchmal verglichen mit MANA) bzw. andererseits der (säkularen)
Herrschermacht. Beides sind Manifestationen übermenschlicher Potenzen. Der
Brahmane, dessen Geburt eine Inkarnation des ewigen Dharma darstellt, ist eine
Manifestation des Brahman, und er ist aufgrund dieser Vorzüglichkeit und seiner
Heiligkeit Inhaber der obersten Stellung. Er ist Besitzer des Veda und Herr der
Schöpfung. Er ist geboren, den dharma zu hüten und zu erfüllen, und er ist so mächtig,
dass sein bloßer Zorn einen König vernichten und die Götter entthronen kann, denn nur
er meistert die heiligen Verse (mantren), durch die auch die Götter manipuliert werden
können. Brahmane hat Anrecht auf die Gaben anderer, die sich dadurch relig. Verdienst
erwerben. Den Brahmanen ist Studium aufgetragen, als Lehrer haben sie großen
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Einfluss auf die anderen Klassen. Bis in die Neuzeit sind sie stolz auf ihre Abkunft und
sind immer die intellektuelle, konservativ-traditionelle Oberschicht Indiens geblieben.
Zu den Kshatriyas gehört der König, dessen Stammbaum gewöhnlich auf die Götter
zurückgeführt wird und der die Stände und Altersgruppen in Einklang mit dem dharma
beschützen soll (und darauf achten, dass sich jeder seinem Stand und seinem Alter
gemäß verhält); er nimmt in der Literatur (Epen) oft eine Mittlerstellung zwischen
Mensch und Gott ein. Er muss den dharma hüten, er muss die Priester auswählen und
sie opfern lassen, die Riten vollziehen und Feste begehen und sich bei der
Rechtssprechung und seinen Amtsgeschäften von Brahmanen beraten lassen.
Vaishyas sind diejenigen, die fromm ihren Geschäften nachgehen sollen, sich von den
Brahmanen belehren lassen, von ihnen Opferrituale durchführen lassen und sie dafür
großzügig mit Speisen und anderen materiellen Gütern beschenken.
Diese ersten drei Gruppen werden als "Zweifachgeborene" bezeichnet: außer der
biologischen Geburt erleben sie eine "spirituelle Wiedergeburt"....durch Ritual, dem
die Jugendlichen unterzogen wurden, bevor sie mit dem Studium der heiligen Schriften
begannen...sog. upanayana-Ritus oder Schnurzeremonie...in frühester Zeit vielleicht
auch für Mädchen.
Die Shudras letztlich sind die Diener (damit aber fast alle Handwerks- und
Dienstleistungsberufe, die den Großteil der ind. Bevölkerung ausmachen) deren
Tätigkeit zwar nicht entbehrt werden kann, die jedoch von allen Sakralhandlungen, bei
welchen vedische Formeln verwendet werden, ausgeschlossen sind....Ihnen war auch
Studium der heiligen Texte verwehrt. Die Anwesenheit von Shudras hält auch die
oberen Stände vom Hören des Veda ab. Shudra hatten aber ihre eigenen Riten, bei
denen Brahmanen nichts zu tun hatten.
Die vier Gruppen also:
- Brahmane: Farbe weiß (Reinheit)...verwaltet Religion
- Kshatriya: Farbe rot (Blut?)....verwaltet Gesellschaft durch Kontrolle der Armee
- Vaishya (Farbe gelb: Gold, Weizen)...verwaltet Wirtschaft durch Kontrolle des
Handels
- Shudra (Farbe schwarz: Dunkelheit/Furcht/Böses...gehörten vermutlich großteils der
unterworfenen, dunkelhäutigeren einheimischen Bevölkerung an, vor deren Gottheiten
man sich fürchtete...); wirtschaftlich wichtig, denn sie stellten für ganze Gesellschaft
meisten Güter her
Neben diesen vier varnas gibt es eine 5. sehr große Gruppe, die manchmal als "5.varna"
bezeichnet wird....ist aber eine unglückliche Bezeichnung, denn die varnas sind auf vier
begrenzt; viel vernünftiger ist avarna, d.h. "ohne varna": es sind das die Unberührbaren,
die von diesem ganzen System ausgeschlossen sind, obwohl sie in engem Kontakt und
direkter Nachbarschaft zu den anderen vier Gruppen leben (anders als Stammesleute,
die viel stärker abgetrennt waren, auch wenn das heute nur noch mit Vorbehalt stimmt).
Obwohl sie außerhalb des varna-Systems stehen, bilden sie auf wirtschaftlichem und
sozialen Gebiet einen integralen Teil des Systems, weil sie eine große Anzahl von
unerlässlichen Pflichten erfüllten : teils waren diese aber in den Augen der anderen
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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unrein und verabscheuenswürdig, wenn auch notwendig (Tierkadaver abdecken,
Straßen säubern, Kot entfernen etc.), teils gehörten aber auch rituelle Tätigkeiten wie
Trommelschlagen bei Festen etc. dazu, die zeigen, wie sehr sie trotz allem
"dazugehörten". FOLIE: (Binärteilung)
Von varna ist in der Sanskrit-Literatur oft die Rede; sie waren von allem Anfang an auf
4 beschränkt, daran hat sich in 3000 Jahren nichts geändert; die varnas werden als
"indienweite, unveränderliche Hierarchie" angesehen und auch von den Indern
theoretisch so empfunden. Wird manchmal mit einem basso continuo in der Musik
verglichen oder mit den Basspfeifen in der Dudelsackmusik, die immer gleichbleiben.
In der indischen Musik heißt dieser "basso continuo" tanpura. Die indische Gesellschaft
ist der Musik vergleichbar: es gibt Änderungen, Improvisationen, aber es gibt auch
diesen "Rahmen", die Hintergrundmusik der varna-Hierarchie.
In sehr komplexen Gesellschaften neigen die Menschen dazu, vereinfachte Theorien
ihrer eigenen Gesellschaft anzuwenden, um sich selbst in dieser Gesellschaft
zurechtzufinden, Das varna-Konzept ist eine solche Gesellschaftstheorie der sozialen
Beziehungen. Und für den Inder ist das Konzept heute immer noch als grobe
Klassifikationsmöglichkeit wichtig : Mit seiner Hilfe können auch Kastennamen aus
entfernten Gebieten, die nicht verstanden werden und keine Bedeutung haben, ihren
Platz in der Hierarchie erhalten, sobald sie in den varna-Rahmen eingeordnet werden
konnten. Man weiß dann z.B.: ein Geschäftsmann aus Gujerat gehört meist zu einer der
Kasten, die allgemein als "Bania" bekannt sind, und Bania gehören zum 3.varna... - für
"grobe" Beziehungen ist das völlig ausreichend: wenn man für jemanden Dienst tut
genügt es meist, das varna zu wissen; für hohe Kasten sind alle niedrigen Kasten
letztlich "Unberührbare", für alle niedrigen sind die hohen "overlords".
Aber: man darf varna nicht überbewerten; es ist nicht mehr und nicht weniger als ein
allgemeines Schema, das dazu dient, eine vorläufige "Ordnung" zu finden; in der nahen
Umgebung muss dann viel feiner klassifiziert werden, um sich richtig zu verhalten;
außerdem kennt jeder die lokalen Verhältnisse sehr genau und urteilt ihnen
entsprechend.
Theoretisch sind die Funktionen der varnas und ihr hierarchischer Rang genau
festgelegt, die Praxis weist aber oft weit von der Theorie ab:
Im Dorf sind heute Kshatriya-Kasten viel eher Bauern als Krieger ...Vaishya-Kasten
werden aufgrund ihres strikten Vegetarismus gebietsweise gleich oder höher
eingeschätzt als Kshatriya ...Andererseits sind lokale Brahmanen-Kasten oft weder
Gelehrte noch Priester, und trotzdem wird meist Brahmanen-varna allgemein als
höchstes in der rituellen Hierarchie anerkannt.
Bezüglich des varna-Schemas wurden wahrscheinlich viele Fehler gemacht. Der
bekannte indische Anthropologe Srinivas meint, dass indische wie auch ausländische
Wissenschaftler das varna-Modell als eine historische Realität betrachten, dass die
Wirklichkeit aber möglicherweise immer anders ausgesehen hat (s.o.). Er geht soweit zu
meinen, dass das varna-Modell vielleicht sogar erst in der britischen Zeit eine
Popularität erlangt hat, die es vordem nie besessen hatte: durch brahmanische Pandits,
die bei Gerichtshöfen von Briten zu Rate gezogen wurden und die nach alten Gesetzen
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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urteilten; durch Übersetzungen von Sanskrit-Literatur ins Englische und Deutsche....die
Briten u.a. mussten sich an die Brahmanen um Hilfe bei Übersetzungen und
Interpretationsschwierigkeiten wenden, denn nur diese hatten genug Bildung, lernten als
erste Englisch....so erlangten möglicherweise brahmanische Ideen und Vorstellungen
eine Popularität, die sie in der Praxis indienweit nie zuvor besessen hatten.
das zweite wichtige Konzept ist das der jati:
Im Gegensatz zu den varna (vier varna bleiben stabil, ihre Zahl ändert sich nicht und
seit 2000 Jahren ist auch ihr hierarchisches Verhältnis zueinander gleich geblieben)
haben wir im Konzept der jati das, was wir in unserem Sprachgebrauch als Kaste
bezeichnen würden: kleinere Gruppen, die durch Sitten und physische Charakteristika
ihrer Mitglieder gekennzeichnet sind; Gruppen, die flexibler sind, als gemeinhin
angenommen wird, wenn wir vom "starren Kastensystem" sprechen....die sich in der
Sozialhierarchie auf- und ab bewegen, die verschwinden oder neu entstehen können
(über Zuordnungen von jatis zu bestimmten varnas gibt es daher oft
Meinungsverschiedenheiten – oft behaupten jatis von sich, zu den Kshatriya zu gehören,
die anderen stufen sie aber als Shudra ein…)
Varna wie auch jati wird als "Kaste" übersetzt; aber altindische Quellen unterscheiden
sehr stark zwischen beiden Begriffen. Es wird häufig von varna, jedoch kaum von jati
gesprochen, und selbst wenn jati erwähnt wird, handelt es sich dabei noch(?!) nicht um
die sozialen Gruppe späterer Zeit, wie wir sie auch heute noch kennen.
jati: von "geboren sein"....bezeichnet also die Geburtsgemeinschaften, die "Gruppe," in
die man hineingeboren wurde, die soziale Einheit, innerhalb derer sich die meisten
sozialen Beziehungen abspielen. Für die Inder selbst ist im täglichem Sprachgebrauch
jati nicht immer dasselbe: manchmal bezeichnet man als jati eine kleine, lokale Gruppe,
manchmal eine Vielzahl solcher Gruppen...manchmal wird das Wort auch mehr im
Sinne von verwandtschaftlichen Beziehungen verstanden (als kulam, Familie... ) ....
fiktiver Dialog nach Quigley:
O. What caste are you?
I: We are Kshatriya.
O: Whom may you marry?
I. We may only marry other Kshatriya.
O: There are people in the next village, who say they are Kshatriya. Presumably you can
marry with them?
I: No. They are not like us, not the same caste.
O: But you said you were Kshatriya and they say they are Kshatriya so why can you not
intermarry?
I: Well, in the first place, they say they are Kshatriya but how do we know they are?
And in the second place, even if they are Kshatriya, they re not the same caste as we
are, so we can´t marry with them.
O: But who is the same caste as you?
I: Well, those people we can marry with
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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O: So, you can only marry people belonging to your own jati?
I: Yes.
O: Does your jati have a name?
I: Of course - we are Rajputs.
O: So you can marry the Rajputs in the next village?
I: Oh no, we never marry them. They are not the same caste as we are.
O: But you are Rajputs and they are Rajputs so how can you not be the same caste?
I: Well, in the first place, they say they´re Rajputs but how do we know they are? And
anyway, even if they are Rajputs, they´re not the same caste as we are, so we don´t
marry them.
O: So, whom do you marry?
I: I´ve told you that already - we marry the people who are the same caste as we are, the
same jati, the people we´ve always married.
O: But you´ve just said that your jati is Rajput, yet there are some Rajputs you can´t
marry because they don´t belong to your jati. Surely this is a contradiction?
I: What one means by one´s jati depends on the context. In one sense, all Rajputs are
alike and are different from those who are not Rajputs. In another sense, Rajputs are
themselves divided into many different groups which do not intermarry because they
are different.
Ungenaue oder ungeeignete Übersetzungen schaffen für das Verstehen der indigenen
Begriffe zusätzliche Verwirrung. So wird oft von Sub-Kasten gesprochen, wobei damit
die jatis gemeint sind, während das Wort "Kaste" dann für varna verwendet wird.
Aber auch wenn varna ausgeklammert wird und sich die Diskussion auf jatis
beschränkt, kann es zu Schwierigkeiten bezüglich der Termini "Kaste und "Sub-Kaste"
kommen. In welcher Sinnbedeutung diese Wörter verwendet werden hängt oft damit
zusammen, wie sich ein entsprechender Autor das Entstehen neuer Kasten vorstellt:
- Geht man davon aus, dass neue Unterteilungen entstehen, weil sich Gruppen von einer
einheitlichen, größeren Gruppe abspalten, so wird die größere Gruppe als "jati" (caste,
Kaste) bezeichnet und die Unterabteilungen als Sub-Kasten (Aufsplitterung kann aus
verschiedensten Gründen entstehen: durch Mischehen - wie es die Tradition behauptet , durch Berufswechsel einiger Gruppenmitglieder, durch Übernahme einer neuen Lehre
eines Gruppenteiles....). Nun gibt es manche jatis, die mit einem gemeinsamen
Sammelnamen belegt werden aber ungeheuer große Verbände sind, wie z.B. in NIndien die riesige "Kaste" der Chamar (Lederarbeiter), die mehrere Millionen umfasst
und in unzählige Unterabteilungen zerfällt, die man konsequenterweise als Sub-Kasten,
Sub-Sub-Kasten.....etc. bezeichnen müsste. Trotzdem wird in der Literatur meist von
"der Kaste der Chamar" gesprochen.
Feldforschung: befragten Informanten wissen einige Sub-Kasten, aus der Literatur
kennt der Forscher meist schon eine viel größere Anzahl von Bezeichnungen, die den
Befragten praktisch nie alle geläufig sind (vor allem bei Kasten, die über ein
großräumiges Gebiet verbreitet sind)....Maharashtra: Tradition, dass jede Kaste in 12
1/2 Sub-Kasten zerfällt....können dann meist vier oder fünf Namen von Sub-Kasten
angeben, die im selben Gebiet anzutreffen sind; von anderen sagen sie, dass sie weit
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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entfernt lebten (Benares...); die halbe Kaste ist Kaste der Hermaphroditen; fast jede
Kaste hat eine Sub-Kaste von Zauberern, die von den anderen fernbleiben muss und nur
auf Friedhöfen haust usw....
- Die zweite mögliche Annahme bezüglich des Entstehens von neuen Kasten geht davon
aus, dass sich kleinere unabhängige aber ähnlich gelagerte Gruppen (z.B. ähnliche
Berufsgruppen) zu größeren Verbänden zusammenschließen. Dann wird meist die
kleine Gruppe als "jati" bezeichnet und der übergeordnete Verband z.B. als "castecluster".
Eine typische Vertreterin dieser Anschauung war Iravati Karve, eine bekannte indische
Ethnologin (gest.1970). Im Gegensatz zu vielen anderen (Dumont, der die indische
Kultur als "Einheit" sehen will) betont sie besonders die Mannigfaltigkeit der indischen
Kultur, die eigenständigen Kulturen der einzelnen jatis, und weist auf die Differenzen
auch zwischen den so gennanten Sub-Kasten hin. Ihrer Meinung nach ist das komplexe
System eher durch Zusammenschmelzen statt Teilen entstanden: Gruppen von
Stammesleuten, die in Siedlungen zusammenkamen und Güter und Dienste
austauschten, wie das auch jetzt noch auf Märkten z.B. in Afrika beobachtet werden
kann, näherten sich aneinander an. Langsam entwickelten sich daraus dauerhafte
Beziehungen, aus den Stammesgruppen wurden "Kasten", die aber voneinander deutlich
unterschieden bleiben, auch wenn sie dann mit einem gemeinsamen Namen belegt
werden. - Zwischen varna und jati schiebt sie also den Ausdruck caste-cluster ein:
innerhalb eines Gebietes unter einem Namen zusammengefasste jatis mit ähnlichen oder
gleichen traditionellen Berufen, die für einen Außenstehenden alle sehr ähnlich
erscheinen mögen, aber sich in Wahrheit voneinander in ihrem Benehmen, ihrer Kultur,
ihrer historischen Überlieferung, und - wie sie nachzuweisen versuchte - auch in ihrem
physischen Erscheinungsbild voneinander unterscheiden. (FOLIE 46)
4. Entstehung des Kastenwesens
4.1. Historische Entwicklung
Als die Arier nach Indien kamen, war ihre Stammesstruktur schon von
Klasseneinteilung gekennzeichnet. Berichte über andere frühe indo-europäische Völker
lassen vermuten, dass eine Stammesaristokratie ein charakteristischer Zug der indoeuropäischen Gesellschaft war, noch bevor diese Stämme ihre ursprünglichen
Wohnsitze in den Steppen Rußlands verließen. Auch im alten Iran gab es vier
"Klassen", die bis zu einem gewissen Grad mit den indischen verglichen werden
können.
VEDEN
Älteste Teile des Rg-Veda: hier finden wir noch keine Hinweise auf eine
Kasteneinteilung, die Gesellschaftsstruktur erscheint noch flexibel. Dass es keine
Kasten im heutigen Sinn gab, kann aus Hymnen bewiesen werden (z.B.: "Ich bin ein
Sänger, mein Vater ist Arzt, und meine Mutter verdient ihr Geld durch das Mahlen von
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Getreide")...sogar innerhalb einer Familie konnten also verschiedene Berufe ausgeübt
werden, keine erbliche Weitergabe, Frauen ins Arbeitsleben miteinbezogen
schon erwähnte Purusa Sukta aus dem X.Buch: Obere Brahmanenschichten wollten
diese Strophe immer als gottgewollte Festschreibung einer Hierarchie interpretieren, ist
aber vielleicht nur als Metapher für menschliche Gesellschaft gedacht, deren
Gliedmaßen die wichtigen Teile der Gesellschaft darstellen. Der menschliche Körper
wird oft als Symbol für die "Ganzheit" verwendet - Die vier varnas, in die die
Menschheit unterteilt ist, decken die vier Bereiche ab, die für das Funktionieren der
Gesellschaft wichtig sind: Kultur/Religion (Brahmanen), Politik/Verwaltung
(Kshatriyas), Handel/Landwirtschaft (Vaishyas), Herstellung/ Dienstleistung (Shudras).
Natürlich gibt es Überschneidungen, die Klassen hatten noch viel mehr Rechte, an
Religion und Regierung/Verwaltung teilzuhaben. Sogar im Yajur-Veda heißt es noch:
"Ich spreche diese Segenswünsche an alle, an die Brahmanen und Kshatriya, an die
Shudra und Vaishya, an meine eigenen Leute und an die Fremden". Die späteren
Ausgrenzungen haben offenbar noch nicht existiert.
Das ist immerhin verwunderlich, als gleichzeitig oft gesagt wird, dass es z.Zt. des
Yajur-Veda bereits ausgebildete Kasten gab; fraglich ist, wieweit sich diese schon
voneinander abschotteten. Die Yajur-Veda-Verse können auch einer der
Gegenströmungen gegen das Kastenwesen/Priestertum angehören, wie sie offenbar
immer existiert haben und dann im Buddhismus und Jainismus zu erfolgreichen
Gegenbewegungen gegen den Formalismus der Brahmanen wurden.
Stellung und Bedeutung der Priester war sicher immer von großer Bedeutung - auch für
die Entwicklung des Kastenwesens: Vielleicht war in den Anfangszeiten der IndoEuropäer der Stammeshäuptling auch Priester bei Zeremonien und Ritualen. Mit
Ernennung einer eigenen Person für priesterliche Funktionen beginnt die ritualistische
Religion und die Ausbildung einer Priesterklasse mit immer komplexeren Zeremonien.
Dem Einzelmenschen werden immer mehr religiöse Verpflichtungen auferlegt, bei
deren Erfüllung die Brahmanen eine wesentliche Rolle spielen: gegenüber den Göttern
(Opfer – durch Priester dargebracht), den rishis/Weisen (Studium der Schriften –
Brahmanen lehren), den Vorfahren (Heirat und Hervorbringen einer neuen Generation –
Ehezeremonie/samskaras…) und den Mitmenschen (Gastfreundschaft und Hilfeleistung
– Bewirtung von Brahmanen…). Für Louis Dumont ist die Trennung von (religiösem)
Status und politischer) Macht einer der beiden wesentlichen Punkte, die er als
Grundlage des Kastenwesens ansieht.
