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Vol. 4 (2016) pp. 55-73
Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und
islamrechtliche Grundlagen unter besonderer
Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs (geb.
1926) Ansichten
by Mahmud El-Wereny
Vol. 4 (2016)
Editor-in-Chief
Prof. Dr. Andrea Büchler, University of Zurich,
Switzerland
Editorial Board
Prof. Dr. Bettina Dennerlein, University of Zurich,
Switzerland
Assoc. Prof. Dr. Hossein Esmaeili, Flinders University,
Adelaide, Australia
Prof. Dr. Clark B. Lombardi, Director of Islamic Legal
Studies, University of Washington School of Law, USA
Prof. Dr. Gianluca Parolin, American University in Cairo,
Egypt
Prof. Dr. Mathias Rohe, Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen-Nürnberg, Germany
Dr. Eveline Schneider Kayasseh, University of Zurich,
Switzerland
Dr. Prakash A. Shah, Queen Mary, University of London,
UK
Dr. Nadjma Yassari, Max Planck Institute for
Comparative and International Private Law, Hamburg,
Germany
Vol. 4 (2016)
Published by
The Center for Islamic and Middle Eastern
Legal Studies (CIMELS), University of Zurich,
Zurich, Switzerland
Suggested citation style
Electronic Journal of Islamic and Middle Eastern Law
(EJIMEL), Vol. 4 (2016), pages, http://www.ejimel.uzh.ch
ISSN 1664-5707
This work is licensed under a Creative
Commons Attribution-NoncommercialNo Derivative Works 3.0 Unported License
(http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/3.0/).
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und
islamrechtliche Grundlagen unter besonderer
Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs (geb.
1926) Ansichten
von Mahmud El-Wereny*
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung ....................................................................................................................... 56
II. Yūsuf al-Qaraḍāwī als Mufti ....................................................................................... 57
III. Bedingungen eines traditionellen Ehevertrags ........................................................ 61
IV. Die misyār-Ehe .............................................................................................................. 63
V. Fazit ................................................................................................................................ 72
Abstrakt
Für die Richtigkeit und Anerkennung eines gemäß dem islamischen Familienrecht abgeschlossenen Ehevertrags müssen
bestimmte Bedingungen eingehalten werden. Heutzutage sind neue Eheformen in Erscheinung getreten, in deren
Rahmen den Partnern erlaubt wird, ein gemeinsames „eheliches“ Leben zu führen, ohne alle Voraussetzungen eines
herkömmlichen Ehevertrags zu erfüllen. Eine dieser Eheformen ist die misyār-Ehe, welche sich in den 1980er Jahren im
Nadschd/Saudi-Arabien entwickelte und seit Anfang der 2000er Jahre kontrovers diskutiert wird. Der vorliegende
Beitrag stellt die Debatte zu dieser Ehe vor, wobei der Fokus besonders auf Yūsuf al-Qaraḍāwīs Ansichten liegt. Es soll
dabei vor allem eruiert werden, wie diese Eheform definiert und rechtsmethodologisch begründet wird.
*
Mahmud El-Wereny ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Islamische Theologie der Universität Tübingen. Er lehrt
und forscht zu folgenden Schwerpunkten: Islamisches Recht und dessen Methodologie, Islamisches Recht für Muslime der
Minderheiten, Schiitischer Islam (Geschichte, Theologie und Rechtssystem) sowie Theologie der intra- und interreligiösen
Koexistenz. Seine Dissertationsschrift befindet sich im Druck, unter dem Titel: Mit Tradition in die Moderne? Yūsuf alQaraḍāwīs Methodologie der Fiqh-Erneuerung in Theorie und Praxis.
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
I. Einleitung
Infolge der Moderne und der damit verknüpften sozio-ökonomischen, rechtlichen und politischen
Entwicklungen sowie des gesellschaftlichen Wertewandels hat die Institution der Ehe einen
radikalen Wandel erfahren. So werden heutzutage zahlreiche sexuelle Beziehungen als Ehe
betrachtet, wenngleich diese die islamrechtlichen Bedingungen einer Eheschließung nicht immer
einhalten.1Eines dieser Ehephänomene, das den Gegenstand einer kontroversen Debatte in der
islamischen Welt darstellt, ist die misyār-Ehe. Dabei handelt es sich um eine relativ neue Variante
von Ehe, im Rahmen derer eine Beziehung zwischen Mann und Frau geführt wird, ohne alle nach
islamischem Familienrecht erforderlichen Bestandteile eines Ehevertrags zu erfüllen.2Die
Handlungen von Musliminnen und Muslimen werden islamrechtlich im Allgemeinen nach denso
genannten Fünf-Beurteilungskategorien (al-aḥkām al-ḫamsa)bewertet, und zwar entweder als
verpflichtend (wāğib), empfohlen (mandūb), verpönt (makrūh), erlaubt (mubāḥ) oder als verboten
(ḥarām).3 Muslimische Rechtsgelehrte sind unterschiedlicher Meinung darüber, in welche der
letzten drei Kategorien dieses Konzept von Ehe einzuordnen ist.4
Einer der zeitgenössischen Gelehrten, der sich mit dieser Frage intensiv auseinandersetzt, ist der
1926 in Ägypten geborene und seit 1961 in Katar lebende Yūsuf al-Qaraḍāwī.5 Sowohl seine
Popularität als auch seine nicht zu unterschätzende Autorität unter Muslimen weltweit machen
seine Ansichten zu diesem Thema relevant und somit für diesen Beitrag geeignet. Er gilt darüber
hinaus als einer der wichtigsten und ersten Gelehrten, der eine ausführliche Fatwa zu dieser Frage
erteilt und eine entsprechende Schrift verfasst hat.6 Im vorliegenden Artikel soll seine Fatwa zu der
seit Anfang der 2000er Jahre sowohl in arabischsprachigen elektronischen Medien als auch in
1
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5
6
Näheres dazu vgl. AL-AŠQAR USĀMA B.ʿUMAR, Mustağaddāt fiqhīya fī qaḍāya az-zawāğ wa-ṭ-ṭalāq, Amman 2000 und RITTER
OLIVER, Entwicklungen der islamischen Ehe im globalen Kontext: die nichtregistrierte Ehe (zawāǧ ʿurfī ), die „Gelegenheitsehe“
(zawāǧ misyār) und die „Freundehe“ (zawāǧ frind)“, in: HATEM ELLIESIE/SCHOLZ PETER (u.a.), GAIR-Mittelungen 2013, 5. Jg.,
130-148.
