3. Die Keplersche Wende

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3. Die Keplersche Wende
JOHANNES KEPLER (1571-1630):
Drei Gesetze der Planetenbewegung.
Begriffliche Neuerungen:
— Absage an die Sonderstellung der gleichförmigen Kreisbewegungen.
— Physikalische Erklärung der Bewegungen der Himmelskörper: Diese Bewegungen gleichen
ihrer Natur nach den irdischen Bewegungen und unterliegen den gleichen Gesetzen.
=> „Physik des Himmels“ (physica coelestis).
3.1. Die Keplerschen Planetengesetze
Zentrales Charakteristikum der antiken Astronomie:
Verpflichtung auf die Platonischen Prinzipien der Gleichförmigkeit und der Kreisförmigkeit.
Keplersche Gesetze: Planeten bewegen sich ungleichförmig auf Ellipsenbahnen.
=> Tiefgreifender Bruch mit der astronomischen Tradition.
=> Begründung einer andersartigen Tradition.
=> „Keplersche Wende“.
Problem der Marsbahn (1609):
(1) Exzentrische Kreisbahn mit einem Äquanten.
=> Abweichungen von Tychos Daten.
(2) Radiengesetz: Bahngeschwindigkeit und Sonnenentfernung stehen in umgekehrtem Verhältnis
zueinander.
Aufgabe: Finden der Bahnbewegung unter der Voraussetzung des Radiengesetzes.
=> Rechentechnische Näherung: Die Verbindungslinie von Sonne und Mars überstreicht in
gleichen Zeiten gleiche Flächen:
Flächensatz oder zweites Keplersches Gesetz.
(3) => Die Planeten bewegen sich auf elliptischen Bahnen, in deren einem Brennpunkt die Sonne
steht.
Erstes Keplersches Gesetz.
(4) Erst 1621:
Flächensatz als Gesetz der Planetenbewegung: „Die Flächen sind zu Recht das Maß der Zeit“.
Keplers drittes Gesetz der Planetenbewegung:
Vergleich der Bewegungen verschiedener Planeten:
„Die Proportion, die zwischen den Umlaufszeiten irgend zweier Planeten besteht, [ist] genau das
Anderthalbe der Proportionen der mittleren Abstände, d.h. der Bahnen selber“ (Kepler 1619, 291).
Die Kuben der großen Halbachsen der Bahnellipsen a sind proportional zu den Quadraten der
Umlaufzeiten T.
a3 : T2 = const.
Beendigung der zweitausendjährigen Vorherrschaft der gleichförmigen Kreisbewegung in der
Astronomie.
Aufgabe der instrumentalistischen Tradition der Rettung der Phänomene: Die Aufdeckung des
Weltenbaus tritt neben die Bewahrung der Erscheinungen.
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Traditionell: Kugelschalen als grundlegendes Element der Anordnung des Planetensystems.
Kepler: Bewegung des Planeten auf seiner Bahn primärer Gegenstand astronomischer Betrachtung,
nicht die Bewegungen der ihn tragenden Kugelschalen.
Zurückweisung der Kugelschalen (Tycho Brahe folgend); Beibehaltung lediglich der
umgrenzenden Fixsternsphäre.
Invariante Merkmale der Astronomie in Antike und Mittelalter:
(1) Zentralstellung der Erde.
(2) Umlauf der Planeten von Kugelschalen im getragen.
(3) Gleichförmiger Umlauf auf Kreisen.
Kepler brach als erster mit allen drei traditionellen Prinzipien.
Weitergehende Suche nach einer Erklärung für die Planetengesetze.
(1) Wirkursachen: Wirkende Kräfte: Dynamische Erklärung: Himmelsphysik.
(2) Finalursachen: Gottes Ziele bei der Schöpfung: Kosmische Harmonien: Weltharmonik.
3.2. Die Physik des Himmels
Neuansatz einer Physik des Himmels: Übertragung der für die Körperbewegungen auf der Erde
gültigen Gesetze auf die Bewegungen der Himmelskörper.
=> Vereinheitlichte Beschreibung von Bewegungen.
3.2.1. Trägheit und Schwere
Impetustheorie:
Jede Bewegung erfordert die Einwirkung einer Kraft zur Überwindung der natürlichen Neigung
des Körpers zur Ruhe (Kepler: Trägheit; inertia).
Diese Kraft ist poportional zum Gewicht und zur Geschwindigkeit des bewegten Körpers.
Keplers neuartige Behandlung der irdischen Fall- und Wurfbewegungen:
Dynamische Erklärung: Rückführung auf Kräfte.
WILLIAM GILBERT: De Magnete (1600):
Schwere als magnetische Anziehungskraft.
Neuplatonische Metaphysik als Hintergrund der Vorstellung von Kräften: Die Körper entfalten um
sich eine sphaera activitatis und werden zur Quelle spiritueller effluvia.