PALI-SCHRIFTEN
In diesen wird bereits deutlich von einer Segmentierung der Bevölkerung gesprochen:
Händler- und Berufsgruppen leben voneinander getrennt - wir lesen von Gruppen wie
Dorfbrahmanen, Töpfern, Jägern und Räubern, und von eigenen Bezirken in der Stadt,
in denen verschiedene Handelsleute und Berufsgruppen lebten. Viele Händler waren in
Gilden organisiert, die von manchen als Ursprung gewisser Kasten gesehen werden.
Aber sicher können all diese Gruppen nicht als voll entwickelte Kasten im heutigen
Sinn angesehen werden. (vergleichbar eventuell mit Institutionen außerhalb Indiens).
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DHARMASUTRAS
In diese Zeit (600/500 v.) fallen auch älteste dharmasutras, die frühesten Quellen des
Hindugesetzes (Gautama etwa 500 v.Ch.). Gehen auf frühere Zeiten zurück, wurden
später in Versform gebracht und als dharmashastras bezeichnet. In den Texten erhalten
die obersten Berufsstände bereits große Privilegien. Stellung des Shudra verschlechtert
sich. Anuloma-Heiraten (hypergame Ehe: Frau von niedrigerem Stand heiratet Mann
von höherem Rang – das entspricht der "natürlichen Ordnung") werden noch
zugelassen, pratiloma –Ehen (hypogam: Frau von höherem Stand) werden schon
verboten. - Schon entwickelt sich, wenn auch noch undeutlich, die Idee, dass es
ungehörig sei, Speisen zu sich zu nehmen, die von einem Angehörigen der unteren
Kasten zubereitet wurden, oder mit ihm zu Tisch zu sitzen.
Die Stellung der Frau verschlechtert sich im gleichen Maß wie die des Shudras, vor
allem mit der schrittweisen Herabsetzung des Heiratsalters und mit der vollständigen
Unterwerfung erst unter die Autorität des Vaters, dann des Gatten, dann auch die der
erwachsenen Söhne. Vor allem wird der Frau der Zugang zu Bildung fast unmöglich
gemacht - upanayana wird auf Burschen beschränkt, die Ehezeremonie wird für die
Frau das einzige Ritual, das mit vedischen Formeln durchgeführt wird).
Trotz obiger Einschränkungen gab es aber noch Flexibilität. Es gab zwar schon
Beschränkungen des Miteinander-Essens und der Reinheit der Kasten wurde schon
gewisse Bedeutung beigemessen, doch gab es gleichzeitig immer noch Brahmanen, die
nicht von Brahmanen-Eltern abstammten, sondern aufgrund ihrer Verdienste zu
Brahmanen wurden . Genauso wurde ein Brahmane, der die Regeln verletzte, zu einem
Ausgestoßenen. Das heißt, nicht nur die Geburt, sondern auch die persönliche
Lebensweise war für den eigenen Kastenstatus bedeutsam – eine Haltung, die dann auch
im Mahabharata immer wieder zum Ausdruck gebracht wird. Die drei Faktoren
(Zugehörigkeit zur Gruppe durch Geburt, in der Gruppe heiraten, in der Gruppe essen)
existierten zwar, waren aber noch nicht so zwingend wie später.
MEGASTHENS (um 300.v.)
erwähnt sieben "Kasten": Philosophen, Ackerbauern, Hirten, Handwerker, Soldaten,
Aufseher (od.Spione) und "Ratgeber" (bzw. Regierungsbeamte / Ratsherren). Er
berichtet, dass niemand aus seiner eigenen Kaste herausheiraten konnte, seinen Beruf
oder sein Handwerk mit einem anderen vertauschen oder mehr als einen Beruf haben
durfte. Bei den Philosophen unterscheidet er brahmanas (Brahmanen) und Asketen
(buddhistische Asketen erwähnt er im besonderen). Das Handwerk begann, sich in
geschlossenen Zünften (shreni) zu organisieren, deren Zugehörigkeit erblich war. Als
Vereinigungen zur gegenseitigen Hilfe hatten sie eigene Satzungen und übten die
Schiedsgerichtbarkeit und in begrenztem Maße auch die Gerichtsbarkeit aus (ist in
Form des Kasten-pancayat bis heute erhalten geblieben)
MANU
Bekanntestes der Dharma-Werke, 200v.-200 n. (manchen Autoren nach in seiner
endgültigen Fassung erst um 300 n.niedergelegt). Manu erwähnt 50 Kastennamen und
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legt auch schon etliche Vorschriften fest (z.B. dass Shudra den Veda nicht hören
dürfen....). Bei Manu wird der Brahmane bereits als "Gottheit in menschlicher Form"
bezeichnet.
Trotz der strengen schriftlich niedergelegten Regeln dürfte die Praxis den
"geschriebenen Gesetzen" nachgehinkt sein. Wir wissen außerdem gar nicht, wie streng
die Regeln befolgt wurden, welche Strafen bei Nichtbefolgung tatsächlich verhängt
wurden, in welchen Gebieten man sich strenger daran hielt und wo mehr Freiheit
bestand. Außerdem gab es immer wieder Zeiten, wo sich Gegenströmungen
entwickelten, die sich gegen die strengen Vorschriften der Brahmanen wandten – es gibt
also in der Entwicklung des Systems keine geradlinige Kontinuität. Aus Texten der
Guptazeit (320-480) geht z.B. hervor, dass Mischehen noch vorkamen, Berufswechsel
möglich war, Brahmanen konnten von jedem Arier Essen annehmen, Witwenheirat
existierte. Vieles davon war schon längst theoretisch verboten und wurde später auch
strenger eingehalten und als Sitten angesehen, die in diesem dunklen Kali-Yuga, in dem
die Menschen nicht mehr von Natur aus "gut" sind, streng zu vermeiden sind.
HIUEN TSIANG
Der chinesische Reisende Hsüan-Tsang (Hiuen Tsiang - 7.s. ) berichtet über vier varnas
und viele "Mischklassen". Er gibt die damals schon allgemeine Ansicht weiter, dass
diese durch "Mischheiraten" entstanden seien
MITTELALTER
Man kann annehmen, dass erst im 11-12.s. das Kastenwesen seine moderne Form
angenommen hat. Oft werden die Muslimeinfälle (Jahrtausendwende - Mahmud von
Ghazni 998 - 1030) dafür verantwortlich gemacht. Die Hindus, die unfähig waren, sich
den Muslimen auf dem Schlachtfeld gegenüber zu behaupten, verteidigten wenigstens
ihre inneren Werte gegen die Fremdeinflüsse durch eine Verhärtung der
Kastenbedingungen. Über viele Jahrhunderte der Muslimherrschaft schützte das
Kastenwesen Hindus und Hinduismus weitgehend vor Überformungen. Man grenzte
sich gegen die Muslims ab und war nicht mehr geneigt, die Fremden in die eigene
Gesellschaft zu integrieren, wie das früher getan wurde: Den alten Praktiken nach
wurden Fremde als "gefallene Kshatriyas" eingestuft, die die Gesetze nicht eingehalten
hatten. Noch unter Manu war es natürlich gewesen, Fremdvölker wie Griechen,
Skythen, Perser etc. als Kshatriyas einzuordnen, wenn sie bereit waren, die heiligen
Riten zu übernehmen und die Brahmanen zu verehren. Sie bekamen damit schnell einen
guten Platz in der Gesellschaft. Abgesehen davon, dass die Muslime zur Aufgabe ihrer
Religion nicht bereit gewesen wären, grenzten sich auch die Hindus entschieden ab. Um
sich vor allem "Fremden" zu schützen, wurden die sozialen Interaktionen strenger als je
zuvor auf die enge, eigene Gruppe beschränkt, Töchter immer jünger und ausschließlich
innerhalb der eigenen jati verheiratet.
Die Kasten, wie wir sie heute kennen, dürften also erst zu Beginn des zweiten
Jahrtausends erstarrt sein.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Festzuhalten ist noch , dass die Entwicklung des Kastenwesens regional verschiedenen
Verlauf nahm, weshalb bestimmte Kasten nur in bestimmten Regionen zu finden sind.
So zeigt die frühe Tamil-Literatur keine Hinweise auf das Bestehen von Kasten. Erst die
Zunahme des arischen Einflusses im Süden und die Entstehung von komplexen
politischen und wirtschaftlichen Strukturen ließen ein System entstehen, das in manchen
Aspekte sogar strenger als das des Nordens war (Reinheitsgebote, Ehevorschriften...). In
der Chola Zeit (ältester Chola-König Karrikal um 100 n.) gibt es schon Kasten in
Südindien, bei denen allerdings der Mittelbau (Kshatriyas und Vaishyas) weitgehend
fehlte, fast gesamte Bevölkerung bestand aus Brahmanen und Shudras/Unberührbaren.
Das ist bis heute eine Besonderheit der südindischen Kastenlandschaft geblieben. Außer
königlichen Familien gibt es wenige, die behaupten, Kshatriya zu sein (südindische
Kshatriya waren großteils indigene Stammeshäuptlinge gewesen, die man durch eine
goldene Kuh hindurch kriechen ließ, um sie als "wiedergeborene Kshatriya" zu
präsentieren).
Langsam setzten sich die Kasten in ganz Indien durch, wobei nie vergessen werden
darf, dass es von Anfang an immer Gegenbewegungen gab, wie die schon zitierten
Stimmen im Yajur-Veda, den Buddhismus, Zitate im Mahabharata, wie: "Es gibt keine
Kastenunterschiede. Das ganze Universum ist Göttlich, eine Emanation Brahmans. Als
Gleiche vom höchsten Geist geschaffen, wurden die Menschen nur aufgrund ihrer
Fähigkeiten und Tätigkeiten in Gruppen unterteilt." Hier erscheint das System also als
eine Institution, die zum Wohle aller geschaffen wurde. Praktisch hatte aber in dieser
Zeit bereits die Entwicklung zum hierarchisch strukturieren Kastenwesen unaufhaltsam
begonnen hatte, in dem Menschen aufgrund ihrer Geburt in einer bestimmten Familie
ihr Lebensweg vorgezeichnet ist: Welche Gottheiten sie verehren, was sie essen dürfen,
welcher Beruf ihnen vorbestimmt ist, wen sie heiraten können, ob sie vom Rest der
Gesellschaft als "gottgleich" verehrt oder von Anfang an diskriminiert und als
Abschaum gesehen werden
4.2. Entstehungstheorien
Sicher spielten eine Menge verschiedener Faktoren zusammen, um das Kastenwesen
entstehen zu lassen: soziale, ökonomische und politische Umstände, die Karma-Lehre,
Reinheitsglaube, Tabuvorschriften, Aufnahme von fremden Gruppen mit eigenen
Traditionen , magisch-religiöse Auffassungen in Bezug auf die Berufstätigkeit; auch der
Wunsch, sich abzugrenzen, Besonderheiten und Kenntnisse einzelner Gruppen
sicherzustellen, und vor allem der Wunsch der Brahmanen, mit allen Mitteln die
Vorherrschaft der Oberschicht zu etablieren und sich gegen die anderen
Bevölkerungsgruppen zu behaupten.
Manche Autoren, die sich mit dem KW auseinandersetzten, stellten bestimmte Fakten in
den Vordergrund, die ihrer Meinung nach in erster Linie zur Herausbildung des KW in
Indien führten.
Einige Beispiele:
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
SS 2003
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VERMEIDUNG VON MISCHEHEN/ "REINERHALTUNG DES BLUTES"
Diese Theorie will Ursprünge d.Kastenwesens auf die Vermischung arischer
Eindringlinge aus dem Westen mit autochthoner Bevölkerung zurückführen. Man
versuchte, Korrelationen zw.Kastenstatus und "Nasenindex" zu erstellen (z.B. Risley )
und so nachzuweisen, dass sich bestimmte physische Merkmale je nach Mischungsgrad
der Gruppen von einer Kaste zur anderen voneinander unterscheiden; andere
Untersuchungen haben allerdings gegenteilige Ergebnisse erbracht und gezeigt, dass in
einem untersuchten Gebiet oft wenige Unterschiede zwischen den Kasten bestehen
(.....uneheliche Kinder bei Mahars)
Dass die Besorgnis um Reinerhaltung der "Rasse" schon in alter Zeit in Indien bestand,
scheint erwiesen: Schon im Rig-Veda wird die Vermengung der varnas zum Problem.
In einem Hymnus wird Indra angerufen: "Oh Indra, finde heraus, wer ein Arier ist und
wer ein Dasa ist und trenne sie. "(A.George) - Später gilt es als wichtige Aufgabe des
Königs, die "Klassen rein zu halten"
Die Bildung exklusiver Gruppen als Antwort auf die gegebene politische Situation ist
mit der Lage der Weißen im früheren Süd-Afrika vergleichbar, die eine zahlenmäßig
stärkere andersfarbige Schicht beherrschen wollten und bewusst Apartheid betrieben.
RASSENTHEORIE/UNTERWERFUNG DER UNTERLEGENEN RASSENGRUPPE
als Beispiel Fürer-Haimendorf: er meint, Vorläufer des Kastenwesens in einer von ihm
untersuchten Stammesbevölkerung gefunden zu haben und formt daraus seine Theorie:
Bei den Apa Tani in Arunachal Pradesh gibt es abgesehen von der normalen ClanStruktur zwei deutlich voneinander unterschiedene endogame Klassen, deren
Lokalbezeichnungen (Guth und Guci) er einfach als "Patrizier" und "Plebejer" übersetzt.
Diese Trennung wird von allen Beteiligten als unwiderruflich angesehen, und weder
Reichtum, noch Bildung oder politischer Erfolg haben es für einen Guci ermöglicht, den
Status eines Guth zu erreichen. Nach der Apa Tani Tradition waren ursprünglich alle
Guci die Sklaven der anderen; offenbar war einmal ein Ethnos von einem anderen
unterworfen und versklavt worden ; und alle fremden Sklaven, die jemals von den Apa
Tani erworben wurden, wurden in die Guci-Klasse eingereiht. Er meint, die hier
sichtbaren Mechanismen (Unterwerfung einer Population und Zuordnung eines
niedrigeren Ranges im Sozialgefüge) wären für die Entstehung des Kastensystems
verantwortlich.
HISTORISCHE THEORIE: GENS UND GOTRA
Anhänger wollen quasi eine "indo-europäische Kastentheorie" entwickeln und stellen
Kasten in Zusammenhang mit Verwandtschaftsgruppen, wie sie bei anderen indoeuropäischen Populationen anzutreffen sind, (z.B. römische gens). Die altrömische gens
sei mit der indischen gotra vergleichbar; in beiden Fällen galt die Vorschrift, ein Mann
soll eine Frau womöglich gleicher Herkunft (Klasse, in Indien: varna), aber
verschiedener gotra (bzw.gens) heiraten. Aus den Familienbeziehungen hätten sich
letztlich die Kasten entwickelt.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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WIRTSCHAFTLICHE GRÜNDE
NESFIELD (bereits 1885): Kaste sei extreme Ausformung des Gildenwesens Arbeitsteilung und berufliche Sozialisation seien verantwortlich für die Herausbildung
der Gruppen; er meinte allerdings, dass aus den ältesten Berufen die niedrigsten Kasten
entstanden und Brahmanen ihren Status erst später begründeten....das ist
nachgewiesenermaßen falsch.
KASTE UND MUTTERRECHT
HUTTON: Geht von der Frage aus, warum nach dem Schema des Manu die Kinder aus
Mischehen verschieden eingestuft werden, je nachdem ob sie aus pratiloma- oder
anuloma-Verbindungen hervorgehen. Die Nachkommen eines Shudra-Mannes und
einer Shudra-Frau sollten doch auf den ersten Blick in der Hierarchie niedriger stehen
als die eines Shudra-Mannes und einer Brahmanenfrau .
Das Prinzip der Hypergamie als Erklärungsmodus hilft alleine wenig, und ihm scheint
es vernünftiger , als Erklärung die Auswirkungen der patrilinear orientierten
Einwanderer auf die autochthone matrilineale Gesellschaft anzusehen.
Bei Ehen zwischen Arier Frauen (Frau der patrilinealen Immigranten) und autochthonen
Männern (der ansässigen matrilinealen Bevölkerung) hätten Nachkommen eine sehr
zweifelhafte Position - ohne Erbrecht und Status in beiden Gesellschaften.
Bei einem patrilinealen Vater und einer matrilinealen Mutter hätte das Kind Status
sowohl bei der Verwandtschaftsgruppe seines Vaters, als auch bei der seiner Mutter,
und es würde von beiden Seiten erben. Die Nachkommenschaft einer eingewanderten
patrilinealen Frau und eines ansässigen matrilinealen Mannes hätte aber keinen Platz in
beiden Gesellschaften. Dieses Kind könnte kein Erbe seitens seiner Mutter mit ihrem
exogamen patrilinealen Clan beanspruchen, noch durch seinen Vater mit seiner
exogamen matrilineal organiserten Familie. Mit keinem Anspruch auf Verwandtschaft
und Erbe würde der Status dieses Kindes notwendigerweise absinken und, wenn beide
Gesellschaften das patrilineale System übernommen haben, würden die Ursachen für
dieses Absinken in der Hierarchie nicht mehr bewusst sein, aber seitens der frühen
Gesetzgeber würde man einen Kodex niederlegen, der solche Ehen verbietet.
Es gibt in den Sutras einige Passagen, die eine solche Interpretation durchaus
nahelegen. So heißt es an einer Stelle, dass diejenigen, die aus der "verkehrten
Ordnung" entstanden sind (Väter niedrig, Mütter höher) außerhalb der heiligen Gesetze
stehen. Oder: Solche, die von einem Mann niedrigerer Kaste und einer Frau höherer
Kaste stammen, kein Recht haben zu erben und dass ihre Söhne nicht einmal einen
Bruchteil des Reichtums ihrer Großväter haben sollen.
Dem zu widersprechen scheint die Tatsache, dass es Nachkommen von Familien mit
pratiloma-Ursprung gibt, wo die Mutter eine Brahmanin und der Vater ein Kshatriya ist
(die allerdings eine verhältnismäßig hohe Stellung in der Liste des Manu einnehmen).
Hutton meint, dass aber schon beide - Brahmanen und Kshatriya - patrilineal organisiert
waren und dass daher die Frage eines völligen Status- und Erbteilverlustes nicht
auftrete.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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REINHEITSGEBOTE
als Hauptgrund für Herausbildung von Kasten: die Vorherrschaft des brahmanischen
Opferers wurde schon früh betont und sie wird von manchen Autoren als Grundlage für
das Kastensystem angesehen. Die Brahmanen, die die gelehrte Priester- und
Intellektuellenschichte der Indo-Arier waren, wollten ihre eigene rituelle Reinheit durch
Verunreinigung (durch unheiliges Essen oder unerwünschte Heiraten) schützen, indem
sie strenge Regeln innerhalb ihrer eigenen Kommunität anwandten; dadurch erregten sie
die Bewunderung anderer, die die tugendhafte Selbstkontrolle der Brahmanen
nachahmen wollten. Die gewöhnlichen Soldaten, Bauern, Geschäftsleute und Diener
konnten nicht ein so heiliges Leben führen, und so entwickelte sich für jede Gruppe ein
eigener Katalog von Pflichten und Gesetzen.
5. Grundlagen des Kastenwesens
5.1. dharma-karma-samsara-moksa
DHARMA
Das höchste geistige Ziel eines Hindu: sich seiner Identität mit dem höchsten Sein
bewusst zu werden. Das Leben in dieser Welt dient dazu, dieses Ziel zu erreichen und
ist bildhaft einer Brücke vergleichbar: man muss zwar über sie hinüber schreiten, um
sein Ziel zu erreichen, es wäre aber unklug, auf ihr sein Haus zu bauen. Die Aufgaben
des Menschen in dieser Welt gehören ihrem Wesen nach einer niedrigeren
Erfahrungsstufe an und werden auch im allgemeinen von Hindudenkern so behandelt.
Der Hinduismus bietet dem Menschen eine kundige Führung an, schnell und sicher über
die Brücke des Lebens zu gelangen. Sein wichtigster Beitrag dazu ist der dharmaBegriff. Dharma ist sehr weit gefasst und kann in verschiedenen Zusammenhängen
durchaus verschiedene Bedeutung haben:
u.a. vedisches Ritual, Religion und Ethik im allgemeinen. Die brahmanische Tradition
setzt dharma mit Gesetz und Verhalten gleich; daher heißt die Gesetzesliteratur
Dharmasutras (Sutra: in Aphorismen, Versform, meist älter als Manu) bzw.