Siehe zur Begriffsbestimmung III. Bedingungen eines traditionellen Ehevertrags.
Mehr dazu siehe GOLDZIHER IGNAZ, Die Ẓāhiriten. Ihr Lehrsystem und ihre Geschichte. Ein Beitrag zur Geschichte der
muhammedanischen Theologie, Leipzig 1884, 66f. und SCHNEIDER IRENE, Die Terminologie der aḥkām al-ḫamsa und das
Problem ihrer Entstehung, dargestellt am Beispiel der šāfiʿitischen ʾadab al-qāḍī-Literatur, in: FLATURI ABDOLJAVAD/DIEM
WERNER (Hrsg.), ZDMG, Suppl. VIII, XXIV. Deutscher Orientalistentag vom 26. bis 30. Sep. 1988 in Köln, Stuttgart 1990, 214223.
Weiterführend dazu vgl. AL-MUṬLAQ ʿABDALLĀH YUSUF MUHAMMAD, Zawāğ al-misyār: Dirāsa fiqhīya wa-iğtimāʿīya naqdīya, Riad
1423 H./2002, 112-151 und AL-AŠQAR, supra Fn. 1, 159 f. und 202-206.
Zum Forschungsstand über al-Qaraḍāwī vgl. GRÄF BETTINA, Medien-Fatwas@Yusuf al-Qaradawi: Die Popularisierung des
islamischen Rechts, Berlin 2010, 84-102.
Für Näheres dazu vgl. III. Bedingungen eines traditionellen Ehevertrags.
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Zeitschriften und Büchern geführten Debatte über die misyār-Ehe dargestellt werden.7 Dabei soll
vor allem der Frage nachgegangen werden, wie al-Qaraḍāwī diese Eheform definiert und seine
Haltung dazu rechtsmethodologisch begründet. Dafür wird zunächst ein allgemeiner Überblick
über seine Person als Mufti sowie über die Voraussetzungen einer konventionellen
schariagemäßen Eheschließung erforderlich. Die Transkription arabischer Termini richtet sich
nachfolgend nach den Richtlinien der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG). Eigene
Übersetzung der Koranverse unter Einbeziehung der Übersetzung von Rudi Paret.8
II. Yūsuf al-Qaraḍāwī als Mufti
Yūsuf al-Qaraḍāwī ist ein ägyptisch-stämmiger islamischer Rechtsgelehrter und Autor.9Seine
Ausbildung erhielt er an der Al-Azhar Universität in Kairo, an welcher er an der Uṣūl ad-DīnFakultät islamische Theologie, islamische Philosophie sowie Koran- und Hadithwissenschaften
studiert hat. Er war bereits seit seiner Schulzeit vom Gedankengut der ägyptischen
Muslimbruderschaft beeinflusst, so dass er dieser bereits 1942/43 offiziell beitrat.10 Seit seiner
Ansiedlung in Katar 1961 und durch die Nutzung aller ihm zur Verfügung stehenden
Massenmedien erfährt er weltweite Popularität. Von besonderer Bedeutung für den Anstieg seines
Bekanntheitsgrades sind auch seine über einhundertfünfzig Publikationen, welche teilweise in
diverse Sprachen übersetzt vorliegen. Sein erstes und wohl bekanntestes Werk „Das Erlaubte und
Verbotene im Islam“ (al-Ḥalāl wa-l-ḥarām fī al-islām)aus dem Jahr 1960 ist beispielsweise in über
dreißig Auflagen immer wieder veröffentlicht und in verschiedene Sprachen übersetzt worden.11
Es gibt einige arabischsprachige Publikationen sowie kurze Beiträge zum Thema misyār-Ehe im Allgemeinen. Dort wird alQaraḍāwīs Fatwa angesprochen. Vgl. beispielsweise AL-MUṬLAQ, supra Fn. 4, AL-NASR TOFOL JASSEM, Gulf Cooperation
Council (GCC), Women and Misyar Marriage: Evolution and Progress in the Arabian Gulf, Journal of International Women’s
Studies, Vol. 12 (2011), 43-57; FAKIH HASSEN, Misyar Marriage Enrages Gulf Women, Middle East Online (25.04.2006), abrufbar
unter: http://www.middle-east-online.com/english/?id=16308 (Stand: 10.02.2016) und JABARTI SOMAYYA, Misyar Marriage – a
Marvel or Misery?, Arab News (05.06.2006), abrufbar unter: http://archive.arabnews.com/?page=9&section=0&article=64891
(Stand 18.02.2016).
8 Vgl. PARET RUDI, Der Koran: Übersetzung, Stuttgart 2007.
9 Für einen ausführlichen Überblick über al-Qaraḍāwīs Leben und Wirken vgl. GRÄF BETTINA/SKOVGAARD-PETERSEN JAKOB
(Hrsg.), Global Mufti: The Phenomenon of Yūsuf al-Qaraḍāwī, London 2009.
10 Vgl. al-Qaraḍāwīs Darstellung zufolge hörte er in seinem allerersten Jahr in Ṭanṭā Ḥasan al-Bannā anlässlich der Auswanderung
(hiğra) des Propheten sprechen und war von ihm so tief beeindruckt, dass er seine Rede noch heute auswendig kann. Vgl. ALQARADĀWĪ YŪSUF, Ibn al-qarya wa-l-kuttāb. Malāmiḥ sīra wa-masīra, Bd. 1, Kairo 2006, 159 f., 178. Weiterführend zu al-Qaraḍāwī
und al-Azhar siehe SKOVGAARD-PETERSEN JAKOB, Yūsuf al-Qaraḍāwī and al-Azhar“, in: GRÄF BETTINA/SKOVGAARD-PETERSEN
JAKOB, supra Fn. 9, 27-51.
7
11
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 10, B. 2, 301 f. und für die deutsche Ausgabe: AL- QARADĀWĪ JUSUF Erlaubtes und Verbotenes im
Islam. Übersetzung Ahmad von Denffer, München 1989. Für Näheres dazu vgl. GRÄF BETTINA, Yūsuf al-Qaraḍāwī: Das
Erlaubte und das Verbotene im Islam“, in: AMIRPUR KATAJUN/AMMAN LUDWIG (Hrsg.), Der Islam am Wendepunkt.