Kepler als Neuplatoniker: Die Körper enthalten Geist, der ihr Wesen prägt.
=> Annahme von Kräften.
Kepler: „Die schwäre ist nichts anderes dan der Magnetische Zug der Erden“ (Kepler in:
Kopernikus 1878, 89).
Jedoch: Beschränkung der Wirkung der Schwere auf „verwandte Körper“.
„Magnetismus“ als Kraft, die über eine Distanz hinweg wirkt, ohne präzise Festlegung ihrer Natur.
Äußere Kraft, kein inneres Streben;
proportional zu den Gewichten der beteiligten Körper und wechselseitig gleich.
Wurfbewegung auf der Erde:
Kegelförmige Struktur des Systems „magnetischer Ketten“.
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Wurfbewegung: Horizontale Mitführung des geworfenen Körpers mit der rotierenden Erde durch
die einseitig gespannten magnetischen Ketten.
Kepler: Behandlung der Wurfbewegung auf der bewegten Erde nicht durch neuartige Theorie der
Bewegung, sondern durch Einführung einer Kraft kegelförmiger Struktur:
=> Beständige Einprägung neuen, horizontalen Impetus.
3.2.2 Keplers Begründung der Planetengesetze
Antrieb der Planetenbewegung im Zentrum:
Sonne.
Physikalischer Grund für den Umlauf der Planeten: „vis motrix“ mit Ursprung in der Sonne.
Impetusphysik: Kraft in Bewegungsrichtung wirksam.
„Immaterielle Spezies“ (species immateriata):
Geht von der Sonne aus und ergießt sich in den Raum des Planetensystems.
Radial gerichtete Kraftstrahlen:
=> Erforderlich: Rotation.
Die rotierenden Kraftstrahlen reißen den Planeten mit.
Die magnetische Schwere spielt keine wesentliche Rolle in der Himmelsphysik:
Zwar gelten auf der Erde und im Planetensystem die gleichen Bewegungsgesetze; es liegen aber
unterschiedliche Kräfte vor.
=> Weniger enge Verbindung zwischen irdischer und himmlischer Physik als bei Newton.
Unter dem Einfluß ihres Bewegungswiderstands bleiben die Planeten hinter den rotierenden Kraftstrahlen zurück.
Physikalische Begründung der Planetengesetze
Zweites Keplersches Gesetz:
Die Stärke der seitwärts gerichteten Antriebskraft nimmt umgekehrt proportional zur Sonnenentfernung ab: F = c/r (c = const.).
Bewegungsgleichung der Impetusphysik:
Kraft zur Erzeugung einer Bewegung proportional zum Gewicht des Körpers und der durch sie
hervorgebrachten Geschwindigkeit.
Kepler: Begriffliche Trennung:
Gewicht eines Körpers: Wirkung der magnetischen Kräfte der Erde;
Menge der Materie: Ausdruck des Bewegungswiderstands der Körpers.
=> „Masse“.
=> Keplers Bewegungsgleichung: F = mv.
=> Bewegungsgleichung für die vis motrix:
F = mv .
Verknüpfung mit dem Abstandsgesetz:
=> v = c/mr.
<=> Radiengesetz <=> Flächensatz.
=> Zweites Keplersches Gesetz physikalisch begründet.
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Erstes Keplersches Gesetz:
Elliptische Form der Bahn: Wirkung einer radial gerichteten Kraft der Sonne auf die Planeten.
Winkelabhängigkeit der Kraft => veränderliche Sonnenentfernung.
Ellipse: Radialkraft proportional zum Sinus des Winkels zwischen der Apsidenlinie und dem
Radiusvektor Sonne-Planet: FR  sin.
Sonne: Ein Magnetpol im Sonnenzentrum:
=> „Magnetischer Monopol“.
Planeten: Magnetische Dipole mit raumfester Achse.
Radiale Komponente des magnetischen Moments: M = MO sin.
=> Radiale Schwankungen des Sonnenabstands derart, daß die Kreisbahn zur Ellipse verformt
wird.
=> Erstes Keplersches Gesetz physikalisch begründet.
Drittes Keplersches Gesetz:
Modifizierte Bewegungsgleichung: FV = mv.
V: Volumen des Planeten.
Beobachtungen legten nahe: Planetenvolumina proportional zu den Bahnradien: V  r.
Kompenation der Entfernungsabhängigkeit der Kraft (F 1/r) und des Planetenvolumens (V  r).
=> FV = const.
Zusätzliche Hypothese: m  r.
2r
FV = const. = mv  r ----- => r3/T2 = const.
T
=> Drittes Keplersches Gesetz physikalisch begründet.
Begriffliche Neuerungen der Keplerschen Theorie:
(1) Wechsel der Grundprinzipien der mathematischen Astronomie: Absage an die Kreis- und
Gleichförmigkeit der Himmelsbewegungen.
(2) Formulierung einer Himmelsphysik (physica coelestis).