Dharmasastras (Sastra: jede Abhandlung göttlichen Ursprungs, oder von einer
"Autorität" verfasst). Der Buddha bezeichnete als dharma das von ihm vorgeschriebene
Moralgesetzt. In der puranischen Tradition ist dharma die Moralordnung: steht im
ältesten, dem Krta-Yuga, fest auf vier Beinen; im Treta-Yuga auf drei, im DvaparaYuga auf zwei, und im jetzigen Kali-Yuga auf nur einem Bein. Oft kann dharma einfach
"Schicklichkeit" bedeuten, oder "sozial anerkanntes Verhalten in Bezug auf
Mitmenschen, andere Lebewesen, Tiere, oder auch auf übermenschliche Mächte", oder
es wird einfach als "religiöse Pflicht" übersetzt. Niemals allerdings schließt dharma eine
persönliche Erfahrung des Göttlichen ein.
Die nachhaltigste - und in unserem Zusammenhang wichtigste - Bedeutung von dharma
scheint sich aber auf die Weltordnung zu beziehen, und auf die Stabilität und Solidarität
der Gesellschaft. dharma beinhaltet in diesem Sinne die Beachtung jener
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Verhaltenweisen, die als notwendig erachtet werden, um Welt und Gesellschaft intakt
zu halten.
dharma zielt also darauf ab, eine bestehende Ordnung - sei diese nun sozialer oder
kosmischer Art - zu festigen und hat somit einen ausgeprägten Beigeschmack von
Konservatismus: Gleichgewicht und Ordnung müssen überall herrschen: im Kosmos, in
der Natur, in der Gesellschaft und in der individuellen Existenz. Solange sich ein
Mensch an die Bestimmungen und Aufgaben hält, die seinem Stand, Geschlecht, seiner
Familie und Altersklasse entsprechen, solange hält er sich an den dharma. Es besteht
kein prinzipieller Unterschied zwischen der Gesetzmäßigkeit in Kosmos und Natur
einerseits, und der Ordnung und korrektem Betragen, moralischer, gesellschaftlicher
und juridischer Art andererseits. Die Vorgänge in Natur - und Menschenwelt müssen
ihrem dharma gemäß stattfinden. Das heißt, die Sonne muss täglich aufgehen, die Kuh
Milch geben, die Flüsse müssen sich ins Meer ergießen, ein König muss seine
Untertanen schützen, die Frau ihrem Mann dienen, Asketen ihre natürliche Neigungen
unterdrücken... Jeder muss seinen Anteil an dieser universellen Gesetzmäßigkeit
beitragen und dadurch die Stabilität in Natur und Gesellschaft aufrechterhalten.
Dharma nach verschiedensten Lebensbereichen untergliedert:
stri-dharma: Verhalten der guten Ehefrau
asrama-dharma: Verhalten für die einzelnen Lebensstufen. Gibt einem Hindu die
Umrisse eines genau vorgezeichneten Lebensplanes in die Hand, der die vier
festgelegten Lebensstadien umfasst:
- brahmacariya: Leben d.Studenten (nach upanayana-Zeremonie)
- garhastiya : Leben des Hausvaters
- vanaprastiya: Leben des Eremiten, der seiner Familie noch mit Rat zur Verfügung
steht, aber bereits "im Wald lebt"
- samnyasa: Leben eines Asketen.
Die Lehre von den asramas oder Lebensstufen, von denen es in den ältesten vedischen
Texten keine Spur gibt, bereitet sich in den Upanishaden vor. Die Dharmasastras und
auch mehrere Stellen im Mahabharata betonen, dass der Hausvater die Grundlage für
alle anderen sei: der Hausvater opfert, gründet Familie und unterstützt die
umherziehenden Asketen. Es ist notwendig, diesem Stand, von dem Götter, Väter und
Wanderasketen leben, angehört zu haben. Wer nach Erlösung strebt, ohne die drei
Schulden (d.h.Opfer gegenüber den Göttern, Kindererzeugung gegenüber den Vätern
und Vedastudium gegenüber den Rsis) abgezahlt zu haben, fährt zur Hölle. Schließlich
bedrohte ja die asketische Weltabkehr die brahmanische Lebensführung und
Lebensordnung.
varna-dharma (Erfüllung der "Kastenpflichten")
Ib Zusammenhang mit dem Kastenwesen am wichtigsten: Könnte man im asramaSystem so etwas wie eine ethische Strukturierung des persönlichen Lebens des
Individuums sehen, so würde das System der vier varnas in bestimmter Hinsicht als
ethische Strukturierung des sozialen Lebens der Hindus zu gelten haben. In der
Bhagavadgita erfährt der varnadharma eine ethische Idealisierung. Dabei werden nicht
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so sehr die Unterschiede und die Abstufungen der einzelnen varnas betont. Diese
werden eher als zufällig bewertet. Was aber im Sinne der Bhagavadgita wirklich von
Bedeutung ist, ist das System der ethischen Interdependenz, wie es im varna-System
zum Tragen kommt: Die Gesellschaft bildet ein integrales Ganzes und kann als solches
nur in dem Maße zusammenhalten und sich entfalten, wie die verschiedenen Teile die
Funktionen erfüllen, die ihnen zugewiesen sind. Die Überlegung, ob eine Funktion hoch
oder niedrig sei, ob sie einem zusagt oder nicht, hat keinerlei echten Wert. "Es ist
besser, seine eigene Pflicht auf unvollkommene Weise zu erfüllen, als den dharma eines
anderen (varnas) völlig zu verwirklichen", steht in der Bhagavadgita. Letzteres wäre
gefährlich, weil es die gesellschaftliche Ordnung verletzen würde. Das Gefühl, durch
die Einhaltung von varnadharma die Solidarität, die Stabilität und den Fortschritt der
Gesellschaft aktiv fördern zu können, stellt in sich schon eine Belohnung dar, die größer
ist als jeder andere in dieser Welt denkbare Lohn.
Nichteinhaltung des dharma ist also ein rituelles Vergehen und kann z.B. Missernte
oder meteorologische Folgen mit sich bringen. Diese können ein Hinweis dafür sein,
dass z.B. der König seine Pflicht vernachlässigt hat. Eine sterile Kuh, eine
Sonnenfinsternis, die Geburt eines entstellten Menschen, ein früher Tod oder
Witwenstand - jedes Unglück oder jede unerwartete Erscheinung sind Hinweis darauf,
dass die Ordnung gestört ist. Vor derartigen Vorfällen oder Wesen muss man sich
hüten, denn sie sind unrein. (sieht man schon, dass rein/unrein unglückliche
Übersetzungen sind, die sich aber leider durchgesetzt haben; gemeint ist
"auspiciousness", etwas "Günstiges" bzw. "inauspiciousness" etwas "Ungünstiges"
verheißend). Reinheit herrscht dort, wo der dharma unverletzt geblieben ist. Wer sich
dharmawidrig verhält, geht in dieser und der jenseitigen Welt zugrunde und weder
Askese noch Opfer können ihn retten. Durch richtiges Benehmen aber erlangt man
Glück und Besitz und vernichtet das Unglück.
KARMA
Dharma-Konzept bekommt nur Sinn in Verbindung mit anderen Vorstellungen; diese
sind karma und samsara.
Aus dem varna-konzept ist eines deutlich ersichtlich: dass die Menschen verschieden
sind und verschiedene Aufgaben haben. Prinzipiell jedoch gilt: Was das eigentliche
Selbst eines jeden Menschen betrifft, gibt es keine Unterschiede zwischen Menschen.
Alle Menschen streben nach der mystischen Vereinigung mit dem höchsten Sein, und in
dieser Vereinigung werden sie ihrer grundlegenden Identität gewahr.
Aber im praktischen Leben gibt es große Unterschiede zwischen den Menschen und
sehr viel Ungleichheit; sie gehört zum empirischen Leben in der Erscheinungswelt und
sie ergibt sich, sobald das eigentliche Selbst Individualität annimmt, indem es den
Bedingungen von Köper, Geist, Intellekt und Ego unterworfen wird. Wie diese
Ungleichheit entsteht, erklärt allerdings noch nicht, warum sie entsteht. Dieses Problem
haben die großen Hindu-Denker mit ihrer karma-Lehre zu beantworten gesucht.
Im Hinduismus entscheidet sich unser Schicksal nicht nach dem Richterspruch eines
außerhalb stehenden Gottes, sondern nach einem inneren Gesetz, das untrennbar mit der
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karma-Vorstellung verbunden ist: Karma ist weitgehend das Gepäck, das man aus
Vorleben mitbringt:
Das karma eines jeden Menschen besteht aus drei Teilen und wird oft mit verschiedenen
Arten von Pfeilen eines Bogenschütze verglichen:
1: Das vergangene karma aus den vorhergegangenen Existenzen: Dieser Pfeil wurde
schon abgeschossen, er hat seine Hand verlassen, er kann ihn nicht zurückholen. Er
muss sich mit den Konsequenzen dieses Schusses abfinden. Es ist das karma, das für
das jetzige Leben bestimmend ist und für die gegenwärtigen Lebensumstände
(Geschlecht, Eltern, H7autfarbe...)verantwortlich ist
2. Das karma, das jetzt modifiziert werden kann; es entspricht dem Pfeil, der auf der
Sehne aufliegt, um abgeschossen zu werden. Im Menschenleben entspricht es dem
Charakter, den angeborenen Neigungen und Fähigkeiten. Diese sind nicht
unveränderbar wie Geschlecht oder Kastenzugehörigkeit; sie können durch gute
Werken, gute Gedanken , Bußübungen etc. geändert werden.
3. Das karma, das im gegenwärtigen Leben angehäuft wird, und das im nächsten Leben
seine Früchte tragen wird. Das ist der Pfeil, der noch im Köcher ist. Er, sowie unser
zukünftiges Leben, sind ganz in unserer Hand und können von uns gestaltet werden.
Der karma-Begriff umfasst also vorherbestimmte Elemente, und Elemente der Freiheit.
Auch wenn das Umfeld vorherbestimmt ist, ist der Wille des Menschen frei. Jede Seele
ist wie ein Bauer, dem ein Stück Land gegeben wurde. Dessen Größe, die
Bodenbeschaffenheit, die Wetterbedingungen sind gegeben, aber der Bauer entscheidet,
ob er den Boden pflügt, ob er düngt und bewässert, und welche Früchte er anbaut, oder
ob er das Feld vernachlässigt und brach liegen lässt.
Die Moralordnung bedingt, dass die Handlungen eines Menschen in der Vergangenheit
für seinen gegenwärtigen Zustand verantwortlich sind, und dass seine gegenwärtigen
Taten seine Zukunft bestimmen werden. Wie wir säen, so ernten wir. In welchen
Umständen wir uns befinden, was wir jetzt sind hängt davon ab, was wir gewesen sind
und was wir früher taten. Nichts geht verloren von dem, was durch Taten verdient
worden war, und nichts wird " geschenkt", wenn es nicht verdient worden war.
SAMSARA UND MOKSA
Die dharma-karma-Lehre wieder hat nur Sinn, wenn sie mit der Vorstellung von einem
Kreislauf der Wiedergeburten verbunden ist (samsara): alle, die die Erlösung noch
nicht erlangt haben, sind gezwungen, immer wieder in einer vom karma bedingten
Existenz wiederzukehren. Dharma, karma und samsara bilden einen Komplex, ein
zusammenhängendes, weltanschauliches System. Jede dharmawidrige Tat hat ihre
Wirkung in der nächsten Existenz. Der alleinige Weg zur Verbesserung von Status und
Lebensumständen (im nächsten Leben) ist die Befolgung des dharma....für niedrige
Kasten: haben sich im gegenwärtigen Leben gefügig zu verhalten.
Der Begriff moksa wird meistens mit "Erlösung" gleichgesetzt, worunter in den
verschiedenen Lehrsystemen aber verschiedenes verstanden wird: ein Abstreifen der
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Seele von allen Eigenschaften, einschließlich des Bewusstseins; das Aufgehen der
individuellen Seele in die All-Seele, die Rückkehr zum ursprünglichen Zustand der
Nicht-Manifestation; für den Theismus die höchste Möglichkeit vollkommener
Vereinigung mit Gott. Gemeinsam ist allen Richtungen:
dass moksa ein Transzendieren dieser Erscheinungswelt in sich schließt, einer Welt, die
durch Pluralität, Veränderung und Aktivität charakterisiert ist und von der man
allgemein annimmt, dass sie letzten Endes ohne Realität und Bedeutung sei.
Nach Ansicht vieler Autoritäten ist Erlösung für Shudras und für Frauen nicht möglich sie benötigen weitere Wiedergeburten, um die Vorbedingungen für moksa zu schaffen,
nämlich durch eine höhere Wiedergeburt einen Zustand höherer Reinheit zu erlangen
(Widerspruch: dass eine Göttin immer als Gemahlin ihres männlichen Begleiters
geboren wird).
was heißt aber überhaupt rein/unrein? Es handelt sich um einen rituellen Zustand, der
mit "schmutzig/sauber" natürlich nichts zu tun hat. Ein Mensch wird für gewisse
Zeitspannen durch bestimmte Ereignisse rituell verunreinigt (durch alltägliche
körperliche Vorgänge wie Defäkation), bzw. können für einen Menschen seine nächsten
Verwandten und besten Freunde als Ergebnis von Ereignissen wie Geburt, Tod,
Menstruation...für eine Weile sehr stark verunreinigt oder sogar unberührbar werden.
Das gilt natürlich auch für Brahmanen, die sich ihr Leben lang streng an alle
Reinheitsvorschriften halten.
Vorstellungen von ritueller Reinheit finden wir fast überall, in allen
Kulturen/Religionen: Personen, die mit gewissen Ereignissen in Berührung kommen
sind unrein oder "anders" als ihr normaler Zustand wäre....Kontakt vermeiden, um keine
nachteiligen Konsequenzen zu erleben ( christliche Kirche: Frau nach Geburt unrein,
junge Mutter ging nach 40 Tagen mit Kerze zur Kirche und wurde am Eingang vom
Priester empfangen)
Die "persönliche zeitweilige Unberührbarkeit" nach Gesetzbuch des Manu vor allem
durch 12 Ausscheidungen oder Unreinheiten hervorgerufen (Exkremente, Speichel,
Samen, Menstruationsblut; Körperreinigung nach Entleerung mit der linken Hand....)
Geburt und Tod: ganze Familie betroffen (Geburt: Mutter und Kind; Mutter muss nach
bestimmter Zeit Reinigungsritual durchführen; Menstruation: nicht kochen kastenweise verschieden - Gemüse schneiden aber nicht kochen, Verwandte macht
Hausarbeit; darf auch nicht sati werden, muss auf jeden Fall reinigendes Bad nehmen
bevor sie sich verbrennt; Hochzeiten verschoben, wenn Todesfall oder Menstruation der
Mütter). Tod betrifft ganze Familie - ärger, bei engem Verwandtschaftsverhältnis
(distance pollution...Zeremonien, Haar-Bart wachsen lassen).
Konzept der Unreinheit ist sehr alt - bevor Kastenwesen ausgeprägt war. Ob es schon in
der Frühzeit Unberührbarkeit im späteren Sinn des Wortes gab, ist wieder eine
Streitfrage (Ambedkar sagt nein, andere sagen ja....) Manu erwähnt Tiere, die sich von
Abfällen ernähren, als besonders unrein . Alte buddhistische Erzählungen: Candala lebt
auf Friedhöfen, ernährt sich von Abfällen, besonders unrein; ein Brahmane, der sein
Mahl mit einen Chandala teilte, geht in Wald um zu sterben (jataka tales); König darf
Essen nicht mit einer Tochter teilen, die ihm von einer Sklavin geboren wurde.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Schon die alte Literatur erwähnt, dass es eine zeitweise und eine dauernde Unreinheit
gibt; so werden bei Manu bei einem Candala (und Candala ist so etwas wie eine KastenBezeichnung/ Gruppenbezeichnung) sein Beruf, bei einer Frau Menstruation als
individuelles Ereignis als Quellen von Unreinheit angeführt: Man gewinnt den Eindruck
- und es wird auch oft so gesagt - dass es sich immer um die gleiche Art von Unreinheit
handle, die aber bei den niedrigen Kasten perpetuiert wird; Unberührbarer immer in
dem Zustand, in den auch ein Brahmane aufgrund gewisser Ereignisse gelangen kann.
Wahrscheinlich ist die Sache viel komplizierter, aber für die Praxis des "KastenAlltags" hat das keine große Bedeutung.
Für Louis Dumont (Werk: Homo hierarchicus), der sich hierbei auf andere Vordenker
(Hocart) beruft, ist der Reinheitsgrad einer Kaste das wesentliche Kriterium, um sie im
Gesamtsystem einzuordnen. Die Opposition rein- unrein (Exponent des Reinen ist der
Brahmane, des Unreinen der Unberührbare) ist für ihn das erste fundamentale
Kriterium, das dem Kastenwesen zugrunde liegt. Das zweite ist die Trennung von
(rituellem) Status (Brahmane) und Macht ( König/ Kshatriya).
Bezüglich der Opposition rein/unrein sieht er drei Grundsätze:
a) das Reine muss vom Unreinen getrennt werden (genaue Heiratsregeln und
Essensregeln)
b) auch reine und unreine Beschäftigungen müssen voneinander getrennt werden
(Interdependenz - jede Gruppe muss einen Beruf ausüben, gegenseitige Abhängigkeit)
c) das Reine ist dem Unreinen überlegen...es ergibt sich eine Hierarchie
Diese Anordnung ist religiöser Natur. Höhere Reinheit und höhere Stellung sind
identisch. Die verschiedenen Abstufungen von rein bzw. unrein, die erst eine
hierarchische Anordnung erlauben, sind nur im Vergleich sichtbar - daher besteht die
Notwendigkeit, nicht die einzelnen Elemente (Kasten), sondern das gesamte System zu
betrachten, wenn man über eine einzelne Kaste eine Aussage machen will.
Dumonts Feststellungen blieben nicht unwidersprochen – vor allem warf man ihm vor,
dass er seine Informationen ausschließlich von den hohen Kasten bezogen habe und nur
deren Haltungen wiedergebe. Auch seiner Ansicht, dass in traditionellen Kulturen das
Gemeinwohl unter das individuelle Wohl gestellt werde (d.h. dass alle in
Übereinstimmung mit den dharma-Regeln ihre vorgegebenen Pflichten zum Wohle der
Gesamtgesellschaft ausführen) können niedrige Kasten manchmal nicht viel
abgewinnen. Viele sind oft nicht mit der Position zufrieden, die ihnen von anderen im
hierarchischen System zugewiesen wird und versuchen, ihre Position zu verändern und
zu reagieren.
Beispiele individueller Reaktionen
Sind vor allem in ländlichen Gebieten immer noch schwierig und meist nicht
erfolgreich. Bei Übergriffen/Schlechtbehandlung ist die Polizei fast immer auf Seiten
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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der höheren Kasten (kommen immer "zu spät", oft korrupt und können gekauft werden).
Einige Möglichkeiten, individuell zu reagieren, sind:
- Nach außen hin Anpassung an die gegebene Situation mit Bestreben, selbst so gut wie
möglich auszusteigen und größtmögliche Vorteile zu erlangen (christl.Mission - viele
Unberührbare sehr geschickt)
- Distanz zu anderen Kastenmitgliedern schaffen (Bildung, gute Erziehung für Kinder,
job...Umsiedeln in anderen Ortsteil, Kontakte mit Geburtskaste meiden)...in kl.Orten
auch heute noch schwer (Eyrandgaon - neues Maharwada); Abwandern in Stadt zu
besserem job und höherem Lebensstandart oft nur für höhere Kasten vorteilhaft, die dort
schon Infrastruktur haben. Wenn Dalits in Stadt gehen, enden sie meist im slum.
- Isolation (vermeiden von Kontakten, um Frustrationen zu vermeiden...oft nicht
möglich, weil arbeitsmäßig abhängig von Landbesitzern)
- Übernahme eines anspruchsvollen religiösen Amtes
Gemeinschaftsaktionen der ganzen Gruppe
Fast jede niedere Kaste beansprucht höheren Status als jenen, der ihr von der
Gesellschaft zugestanden wird und unternimmt – zumindest sporadisch und oft
erfolglos - Anstrengungen, um diesen Anspruch zu realisieren.
- Sanskritization
Der Terminus (zusammen mit "Westernization") wurde vom indischen Anthropologen
M.N.Srinivas populär gemacht. Auch als Brahmanization bezeichnet (Nachahmung der
Brahmanen), gebietsweise wo Rajputen nachgeahmt werden als Rajputization
etc...meist wird die Kaste nachgeahmt, die im Gebiet reich ist und Macht hat. Niedrigere
Kasten ändern ihren Lebensstil, um sich der höheren Kaste anzupassen (Aufgabe des
traditionellen Berufs, Verbot d.Witwenheirat, höhere Mitgift, Frauen abgeschlossen,
neue Essensvorschriften, Rituale und Brahmanen für deren Durchführung, neuer
Kastenname....).