Konservative und liberale Reformer einer Weltreligion, Freiburg 2006, 109-117.
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Al-Qaraḍāwīs iftāʾ-Praxis hat seiner eigenen Darstellung zufolge sehr früh begonnen. Schon als
Abiturient soll er Fatwas in der Moschee seines Dorfes erteilt haben.12 Er berichtet in seiner
Autobiografie, wie er anfangs über theologische sowie moralische Themen referiert habe. Später,
im zweiten Jahr der Sekundarstufe, soll er sich mit Themen rechtlicher Natur befasst haben,
insbesondere mit den gottesdienstlichen Pflichten (aḥkām al-ʿibādāt). Als materielle Grundlage für
den Unterricht habe er sich hauptsächlich des Rechtskompendiums Fiqh as-sunna von Saiyid Sābiq
(gest. 2000) bedient.13 Nach seinen eigenen Angaben verfolgte al-Qaraḍāwī bei der Behandlung
von an ihn gestellte Rechtsfragen ein neues Rechtsverfahren (nahğ ğadīd), welches in erster Linie
auf der Befreiung von der Befolgung einer bestimmten Rechtsschule (taḥarrur maḏhabī) und der
Erleichterung (taisīr) basierte.14
Nach seiner Immigration nach Katar erfahren seine Fatwas mehr Resonanz und Anerkennung. Als
Verbreitungsmedium seiner Fatwas dienen ihm nicht ausschließlich die traditionellen, sondern
auch die neuen Medien. Er gibt an, seit Anfang der 1960er Jahre als Mufti in der katarischen
Radiosendung Nūr wa-hidāya („Licht und Rechtleitung“) sowie im Fernsehen Qatar TV mit einem
Programm namens Hady al-islām auf Qatar TV vertreten gewesen zu sein.15 Seine vom
Satellitensender al-Jazeera16 ausgestrahlte Sendung aš-Šarīʿa wa-l-ḥayāt („die Scharia und das
Leben“) machte ihn für ein noch breiteres, internationales Publikum sichtbar. Darüber hinaus
verfügt er über eine eigene Internetseite unter www.qaradawi.net, die 1997 lanciert wurde.17 Auch in
der arabischsprachigen Presse werden Fatwas von al-Qaraḍāwī veröffentlicht.18 Somit machte er
sich unterschiedliche Kommunikationswege zu Nutze, um seine Fatwas sowie Lehren im
Allgemeinen über lokale Grenzen hinweg zu verbreiten.
Al-Qaraḍāwīs Fatwa-Erteilung beruht auf zwei iğtihād-Formen: (1) Die „selektive, abwägende
Rechtsfindung“ (iğtihād tarğīḥī intiqāʾī), bei der er die Rechtsmeinungen früherer Gelehrter und
das gesamte islamische Rechtserbe studiert und daraus eine Rechtsantwort für den jeweils
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 10, 235 f.
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 10, Bd. 2, 237.
14 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 10, Bd. 2, 235 f.
15 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 10, Bd. 3, 189 f. und ausführlich zur Gestaltung dieser Sendungen vgl. GRÄF, supra Fn. 5, 192-209.
16 Näheres zum al-Jazeera-Inhalt vgl. GRÄF, supra Fn. 5, 218-223.
17 Für Näheres dazu vgl. GRÄF BETTINA, Sheikh Yūsuf al-Qaraḍāwī in Cyberspace, Die Welt des Islam, Vol. 47 (2007), 3-4, 403-421,
hier 407.
18 Vgl. ausführlich dazu GRÄF, supra Fn. 5, 194-201.
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vorliegenden Fall auswählt. Hinsichtlich der Frage, welches Urteil beim Selektionsverfahren
(taḫaiyur) befolgt werden soll, vertritt er die Position, dass jenes Urteil auszusuchen sei, das auf die
Verwirklichung der Ziele der Scharia (maqāṣid aš-šarīʿa) sowie der Interessen der Menschen
abzielt.19In dieser Hinsicht spricht sich al-Qaraḍāwī für die Emanzipation von der maḏhabīya
(„Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rechtsschule“) aus. Hierbei geht es ihm nicht ums
Verleugnen und Verwerfen tradierter Rechtsmeinungen klassischer Gelehrter, sondern um die
Befreiung von der starren ideologischen Bindung an eine einzige Rechtsschule. Die Abhängigkeit
von einer spezifischen Rechtsautorität sei islamwidrig, da man sich zu etwas verpflichte, das
weder Gott noch Sein Gesandter dem Menschen als Pflicht auferlegt haben.20 Seine Forderung
begründet er des Weiteren damit, dass es bisweilen vorkomme, dass eine Rechtsschule ein nur
schwer umsetzbares Rechtsurteil abgibt, während sich eine andere hingegen für ein einfaches
Urteil entscheide. Durch at-taḥarrur al-maḏhabī biete sich also die Möglichkeit, einen Vergleich der
vorliegenden Ergebnisse vorzunehmen und sich der leichter zu befolgenden Entscheidung
anzuschließen.21 Dem Bedenken, dass es sich hierbei um talfīq („Normenkombination aus den
unterschiedlichen Rechtsschulen“) handelt, entgegnet al-Qaraḍāwī damit, dass es zwei Kategorien
von talfīq gebe: Eine erlaubte Form (ğāʾiz), in deren Rahmen die Auswahl basierend auf der
Überprüfung der Rechtsbeweise der jeweiligen Rechtsschule erfolgt und in dem Fall nicht als talfīq,
sondern als iğtihād tarğīḥī oder iğtihād ğuzʾī („partielle Rechtsfindung“) gelte.22Die zweite Kategorie
erachtet er hingegen als mamnūʿ („verboten“), wenn sie der Bequemlichkeit halber und willkürlich
vorgenommen würde.23 Demnach ist der talfīq aus seiner Sicht erlaubt, solange dieser auf
Grundlage von Beweisen vollzogen werde. Wie und inwieweit die Nachprüfung der
Rechtsbeweise der zusammengestellten Rechtsmeinungen erfolgen soll, erläutert al-Qaraḍāwī
nicht.