Ziel: Physikalische Begründung der Kopernikanischen Astronomie.
=> Nicht allein Rettung der Phänomene, sondern auch Ableitung der Theorie „aus den natürlichen
Prinzipien der Bewegung.“ (KGW VII, 381)
=> Systematische Anwendung der irdischen Physik auf die Bewegungen der Himmelskörper.
3.2.3. Mechanismus und Animismus
Kepler als Neuplatoniker: Natur als beseelter Organismus.
Die Körper sind mit seelischen Vermögen ausgestattet und unterliegen nicht allein physisch-materiellen, sondern auch seelisch-spirituellen Einflüssen.
Animistisch geprägte Natursicht.
Wendung der Astrologie: relative Stellung zweier Planeten als relevante Größe; kein Einfluß der
Tierkreiszeichen.
Einführung eines konsequent heliozentrischen Standpunkts in die Astrologie.
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Vorbild für Naturerklärungen: Lichtausbreitung, nicht Stöße harter Körper.
Paradigmatisch ist das Ergießen unkörperlicher Strahlung, nicht der Zusammenprall von Teilchen.
Charakteristikum: Bruchlose Verknüpfung seelischer und physischer Mechanismen.
Zeitliche Entwicklung von Keplers Naturphilosophie: Tendenzielles Zurücktreten animistischer
Überzeugungen zugunsten stärker physikalisch geprägter Sichtweisen:
Kräfte statt Seelen.
Grund: Mathematische Bestimmbarkeit: Was Zahl und Größe hat, nimmt an der Materie teil.
Renaissance:
Dreiteilung: Körper, Geist, Seele.
Seele vs. Geist: „Instinkt“ vs. Intelligenz.
Kepler:
Zwar funktioniert die Welt wie ein Uhrwerk, aber der Ursprung seines Gangs ist in den Kräften der
Seelen zu suchen.
3.3. Die Harmonien des Kosmos
Finalursachen der Planetenbewegung:
Kepler der Weltharmonik: Das Planetensystem gleicht weniger einem Uhrwerk als einem
sechsstimmigen Chor.
Mysterium Cosmographicum (1596):
Die Einpaßbarkeit der regulären Polyeder erklärt sowohl die Anzahl der Planeten als auch die
Ausdehnung der Bahnen.
Harmonice Mundi (1619):
Pythagoras: Klangbeziehungen von Tönen als Längenverhältnisse schwingender Saiten.
Auszeichnung von sieben Grundharmonien, darunter die Oktave (mit dem Verhältnis 1:2), die
Quint (2:3), die Quart (3:4).
=> Aufweis der ausgezeichneten Proportionen in den Bewegungen der Himmelskörper.
Winkelgeschwindigkeiten in den Aphelien und Perihelien der Planeten:
=> Harmonische Verhältnisse bei den extremalen Winkelgeschwindigkeiten eines einzelnen
Planeten oder verschiedener Planeten.
Einzelne Planeten:
Saturn: Große Terz (4:5);
Mars: Quinte (2:3);
Erde: Halbton (15:16).
=> Der Lauf einzelner Planeten realisiert Tonleitern.
Verschiedene Planeten:
Saturn am Perihel : Jupiter am Aphel = 1:2
=> Oktave;
Mars am Perihel : Erde am Aphel = 2:3
=> Quinte.
=> Der Bahnverlauf mehrerer Planeten stellt musikalische Akkorde oder den mehrstimmigen
Gesang dar.
Zuschreibung von Tönen zu Planeten: „Tellus canit MI FA MI“ (KGW VI, 322).
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Die mehrstimmige Musik ahmt den göttlichen Schöpfungsplan nach.
System der Harmonien: Ergänzung der Konstruktion der regulären Polyeder.
Polyeder: Erklärung der Zahl der Planeten und deren ungefährer Sonnenabstände
Harmonien: Erklärung der Umlaufzeiten der Planeten und ihrer Bahnexzentrizitäten.
Der neuplatonische Primat der Geometrie
Prinzip: Die Natur ist von mathematischer Beschaffenheit.
Die Welt ist nach Maß und Proportion geschaffen. Geometrie als das Urbild, nach dem Gott die
Phänomene als Abbilder hervorbrachte.
Der körperlichen Natur und dem menschlichen Geist ist die Geometrie von Gott eingepflanzt
worden, und deshalb ist die Natur für den Menschen erkennbar.
Doppelter Einfluß des Neuplatonismus auf die entstehende Naturwissenschaft:
(1) Geometrische Beschaffenheit der Natur.
=> Legitimation der Mathematik als Mittel der Naturerkenntnis.
(2) Spirituelle Aktivität in der Natur:
=> Bildung des Kraftbegriffs.
Himmelsphysik und Weltharmonik:
Komplementäre Begründungsmodi:
Himmelsphysik:
Wirkende Kräfte: Wirkursachen.
Weltharmonik:
Geometrische Proportionen: Zweckursachen.
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