Ansprüche auf höhere Position müssen über längere Zeit - zwei, drei Generationen aufrechterhalten werden, bevor sie von der Gesellschaft akzeptiert werden, manchmal
wird gar nicht nachgegeben.
Sanskritization führt nicht immer, aber sehr oft zur Aufwärtsmoibilität. Einige
Bedingungen sind dabei sehr nützlich und werden von manchen Autoren als
Voraussetzungen gesehen, ohne die Aufwärtsmobilität nicht möglich ist:
- am wichtigsten: Kaste ist reicher und/oder einflussreicher geworden (Geld durch
Erschließung von Marktlücken; Landbesitz erworben; westliche Erziehung/bessere
Jobs/Einkommen aus Städten/Landreformen...) Landbesitz ist nicht Voraussetzung,
begünstigt aber Mobilität sehr. Direkte Korrelation zw.Landbesitz/hohem Rang. Erfolge
vor allem im Mittelfeld , Unberührbare fallen meist durch den Rost
- mehr Erfolgschancen, wenn Sprung nicht zu groß (Shudra - Kshatriya), HarijanBrahmane hat keinen Erfolg
- langsames, vorsichtiges Vorgehen ist erfolgreicher; führende Kasten durften nie zu
sehr aus der Fassung gebracht werden (Salzarbeitern 1936 Schnüre abgerissen...nach
einigen Jahren wieder angelegt; früher auch Kleidung der höheren Kasten abgerissen,
heute alle ähnlich gekleidet)
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
SS 2003
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auch durch Sanskritization werden Kasten gespalten (wirft man sonst den anderen
Religionen vor)
- Religionswechsel
Islam: Ashraf ("Adelige"); davon Saiyad und Shaikh mit theoretisch arabischem
Ursprung, sien vertreten die Nachkommen von in kleinen Gruppen eignewanderten
"religiösen" Menschen und entsprechen nach Ansicht Dumonts in etwa den Brahmanen;
die Pathan und Mughul seien das Kshatriya-Äquivalent.Alle Ashraf essen mitsammen.
drei Gruppen von nicht-Ashraf:
- Konvertiten hoher Kaste, die nicht von A. aufgenommen wurden
- Berufsgruppen, wie Hindu-Handwerker
- bekehrte Unberührbare; alte Funktionen; viele Hindusitten
von niedrigen Kasten haben manche große (Baumwollarbeiter, Armreifenerzeuger...)
und manche kleine (Barhai, dhobi, teli, nai/hajjam...) Muslimabteilungen
Christentum: abgesehen von "Thomas-Christen" in S-Indien seit Ankunft der
Portugiesen Missionstätigkeit. Erfolge manchmal unter höchsten, meist unter
niedrigsten Gruppen; meisten Hindus: keine Schwierigkeit, neue Ideen und
Wertvorstellungen in ihre Religion einzubauen, sehen daher keine Veranlassung für
einen Religionswechsel. Stammesleute in Assam und Chota Nagpur: um Situation zu
verbessern, erhofften sich von Missionaren Bildung und Fortschritt (und Wahrung ihrer
Identität). Christen heute etwas weniger als 3%, meisten im Süden.
viele "Kirchen": Katholiken, Church of England (SPG..Society for the Propagation of
the Gospel), Methodisten, American Board of Foreign Missions etc.etc.
Sikhismus, Buddhismus: große Konvertierungs-Zeremonie in Nagpur 1956: Ambedkar
und seine Anhänger
auch innerhalb des Hinduismus: Lingayat lehnen religiöse Rechtfertigung der Kasten
ab; haben aber auch unreine Kasten, die nicht als "richtige Lingayats" bezeichnet
werden; Priester dienen ihnen, nehmen aber nicht ihr Essen an)...
Bei allen: Erfolge zweifelhaft, Religionswechsel alleine bewirkt keine Besserstellung in
der Gesellschaft, dauert einige Generationen und bessere
wirtschaftliche/bildungsmäßige Position, um Akzeptanz zu finden.
- Reformbewegungen
oft sogar durch Brahmanen begründet: wollten soziale Regeneration und religiöse wie
säkulare Reformen, vor allem, als sie ihre Wertvorstellungen durch Kontakte mit
Engländern wanken und ihre eigenen Positionen gefährdet sahen. Aber nicht nur
brahmanisches Machtstreben, sondern echter Wunsch nach sozio-ökonomischen
Änderungen führten Anfang des 19.Jahrhunderts zu einer "indischen Renaissance" indische Denker stellten sich dem Westen und setzten sich mit der Vorstellung
auseinander, dass einerseits großes Interesse der Indologen an Indien bestand,
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andererseits aber von vielen anderen die indische Kultur und Gesellschaft als exotisch
und rückständig betrachtet wurden.
Brahmo Samaj: 1828 in Calcutta von Raja Ram Mohan Roy als "Kirche" gegründet, die
allen offen stand, in der aber nur Brahmanen Dienst tun konnten. Sozialreformen:
Bildung für Frauen, Interkasten- und Witwenheirat, Verbot d. Polygynie;
Reformprogramme gg. soziale Ungerechtigkeit (Status d.Frau heben, Sati verbieten,
Lage der Unberührbaren zu verbessern)...langsam wird Bewegung zu einer neuen Kaste
Arya Samaj: 1878 von Swami Deyanand Saraswati in Lahore gegründet;
Sozialreformen und Vereinfachung d.Rituale, die jeder, der sie beherrschte, durchführen
können sollte. Beeinflusste höhere und mittlere Kasten, die die Reformbewegung an
niedere herantragen wollten. Programme f. Harijan- und Tribal-uplift, um sie vor dem
Christentum zu retten....dies ist bis heute Hauptsorge geblieben, Arya Samaj ist heute
mehr oder weniger eine militante Hindu-Organisation, die gegenüber Christen und
Buddhisten feindlich eingestellt ist.
Satyashodak Samaj: wichtige nicht-brahmanische Bewegung begründet durch Jyotirao
Phule aus der Mali-Kaste. Phule wollte Masse d.ind.Landarbeiter ihre Situation
bewusst machen. Sozialreformen (Mädchenschulen, Schulen für Harijans), hatte
Unterstützung von reformwilligen Brahmanen.
5.2. Was bedeutet Kaste heute?
Indische Autoren (wie z.B.Taya Zinkin) wurden in den 60er Jahren beschimpft, weil
sie immer noch von der Existenz der Kasten sprachen, die es nach Ansicht vieler Inder
"in früheren Jahrhunderten, höchstens aber bis zur Unabhängigkeit..." gegeben habe. In
der modernen Verfassung gebe es Gesetze gegen Kastenwesen und Unberührbarkeit
Heute ist keine Rede mehr davon, dass die Kasten als solche nicht mehr existieren. Der
bekannte Soziologe Andre Beteille meint allerdings:
"Im modernen Indien gibt es niemanden mehr, der Kasten- Praktiken verteidigen würde.
Die Betonung des Rituals, die komplexen Vorschriften bezüglich des physischen
Kontaktes mit anderen Personen und bezüglich der Nahrungszubereitung....all das ist
auf dem Weg zur Bedeutungslosigkeit".
Menschen müssen zusammen reisen, arbeiten und essen. Im Kontext der urbanen
Gesellschaft werden die alten (Kasten)-Tabus irrelevant. Die "rituelle Reinheit" steht
nicht mehr im Vordergrund. Alle Berufe stehen zumindest theoretisch allen offen,
Brahmanen essen im Restaurant, Mischehen werden geschlossen. Unter der Oberfläche
aber gibt es mehr Orthodoxie, als auf den ersten Blick ersichtlich sein mag, gerade jetzt
in Zusammenhang mit der Hindutva-Ideologie (Wandel oft nur nach außen: rituelles
Bad wenn man heimkommt, Mischehen ja, aber meist zwischen nahestehenden Kasten
oder Sub-Kasten....)
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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sicher große Unterschiede Stadt/Land; in den Dörfern, wo jeder jeden kennt, ist die
Kaste sicher noch von größerer Wichtigkeit.
Indienweit gilt: die vorhandenen Kasten-Strukturen sind heute für politische Zwecke
wichtig geworden; politische Fraktionen bewegen sich entlang von Kasten-Grenzen
oder zumindest entlang der Grenzen von Kasten-Gruppen (Dalit). Der indische
Ethnologe/Soziologe Prof.Srinivas meint, dass sich Kasten heute oft fast wie ethnische
Gruppen verhalten, die (gegeneinander) um Jobs, Bildungsmöglichkeiten und andere
Vorteile kämpfen.
Die Kasten sind also keinesfalls verschwunden, und ihre Bedeutung auch nicht - auch
wenn sich zugegebenermaßen viel in den letzten Jahrzehnten geändert hat. Kasten sind
für die Gesellschaft nach wie vor relevant. Selbst wenn wir heutige Beutung in Frage
stellen wollten ist der starke Einfluss des Kastendenkens auf jeden Einzelnen immer
noch spürbar (wie der des Christentums in Europa/ Katholizismus in Mittel und SEuropa).
VI. DIE RELIGIONEN INDIENS
1. Hinduismus
Hindus: bezeichnete ursprünglich "Bewohner des Landes jenseits des Sindhu" (Indus)
und hatte mit Religion nichts zu tun. Etwa seit 13.s. verwendeten die Muslims das Wort
"Hindu" im Sinne von "Anhänger einer einheimisch-indischen Religion". Der moderne
Begriff "Hinduismus" ist eine westliche Wortschöpfung und besteht erst seit dem 19.s.
Briten verstanden anfangs nicht, dass die Inder verschiedene Religionen hatten und
konnten sich nicht vorstellen, dass verschiedene Religionsgemeinschaften ziemlich
friedlich nebeneinander existieren konnten. Außerdem aus übersetzungstechnischen
Gründen Missverständnisse, weil "dharma" mit „Religion“ gleichgesetzt wurde. Erst im
20.s. wurde erkannt, dass es sich beim Hinduismus in Wirklichkeit um verschiedene
Religionen mit verschiedenen Ursprüngen, heiligen Schriften und Gottheiten handelt.
Diese wieder unterscheiden sich von dem, was wir gewöhnlich unter "Religion"
verstehen: Es gibt keine allgemein verbindlichen Dogmen, Religionsausübung meist
freier und zwangloser als z.B. im Christentum oder Islam. Andererseits ist "dharma" mit
dem Leben jedes einzelnen Menschen in der Kastengesellschaft aufs engste verknüpft,
theoretisch kann keine Handlung gesetzt werden, ohne auf den dharma Bezug zu
nehmen. "Hinduismus" daher eher Weltanschauung/ Lebenshaltung statt Religion.
Indische Verfassung subsumiert alle in Indien entstandenen Religionen unter der
Sammelbezeichnung "Hindu Religion" (=Hinduismus), theoretisch auch Jainas, Sikhs,
Buddhisten und Anhänger von Stammesreligionen. Nach dieser Auffassung wäre ein
„Hindu“ also nicht Anhänger einer ganz bestimmten Religion, sondern Anhänger einer
(beliebigen) Religion indischen Ursprungs. Diese Religionsgemeinschaften lehnen aber
den Veda ausdrücklich ab und müssen schon deswegen als heterodox angesehen
werden. Denn die Anerkennung des Veda ist das wichtigste Kriterium dafür, wer sich
selbst als Hindu definiert. Schon die mittelalterlichen Hindu-Philosophen sahen all jene
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Lehren als "recht" an, die nicht die Wirksamkeit, hervorragende Stellung oder Ewigkeit
des Veda in Frage stellen. Weitere einigende Begriffe, die jedem Hindu geläufig sind,
sind brahman (All-Seele, das letzte Prinzip), dharma, samsara....
Trotz der Gemeinsamkeiten bleibt aber die Vielfalt bemerkenswert. Im Hinduismus gibt
es polytheistische, animistische, pantheistische, monotheistische und atheistische
Vorstellungen.
Auch
die
Gottesvorstellungen
sehr
unterschiedlich:
abstrakt/vergeistigter Hochgott (wie in monotheistischen Religionen), Muttergottheiten
(Tieropfer, ekstatische Tänze), Naturgottheiten (Steine, auffällige Bäume). - Es gibt
keinen zentralen Religionsstifter, keine "Kirche" als Organisation, keine allgemein
verbindlichen Dogmen... Wollte man Hinduismus als "eine Religion" bezeichnen,
müsste man zumindest Judentum, Christentum und Islam wegen ihrer geistigen
Verwandtschaft ebenfalls als nur "eine Religion" ansehen.
Die Inder wehrten sich nicht gegen die von Fremden geprägte Sammelbezeichnung
"Hinduismus" und befanden ihn sogar für praktisch, um damit ihre verschiedenen
Religionen zu verklammern und gegen die "fremden" Religionen der Eroberer, Islam
und Christentum, besser abgrenzen, vor allem auch im Kampf gegen die
Fremdherrschaft.
Vielfalt der hinduistischen Religionen unüberblickbar, aber drei Hauptrichtungen:
Vishnuismus, Shivaismus, Shaktismus (Vaishnavas - Anhänger des Gottes Vishnu,
Shaivas - Anhänger des Gottes Shiva, Shaktas - Anhänger der "Großen Mutter" =
Mahadevi oder Shakti). Daher folgender Definitionsversuch: "Hinduismus ist
Anhängerschaft oder Verehrung der Gottheiten Vishnu, oder Shiva, oder Shakti, ihrer
Inkarnationen, Aspekte, Ehepartner oder Nachkommen..."
Gott im Hinduismus:
Schon in der alten vedischen Religion keine permanente Hauptgottheit: in
Friedenszeiten oft Varuna, in Kriegszeiten Indra im Vordergrund, gefolgt vom
Feuergott Agni.
In den Epen meist Vishnu, manchmal auch Shiva als höchster Gott bezeichnet. Stets
brahmanische Versuche, die Kulte miteinander zu verbinden (z.B. Skanda Upanishad:
"Das Herz Shivas ist Vishnu, das Herz Vishnus Shiva" ). Bis heute werden oft lokale
Göttinnen zur Ehefrau Shivas erklärt . Wichtigste diesbezügliche Schritt: alle Götter zu
Aspekten des All-Einen, zu Erscheinungsformen der "Weltseele Brahman", zu
deklarieren, wobei das "All-Eine" unter verschiedenen Götternamen verehrt werden
kann. Für die Vaishnavas ist Vishnu, für die Shaivas Shiva oberster Weltenherr, alle
anderen Gottheiten sind seine Emanationen.
Systematisiert wurden diese Gedanken vom Brahmanen Shankara um 800 n. Chr. mit
seiner Lehre der "zweistufigen Wahrheit":
Der Mensch ist an das Sinnliche gebunden. Die Wahrheit wird ihm durch den "Schleier
der maya (Illusion)" verhüllt und auf der ersten Stufe mag er jede x-beliebige Gottheit
als "wahr" verstehen. Nur der fortgeschrittene Gläubige erreicht die zweite Stufe und
erfährt in einer mystischen Grenzüberschreitung die Wahrheit. Brahman, das
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unpersönlich Seiende, waltet jenseits aller vertrauten Gottesvorstellungen, die
Gegensätze zwischen verschiedenen religiösen Lehren verwischen sich.
Auf dem Grundsatz der zweistufigen Wahrheit sehen Hindus auch die Gottheiten
anderer Religionen als vordergründige Erscheinungsformen des "All-Einen". Der
Buddha wird zur 9. Inkarnation Vishnus, Jesus zum Meister-Yogi, oder er wird mit
Krishna gleichgesetzt. Die "neuen Götter" werden dabei den eigenen Vorstellungen
angepasst und ihnen ihre Einmaligkeit und Allmacht genommen. Die oft gepriesene
Toleranz des Hinduismus wird heute manchmal als "inklusivistische Toleranz"
bezeichnet (nach Paul Hacker). Gemeint ist damit, dass das "Fremde unterordnend dem
Eigenen angeschlossen wird", d.h. man nimmt das Andere, Fremde an, reduziert es aber
auf das eigene Vorverständnis.
In der Volksreligion sind indische Gottheiten mit sehr menschlichem Charakter
ausgestattet– sie verlieben sich, hassen, sind leicht zu kränken und nachtragend, neigen
zu Eifersucht oder Jähzorn. Sie haben allerdings auch übermenschliche Macht und
empfangen daher Opfer. Wie die Menschen sind sie dem dharma, dem unpersönlich
waltenden Weltgesetz, unterworfen.
Jede Gottheit hat viele Namen: oft ist von 1000 oder 1008 die Rede. In der Praxis
werden gebietsweise manche in den Vordergrund gestellt ( in N-Indien sehr häufig
Mahadeva - „großer Gott“ – für Shiva). Für alle Götter ist die Bezeichnung "bhagwan"
(der Erhabene) geeignet.
Vishnu und Shiva: die beiden "großen" männlichen Gottheiten mit unzähligen Tempeln
und Mythen. Brahma, die dritte Gottheit aus der Hindu-Dreiheit (und nicht mit dem AllPrinzip brahman zu verwechseln) steht hinter den anderen beiden weit zurück, hat in
Indien kaum Tempel. Vishnu und Shiva stehen in beständigem Kampf gegen die Kräfte
des Chaos, die „Dämonen“ oder Asuras. Diese Spannung zwischen Ordnung und Chaos
ist eines der wichtigsten Prinzipien im Hinduismus (dehnt sich auf die gesamte soziale
Ordnung aus, wo jeder im Kleinen seinen Teil dazu beitragen muss, um die Ordnung
aufrechtzuerhalten). Ist auch wesentliches Thema der Mythologie: Mächtiger Dämon
gefährdet Position der Götter und. Muss bekämpft werden. Daraus entwickelt sich die
ganze weitere Handlung. Es ist nicht die moralische Spannung zwischen GUT und BÖSE,
die in den Vordergrund gestellt wird, sondern die Spannung zwischen Ordnung und
Chaos.
1.1. VISHNU
Vishnu - "der Durchdringende, Durchdringer"; ausgeglichener, friedlicher Gott; rettet
Götter und Menschheit (gelegentlich auch durch List und Trug), wenn Mächte des
Chaos die religiöse und soziale Ordnung gefährden.
"Sektenzeichen" der Vaishnavas, eine senkrechte rote Linie mit einem weißen U oder
V-Zeichen.
Dargestellt wird Vishnu
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mit hoher Krone (königlich/heldischer Gott, viele Züge des vedischen Götterkönigs
Indra).... König von Nepal gilt noch heute als Inkarnation Vishnus. Oft blau dargestellt
(Farbe des Himmels, der Unendlichkeit)
um den Hals Blumengirlande, die bis zum Knie reicht.
In Händen hält er
- Rad: ursprünglich Wurfscheibe/Diskus als Waffe...später eher als Sonnensymbol und
Symbol des dharma interpretiert, dessen Hüter Vishnu als Erhalter des Universums ist
- Keule (Waffe der frühen Zeit, in Persien war Keule die Waffe der Könige und ein
altes Lichtzeichen; im esoterischen Sinn: zerteilt die Wolken der Unwissenheit und
bringt das Licht der Erkenntnis)
- Lotus: mit vielen Gottheiten abgebildet; schon in Industalkultur Lotusblüten,
Göttinnen mit Lotusblüte statt Kopf...Lotus entsprießt als erste Gestaltwerdung dem
Nabel des im kosmischen Schlaf ruhenden Vishnu-Narayan. Lotus = Zeichen für
Fruchtbarkeit, vor allem für Reinheit, da er sich in strahlender Schönheit über Schlamm
und Schmutz, in denen er verwurzelt ist, aus den Wassern hebt.
- Muschelhorn: von Küstenbewohnern als Kampftrompete verwendet; esoterisch: Ton
des Muschelhorns ist die erste Manifestation des Absoluten in der empirischen Welt,
steht mit der Schöpfung in Verbindung (shivaitisches Gegenstück: die Sanduhrtrommel)
Vishnu ist kosmischer Gott und Himmelskönig; in seiner Gestalt verschmelzen arische
und prä-arische Elemente: Lotus, Muschelhorn, Weltenschlange Ananta (Unendlichkeit)
oder Shesha (die Bleibende) – verweisen auf Wassernatur (vorarisch/oder dravidischen
Ursprungs); dazu kommen Elemente einer Licht/Sonnen-Gottheit und seine
kosmosordnende Funktion - all das geht auf die vedische Religion zurück
Vishnus Gemahlin ist Lakshmi; in manchen Gebieten ist Bhudevi, die "Göttin der
Erde", seine zweite Ehefrau, im N manchmal auch Sarasvati, die meist als Gemahlin
Brahmas gilt
Vishnu hat unzählige Namen. Am bekanntesten:
- Hari (Gott)...Harijan; vor allem in Verbindung mit Shiva als Hari-Hara.