(2) Die zweite iğtihād-Form nennt al-Qaraḍāwī ibdāʿī inšāʾī („kreative, schöpferische
Rechtsfindung“). Sie finde nur dann Anwendung, wenn das islamische Rechtserbe keine passende
Antwort für eine offene Rechtsfrage zur Verfügung stellt. In diesem Zusammenhang merkt alQaraḍāwī an, dass diese Kategorie nicht nur für neue Fälle, sondern auch bei der Modifizierung
Vgl. AL-QARADĀWĪ YŪSUF, al-Iğtihād fī š-šarīʿa al-islāmīy maʿa naẓarāt taḥlīlīya fī al-iğtihād al-muʿāṣir, Kuwait 2011, 142.
Vgl. AL-QARADĀWĪ YŪSUF, Min hadī al-islām: Fatāwā muʿāṣira, Kuwait 2005, Bd. 2, 113 f.
21 Vgl. AL-QARADĀWĪ YŪSUF, Fī fiqh al-aqallīyāt al-muslima. Ḥayāt al-muslimī wasaṭ al-muğtamaʿāt al-uḫrā, Kairo 2001, 57 f.
22 Vgl. AL-QARADĀWĪ YŪSUF, Taisīr al-fiqh li-l-muslim al-muʿāṣir. Naḥwa fiqh muyassar muʿāṣir. Fī uṣūl al-fiqh al-muyassar. Fiqh al-ʿilm,
Kairo 2008, 32 f.
23 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, 128 f. und ders., supra Fn. 22, 32 f.
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alter Rechtsmeinungen Anwendung finden dürfe.24 Was die Verfahrensregeln dieser Kategorie
anbelangt, präferiert al-Qaraḍāwī eine kollektive Rechtsfindung (iğtihād ğamāʿī), die von einem
Expertenausschuss durchgeführt werden soll.25 Quellen dieser Form weichen nach al-Qaraḍāwīs
Darstellung nicht von denen der traditionellen Rechtsfindung ab. Dementsprechend bedient er
sich des Korans, der Sunna, des Konsenses (iğmāʿ), dem Analogieschluss (qiyās), der rechtlichen
Präferenz (istiḥsān), dem in den Rechtsquellen unerwähnten Nutzen (maṣlaḥa mursala)26, der
Unterbindung der Mittel (sadd aḏ-ḏarāʾiʿ)27, der Rechtsaussagen der Prophetengefährten (qaul aṣṣaḥābī) und Normen vorislamischer Offenbarungsreligionen (šarʿ man qablanā).28 Neben diesen
Rechtsquellen zieht er andere Prinzipien wie die Wandelbarkeit der Fatwas gemäß dem Zeit- und
Ortswandel (taġayyur al-fatwā bi-taġayyur az-zamān wa-l-makān), die Erleichterung (taisīr), die
Berücksichtigung der Ziele der Scharia (maqāṣid aš-šarīʿa), das Verständnis der Lebensumstände
(fiqh al-wāqiʿ) und der Prioritätensetzung (fiqh al-aulawīyāt) mit ein, d. h. das Treffen zeitgemäßer
und
adäquater
Rechtsentscheidungen
für
neue
Lebensfragen
infolge
von
stetigen
Wandlungsprozessen erfordere die genaue Kenntnis der Lebenswirklichkeit, die Berücksichtigung
des Wohls der Menschen sowie ein richtiges Verständnis im Abwägen der Rechtsmeinungen, um
zugunsten der stimmlichen und erleichternden Rechtsmeinung zu entscheiden.29
Auf praktischer Ebene – das heißt die Erteilung von Rechtsgutachten (fatāwā Pl. fatwā) – hat alQaraḍāwī zahlreiche Fatwas zu unterschiedlichen Themenbereichen erteilt. In diesem
Zusammenhang sei seine vierbändige Fatwa-Sammlung Min hadī l-islām: Fatāwā muʿāṣira („Von
der Rechtleitung des Islam: Zeitgenössische Rechtsgutachten“) genannt, in der er darum bemüht
ist, themenübergreifende Rechtsfragen zeitgemäß islamisch zu beantworten.30 Dieses Werk basiert
laut eigener Darstellung auf seiner Fernsehsendung Hady al-islām auf Qatar TV. In dieser Sendung
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 19, 157 f.
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 19, 119 f.
26 Bei der sogenannten maṣlaḥa mursala („nicht erwähnter Nutzen“), handelt es sich um eine unter den sunnitischen Gelehrten
umstrittene Rechtsquelle, die für die Beurteilung einer Handlung eingesetzt wird, für die es keinen rechtlichen Hinweis auf ihre
Zulassung oder ihre Unterbindung gibt. Das Fällen von Rechtsentscheidungen gründet in diesem Fall allein auf der
Berücksichtigung des allgemeinen Interesses der Menschen. Vgl. ausführlich dazu OPWIS FELICITAS, Islamic Law and Legal
Change: The Concept of Maṣlaḥa in Classical and Contemporary Islamic Legal Theory, in: AMAANAT ABBAS/GRIFFEL FRANK
(Hrsg.), Shariʿa: Islamic Law in the Contemporary Context, California, Stanford University Press, 2007, 62-83.
27 Sadd aḏ-ḏarāʾiʿ ist eine Rechtsquelle, deren Funktion darin liegt, scheinbar erlaubte Handlungen zu verbieten, da deren Vollzug
in Wirklichkeit als Mittel missbraucht wird, etwas Verbotenes zu erlangen. Vgl. AZ-ZUHAILĪ, Uṣūl al-fiqh, Bd. 2, 873 f. und
weiterführend dazu siehe IZZI DIEN MAWIL, Sadd al-ḏharāʾiʿ, Encyclopedia of Islam, 2nd edition, Vol. VIII, 718f.
28 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 22, 41 f. und 172 f. und ders., supra Fn 21, 37 ff.
29 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 22, 37 f. und ders., supra Fn. 21, 48 ff.
30 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20 (verwendete Auflage: Bd. 1, 2011, Bd. 2, 2005, Bd. 3, 2003, Bd. 4, 2012) (Erstauflage jew.: 1979,
1993, 2001 und 2009). Weiterführend dazu GRÄF, supra Fn. 5, 212-216.