- Bhagvan (der Erhabene);
- als kosmischer Narayan (der aus dem Wasser Kommende) wird er zum
Schöpfergott...; Vishnu ruht auf der Weltenschlange im kosmischen Ozean.
Durch seinen Schöpferwillen entwächst der Lotus seinem Nabel; auf ihm thront
der Schöpfergott Brahman, der in Vishnu-Narayans Auftrag die Schöpfung in
Angriff nimmt.
- Jagannatha ( in Orissa);
- Vishvarupa (der Allgestaltige, Allgegenwärtige, Universale, besonders in Nepal, aber
auch in S-Indien verbreitet
- Vithoba und Vithala (zwei Volksgottheiten aus Maharasthra, die jetzt mit Vishnu
identifiziert werden)...... etc...
Monotheismus- und Messias-Gedanke treten im Vishnu-Kult deutlicher in Erscheinung
als in anderen Kulten. In zehn berühmten Inkarnationen oder avatars rettet er in jedem
Yuga-Zyklus Götter und Menschen vor dämonischen Mächten, . anfänglich in
Tiergestalt, dann als Mischwesen, und letztlich in Menschengestalt.
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1. Matsaya, der Fisch:
Brahma schlief am Ende eines Kalpa, die Veden entschlüpften ihm und wurden von
einem pferdeköpfigen Dämonen gestohlen. Vishnu inkarnierte sich als Fisch, entriss die
Veden dem Dämonen und erstattete sie Brahma zurück. Darstellung als Fisch oder
Mensch mit Fischkopf.
2. Kurma, die Schildkröte:
nach indischen Schöpfungsmythen erhebt sich Weltenberg Meru auf dem Rücken einer
Schildkröte; um den Unsterblichkeitstrank zu erlangen, mussten Götter und Dämonen
den Urozean quirlen. Sie verwendeten die Schlange Vasuki als Seil und den Berg
Mandara als Quirl, der aber im Ozean versank. Vishnu als Schildkröte verlieh dem
Quirlstock festen Halt. Beim Quirlen entstanden 14 Kostbarkeiten, die unter den
Göttern aufgeteilt wurden, schließlich der Trank der Unsterblichkeit, den die Dämonen
an sich rissen. Vishnu nahm die Gestalt der schönen Mohini an, worauf die Dämonen
verzückt vom Trank abließen, um sich ihr zuzuwenden; die Götter bemächtigten sich
des Tranks. Der Verbindung Shivas mit Mohini entspross der Gott Aiyannar (Hari-Hara
putra - auch als Mischgottheit mit den Emblemen beider großer Götter dargestellt).
3. Varaha, der Eber:
während des Schöpfungsvorganges fiel die Erde (Bhu) in den Urozean; Vishnu als
Varaha tauchte ins Wasser und hob die Erde in Gestalt der kleinen Göttin Bhu-Devi
vorsichtig mit seinen Hauern empor. Varaha früher eine beliebte Form für die
Verehrung Vishnus.
4. Narasimha, der Mann-Löwe:
ein Dämon erzwingt durch Askese die Zusicherung, dass er weder von Mensch noch
Tier, bei Tag oder Nacht, inner- oder außerhalb seines Palastes getötet werden könne;
verbietet seinem frommen Sohn Prahlad, Vishnu anzubeten. Dieser lässt sich aber nicht
beirren und sein Vater versucht alles, um ihn durch Torturen zu beseitigen. Schlangen,
Elefanten etc. sind aber erfolglos, und der Vater fragt Prahlad schließlich, wo denn
Vishnu sei, ob er auch in einer Säule sein könne. Als Prahlad bejaht, knickt der Dämon
den Säulenschaft und heraus springt ein furchtbares Wesen, weder Mensch noch Tier,
sondern ein Mann mit Löwengesicht; es ist Dämmerung (weder Tag noch Nacht), und
man befindet sich auf der Schwelle des Palastes – weder drinnen noch draußen. Das
Wesen zerreißt den Dämonen.
5. Vamana, der Zwerg:
Bali, weiser und gerechter, aber von Ehrgeiz getriebener (Dämonen)-König (vielleicht
historischer populärer dravidischer König der Malabarküste.... ) erstrebt die Herrschaft
über die Dreiwelt Himmel-Erde-Unterwelt. Vishnu, als zwergengestaltiger
Brahmanenschüler, begibt sich zum Pferdeopfer des Bali, der ihm ehrerbietig die Füße
wäscht. Vamana erbittet vom König soviel Land, wie er mit 3 Schritten durchmessen
kann. Der guru warnt Bali, der aber lächelnd die Bitte gewährt, worauf Vamana zu
Riesengröße anwächst. Mit dem ersten Schritt durchmisst er die Erde, mit dem zweiten
den Himmel, in machen Mythenvarianten bietet dann Bali sein Haupt als Platz für den
3.Schritt an; oder Vishnu weist ihm die Unterwelt als Reich zu, in der er bleiben muss
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und jährlich nur für 10 Tage lang hervorkommen darf; das ist die Zeit, wenn in SIndien, in seinem ehemaligen Land an der Malabarküste, für 10 Tage lang sein Fest
gefeiert wird. Darstellung als dickbäuchiger Zwerg oder riesiger "Dreischritt"
(z.B.Tempelhöhlen von Bdami...)
6. Parasurama, Rama mit dem Beil, ein Brahmanenkrieger:
Rama war einer der 5 Söhne des Weisen Jamadagni, und der Königstochter Renuka. Er
erfreute sich der Gunst Shivas, der ihm ein Beil (parasu) schenkte. Renuka war völlig
rein und dem Ehemann ergeben, dadurch hatte sie die Kraft, aus Flusssand Gefäße zu
formen und darin Wasser heimzutragen. Einmal sah sie beim Wasserholen einem
Liebespaar zu, verlor ihre Reinheit und damit ihre Fähigkeiten. Jamadagni trug den
Söhnen auf, die Mutter zu töten, 4 Söhne weigern sich und werden durch des Vaters
Fluch zu Idioten oder Eunuchen, der 5.Sohn Parasurama erfüllt den Wunsch, hatte sich
aber ausbedungen, dass er die Mutter wieder zum Leben zurückbringen kann...
später: „Pferdemenschen“ (Reiterkrieger?) töten Jamadagni und stehlen die heilige
Wunschkuh. Parasurama tritt als furchtbarer Rächer für den Brahmanenmord auf und
rottet alle Krieger aus (vielleicht historischer Hintergrund: Barbareneinfälle
/Pferdemenschen - mit skythischen Reitern in Verbindung gebracht; Rückeroberung der
hl.Stadt Kashi durch die Brahmanen??)
Diese Inkarnation zeigt die Auseinandersetzung der Kshatriyas mit den Brahmanen am
deutlichsten. Parasurama entspricht nicht dem üblichen Wesen Vishnus, offenbar von
Priestern geschaffen, um ihn als "Rächer der Bramanenklasse von Shivas Gnaden" zu
etablieren. Besonders interessant: Parasurama wird kurz vor der 7.Inkarnation,
Ramachandra, geboren; es gibt Texte, die beschreiben, wie die beiden Inkarnationen
Vishnus einander gegenüberstehen und einander sogar bekämpfen, wobei der Rama aus
dem Ramayana siegreich bleibt. Der Ramayana-Held ist Vertreter der Kriegerklasse und
edler Ritter, während Parasurama Brahmanenkrieger ist.
7. Rama/Ramachandra:
Geschichte kurz im Mahabharata und ausführlich im Ramayana erzählt. (24000
Doppelverse). Rama sehr populär („Ram, Ram“; „Rama,Sita“ als Gruß). Dramatische
und pantomimische Bearbeitung (Bharatanatyam, Volkstheater in
Dörfern....)Gattentreue, Kriegerideal der Arier verherrlicht. Charaktereigenschaften
Indras auf Rama übertragen. Rama, in unerschütterlicher Pflichterfüllung von Leid zu
Leid gestoßen, wächst zu göttlicher Größe empor.
Rama, Sohn König Dasharatha in Ayodhya (Oudh, heute Fyzabad U.P.) gewinnt Sita
("Furche" = Inkarnation der Lakshmi) zur Gemahlin; sein Halbbruder Bharata kommt
durch Ränke auf den Thron, Rama, sein zweiter Bruder Lakshman und Sita gehen in die
Verbannung...Sita vom Dämonenkönig Ravana nach Sri Lanka entführt.
Sugriva/Hanuman, König der Affen, baut Brücke nach Sri Lanka, vor Übergang dorthin
bauen Rama und Laksman an Südspitze Indiens einen Tempel in Rameshvaram und
huldigen dem Shiva Lingam. ...Sita wird befreit, muss sich zum Beweis ihrer Treue
einer Feuerprobe unterziehen. Obgleich ihre Unschuld bewiesen ist, wird sie trotzdem
schwanger in Wald geschickt, nach 15 Jahren soll sie erneut eine Feuerprobe bestehen,
ruft aber ihre Mutter, die Erde, an, sie zurückzunehmen - Rama wird Asket und geht am
Hl.Fluss wieder in seinem Ursprung, dem großen Gott Vishnu, auf.
heute wird Ravana von manchen Stammespopulationen als Hauptgottheit verehrt.
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8. Krishna
(der Dunkle, Schwarze). Wichtigste Texte: Bhagavadgita aus dem Mahabharata(Gesang des Erhabenen). Bhagavat-Purana: in alle indischen Sprachen übersetzt,
Volksbuch, das vor allem Kinder- und Jugendjahre beinhaltet. Krishna/Krsna ist Gott
der Gnade, dem Gläubige in hingebender Liebe (bhakti) zugetan sind.
Erdenleben: Hirtenmilieu von Mathura. Krsna geht wahrscheinlich auf Hauptgott der
von W eingewanderten Yadav zurück, einem arischen Hirtenstamm; verschmolz mit
einer vor-arischen Vegetationsgottheit. Manche meinen, Parallelen zwischen Krsnas
und Jesu Kindheit zu sehen
Legende: Vasudeva, Edler aus Stamm der Yadavas, heiratet Devaki (Inkarnation der
Göttermutter Aditi , Nichte des Königs von Mathura). Sohn des Königs, Kansa usurpiert
den Thron und verbietet Vishnu-Kult...Zeit ist reif für neue Inkarnation. Prophezeiung,
dass Kansa durch Sohn seiner Cousine getötet wird, und lässt deren ersten 6
Nachkommen umbringen. Der neugeborene Krsna wird auf wunderbare Weise mit der
Tochter des Hirten Nanda vertauscht, die zum Himmel entschwebt, als sie Kansa
gezeigt wird. Kansa lässt daraufhin alle neugeborenen Knaben töten (vgl.Kindermord
von Bethlehem).
Krsna wächst mit seinem Bruder Balarama (=Pflug) bei Nanda auf - viel Schabernack,
die Episoden aus Krsnas Kinderzeit in der Myhologie wichtig; befreien aber auch Hirten
von Dämonen...als junger Kuhhirte 84 000 Geliebte, Favoritin ist Radha. Kansa hört
von Wundertaten und will Krsna und seinen Bruder auf verschiedene Weise töten
lassen, wird aber schließlich durch Krsna vernichtet.
- Später verlässt Krsna mit den Yadavas das Gebiet von Mathura und erbaut auf der
Halbinsel Gujerat die Festung Dwarka; unterwirft viele Feinde (barbarische Stämme);
heiratet Rukmini und noch andere 16 000 Frauen, die er dadurch von ihren
gewalttätigen Gatten befreit. Beteiligt sich an Schlacht von Kurukshetra (MahabharataEpos) und verkündet Bhagavadgita. Krsna wird schließlich durch einen Bhil-Jäger
versehentlich durch einen Giftpfeil tödlich getroffen und kehrt 3102 v.Ch in den
Himmel zurück; damit beginnt das gegenwärtige schlechte Kali-Yuga.
Leben in 4 Abschnitten:
-Kind (wundersame Rettung vor dem Tod – Ähnlichkeiten mit Jesu-Geschichte von
Herodes; Dämonin Putana, Schlangendämon Kaliya),
-Jüngling (Hirte; Radha): diese ersten beiden für den Volkshinduismus von besonderer
Bedeutung
-Mann (erfüllt eigentliche Aufgabe und tötet Tyrannenkönig Kansa),
-reifere Jahre (regiert als König von Dwarka, greift als Freund der Pandavas in die
Kämpfe gg. Kauravas ein und verkündet die Bahagavadgita, wie im Mahabaharata
berichtet wird)
für die Volksreligion sind die ersten beiden am wichtigsten
Symbole: vielen Frauen sind Seelen, die Gott zugeneigt sind, und umgekehrt von Gott
geliebt werden; Radha: personifizierte Gottesliebe; Flöte: Mensch, der durch den
Hauch des Schöpfers belebt wird. Im Krsna-Kult viel mystisch-erotische Dichtung
(Gitagovinda: Gesang des Kuhhirten, 12.s.; Mira Bai, etc.)
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Zentren d.Krsna-Verehrung: Bengalen, Rajasthan, Puri/Orissa (als Jagannatha = Herr
der Welt; war ursprünglich alter Fischergott am Golf von Bengalen, dann mit Krsna
identifiziert)
9. Buddha:
diese von Brahmanen geschaffene Inkarnation ist nie ins Volksbewusstsein
eingedrungen; priesterlich-spekulativer Versuch der Überwindung des Buddhismus
durch Integrierung in den Vishnuismus.
10. Kalki(n):
apokalyptischer Reiter auf weißem Ross mit Flammenschwert. Er wird dann erscheinen,
wenn das Ende dieser Welt gekommen ist und sich am Ende des Kaliyuga, in dem wir
jetzt leben, alles auflösen wird (also nach 432.000 Jahre, von denen ca. 5000 vergangen
sind) der am Ende des Kali-Yuga die Kreaturen erlösen wird. Messiasgedanke vielleicht
über Islam in den Hinduismus eingeflossen; Kalkin vielleicht Vergöttlichung eines
Kriegshelden aus dem 6.s.n., der gg.die Weißen Hunnen kämpfte.
Für den populären Hinduismus sind die siebente und achte Inkarnation am wichtigsten,
Rama und Krsna. Obgleich Vishnu selbst verehrt wird, haben indienweit seine Rama
und Krsna-Inkarnationen sicherlich mehr Bedeutung. Es gibt wichtige religiöse
Bewegungen, in deren Zentrum diese beiden Gestalten stehen; indienweit gibt es viele
ihnen geweihte Tempel, in denen die Gottheiten fast immer anthropomorph dargestellt
werden.
SHIVA
Shiva ist "der Glückbringende, der Gnädige"; das dürfte ein besänftigendes Beiwort
gewesen sein, um seine Wildheit zu bezähmen (findet man häufig: die Pockengöttin
Sitala = "die Kühle" etc.)
Seine Farben sind weiß (Asche), rot oder schwarz. Allgemeines Erkennungszeichen:
Dreiäugigkeit = Zeichen der über das natürliche Maß hinausgehenden Macht und
Geistigkeit. Die 2 natürlichen Augen versinnbildlichen Sonne und Mond, das 3.Auge
Zerstörung/Feuer, gleichzeitig "flammender Durchbruch der Erkenntnis, Weisheit".
Zeichen: drei waagrechte weiße Striche als Stirnmal
Symbole:
- Sanduhrtrommel (damaru) - altes Schamaneninstrument; im esoterischen Sinn
symbolisiert sie den Ton der ersten und zartesten Offenbarung des Absoluten in der
Erscheinungswelt
- Schlange: Lebensenergie, Vitalität
- Buckelstier (Nandi): seit Induskultur mit Protoshiva verbunden
Attribute
- Dreizack: Symbol des dreifach wirkenden Gottes (der schafft, erhält, zerstört)
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- Schwert: Erkenntnis
- Schild: schützende Weltordnung
- Beil oder Messer: Durchtrennen der Wurzeln der Unwissenheit
- Elefantenstachelstock: Leiten der Seele am Erlösungspfad
All diese Symbole können auch von anderen, meist tantrischen, Gottheiten getragen
werden. Spezifisch für Shiva
- Totenkopfstab: weist Shiva als Herrn über Leben und Tod aus (Schlange:
Lebensenergie, Totenkopf: Tod)
Shiva gilt gleichzeitig als Gott der unerschöpflichen sexuellen Kraft und als Hauptgott
der Asketen/Bettelmönche. Als Gott der Zerstörung weist er ihnen den Weg, die
Bindungen an alles Irdische zu zertrennen und das Ewige hinter der Scheinhaftigkeit der
sinnlichen Wahrnehmung zu finden. Radikale Weltabkehr und Askese bei Shaivas viel
intensiver als bei Vaisnavas.
Shiva absorbierte weitgehend den vedischen Rudra (der „Heuler, Brüller“), Räuber und
Jäger, Herr des Sturmes, der unbändigen Natur, Gottheit der Angst und des Todes,
gleichzeitig aber ein hilfreicher Arzt. Im komplexen Shiva verschmolzen zahlreiche
Lokal- und Stammesgottheiten aus unterschiedlichen Kulturstufen und geographischen
Gegenden (Schädelkette zu Kopfjägern nach Assam und Zentralindien,
Sanduhrtrommel zu Schamanen des Himalaya-Gebietes, Stier/Yoga/Schlangen- und
Phallusverehrung ins Industal, Tanz in Himalayagegend und nach Südindien...das führt
zu seinen vielen Aspekten)
einige wichtige Erscheinungsformen bzw. Namen:
- Mahesha, Maheshvara (Großer Herr) oder Mahadeva (großer Gott): wirkt dreifach
im Universum. In der Trimurti werden die drei Funktionen Schöpfung/ Erhaltung/
Zerstörung den drei Gottheiten Brahma/Vishnu/Shiva zugeordnet. Für die Shaivas
vereint Shiva als universeller Gott all diese Funktionen und Aspekte in sich (daher der
Dreizack, Symbol des dreifach wirkenden Gottes)
- Nataraja: Shiva als kosmischer Tänzer - der König des Tanzes. Im kosmischen
Tandva-Tanz erschafft und zerstört Shiva die Welten...ewiger Kreislauf von Werden
und Vergehen. Tanz und Meditation sind zwei verschiedene Wege zur Ekstase, zur
Vereinigung mit dem Absoluten. Nataraja vor allem im Süden zu Hause. 2 bis 10
Arme...meist 4; Hände meist Geste der Gnade, Gewährung von Schutz. Flammenkranz:
Zeichen der Zerstörung und des neuen Werdens.
- Yogisvara: großer Yogi: mit Asketenknoten, nackt/mit Asche, mit Mondsichel im
Haar, auf Tierfell sitzend, Asche auf der Haut. Durch seine Askese sammelt er tapas
(innere Hitze) an, die wieder als ungeheure schöpferische Kraft zum Wohl des
Universums eingesetzt werden kann.
- Bhairava (der Schreckliche): oft mit einem Hund oder auf einem Hund reitend,
abgebildet.
Im Gegensatz zu Vishnu steigt Shiva nicht in verschiedenen Inkarnationen auf die Erde
herab, hat aber eine große Zahl paralleler Existenzen oder Manifestationen.
Dr. Traude PILLAI-VETSCHERA
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Einführung in die Ethnologie INDIENS
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Darstellung des Gottes auch als lingam/phallisches Symbol.
Für den linga(m) dient die yoni
(Vulva) als Basis. Die Vereinigung von
männlich/weiblich wird dadurch zum Ausdruck gebracht.
Shiva ist mit Parvati verheiratet, in seinen Tempeln hat er aber je nach Ort die
verschiedensten Gemahlinnen, da Lokalgöttinnen oft zu Gemahlinnen Shivas erklärt
werden ( z.B. Minaski in Madurai.)
Shiva hat zwei Söhne, Ganesha und Skanda, die beide nicht auf natürliche At geboren
wurden
GANESHA: (Gana+Isha oder Ganapati: Herr der Ganas, das sind kleinere Gottheiten
im Gefolge Shivas;... von Parvati hervorgebracht. Gott der Weisheit (Elefantenkopf - er
soll das Mahabharata geschrieben haben, das ihm Vyasa diktierte) und Entferner von
Hindernissen, wird daher am Anfang eines jeden Unternehmens verehrt (bes. bei der
Hochzeit). Gewährt Wohlstand, glückliche Reise. Altes Fruchtbarkeitssymbol - daher
an Hauswänden dargestellt.
sein "Fahrzeug": Ratte: verschieden gedeutet: Ratte versinnbildlicht Ackerbau/Ernte;
Ratte ist klein und schlau: Ganesha mit seiner Stärke kann große Hindernisse
überwinden, Ratte ist klein, symbolisiert, dass Ganesha auch dort wirksam wird, wo
nicht physische Stärke sondern Klugheit nötig ist. Oder: Ratte sieht ihn an und berührt
die vielen Nahrungsmittel nicht, die um sie herum liegen, als ob sie seine Erlaubnis
abwarte. Die Ratte steht hier für Wünsche, Verlangen; der Mensch muss diese
überwinden, wenn er sich auf dem Weg der Spiritualität weiterentwickeln will.
Sitzhaltung: ein Fuß auf dem Boden, der andere unterschlagen: wird oft gedeutet als:
ein Aspekt seiner Persönlichkeit befasst sich mit den Dingen dieser Welt, der andere
deutet an, dass der Abgebildete in sich selbst versunken ist und über die letzte Realität
meditiert.
Oft wird Ganesha als unverheiratet dargestellt, manchmal aber auch mit einer oder auch
zwei Gemahlinnen, z.B. Risshi und Siddhi (Überfluss und Gedeihen. Es gibt eine
Version der Bhagavadgita, die als Ganesha-Gita bezeichnet wird (Gesang des Ganehs),
in welcher der Name Krsnas durch Ganesha ersetzt wird; sie wird von GaneshaAnhängern verwendet.
SKANDA oder Kartikkeya: auch wieder mit vielen verschiedenen Namen bezeichnet.
Kriegsgott, mit dem Planeten Mars verbunden; im negativen Aspekt Patron der Diebe,
der Kinderkrankheiten, Ehefeind, dessen Schrein in manchen Gebieten von Frauen nicht
aufgesucht wird. Im S gilt er als Sohn von Shiva und Parvati, im N als Sohn Shivas, der
aus dem Samen des Gottes ohne Mitwirkung einer Frau entstand: der Samen wurde im
Ganges
deponiert(daher
auch
einer
seiner
Namen
Gangaputra).
Die Beziehung zwischen Vishnu und Shiva ist für den Hinduismus von großer
Bedeutung. In Tamilnadu werden sie als Schwager dargestellt (Vishnus Schwester ist
Shivas Gemahlin). Indienweit werden einmal dem einen, dann dem anderen, oder
beiden zugleich alle göttlichen Eigenschaften zugeschrieben. Oft haben die Vaishnavas
extremer auf der Oberhoheit ihres Gottes über Shiva bestanden. Anhänger jeder der
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Gruppen behaupten jedenfalls, dass IHR Gott auch alle Eigenschaften des anderen
besitze.
Vishnu herrscht über die zivilisierte Welt, Shiva ist Herr all dessen, was außerhalb
davon liegt. Vishnu stützt das Sozialsystem und die hierarchische Ordnung, Shiva lehnt
diese ab.
Dem westlichen Sinn erscheint gewöhnlich Vishnu eher "verständlich". Er wird meist
als gütig gesehen, vor allem in der Gestalt des Rama als Modell-König- und -Ehemann.
Shiva dagegen wird oft als zu kompliziert und paradox angesehen: er ist zugleich Asket,
der sich langanhaltender Buße unterzieht, und wild/zerstörerisch/ unmoralisch, mit
unerschöpflicher sexueller Kraft. Für Hindus ist das kein Widerspruch: durch Busse
erwirbt man Kraft, auch ungeheure erotische Kraft; Shiva ist also der große Liebhaber,
der über unendliche Zeiträume seinen Phallus erigiert haben kann, ohne dass es zu
einem Samenerguss kommt.
Für viele Nicht-Inder mag Shiva also gleichzeitig abstoßend und faszinierend
erscheinen. Nur dürfen wir nicht den Fehler machen, die beiden Göttergestalten
allzuschnell in uns verständliche Kategorien eiordnen zu wollen: Vishnu/ gütigordnend-erhalten, Shiva/ komplex-wild-zerstörerisch. Shiva wird nämlich in Indien
gleichzeitig als großer Gott der Neuschöpfung gesehen, und Vishnu (z.B.als Krsna)
vernichtet seine Feinde im Mahabharata-Krieg und erklärt sich selbst zum
"letztendlichen Zerstörer des Universums". Im ewigen Zyklus der aufeinanderfolgenden
Welten sind Zerstörung und Neuschöpfung untrennbar miteinander verbunden, eine
bedingt die andere, sie sind beide nur verschiedene Seiten derselben Münze
DEVI
feminine Form von "deva", also Göttin; in der Praxis werden die Göttinnen meist mit
mata (N-Indien), ai in Maharashtra, amma(n) in Sü-Indien etc. angerufen....alles heißt
"Mutter", Mutter der ganzen Welt und aller Lebewesen - als bemerkenswertes Detail am
Rande sei vermerkt, dass die Göttinnen selbst dabei sehr oft als kinderlos gesehen
werden
Auch Göttinnen können in gewissen Kontexten als "verschiedene Gottheiten" gesehen
werden oder als verschiedene Erscheinungsformen der Einen, großen Mahadevi.
Konzept im DEVIMAHATMAYAM etwa im 6.s.n., erstmals klar formuliert: eine
Göttin ist Emanation der anderen ist; ist Schlüsseltext der devi-Verehrung.
Immer vor dem Hintergrund der Tatsache, dass alle Göttinnen Formen der EINEN
Mahadevi sind, werden verehrt:
1. unabhängige Göttin - als Herrin des Universums, und nur zu vergleichen mit Shiva
und Vishnu. Wie diese beiden ist auch sie im Kampf gegen Dämonen tätig und
siegreich. Am bekanntesten hier ihre Erscheinungsform als Durga, die den gigantischen
Büffel-Dämonen Mahishasura besiegt; das wird jedes Jahr beim großen Navaratri (9
Nächte)-Fest gefeiert (eines der wichtigsten Feste Indiens). Die dramatischste
Darstellung erlebt Devi in der Gestalt der Kali, die aus Durga hervorgeht, als diese im
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Kampf mit ihrem Latein am Ende ist. Sie kann als der "personifizierte Zorn" der Göttin
gesehen werden. Die
Wenn die Devi als unabhängige Göttin gezeigt wird, ist sie alleine wirksam und
mächtig, ohne Zutun eines männlichen Gottes - Wird sie aber zur "Gemahlin", dann ist
sie dem männlichen Partner unterlegen und kann ohne diesen nichts bewirken.
2. Gemahlinnen der großen Götter
Vishnu/ Lakshmi
Shiva/ Parvati
Brahma/ Sarasvati
.
Brahmas Gemahlin Sarasvati wird als Göttin der Weisheit, des Lernens, der schönen
Künste angesehen. Meist wird sie alleine abgebildet, und sie erfährt auch alleine
Verehrung, z.B. durch Studenten vor einer Prüfung etc.
Auch Lakshmi, als Göttin von Glück und Reichtum, ist bedeutend genug, um alleine
verehrt zu werden. Wird sie mit Vishnu zusammen abgebildet, so nimmt sie eine
untergeordnete Funktion ein, ist kleiner als er, hat nur zwei Arme...steht sie alleine da,
so ist sie groß, königlich, mit 4 Armen, und nichts weist mehr auf ihre untergeordnete
Position als Ehefrau hin.
Am schlechtesten dran ist Parvati, die immer nur in Zusammenhang mit Shiva gesehen
wird und eigentlich keinen eigenen Kompetenzbereich hat. In Geschichten wird sie
immer zusammen mit Shiva erwähnt (allerdings viel häufiger, als die anderen
Göttinnen, in Volksmärchen etc....wenn alle Helden tot sind, erscheinen Shiva und
Parvati und gießen Lebenswasser über die Getöteten usw.) Aber alleine tritt sie kaum
auf.
Große Göttin wird oft als "Shakti" bezeichnet (Macht, Kraft), ihre Anhänger als
"Shaktas".
Das Zusammenwirken von männlich/weiblich wird durch das Shiva/Shakti-Modell
ausgedrückt. Shakti, das dynamische weibliche Prinzip, steht im Gegensatz zum
passiven männlichen Prinzip. Shakti ist die weiblich gesehene "Energie" , die mit einer
männlichen Gottheit zusammen auftreten muss - ein Gott muss eine Gefährtin haben,
um "aktiv" zu werden. Die männlichen Gottheiten werden daher also oft zusammen mit
ihrer Gemahlin (ihrer shakti) abgebildet, während die weiblichen Gottheiten auch
alleine bleiben können, denn sie selbst verkörpern ja die shakti, und können daher auch
aus sich selbst heraus wirksam und aktiv werden.
Wenn sie das aber tun, können sie sehr gefährlich werden. Unverheiratete Göttinnen
werden im Vergleich zu verheirateten als wild und leicht erzürnbar gesehen - daher der
Trend, alle Gottheiten zu verheiraten: die männlichen, damit sie aktiv werden können,
die weiblichen, damit sie sanftmütiger werden.
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2. andere indische Religionen
Religionszugehörigkeit
%
Hindus
Muslime
Christen
Sikhs
Buddhisten
Jainas
andere
82,6
11,4
2,4
2,0
0,7
0,5
0,4
Trend: Muslims am stärksten steigend (von 10,60 in 1961 auf 11,35 in 1981), Hindus
leicht fallend (83,52 auf 82,64). Christen Höhepunkt 1971 mit 2,6%
Das 6. vorchristliche Jahrhundert war eine Zeit der inneren Unruhe in Indien. Es
entstanden viele religiöse Sekten, die verschiedene Meinungen bezüglich der Natur
Gottes und der Seele vertraten, über die Beziehung zwischen Gott und Mensch und über
die Wege zur Erlösung Spekulationen anstellten, wobei Erlösung auch damals bereits
vor allem in der Vorstellung bestand, endlich aus dem Zyklus der Wiedergeburten
herausgelöst zu werden. Die Religion der Brahmanen, wie sie uns in den Brahmanas
dargestellt wird, war mechanisch, leblos, formalistisch, und bestand in erster Linie aus
einem umfangreichen Ritual. Viele Menschen lehnten das, genauso wie die immer
häufiger werdenden Blutopfer, ab. Von den zahlreichen Schulen und Sekten, die damals
als Protestbewegungen entstanden , haben zwei als anerkannte Religionen bis heute
überlebt: Buddhismus und Jainismus
- Der Buddhismus ist zwar in seinem Geburtsland Indien heute weitgehend
verschwunden, konnte sich aber in verschiedenen Formen in Ceylon, Tibet, Burma, der
Mongolei, China und Japan durchsetzen.
- Der Jainismus andererseits wurde zwar nicht außerhalb Indiens verbreitet, hat aber in
Indien immer noch seine Anhängerschaft, die verhältnismäßig klein, dafür aber
wohlhabend ist, und die vor allem in Rajasthan und Gujerat anzutreffen ist. Der Einfluss
dieser Religion ist stärker als die verhältnismäßig kleine Zahl der heute lebenden Jainas
vermuten ließe. Früher war die Bedeutung des Jainismus zeitweise bedeutend größer
und die Glaubensgemeinschaft wurde von vielen mächtigen Königen unterstützt.
Beide Religionen entstanden in Magadha unter der Herrschaft des Reichsbegründers
Bimbisara (540 - 490) und seines Sohnes. Obwohl die Lebenswege beider
Religionsstifter durch Legende und Mythologie verschleiert sind, scheinen manche
Fakten gesichert. Beide haben auch gemeinsam, dass sie ihre neuen Bewegungen nicht
aus dem Nichts schufen sondern sich auf Vorgänger berufen konnten, welche die
Grundsteine bereits gelegt hatten.
2.1. Jainismus
Eine strenge, asketische Religion, deren rigorose Haltung den Jainas Nachteile
verschaffte (weniger Anhänger, leichterer Abfall und Rückkehr zum Hinduismus).
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Trotz ihrer auch früher nicht sehr großen Zahl aber eine wohlhabende Kommunität, die
viele zum Teil sehr schöne Tempel errichtet hat (etliche zw. 900 und 1200), die in ihrer
äußeren Form sehr den Hindutempeln ähneln.
Wahrscheinlich die einzige indische Religion, die direkt und ausdrücklich auf die alten
Wanderasketen (shramanas) zurückgeht. Schon im Rg-Veda wird von den "Stillen" und
"Langhaarigen" berichtet, die durch Askese die Erkenntnis suchen. Die Asketen waren
in der frühen vedischen Periode wahrscheinlich eine Minderheit, später werden
Erwähnungen häufiger. Wahrscheinlich entwickelte sich das Asketentum außerhalb der
brahmanisch-vedischen Tradition und war ursprünglich vermutlich nicht-arisch. Es ist
gut vorstellbar, dass die Asketen anfangs als die natürlichen Feinde der Brahmanen
angesehen wurden (Hausvater sollte die Brahmanen erhalten und fördern, ein Asket
wird kein Hausvater). In den Upanishaden (also ab ca.750 v., intensiviert ab 600 v.)
wird aber das Asketentum bereits als höchste Form des religiösen Lebens angesehen.
Behaupteten die frühen Brahmanen, dass vor allem die Durchführung des Opfers die
kosmische Ordnung erhielt, so legten die späteren Inder großen Wert auf Buße. Durch
sie konnte man so viel Kraft ansammeln, dass die Götter im Himmel eifersüchtig
wurden („Dämonen“). Die Tugend eines Asketen konnte eine Stadt vor Feinden
schützen, sodass als einziger Ausweg für einen Sieg galt, diesen Asketen zu
korrumpieren. Die Brahmanen integrierten dann offensichtlich das Asketentum als
"4.ashrama", das allerdings erst dann angestrebt werden sollte, wenn der Mensch seine
"Pflichten der Gesellschaft und den Vorfahren gegenüber" (durch Ehe und
Hervorbringung von Nachkommen) abgegolten hatte.
Jainismus hält am Glauben an die Seelenwanderung fest, lehnt aber die brahmanischen
Institutionen von Kaste und Opfer ab. Genauso wie der Buddhismus verwendete er für
die ursprünglichen Schriften nicht Sanskrit, sondern Pali, die Lokalsprache Magadhas.
Die Bezeichnung Jainas kommt vom Sanskritwort Jina, der Siegreiche, Überwinder,
"Der sich selbst besiegt". Die Jainas, deren Gemeinde aus Mönchen, Nonnen und Laien
besteht, sind "Anhänger des Jina", wobei Jina ein Beiname ist, der den großen Lehrern
gegeben wurde. Diese werden auch als Thirtankara bezeichnet, d.h. "Bereiter einer
Furt" - um den Fluss der Seelenwanderungen überschreiten zu können. Thirtankaras
sind Menschen, die nicht nur selber die Erlösung finden, sondern den Pfad der Erlösung
auch an andere weiterverkünden, d.h. sie predigen das Gesetz, solange sie noch Körper
haben. Nach ihrem Tod werden sie zu Siddhas, das sind Wesen, welche die endgültige
Befreiung erlangt haben und deren reine Geister für ewig auf dem Gipfel des
Universums residieren
In jedem kosmischen Zyklus erscheinen 24 solcher Thirtankaras. Denn auch für die
Jainas ist das Universum ohne Anfang und ohne Ende und geht durch eine unendliche
Zahl kosmischer Zyklen (~ yugas), wobei Phasen des Auf- und Abstiegs einander
abwechseln. Der erste "unserer" 24 Thirtankaras war ein gewisser Rishaba, der "erste
Gesetzgeber" oder "Erste Herr". Nur Legenden geben über ihn Auskunft. Die letzten
drei Jinas aber sind vielleicht historische Persönlichkeiten: der 22. war ein Cousin des
Krishna im Mahabharata-Krieg; der 23. war ein gewisser Parshva (oder Parshvanath),
vielleicht um etwa 850 v.Chr. Der letzte schließlich, der als Begründer des heutigen
Jainismus angesehen wird, war Vardhamana Mahavira (traditionelle Daten nach
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Auffassung der Jainas 599-527, aufgrund geschichtlicher Fakten scheint 540 bis 468
wahrscheinlicher), ein Zeitgenosse Gautamas des Buddha, der mit 624 bis 544 bzw. 564
bis 484 angesetzt wird (letzteres angeblich wahrscheinlicher).
Nach einer Quelle aus dem 3.s. stammte Mahavira aus der Gegend um Patna und war
Sohn eines Adeligen der Lichchhavi (einer der bedeutenden Stämme). Eine Tradition
berichtet, dass er sein Leben lang Junggeselle war, eine andere, dass er eine Prinzessin
heiratete und mit ihr eine Tochter hatte. Mit 28 Jahren jedenfalls zog er sich zurück und
schloss sich einem Asketenorden an, d.h. er wurde ein muni, ein Wanderasket. Damit
folgte er der Tradition, die der Jina Parshva begründet haben soll. Mahaviras Verzicht
war vollkommen; er legte sogar sein Lendentuch ab und zog 12 Jahre lang in
Stillschweigen und Meditation umher. Dabei führte er die schwersten Bußübungen aus.
Nach einem langen Fasten im 13. Jahr versank er an einem Flussufer in tiefe Meditation
und erlangte das absolute Wissen. Das bedeutet, dass er die Welten der Götter,
Menschen und Dämonen vollständig durchschaute; woher die Wesen kamen, in welcher
Form sie wiedergeboren würden...er sah ihre Gedanken und Wünsche, wusste alles über
alle Wesen der Welt. Für ein Geschöpf, das diesen Zustand der Erkenntnis erlangt hat,
gibt es keine Geheimnisse mehr.
Mit Erreichung dieser Allwissenheit (die im Christentum Attribut Gottes ist) hatte sich
Mahavira von den Kräften des karma befreit, die das Rad der Wiedergeburt in Schwung
halten. Er war nun als Thirtankara etabliert und wurde Führer eines Mönchsordens. Das
wird auch durch zeitgenössische buddhistische Schriften bestätigt, in denen er als
"Konkurrent des Buddha" angesehen wird. Mahavira verbrachte die letzten 30 Jahre
seines Lebens damit, seinen Glauben in Magadha und den angrenzenden Gebieten zu
verbreiten. Seine erste Predigt soll er vor Brahmanen gehalten haben, die gerade ein
Opfer darbringen wollten. Er bekehrte sie zum Pfad der Gewaltlosigkeit, und 11 der
Brahmanen wurden seine wichtigsten Schüler, die seine Lehren in mündlicher Form
weitergaben. Von Vorteil war, dass Mahavira mit verschiedenen regierenden
Königshäusern des Gebietes verwandt bzw. verschwägert war, allen voran auch mit
dem von Magadha. Dadurch erhielt er offizielle Unterstützung für seine Lehren, was zu
deren Verbreitung beitrug. Bei seinem Tod zählte seine Anhängerschaft etwa 14.000
Leute (Laien, Nonnen und Mönche); viele von ihnen waren wohl Anhänger des Ordens
des Parshva gewesen. - Mit 72 Jahren starb Mahavira in der Nähe seines Geburtsortes.
Das erste Mönchskonzil der Jainas wurde unter Chandragupta Maurya zu Pataliputra
einberufen, der später nach seiner Abdankung selbst Jainmönch geworden sein soll. Es
wurde damals ein Kanon der autoritativen Schriften zusammengestellt, der aber erst
nach einem weiteren Konzil im 5.s.n. endgültig revidiert und in Prakrit
niedergeschrieben wurde.
80 n.Ch. kam es zu einem Schisma: ein Teil der Gruppe wollte an den strengen, von
Mahavira eingeführten Vorschriften festhalten, auch an der totalen Nacktheit der
Mönche. Durch das Ablegen aller Bande - auch des Gefühls der Scham - sollte ein
Zustand der absoluten Emotionslosigkeit erreicht werden. Eine andere Gruppe führte
dagegen weiße Gewänder ein. Seither sind die Jainas in Digambaras ("mit den
Himmelsrichtungen Bekleideten") und Svetambaras ("Weißgekleideten") unterteilt .
Die Digambaras stellen heute ihre Thirtankaras immer noch unbekleidet dar und haben
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aufgrund ihrer überaus strengen Regeln die meisten ihrer Mönche verloren. Die
Laienschaft wird daher meist durch Mitglieder der eigenen Gemeinschaft, die in
spirituellen Disziplinen weiter fortgeschritten sind, belehrt. Die Svetambaras dagegen
haben immer noch eine große Mönchsgemeinde und entwickelten Praktiken, denen
nach sie die Bildnisse der Jinas mit Silber und Juwelen zu schmücken und zu verehren
begannen. Das führte im 17.s. zu einer Reformbewegung.
Alle Jainas, welcher Richtung sie auch angehören mögen, folgen derselben Lehre, die
besagt:
In der Welt stehen einander zwei ewige Prinzipien gegenüber: das Geistige und das
Ungeistige. Das Geistige besteht aus einer unendlichen Anzahl individueller "Seelen"
(jivas). Das Ungeistige umfasst 5 Kategorien: Bewegung, Ruhe, Raum, Stoff und Zeit.