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erteilte Fatwas wurden, al-Qaraḍāwī zufolge, auf Wunsch der Zuschauer/innen und –hörer/innen
thematisch sortiert, für eine Buchversion ausformuliert und schließlich in besagtem Titel
veröffentlicht.31 Im dritten Band dieses Werkes aus dem Jahr 2001 lässt sich dann auch seine Fatwa
zur misyār-Ehe finden. Bevor nun auf diese Abhandlung zur misyār-Ehe eingegangen wird, seien
der Verständlichkeit halber die Bedingungen eines traditionellen Ehevertrags kurz thematisiert.
III. Bedingungen eines traditionellen Ehevertrags
Die Bestandteile eines klassisch-islamischen Ehevertrags lassen sich im Großen und Ganzen wie
folgt zusammenfassen.32 Als erstes wird das Einverständnis der Eheleute eingeholt, indem sie beim
Abschluss des Ehevertrages ihre Zustimmung īğāb wa-qabūl („Angebot und Annahme“) in
derselben Sitzung mündlich artikulieren.33 In der Regel wird das Angebot vom rechtmäßigen
Vormund (walī)der Braut geäußert, worauf der Bräutigam mit der Zustimmung erwidert. Die
Mehrheit der Gelehrten setzt das Einverständnis des walī als einen unerlässlichen Bestandteil der
Eheschließung voraus. Abū Ḥanīfa (gest. 767) und Ibn Šihāb az-Zuhrī (gest. 741) meinen hingegen,
dass eine voll geschäftsfähige Frau (bāliġa) die Ehe ohne Vormund bzw. dessen Einverständnis
eingehen darf, solange der Ehemann kufuʾ(„ebenbürtig“) ist.34
Zweitens muss der Ehevertrag nach überwiegender Meinung muslimischer Gelehrter von
zwei männlichen (ḏakar), zurechnungsfähigen (ʿāqil), erwachsenen (bāliġ) Muslimen
bezeugt werden.35 Drittens müsse der Ehemann ṣadāq bzw. mahr („Brautgabe“) an seine
Ehefrau zahlen. Dies ist ein an die Frau auszuhändigender Vermögenswert zu ihrer
finanziellen Absicherung im Scheidungsfall. Dieser kann je nach Vereinbarung vorausoder auch nachgezahlt werden. Die islamischen Rechtsquellen erwähnen weder eine
Mindest- noch eine Höchstsumme. Alles, was Vermögenswert hat, kann demnach
als mahr vergeben werden. Die mahr wird den Menschen ihrem Lebenskontext entsprechend
überlassen und variiert deshalb von Land zu Land bzw. von Stadt zu Stadt.36 Darüber
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, 9.
Siehe ausführlich dazu RAUSCHER THOMAS, Sharī’a – Islamisches Familienrecht der sunna und shī’a, Frankfurt a. M. 1987, 31
ff.; ROHE MATHIAS, Das islamische Recht: Geschichte und Gegenwart, München 2009, 82 ff.
33 Ist eine der Vertragsparteien abwesend oder sprachunfähig, wird eine schriftliche Formulierung oder verständliches Zeichen
als vertragskonstituierend akzeptiert. Näheres dazu SĀBIQ SAIYID, Fiqh as-sunna, Kairo 1365/1945, Bd. 2, 22 ff.
34 Vgl. IBN RUŠD B. AHMAD, Bidāyat al-muğtahid wa-nihāyat al-muqtaṣid, Hrsg. von ʿAbdallāh, al-ʿAbādī, Bd. 3, Kairo 1995, 1248 und
ISMA ʿIL MUHAMMAD BAKR, al-Fiqh al-wāḍiḥ min al-kitāb wa-s-sunna ʿalā al-maḏāhib al-arbaʿa, Kairo 1997, Bd. 2, 30 f.
35 Vgl. IBN RUŠD, supra Fn. 34, 1267 f. Nach ḥanafitischer Rechtsschule ist die Zeugenschaft eines Mannes und zweier Frauen
ausreichend. Vgl. ISMA ʿIL, supra Fn. 34, 35.
36 Vgl. IBN RUŠD, supra Fn. 34, 1267 f. und SĀBIQ, supra Fn. 33, 101 f. sowie ISMA ʿIL, supra Fn. 34, 36 f.
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hinaus gibt es Aspekte, die als erwünscht (mustaḥabb) gelten. Diese stellen aber keine
Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit einer Ehe dar, wie beispielsweise die Ebenbürtigkeit (kafāʾa)
des Ehepaares und die Bekanntmachung der Ehe (išhār).37 Infolge des Vollzugs der Ehe ist der
Mann laut Koran, Sunna und Gelehrtenkonsens dazu verpflichtet, für den Lebensunterhalt (nafaqa)
seiner Frau, sprich die Unterkunft, Nahrung, Kleidung, medizinische Versorgung und alle
weiteren Lebensbedürfnisse, aufzukommen, auch wenn sie wohlhabend ist. Es werden in diesem
Zusammenhang unter anderem folgende Koranstellen angeführt: „Und gebt den Frauen ihre
Morgengabe gutwillig (so dass sie frei darüber verfügen können)!“ (4:4), „Heiratet sie also mit der
Erlaubnis ihrer Herrschaft und gebt ihnen ihren Lohn in rechtlicher Weise!“ (4:25).38
In Anbetracht dieser skizzenhaft angeführten Bedingungen muss ein Ehevertrag nicht
amtlich eingetragen werden, um dessen religiöse Gültigkeit zu erlangen. Entstehende Rechte
und Pflichten des Ehepaars wurden meistens entsprechend der damaligen Lebenssituation
von der Familie oder der Gemeinde geprüft. Im Konfliktfall wandte man sich an lokale
Richter oder Muftis.39 Heute wird aufgrund immer komplexerer Gesellschaftsstrukturen
die Verschriftlichung und Registrierung von Eheverträgen als notwendig erachtet und von
vielen islamisch geprägten Staaten in dem Bestreben vorgeschrieben, im Scheidungsfall
die Wahrung der Rechte der Frau und der Kinder gewährleisten zu können.40 Um das
islamische Familienrecht im Allgemeinen an die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der
Menschen entsprechend der neuen Lebensverhältnisse infolge der Moderne und der
europäischen Kolonialisierung anzupassen, wurde in Ländern wie etwa Algerien, Ägypten,
Tunesien Syrien, im Irak, im Jemen und in Somalia etc. die Kodifizierung des Familienrechts in
Form von Gesetzen und Verordnungen eingeführt. So muss beispielsweise der Ehevertrag vor
einem Gericht oder einem staatlichen Beauftragten geschlossen werden oder zumindest staatlich
eingetragen werden, um im Scheidungsfall gerichtlich verfahren bzw. eine Klage erheben zu
Vgl. SĀBIQ, supra Fn. 33, 93 f. und 148 f. sowie ISMA ʿIL, supra Fn. 34, 50-59.