Der Stoff besteht aus unendlich vielen Atomen. Je nachdem, in welcher Kombination
sie auftreten, entsteht die Vielfalt der Formen des Universums. Die jivas sind an diese
Materie gebunden; das ist aber nicht ihr natürlicher und ursprünglicher Zustand, der
rein, allwissend und frei war. Die Verbindung mit der Materie geschieht als Folge von
karma, wobei der endlose Zustand der Wanderung keinen Anfang hat, denn es gibt
keinen Schöpfergott. - Die an sich gestaltlose Seele bekommt immer wieder eine neue
körperliche Form und legt ihre alte ab; sie ist ewig, da das essentielle Bewusstsein
beibehalten wird. Aufgrund des jeweiligen Körpers ist jiva gewissen Beschränkungen
unterworfen. Nicht nur Menschen, sondern auch Tiere, Pflanzen, Gestein, Wasser etc.
sind beseelt. Die Fähigkeiten der Seele hängen vom jeweiligen Körper ab: "Pflanzen"Seelen spüren nur Berührung; die niedrigsten Lebewesen haben Berührung und
Geschmack als Sinne, die Insekten dazu den Geruchssinn. Alle höheren Wesen haben
zusätzliche Fähigkeiten, die sie aber am Ende ihres jeweiligen Lebens verlieren können,
wenn sie absinken, genauso wie niedrige einen höheren Zustand erlangen können,
wobei alle dem ewigen Gesetz des karma folgen. Mit der Annahme von jivas (Seelen)
in Gegenständen, die sonst als unbelebt angesehen werden, überschreiten die Jainas die
Grenzen des Hinduismus oder der buddhistischen Vorstellungen weit.
Die kanonischen Texte der Jainas beschäftigen sich ausführlich mit der karma-Lehre
und den Handlungen, die bestimmtes karma bedingen, wobei die Auswirkungen
kurzfristig oder aber auch über lange Zeiträume hinweg ausgedehnt sein können. Vor
allem Leidenschaft und Tätigkeiten/Aktivität halten das Rad der Wiedergeburt in
Schwung, und jede Seele hat schon unzählige Male den ganzen Spielraum materieller
Existenzen durchlebt. Jeder Punkt im Universum war schon einmal Geburtsort einer
jeden Seele. - Diese Seelenwanderung mag ohne Anfang sein, sie kann aber ein Ende
finden: das wird nicht automatisch erreicht und ist kein Gnadenakt einer Gottheit,
sondern der Weg dahin wurde von den Thirtankaras erkannt, die ihn aus Mitleid den
anderen Wesen zeigen. Wer ihm folgt, kann die Allwissenheit und Befreiung erlangen.
Erlösung erreicht man nur, indem man den Zufluss neuen karmas unterbricht. Das setzt
den rechten Glauben, das rechte Wissen und das rechte Handeln voraus.
Diese drei Prinzipien werden auch als die "Drei Juwelen" des Jainismus bezeichnet. Zu
verstehen ist darunter
- der Glaube, dass es nichts Absolutes gibt
- das Wissen um die Wirksamkeit der Taten
- das Handeln vor allem nach dem Prinzip von ahimsa (Gewaltlosigkeit), wobei das
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ahimsa-Prinzip (also Nicht-töten) nicht mit den Pflichten einer Person in Konflikt
geraten darf, d.h. der König oder Richter muss einen Mörder zum Tode verurteilen, da
der Mörder die Lebensrechte eines anderen Wesens negiert hatte. Genauso muss der
Soldat auf dem Schlachtfeld töten, weil das seine Pflicht ist....
Um die Läuterung der Seele voranzutreiben, unterziehen sich die Jainas fünf großen
Gelübden:
- kein Wesen zu verletzen
- nicht zu lügen
- nicht zu stehlen
- sexuelle Enthaltsamkeit zu üben für Mönche, für Laien: den Ehebruch zu meiden
- besitzlos zu bleiben für Mönche (für Laien: unnötigen Besitz zu meiden).
Im Vordergrund steht wohl auch hier der Schutz aller Lebewesen. Alles Leben ist heilig
und unverletzbar, auch das von unglücklichen Geschöpfen, die als Tiere geboren
wurden und auf diese Art die Folgen ihres eigenen karma erleiden. Jaina-Schriften
beklagen die Sitte des Fleischessens, und das verbreitete Vegetariertum in Indien geht
großteils auf die Betonung der Jainas zurück, dass es falsch sei, Leben zu vernichten,
gleichgültig aus welchen Gründen: aus Vergnügungssucht (Jagd), um sich zu ernähren
oder als Opfer.
Während die Brahmanen früher Tieropfer akzeptierten und verschiedenes Fleisch aßen,
und auch die Buddhisten oft Fleisch essen bzw. zumindest aßen, wenn es von anderen
zur Verfügung gestellt wurde, ist den Jainas Fleischgenuss absolut verboten. Auch Eier,
Alkohol und Honig, sowie Früchte mit vielen Samen,(Zwiebel, Karfiol), oft auch
fermentierte Milchprodukte, sind verboten. Man darf nicht nach Sonnenuntergang essen
(wegen Insekten) usw...
Kein Beruf darf ausgeübt werden, der in großem Maße die Zerstörung von Pflanzen
beinhaltet, den Gebrauch von Feuer oder Giftstoffen; auch Handel mit Sklaven und
Tierzucht war verboten. "Die Laien konnten sich wegen ihres rigorosen
Gewaltlosigkeitsgebots weder dem Ackerbau (beim Pflügen könnten Lebewesen
verletzt werden) noch der Kriegskunst widmen. Sie wandten sich dem Handel und
Bankgewerbe zu, und da sie zugleich einer asketischen Lebensweise verpflichtet
blieben, haben sie ihre Gewinne häufig in prächtigen Tempelbauten und öffentlichen
Einrichtungen (Schulen, Spitäler...) angelegt" (RM 153)
Ein Mensch, der sich in seinem Glaubensleben weiterentwickelt hat, sollte überhaupt
jeden Beruf aufgeben und als letzten Schritt auf alles verzichten: auf Familie, Eigentum,
Bürgerrechte, und bei den Digambaras auch auf sein Gewand. Der Betreffende wird mit
großem Pomp zu einem Tempel geführt, wo er in den Orden initiiert wird. Dort reißt er
sich sein Haar büschelweise aus um zu zeigen, dass er physischem Schmerz gegenüber
unempfindlich ist. Er erhält einen neuen Namen und einen Besen, mit dem er Insekten
von seinem Weg kehren kann und der auch als Zeichen für seinen Asketenstatus dient.
Eine Svetambara-Gruppe trägt wegen der Insekten auch ein Tuch vor dem Mund. Der
Betreffende muss von nun an um sein Essen betteln und darf außer in der Regenzeit an
keinem fixen Platz leben. Er darf keine Verkehrsmittel benützen, keinen Schirm und
keine Sandalen. Er muss die Schriften studieren, durch Schweigen, Fasten und
Meditation Buße tun und so den Zufluss neuen karmas unterbinden. Wenn er sein Ende
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nahen spürt, soll er den Tod durch Fasten herbeiführen und in Frieden sterben. Ein
solcher Aspirant ist dem endgültigen Ziel näher und wird den Zyklus der
Wiedergeburten brechen und den Zustand der Erlösung gewinnen.
Erlösung wird also nur durch die Einhaltung der Vorschriften und nicht z.B. durch die
Verehrung von Gottheiten erlangt - erstens, weil deren Existenz geleugnet wird,
zweitens weil solche Verehrung mit Leidenschaften und Gefühlen verbunden wäre. Ein
wahrer Jain nimmt sich daher nur einen Jina zum Vorbild, d.h. einen der allwissend und
leidenschaftslos ist, weil er allen Besitz und alle Bindungen abgelegt hat. In JainaTempeln gibt es keine Gottheiten sondern nur Statuen der Thirtankaras, die aber
gebadet werden, vor denen man Lampen schwingt und Hymnen singt und besondere
Momente in ihrem Leben feierlich begeht (ihre Geburt, Erleuchtung ...). Der
Volksglaube behandelt sie damit genauso, wie sonst die Götter in den Hindu-Tempeln
„betreut" werden.
Obwohl die Jainas theoretisch der Weltentsagung huldigen, bezeichnen sie etliche der
Könige des antiken Indiens als Anhänger ihres Glaubens. Beispiele schöner
Tempelarchitektur zeigen uns, dass ihre Anhängerschaft bedeutend gewesen sein muss.
Besonders zu erwähnen sind die Jaina-Tempel am Mt.Abu in Rajasthan, mit
wunderschöner Marmorarbeit.
Die Jaina-Mönche waren immer wegen ihrer Gelehrsamkeit bekannt und hatten
ausgezeichnete Bibliotheken mit seltenen Büchern aus den verschiedenen
Wissensgebieten. Jainas lieferten wichtige Beiträge zu den Gebieten der Logik und
Philosophie. Ihr Einfluss in Indien war immer stark und es gelang ihnen sogar, die
Moghulen davon zu überzeugen, an gewissen Jainfeiertagen das Schlachten von Tieren
zu verbieten. Bis in die Gegenwart ist ihr Einfluss spürbar. Dass Mahatma Gandhi seine
Lebensphilosophie auf die Grundlagen der Wahrheit und des Gewaltverzichts stellte, ist
auf den Einfluss eines Jaina-Heiligen zurückzuführen.
2.2. Buddhismus
Religionsgründer: Gotama (Gautama) Siddharta. Seine Familie gehörte zu einem
Kshatriya-Clan, den Shakya. Einer der Titel Siddhartas lautet daher Shakyamuni, "der
Weise der Shakyas". Am bekanntesten aber ist sein Ehrentitel " Buddha" (der
Erleuchtete). Buddhas erscheinen im Laufe der Geschichte von Zeit zu Zeit und werden
das auch weiter tun, immer dann, wenn das Wissen um die göttlichen Gesetze
schwindet. Ungefähr passiert das alle 5000 Jahre. Die buddhistische Tradition erinnert
sich an die letzten 24 Buddhas, die dem Gautama vorangingen - also über einen
Zeitraum von 120.000 Jahren. Die früheren Buddhas waren keine historischen
Persönlichkeiten.
Über Gautamas Leben wissen wir vor allem durch Pali-Schriften Bescheid. Er wurde
(um 567 v.?) als Sohn des Suddhodhana, des Herrschers des Shakya Clans von
Kapilavastu, im nepalesischen Tarai geboren. Seine Mutter Maya starb, als er sehr klein
war, und er wurde von seiner Stiefmutter Gautami aufgezogen - daher sein Name
Gautama. Bei seiner Geburt sollen Astrologen vorhergesagt haben, dass er entweder ein
außergewöhnlich großer Herrscher oder ein großer spiritueller Führer werden würde.
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Sein Vater wollte ihn als großen König sehen und ließ ihm die entsprechende Erziehung
angedeihen. Als Prinz wuchs Siddharta in Luxus auf, war aber trotzdem immer
gedankenvoll und ernst. Um ihn zu erfreuen, verheiratete der Vater den 19-jährigen mit
einer schönen Prinzessin, Siddhartas Cousine Yashodhara, mit der er einen Sohn Rahul
hatte. Mit 29 Jahren wurde Gautama aber seines Genusslebens im Harem, seiner
Familie und seiner üppigen Gärten überdrüssig. Gedanken an Alter, Krankheit und Tod
bestimmten ihn, seinen Palast zu verlassen, sich Haar und Bart abzuscheren und im
gelben Gewand der Wanderasketen in die Welt zu ziehen. Er unterzog sich den
härtesten Bußübungen, ohne Befriedigung zu finden.
Nachdem er im Jahre 528 v. in Bodh Gaya im Lande Magadha eine Nacht unter einem
Feigenbaum durchwacht hatte, erlangte er endlich die Erkenntnis, die ihm durch heilige
Lehren und Buße nicht zuteil geworden war. Gautama war zum Buddha, zum
Erleuchteten, geworden, weil er von sich behaupten konnte, das höchste Wissen über
spirituelle Dinge erlangt zu haben (das wird als bodhi bezeichnet - bodhi-Baum: Baum
der Erkenntnis). Er weiß nun, dass reine Askese nutzlos ist und lehnt die strengen
Bußübungen ab, die von den Jainas vorgeschrieben werden. Andererseits verdammt er
aber auch das Leben der Genüsse, das viele Brahmanen führen. Er hat erkannt, dass der
"Mittlere Weg" zwischen beiden Extremen der ist, der zum Ziel führt. Der Buddha
beschließt, den Rest seiner Tage damit zu verbringen, die von ihm in Meditation
erkannte Wahrheit zu verbreiten.
Mit seinen ersten 5 Anhängern begab er sich in die Gegend von Benares und begann
dort seine Tätigkeit des Lehrens. Bald gewann er eine große Anhängerschaft und
gründete einen Orden von Mönchen, die der Welt und ihren Leidenschaften entsagten
und die Lehre ihres Meisters verkündeten. 45 Jahre lang durchwanderte Gautama das
westliche Bengalen, verehrt von Fürsten und vom Volk. Er verstarb mit 80 Jahren, aber
sein Todesjahr kann nicht eindeutig festgelegt werden, wird oft mit 478 oder 483
v.angenommen; nach der Verbrennung des Leichnams wurde seine Asche an 8 Clans
verteilt, die Reliquientürme (stupas) darüber erbauten.
Auch die Lehre des Buddha beruht auf dem Glauben an Wiedergeburt. Nach dem
physischen Tod lebt nur das "innere Organ", das Organ der Erkenntnis, weiter. Es heißt
manas. Wenn der Mensch stirbt, geht sein manas in einen anderen Körper über, der
eben geboren wird, und zwar aufgrund der Taten, die er in seinem früheren Leben
begangen hatte, auch in einen niedrigeren (z.B.Tier) oder einen höheren (König oder
Gottheit).
Höchstes Ziel ist die Befreiung von der Wiedergeburt, die durch gutes karma erlangt
werden kann. Um gutes karma zu erwerben, ist eine streng moralische Lebensweise
notwendig. Reinheit der Taten, Werke und Gedanken wird verlangt und 10 Gebote
müssen eingehalten werden. Die wichtigsten sind: Lebewesen nicht zu töten oder
verletzen, nicht zu stehlen, nicht zu lügen, sich von Rauschmitteln fernzuhalten, keinen
Vergnügungen wie Tanzen zu frönen, keine Girlanden und keinen Schmuck zu
verwenden, auf keinem Bett zu schlafen. Für Mönche ist auch der Zölibat vorgesehen,
für Laien gibt es strenge Eheregeln, doch die Ehe ist die "zweitbeste" aller Lösungen,
die beste, sich einem Orden anzuschließen. Für Frauen gab es Nonnenorden, deren
Gründung der Buddha selbst in späteren Lebensjahren nur sehr widerwillig zugestimmt
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haben soll. Sie waren nie so wichtig wie die Männerorden, auch wenn es manche
herausragende Nonne gab, die u.a. auch Dichtungen verfassten.
Die Lehre des Buddha geht davon aus, dass alles in der Welt Leiden ist - Geburt, Alter,
Krankheit, Tod. Vereinigung mit Unliebem, Trennung von Liebem, Erwünschtes nicht
Erlangen...Das Leiden entsteht durch den "Durst", den Willen zum Leben, der durch die
sinnliche Welt im Menschen erzeugt wird, und durch das Wohlgefallen an den Dingen,
die uns begegnen. Gelingt es, Durst und Wohlgefallen zu unterdrücken, dann ist das
Leiden besiegt. Die Lehre des Buddha zeigt den Weg dahin und damit den Weg,
Bindungen zu lösen, die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten zu erlangen
und damit das Nirwana, den Zustand des "Verwehens", zu erreichen.
Als Weg dahin verkündet der Buddha die "vier edlen Wahrheiten" und den "achtfachen
Pfad", welche die Kernpunkte seiner Lehre bilden:
Die vier edlen Wahrheiten lauten:
(1)- Die Welt ist voller Leiden.
(2)- Wünsche und Begierden sind die Hauptursachen des Leides
(3)- Man kann sich vom Leid befreien, indem man die
Leidenschaften/Wünsche/Begierden abtötet
(4)- Das kann geschehen, indem man dem achtfachen Pfad folgt, in dem folgende
Prinzipien am wichtigsten sind:
1. richtiger Glaube
2. richtiges Denken
3. richtige Rede
4. richtige Handlungsweise
5. richtige Lebensweise
6. richtiges Streben (nach der vollkommenen Erkenntnis)
7. richtige Achtsamkeit
8. richtige Versenkung
Die Erlösung erfolgt in mehreren Stufen: Wer die vorgeschriebenen Gebote befolgt, ist
ein Bekehrter; gelingt es dann, Durst, Hass und Selbsttäuschung zu überwinden, gelangt
man auf die Stufe des "einmal Wiederkommenden", d.h. man wird nur noch einmal
wiedergeboren, als Mensch oder Gott; auf der dritten Stufe ist man ein Anagamin, man
kehrt nicht mehr in dieser Welt wieder sondern wird nur noch im Götterhimmel
geboren. Die 4. und letzte Stufe ist die des Arhat, der frei ist von jedem Verlangen,
erfüllt ist von Liebe zu allen Wesen. Er wird nie mehr wiedergeboren, sondern geht ins
Nirwana ein. Nur der Mönch, der die Welt flieht, kann sie erlangen.
Trotz dieser strengen Vorschriften kann man sich den Buddhismus im antiken Indien
aber als eine Religion vorstellen, die eine recht fröhliche Lebensweise gestattete, wie
das z.B. im heutigen Burma der Fall ist.
Schon ein Jahr nach dem Tod Gautamas entstanden viele verschieden Sekten. Beim
ersten Konzil im selben Jahr gab es bereits große Meinungsverschiedenheiten. Bei
einem Konzil ein Jahrhundert später wurden 10.000 ketzerische Mönche
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ausgeschlossen. - Später kam Chandragupta Maurya an die Macht, ein Herrscher von
niedrigster Kaste. Der Buddhismus, für den es keine Kastenunterschiede gibt, erschien
ihm die geeignete Religion. Sein Enkelsohn Ashoka machte den Buddhismus zur
Staatsreligion und suchte ihn durch seine Edikte überall zu verbreiten. Die
Freigiebigkeit des Kaisers für den Orden bewirkte, dass die Klöster von einer Unzahl
übler Elemente überrannt wurden, die Zucht und Lehre untergruben. Das 3. Konzil von
Pataliputra 245 v. suchte diesem Übel gegenzusteuern. Zur selben Zeit nahmen infolge
der Machtpolitik der Maurya-Dynastie der Handel und damit auch die Missionstätigkeit
des Buddhismus in fremden Ländern sehr zu. Besondere Bedeutung für die Kunst hatte
die Bekehrung der griechischen Fürsten der Provinz Baktrien. Aus der griechischen
Provinzialkunst Baktriens entwickelte sich im Dienste des Buddhismus jener
indogriechische Kunststil von Gandhara, dem die buddhistische Kunst in Indien ihre
größten Anregungen verdankt. Auf alten Karawanenstraßen zogen die Mönche aber
auch nach Ostasien - China wurde im 4.s., Korea im 6.s. erreicht; Tibet wurde dem
Buddhismus um 650 n. erschlossen.
Etwa zu Beginn unserer Zeitrechnung, vielleicht auch schon früher, wurde Gautama
dann als Inkarnation eines ewigen, himmlischen Buddha angesehen. Diese
Glaubensrichtung wird als Mahayana (großes Fahrzeug) bezeichnet, im Gegensatz zum
Hinayana (kleines Fahrzeug), in dem das göttliche Element nicht behandelt wird. In
späteren Jahrhunderten wurden auch Heilige, sogenannte Boddhisattvas, als
Gnadenspender verehrt, vor ihren Statuen wurden Rituale vollzogen.
Buddhismus - Jainismus – Hinduismus
Buddhismus wie Jainismus waren Reformbewegungen, die vorerst dazu dienen sollten,
den Hinduismus zu reformieren. Weder Gautama noch Mahavira dürften von Anfang an
die Absicht gehabt haben, eine neue Religion zu begründen. Beide predigten ahimsa,
waren gegen die Blutopfer, gegen das Kastensysten, gegen die Veden, und gegen
Sanskrit als Sprache der Religion. Mahavira wie auch Buddha stellten die Überlegenheit
der Brahmanen in Abrede. Ihre Anhänger mussten allerdings nicht die Verehrung der
Hindugottheiten aufgeben, für die sowohl Jainas als auch Buddhisten immer
Hochachtung empfanden (viele Hindu-Gottheiten, vor allem weibliche, werden von
Buddhisten und Jainas, "die sich noch auf einer niedrigeren Stufe befinden", verehrt).
Der Jainismus hat sich nie ganz von seinen Wurzeln lösen können, und manche Jainas
bezeichnen sich selbst als Hindus, wenn das auch nicht der offiziellen Auffassung der
Jainas entspricht. Vielleicht ist das mit ein Grund, warum sich der Jainismus nie
außerhalb Indiens durchsetzen konnte.