IBN RUŠD, supra Fn. 34, 1260 f. Für Näheres dazu siehe auch AL-FAUZĀN, Nafaqat az-zauğa wāğiba ʿalā zauğiha wa-hiyā min ākid alḥuqūq“, abrufbar unter: http://fiqh.islammessage.com/NewsDetails.aspx?id=4619 (Stand: 14.12.15).
39 Weiterführend dazu vgl. SONBOL AMIRA EL AZHARY, Women, the Family, and Divorce Laws in Islamic History, New York 1996,
96 ff. und RITTER, supra Fn. 1, 136 f.
40 Dies wird jedoch nicht für die islamisch-religiöse Anerkennung der Ehe vorausgesetzt. Eine Ausnahme stellt in dieser Hinsicht
Tunesien dar. Es legt die Registrierung der Eheschließung zu einer Voraussetzung ihrer Gültigkeit fest. Vgl. RITTER, supra Fn. 1,
136 f. Für einen allgemeinen Überblick über Scharia-Elemente in den Verfassungen islamischer Staaten vgl. EBERT HANSGEORG, Islam und šarīʿa in den Verfassungen der arabischen Länder, Zeitschrift für Religionswissenschaft, Vol. 6 (1998), 3-21.
Die Verschriftlichung und Registrierung von Eheverträgen stellt aber kein neues Phänomen dar, sondern sie lässt sich bereits
im Osmanischen Reich sowie auch in al-Andalus nachweisen. Vgl. SONBOL, supra Fn. 39, 96 ff. und RITTER, supra Fn. 1, 136 f.
37
38
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
können.41 Ferner wird die durch die islamische Religion zunächst zulässige Polygamie durch das
Gesetz sehr stark eingeschränkt.42 Des Weiteren wird die Morgengabe in einigen Ländern wie
Somalia und dem Jemen auf einen bestimmten Höchstbetrag begrenzt, um Missbräuche zu
unterbinden. Allgemein gesehen zielt die Kodifizierung des islamischen Familienrechts darauf ab,
vorhandene Missstände zu bekämpfen, die Stellung der Frau im Bereich der Ehe zu verbessern,
Gleichstellung zwischen Mann und Frau zu fördern und Rechte der Frau zu bewahren.43 Im
Folgenden soll nach einem allgemeinen Überblick über das Phänomen der misyār-Ehe alQaraḍāwīs Fatwa entsprechend der eingangs aufgeführten Frage untersucht werden und zwar,
wie er diese Eheform definiert und seine Position dazu rechtsmethodologisch rechtfertigt.
IV. Die misyār-Ehe
Der Begriff misyār, aus dem arabischen Dialekt des saudischen Nadschd stammend, ist die
Intensivform (ṣīġat al-mubālaġa) vom Verbstamm s ā r („gehen“, „passieren“ oder „durchreisen“)
im Sinne von „viel umhergehen“ oder „durchreisen“.44 Dieses Ehephänomen ist als erstes Mitte
der 1980er Jahre im Qaṣīm, einer Region im nördlichen Nadschd, in Erscheinung getreten und
wird heute insbesondere in Saudi-Arabien und den Golfstaaten praktiziert.45 Dabei handelt es sich
zumeist um die zweite oder dritte „Ehe“, von der die erste Frau möglichst nichts erfahren soll und
aufgrund dessen die misyār-Ehefrau in diesem Fall auch auf das den regulären Ehefrauen
grundsätzlich zustehende Recht der Gleichbehandlung freiwillig verzichtet. Mittlerweile finden
sich im Internet sogar vereinzelt Webseiten zur misyār-Ehe, auf denen anonyme Heiratsanzeigen
beider Geschlechter zu finden sind.46 Als Begründung für die Entstehung dieser Eheform werden
unter anderem die ökonomischen Belastungen von regulären Ehen erwähnt. Diese gehen nämlich
mit einer gegebenenfalls hohen Brautgabe, hohen Kosten für die Hochzeit und der finanziellen
Für Näheres dazu vgl. DIGLER KONRAD, Die Entwicklung des islamischen Rechts“, in: AHMED MUNIR D. u.a. (Hrsg.), Der Islam.
III. Islamische Kultur – Zeitgenössische Strömungen – Volksfrömmigkeit, Stuttgart u.a. 1990, 66 ff.
42 Bislang ist die Polygamie lediglich in Tunesien im Jahre 1957 verboten worden. Dies wurde damit begründet, dass heutzutage
niemand mehr mehrere Frauen gleich behandeln kann, was der Koran für die Erlaubnis einer Mehrehe voraussetzt. Vgl.
weiterführend dazu DIGLER, supra Fn. 41, 71 f.
43 Vgl. DIGLER, supra Fn. 41, 70 f.
44 Vgl. AL-AŠQAR, supra Fn. 1, 161 ff.
45 Vgl. AL-AŠQAR, supra Fn. 1, 159-162 und FRANKE PATRICK, Gatten zu Besuch: Uxorilokale Eheformen in der Geschichte des
Islams, Antrittsvorlesung, Universität Bamberg (16.12.2010), 15 f., abrufbar unter: http://www.unibamberg.de/fileadmin/uni/fakultaeten/split_professuren/islamkunde/dateien/Gatten_zu_Besuch.pdf (Stand: 11.03.2015).
46 Vgl. dazu beispielsweise: https://msyaronline.com/ und http://misyarmarriage.blogspot.de/p/saudi-arab-misyar-sites-forsaudis.html (Stand: 20.07.2014).
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
Versorgung der Ehefrau einher. Ferner scheinen Männer eine solche Beziehung zu suchen, da sie
oftmals mit regionalen Ehetraditionen in Bezug auf arrangierte Ehen unzufrieden sind.47 Als
Beweggründe für Frauen, sich auf derartige Beziehungen einzulassen, wird vor allem das
Phänomen der Ehelosigkeit im Alter (ʿunūsa) erwähnt, welches in islamisch geprägten
Gesellschaften weit verbreitet sei. Die misyār-Ehe erlaube solchen Frauen, nach islamischer
Auffassung „legale“ Beziehungen mit Männern einzugehen, auch wenn sie nicht als die optimale
Eheform betrachtet wird.48
Im Jahre 1996 kam es über die misyār-Frage in saudischen Zeitungen zwischen verschiedenen
Intellektuellen zu einer kontroversen Debatte. Es handelte sich bei diesen Auseinandersetzungen
vor allem um die Klärung von Fragen der Legalität dieses Ehephänomens. In Folge dessen erklärte
sie ʿAbd al-ʿAzīz Ibn Bāz, der ehemalige Großmufti Saudi-Arabiens (zwischen 1992–1999), im
September desselben Jahres für „einwandfrei“ (lā ḥarağa fīhā); bedingt dadurch, dass
alle Bestandteile des Ehevertrags erfüllt werden. In diesem Zusammenhang erwähnt er
nicht nur die oben angeführten Konditionen der Eheschließung, sondern macht die
Bekanntgabe (iʿlān) der Ehe zu einer Voraussetzung für die Richtigkeit des Ehevertrags.49
Dabei schenkt er der Bestimmung des misyār-Begriffs selbst keine Aufmerksamkeit. Er
schreibt ausschließlich: „Ein Muslim darf nur nach den schariarechtlichen Regeln heiraten und
soll alle anderen [Heiratsformen] vermeiden – Dabei ist es gleichgültig, ob diese als
misyār-Ehe oder als etwas anderes bezeichnet wird.“50 In einer anderen von ihm erteilten
Fatwa wird die misyār-Ehe von dem Fragesteller wie folgt definiert: […] Ein Mann heiratet eine
zweite, dritte oder vierte [Frau] und da sie bestimmte Gründe hat, die sie dazu zwingen, bei ihren
Eltern oder bei einem der beiden weiterhin zu bleiben, geht ihr Ehemann sie nur gelegentlich zu
unterschiedlichen Zeiten besuchen.“51 Sowohl im Rahmen dieser Definition als auch der Antwort
von Ibn Bāz ist keinerlei Rede vom Verzicht der Frau auf ihren Anspruch auf nafaqa, was darauf
hindeutet, dass es unterschiedliche Formen bzw. Definitionen von misyār-Ehe gibt. Ibn Bāz
versteht sie folglich als eine einvernehmliche Vereinbarung zwischen dem Ehepaar, auf deren
Basis bestimmte eheliche Angelegenheiten geklärt werden, wie beispielsweise, dass sich die Frau
Vgl. JABARTI, supra Fn. 7 und FRANKE, supra Fn. 45, 15 f.
Vgl. AL-NASR, supra Fn. 7, 51.
49 Vgl. IBN BĀZ, ʿABDALAZĪZ (u.a.), al-Fatāwā aš-šarʿīya fī al-masāʾil al-ʿaṣrīya min fatāwā ʿulmāʾ al-balad al-ḥarām, Hrsg. von ALĞIRĪSĪ, ḪĀLID, Riad 1999 H./1420, 450 f., ders, Zawāğ al-misyār wa-šurūṭuh, abrufbar unter:
http://www.binbaz.org.sa/node/2890 (Stand: 14.12.15) und FRANKE, supra Fn. 45, 15.
50 Vgl. IBN BĀZ, ʿABDALAZĪZ, Zawāğ al-misyār wa-šurūṭuhu, abrufbar unter: http://www.binbaz.org.sa/node/2890 (Stand: 14.12.15).
51 IBN BĀZ, supra Fn. 49, 450 f.
47
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
weiterhin bei ihren Eltern aufhält und der Ehemann sie von Zeit zu Zeit besucht. Diese Ehe erklärt
er für schariagemäß und begründet seine Position mit dem Prophetenspruch al-Muslimūn ʿinda
šurūṭihim („Muslime sollen sich an [vereinbarte] Bedingungen halten“).52
Die der Islamischen Weltliga angehörende International Fiqh Academy veröffentlichte im Jahr 2006
ein Rechtsgutachten, in dem die misyār-Ehe für gültig erklärt wird, mit der Begründung, dass alle
Voraussetzungen der Eheschließung erfüllt werden. Die Entscheidung der Akademie stützt sich
vor allem auf al-Qaraḍāwīs Abhandlung zu dieser Frage. Diese soll nun daher im folgenden
Abschnitt eingehender diskutiert werden.53
1. Al-Qaraḍāwīs Abhandlung zur misyār-Ehe
Im Vergleich zu den oben angeführten Gelehrten widmet Yūsuf al-Qaraḍāwī dieser Frage
eine umfangreichere Diskussion. Als Motivation für seine erste Beschäftigung mit
dem Gegenstand gibt er an, von einem Journalisten nach der Rechtmäßigkeit dieser
Eheform gefragt worden zu sein. Hierbei benennt er keinen konkreten Zeitpunkt. Seine
darauf erfolgte Antwort hat nach seiner Aussage vor allem in der Golfregion großes
Aufsehen erregt.54 Am 3. Mai 1998 diskutierte er dieses Thema live in der auf al-Jazeera
ausgestrahlten Fernsehsendung aš-Šarīʿa wa-l-ḥayāt („Die Scharia und das Leben“).55 Die
Inhalte dieser Sendung floßen in seine 1999 veröffentlichte Abhandlung Zawāǧ al-misyār:
Ḥaqīqatuhu wa-ḥukmuh („Besuchsehe: Ihr Wesen und ihre Rechtmäßigkeit“) ein.56 Im dritten Band
seiner Fatwa-Sammlung Fatāwā muʿāṣira, welcher als Grundlage meiner Ausführung dient, lässt
sich seine Diskussion zur selben Thematik erneuet wörtlich wiederfinden.57 Darin befasst er sich
mit den Grundlagen, Bedingungen sowie der Abgrenzung dieser Ehe von anderen
Heiratsformen.58 Zum lexikalischen Sinngehalt des misyār-Begriffs liefert er keine Erklärung,
sondern gibt an, dass dieses Wort keine lexikalische Bedeutung habe. Es sei ausschließlich in der
Vgl. IBN BĀZ, supra Fn. 49, 451.