Der Buddhismus dagegen war immer unabhängiger. Keinem Buddhisten würde es
einfallen, sich als Hindu zu bezeichnen. Dabei standen sicher nicht die zu verehrenden
Gottheiten im Vordergrund. Buddha glaubte wie die Hindus an Wiedergeburt und an die
Meditation als Weg zur Erlösung; Tempelrituale und Priester lehnte er allerdings ab und
hielt die Götter selbst für unvollkommene, erlösungsbedürftige Wesen. Die Erleuchtung
käme nicht durch Gott, sondern durch das eigene Denken und Fühlen. Selbst damit geht
er aber konform mit manchen hinduistischen Schulen, nach denen das Absolute nur in
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der Unaussprechlichkeit des Yoga "erlebt" werden könne: es offenbart sich dem
Menschen direkt durch Meditation. Sei der Mensch noch nicht so weit, könne er sich in
Schwierigkeiten anfangs an die "vertrauten Hindugötter" mit der Bitte um Hilfe
wenden. - Aus all diesen Gründen hätte es also noch nicht zu einer völligen Loslösung
vom Hinduismus kommen müssen. Buddha konnte vor allem deswegen nicht Hindu
sein, weil er die religiös geprägte Sozialordnung ablehnte. Das ist auch heute bei den
Buddhisten noch viel stärker spürbar als bei den Jainas, die inzwischen auch wieder eine
Art Kaste bilden. In Konflikt zur Orthodoxie geriet Buddha also durch die Ablehnung
des Kastensystems und die Aufnahme "niedriger" Personen in seinen Orden. Im Laufe
der Jahrhunderte wurden manche buddhistische Richtungen in vielen Bereichen dem
Hinduismus sogar immer ähnlicher. Mit intoleranter Härte wurden sie dennoch
bekämpft - weil die Hindus durch den Buddhismus ihre "ewige" sozialreligiöse
Kastenordnung bedroht sahen.
2.3. Sikhismus
Sikhismus ist nicht viel älter als 500 Jahre und damit eine der jüngsten Religionen der
Welt. 80% der Sikh leben noch im Ursprungsgebiet der Religion, im heutigen Punjab.
Die Religion entstand aus einer Reformbewegung des Hinduismus, zu dem immer noch
enge Bindungen bestehen
begründet durch Guru Nanak, der 1469 in der Umgebung von Lahore in einer
Kshatriya-Familie geboren wurde. In seine Lebenszeit fällt der Einfall Baburs in Indien,
der die Dynastie der Großmogulen begründet (Babur 1483-1530). Etwa um 1500
verließ Nanak nach einem Offenbarungserlebnis seine Ehefrau und zwei Söhne: er
vernahm eine Stimme, die ihn anwies, im Glauben an einen einzigen Gott in Reinheit,
Andacht, Dienen und Barmherzigkeit zu leben und zu predigen. Er begann das Leben
eines Wanderasketen, wurde als guru angesehen und seine Anhänger als sikhs (Jünger,
Schüler, von sikhna-lernen). Er gründete ein Dorf auf einem ihm geschenkten Stück
Land am Ravi-Fluss und starb dort vermutlich 1539.
Seine Lehre wird manchmal zu vereinfachend als eine "Mischung aus Hindu-und
Muslim-Glauben" angesehen. Eher richtig scheint es, sie auf die nordindische SantaTradition zurückzuführen, von denen der Dichterphilosoph Sant Kabir einer der
wichtigsten Vertreter gewesen war. Kabir wollte zwischen Hinduismus und Islam
vermitteln und strebte eine "Einheits"religion an. Deren Kernlehre ist die "liebende
Hingabe an Gott" (bhakti), wobei die Innerlichkeit der Verehrung in den Vordergrund
gestellt wird.
Als Ersatz für die Riten, Idole und Tempel der Hindus bot Nanak seinen Anhängern die
Formel "nam dan isnan" an:
- nam = „Name“, bezeichnet das Meditieren über den göttlichen Namen
- dan = „geben″, bezeichnet das Verteilen von Almosen
- isnan: damit wird eine reine Lebensweise bezeichnet.
Nanak bejahte die diesseitige Welt und das Streben nach Macht, Wohlstand und
Prestige - allerdings gilt das Gebot des Teilens. Schönes Beispiel dafür sind die
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Freiküchen, die in jedem Sikh-Tempel unterhalten werden: Angehörige aller Kasten
können hier umsonst essen. Auch unbezahlte Arbeit fällt unter dieses Prinzip: die
meisten Tempel werden/wurden von Leuten ohne Arbeitsentgelt erbaut und instand
gehalten und gereinigt. ...materieller Erfolg stützt also die Gemeinschaft, jeder leistet für
ihr Wohlergehen seinen Beitrag. Passives Hinnehmen eines vorgegebenen Schicksals ist
im Sikhismus verpönt, auch wenn prinzipiell Glaube an karma und samsara nicht
abgelehnt werden; aber die Möglichkeiten des Individuums, Erlösung durch
Ausbrechen aus dem Kreislauf der Widergeburten zu finden, werden als viel größer
angesehen als bei anderen Religionen.
Guru Nanak sieht Gott als einen persönlichen Gott, den transzendenten Schöpfer, zu
dem der Heilssuchende in Beziehung treten muss. Für ihn ist Gott "gestaltlos, ewig,
unbeschreiblich"; man kann IHN nicht erkennen, da er jenseits des Verständnisses der
sterblichen Menschen ist; trotzdem ist er aber nicht ganz unerkennbar, denn er offenbart
sich in seiner Schöpfung, er ist "überall gegenwärtig", in jedem Geschaffenen enthalten
und daher für einen spirituell entwickelten Menschen doch überall sichtbar. In diese
Richtung müssen die Meditationen gehen; zunehmendes Erkennen führt schließlich zur
Erlösung. Sonst bleibt man in der Welt gefangen; denn der größte Feind ist maya, die
Unwirklichkeit. Das hat nichts mit den hinduistischen Vorstellungen von maya als der
"letztlichen Unwirklichkeit der Welt selbst" zu tun, sondern maya ist hier die
Täuschung, die uns die Dinge der Welt als zu wichtig erscheinen lässt. Solange wir uns
nicht von ihr lösen, bedingt das Wiedergeburt und Tod und somit Trennung von Gott.
Der Mensch aber, der die göttliche Ordnung des Universums begreift und sich mit ihr in
Einklang bringt, findet Erlösung.
Da Nanak an einen unsichtbaren Gott glaubte, gibt es keine Bildnisse in Tempeln,
sondern nur Ornamente. Dieser "eine" Gott ist aber dem hinduistischen All-Einen, aus
dem alle "Götter" hervorgehen, ähnlicher als Allah oder Christus - daher kein
Widerspruch, wenn Sikhs Götterbilder verwenden (oft Ganesha oder Lakshmi...). Auch die Sikhs lehnen die Kasten ab und stellen sich damit außerhalb der HinduSozialordnung, von vielen Hindus werden sie aber nur als "besondere Glaubensform
innerhalb des Hinduismus" eingestuft (erhalten daher auch SC Privilegien).
Die direkte Nachfolge Guru Nanaks traten neun weitere gurus an, sodass sich die
Gemeinschaft bis 1708 jeweils um eine zentrale Persönlichkeit scharen konnte. In den
ersten 200 Jahren wurde der Sikhismus auch ausgebaut - Institutionen, Riten,
Pilgerstätten wurden geschaffen. Der dritte Guru, Amar Das, legte neue Zeremonien für
Hochzeiten, Geburten, Tode fest und erklärte drei Hindu-Feste zu Sikh-Festen.
Während seiner Amtszeit begann sich die Lehre in die ländlichen Gebiete auszudehnen
und dort eine starke Anhängerschaft zu finden.
Der Schwiegersohn des Amar Das begründete die Stadt Amritsar. Bedeutend war
dessen Sohn, der 5.guru Arjun Dev, der Hymnen verfasste, sie mit Hymnen seiner
Vorgänger sowie mit Schriften muslimischer und hinduistischer Heiliger
zusammenfasste und damit das heilige Buch der Sikhs, den Granth Sahib oder Adi
Granth, schuf (enthält auch Hymnen Kabirs und anderer). Er legte auch den Grundstein
für das größte Heiligtum der Sikhs, den Goldenen Tempel von Amritsar. Im
Tempelbereich liegen sowohl das spirituelle wie auch das weltliche Zentrum der Sikh-
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Gemeinschaft: dort werden auch Beschlüsse gefasst, die die säkularen Belange der
Gemeinschaft betreffen.
Zu Arjuns Zeit erregte die immer stärker werdende Sikh-Bewegung erstmals die
Aufmerksamkeit der Moghul-Autoritäten. Auf Befehl des damaligen Moghulkaisers
Jehangir wurde Guru Arjun verhaftet und 1606 zu Tode gefoltert. Er war der erste einer
großen Zahl von Märtyrern, die für die Gemeinschaft von großer Bedeutung sind.
Dieser Tod und kleinere Scharmützel mit Truppen der Moghul-Truppen veranlassten
den 6.guru, die politischen und militärischen Aktivitäten der Sikhs auszubauen. Die
Gemeinschaft erlebte dadurch einen bedeutsamen Wandel von einer pazifistischen
Sekte zu einem kriegerischen Orden. Der 6. guru ordnete das Tragen von Waffen an.
Dazu kam, dass sich viele Jats zu den Sikhs hingezogen fühlten. Die Jats sind eine
ländlich-agrarische Gemeinschaft mit einer ausgeprägten martialischen Tradition. Die
Moghulen wollten der Erstarkung einer von kriegerischen Jats geprägten Sekte nicht
tatenlos zusehen.
Der Konflikt mit den Moghulen flammte in der Zeit des 9.guru, Tegh Bahadur, heftig
auf. Er weigerte sich, den Islam anzunehmen und wurde 1675 auf Befehl des Aurangzeb
hingerichtet. Er beschwor seinen Sohn, ihn zu rächen. Dieser, der 10. und letzte guru
Gobind Singh einte die Sikhs zu einer homogenen Kriegergemeinschaft. Er entwickelte
das Initiationsritual, bei dem alle aus einer Eisenschale den amrita trinken
(Zuckernektar) und sich zu einer egalitären Gemeinschaft vereinigen. Durch diese
Zeremonie erhalten die Männer den Nachnamen SINGH (Löwe), Frauen KAUR
(Prinzessin, Löwin). Er erließ eine neue Kleiderordnung, damit sich die Sikhs von
Hindus und Muslims unterschieden (Turban über dem Haarknoten), und er ließ
schwören, die "fünf K" zu befolgen:
- niemals das Kopf und Barthaar zu schneiden (kes)
- das Haar mit einem Kamm (kangha) zu befestigen
- einen Eisenarmreif (kara) am Handgelenk zu tragen
- einen Dolch (kirpan) bei sich zu tragen
- eine kurze Militärhose (kuchha) - heute zum "Lendentuch" umgedeutet - zu tragen
Den Höhepunkt ihrer Macht erreichten die Sikhs unter Ranjit Singh (1781-1839), dem
es gelang, sich sogar zum König krönen zu lassen und einen theokratischen Militärstaat
zu errichten. Den Engländern begegnete er offensiv, zwischen 1810 und 1820 konnte
das Sikh-Territorium verdoppelt werden. Erst nach seinem Tod und durch
Nachfolgekämpfe geschwächt, wuchs der Druck der Briten. Nach zwei Anglo-SikhKriegen 1845/46 und 1848/49 wurde die britische Herrschaft auch im Punjab gefestigt.
die Sikhs heute:
sind heute verhältnismäßig gut gestellt (Wert auf Bildung; "freier" als Hindus...stark in
Militär und im Sport vertreten, viele Taxifahrer, Air Force - viele auch abgewandert,
weil flexibler als Hindus. Im Punjab 50% der Bevölkerung Sikhs,
1985 Tod Indira Gandhis durch Sikh-Leibwächter - kein Glaubenskrieg, sondern
politische und wirtschaftliche Spannungen. Dass sich Sikhs heute teilweise gegen das
Zentrum abgrenzen und sogar einen eigenen Staat Khalisthan (Land der Reinen)
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fordern, hat wenig mit religiösen Konflikten zu tun: sie sind im Punjab wirtschaftlich
erfolgreich und wollen bessere Bedingungen für ihr Gebiet. - 1984 befahl I.Gandhi, den
Goldenen Tempel von Amritsar zu stürmen, weil sich radikale Separatisten und
Terroristen dort verschanzt hielten - 600 Tote blieben auf der Strecke. Der Mord an der
Regierungschefin ("aus verletzten religiösen Gefühlen") und Unruhen waren die Folge.
2.4. Parsismus
Parsi heißt "Perser", bezieht sich auf jene Perser, die im 10.s. aus dem Iran flohen, um
der islamischen Unterdrückung zu entkommen. Mit etwa 70.000 Mitgliedern die
kleinste religiöse Kommunität, die aber doch einflussreich und wichtig ist. Hauptanteil
in Bombay, Pune, Rest in Gujerat und anderswo.
Berufen sich auf Zarathustra od.Zoroaster, der im NO des Iran gelebt hat und viel von
indo-iranischen Traditionen in seine Lehren einbezogen hat - daher manche
Ähnlichkeiten mit der vedischen Tradition (Bedeutung des Feuers in Veden und
Avesta,dem heiligen Buch der Zarathustraanhänger; Reinheitsgebote, Bedeutung der
Priester...). Z. hatte Visionen Gottes (Ahura Mazda); auf dieser Grundlage lehrte er,
dass Gut und Böse zwei entgegengesetzte Realitäten seien. Der Mensch müsse sich für
eine entscheiden und werde dementsprechend nach seinem Tod gerichtet.
Die Lehren sind in Hymnenform im Avesta erhalten. Die Religion des Z. war
Staatsreligion unter den Achämeniden, Parthern und Sassaniden, und damit für ein
Jahrtausend lang wahrscheinlich die wichtigste Religion der Welt. Ab dem 7./8.s.n.
wurde Persien zügig islamisiert, und im 9. oder 10.s. verließen treue Z.-Anhänger den
Iran. Geführt von einem Astrologen-Priester erreichten sie Indien (Gujerat) und sahen
ihre Ankunft dort als Gottes Wille an. (Noch heute sprechen und schreiben sie Gujerati,
die Frauen tragen den Sari im Gujerati-Stil). Ein Hindu-Fürst gab ihnen Land unter der
Bedingung, dass sie die lokale Sprache annehmen, die lokalen Heiratssitten beachteten,
und dass sie keine Waffen trügen. Sie durften einen Tempel bauen und bis heute
ungestört ihre Religion ausüben.
Als die Muslims einfielen, kämpften sie zusammen mit den Hindus. Als dann die
Engländer 1662 Bombay übernahmen und die Stadt als Handelszentrum aufbauen
wollten, folgten viele Parsen der Einladung der Briten. Zu Beginn des 19.s. besaßen sie
viel Land und hatten Schlüsselpositionen (z.B. im Hafen) inne und die Kommunität
florierte. Ein Parse war der erste Inder, der in England geadelt wurde; ein anderer
(Dadabhoy Naoroji) das erste Member of Parliament in England. Einer gründete die
Indische Central Bank, wichtig in Handel, Industrie, Großunternehmen....Ungeheuer
gebildete Kommunität, gründeten viele Schulen, Spitäler, Altersheime etc.
Letzten Jahrzehnte: starke Bevölkerungsabnahme (zw.1971 und 81 um 20%:
Geburtenkontrolle; starke Auswanderung der Gebildeten/Jungen; Mädchen, die
hinausheiraten, sind nicht mehr "Parsi" - absolut keine Missionstätigkeit - im Gegenteil,
Abschotten gegen alle Nicht-Parsen... nicht unbedingt arranged-marriage, weil sehr
verwestlicht und offen). Durch Verstaatlichung Verlust von Banken, Air India,
Landverlust durch neue Gesetze....trotzdem noch Tata, Godrej (Südasiens größtes
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Privatunternehmen) in Privatbesitz von Parsen; hohe Posten im Militär; Beiträge auf
Gebiet d.Atomindustrie, Kunst (Zubin Mehta….
Konzept der rituellen Reinheit für Parsen bedeutsam - Reinheit ist "Teil der
Göttlichkeit". Tod ist die Waffe, mittels derer "das Böse die Schöpfung Gottes
vernichtet" - der größte Sieg des Bösen ist der Tod eines Menschen. Alles was zum Tod
führt oder "tot" ist (Verfaulendes, etc.) ist "unrein". Was den Körper verlassen hat, ist
tot und daher unrein (Blut, abgeschnittenes Haar, Samen, Urin...). Gott schuf die Welt
in einem vollkommenen, reinen Zustand; es ist Aufgabe des Menschen, sie in dieser
Form zu erhalten (erste "ökologische" Religion!!).
Verehrung des vollkommen reinen Gottes darf nur im Zustand der Reinheit (moralisch,
geistig, physisch) durchgeführt werden. Vor allem Priester müssen diesen Zustand
besonders anstreben. Frauen während der Menstruation sollen Kontakt mit Heiligem
meiden (Priester, Tempel, Feuer), wobei der Frau diese Unreinheit nicht als
"Verfehlung" angesehen wird (anders als bei Hindus - Brahmanenmord), sondern Frau
ist das Opfer (das Böse zerstört Leben; Körper der Frau ist Lebensquelle, daher ist sie
besonders den Angriffen des Bösen ausgesetzt). Meisten Religionen haben
Reinheitsvorschriften in Zusammenhang mit Menstruation und Geburt; Parsen
begründen diese Gesetze aber logisch. Religiösen Praktiken sind ansonsten für Männer
und Frauen gleich, nur dass Frauen keine Priester werden können.
Initiationsritual (naujote) für Buben und Mädchen: vor der Pubertät, aber nicht im
frühen Kindesalter: Mensch muss den Unterschied zwischen Gut und Böse wissen und
sich bewusst für das eine oder andere entscheiden können. Initiation nur für
Nachkommen von Parsen-Vätern, meist werden aber alle Kinder aus Mischehen vom
Initiationsritual ausgeschlossen. Religionswechsel wird als emotional und psychisch
schädlich abgelehnt - jeder solle in seiner "Geburtsreligion" das Heil suchen (also kein
Anspruch auf den Besitz der absoluten Wahrheit, und keine Missionsarbeit - daher nie
Feindschaft seitens der vorherrschenden Religionen in Indien). l
Gebete fünfmal am Tag, wobei die bei der naujote-Zeremonie überreichte Schnur von
der Mitte losgebunden und in Händen gehalten wird.
Tempel in Indien in größerer Zahl erst seit 19, s., als Parsen viele fremde Diener hatten
und die Reinheit des eigenen Hauses nicht mehr garantiert war, Tempel daher als
Zentren der Reinheit gebraucht wurden. Es gibt 8 Tempel mit BAHRAM (königliches
oder siegreiches Feuer) und ca. 160 "gewöhnliche" Feuertempel in Indien, wo immer
Feuer brennt, das als Gegenwart Gottes gesehen wird.
Totenritual: Beschränkung der Verunreinigung und Sorge um die Seele sind zwei
Hauptanliegen. Leichnam von eigenen Totenträgern in Türme des Schweigens gebracht:
von hoher Mauer umgeben, oben drei konzentrische Kreise. Leichnam wird entkleidet
und von Trägern in Kreis gelegt (außen Männer, zweiter Frauen, innen Kinder). Geier
verschlingen Körper in ca. 20 Minuten, während Angehörige draußen beten. Knochen
werden von Sonne gebleicht und werden dann in zentraler Grube gesammelt.
Trauerfeiern dauern 4 Tage, am 3.Tag werden Wohltaten (Schenkungen etc.) im Namen
des Verstorbenen verkündet. Die Türme des Schweigens von Journalisten oft
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vermarktet. Sind notwendig, um die "Unreinheit des Bösen" zu beherbergen - Erde,
Feuer und Wasser sind Schöpfungen Gottes, die heilig sind und nicht durch Tod
verunreinigt werden dürfen. Gott schuf den Geier, um das zu vertilgen, was sonst
Verunreinigung hervorruft.
Heute: fremde (hinduistische) Einflüsse konnten nichts am Wesen der Religion ändern.
Heute ist die Religion allerdings praktisch vom Aussterben bedroht. Selbst in den
größten Zentren (und die liegen in Indien) wird es immer schwerer, Heiratspartner
innerhalb der Kommunität zu finden, genügend Priesternachwuchs zu haben, Tempel
und Institutionen erhalten zu können...Die Bedrohung des Ausgelöschtwerdens ist heute
größer als je zuvor.
☼ ☺..☼ ☺..☼ ☺..☼
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