Vgl. al-Mağmaʿ al-Fiqhī al-Islāmī: „Aḥkām ʿuqūd an-nikāḥ al-mustaḥdaṯa“, abrufbar unter: http://www.themwl.org/Fatwa/
default.aspx?d=1&cidi=162&l=AR (Stand: 22.12.15).
54 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, 287 f.
55 Vgl. AL-QARADĀWĪ YūSUF, Zawāǧal-misyār (03.05.1998), abrufbar unter: http://www.aljazeera.net/channel/archive/archive?
ArchiveId=90777 (Stand: 14.07.2014).
56 Vgl. AL-QARADĀWĪ YŪSUF, Zawāǧ al-misyār. Ḥaqīqatuh wa-ḥukmuh, Kairo 2005 (Erstauflage 1999).
57 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 56 und ders., supra Fn. 20, Bd. 3, 287-305. Komplette Bücher fließen zum Teil wörtlich in sein
vierbändiges Werk ein. Vgl. beispielsweise AL-QARADĀWĪ, Fatāwā li-1-marʾa al-muslima, Kairo 2010 und ders., supra Fn. 20, 253307.
58 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 287 f.
52
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
Volkssprache in einigen Golfstaaten angewandt worden und deute auf „das Vorbeigehen und den
Kurzaufenthalt (al-murūr wa-ʿadam al-mukṯ aṭ-ṭawīl) hin“.59
Inhaltlich definiert al-Qaraḍāwī die misyār-Ehe als die Befreiung des Ehemannes von einigen
Pflichten gegenüber seiner Frau, wie das Aufkommen für die Unterkunft (maskan), den Unterhalt
(nafaqa) sowie, falls vorhanden, die Aufteilung der Nächte mit anderen Frauen zu gleichen Teilen
(at-taswīya fī al-qisma).60 Anstelle dessen, dass der Mann der Frau die häusliche Aufnahme
gewährleistet, besucht er sie gelegentlich und zahlt ihr keinen Unterhalt. Auch wenn dies eine
Missachtung der schariagemäßen Rechte der Frau darstellt, bezeichnet es al-Qaraḍāwī als
„Befreiung des Mannes“ (iʿfāʾ ar-raǧul) und geht davon aus, dass die Frau in solchen Heiratsfällen
über ein ausreichendes Vermögen verfüge und nur einen Mann benötige, der sie keusch und
tugendhaft hält (yuʿiffuhā wa-yuḥaṣṣinuhā) sowie ihr Gesellschaft leistet (yuʾnisuhā).61 Die
Verbreitung dieser Ehe führt al-Qaraḍāwī auf den Wandel der Lebensumstände zurück. Eine
Misyār-Ehe sei früher – wird von ihm nicht spezifiziert – selten eingegangen worden, da die
damaligen Heiratskosten einfacher aufzubringen gewesen seien. Heute gebe es hingegen
zahlreiche sozio-ökonomische Schwierigkeiten, die zur vermehrten Ehelosigkeit (ʿunūsa) geführt
hätten. Die misyār-Ehe erlaube vor allem wohlhabenden und berufstätigen Frauen ihrem Ehemann
entgegenzukommen und freiwillig auf bestimmte Rechte zu verzichten. Dies ermögliche ihnen,
eheliche Beziehungen mit Männern einzugehen und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit und
Autonomie zu bewahren.62
Die Beurteilung zu dieser Frage fällt bei al-Qaraḍāwī dann wie folgt aus: „Ich sehe die
misyār-Ehe nicht als empfehlenswert an (lā uḥabbiḏ zawāǧ al-misyār),“63 dennoch sei sie
erlaubt
(ḥalāl)
und
schariagemäß
richtig
(ṣaḥīḥ
šarʿan),
solange
alle
Bedingungen
des Heiratsvertrags erfüllt seien. Zu dessen Bestandteilen zählt er das Einverständnis
der Ehewilligen, das Brautgeld (mahr), die Bekanntmachung der Ehe und – in Abgrenzung
von der Zeitehe (zawāğ mutʿa) – die Unbestimmtheit der Ehedauer auf. Der Verzicht
der
Ehefrau
auf
die
ihr
infolge
64
den Ehevertrag nicht ungültig.
der
Eheschließung
zustehenden
Rechte
mache
Al-Qaraḍāwīs Argumentationsbasis bilden in erster
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 291.
Al-Qaraḍāwī behauptet in diesem Zusammenhang, dass diese Eheform meistens als polygame Ehe eingegangen wird. Vgl. ALQARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 289.
61 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 289 f.
62 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 290 f.
63 AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 289.
64 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 291.
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
Linie die maṣlaḥa und das Prinzip der Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen dieser Ehe.
Eine volljährige (bāliġah), geistig gesunde (ʿāqilah) und urteilsfähige (rašīdah) Frau habe das Recht
darauf, auf bestimmte Teile ihrer finanziellen Ansprüche an ihren künftigen Ehemann zu
verzichten, wenn sie darin einen Nutzen (maṣlaḥa) sähe.65 Als Beweis hierfür erwähnt al-Qaraḍāwī
unkommentiert und ohne die Überlieferungsquelle anzugeben, dass die zweite Frau des
Propheten, namens Saudah bint Zumʿa, auf ihren turnusmäßigen Besuchstag von Muḥammad
zugunsten von ʿĀʾiša verzichtet habe. Aus diesem Anlass und als Bestätigung für die
Rechtmäßigkeit dieses Verfahrens sei der Koranvers (4:128) herabgesandt worden: „Und wenn
eine Frau von ihrem Ehemann rohe Behandlung oder Abneigung befürchtet, so ist es keine Sünde
für beide, sich friedlich auf geziemende Art miteinander zu versöhnen. Es ist besser, sich friedlich
zu einigen (als weiter im Unfrieden zu leben).“66
In einem weiteren Schritt unterscheidet al-Qaraḍāwī zwischen der misyār-Ehe und anderen
Eheformen wie der „herkömmlichen Ehe“ (zawāǧ ʿurfī), „Genussehe“ (zawāǧ al-mutʿa) und
der „Zwischen- bzw. Scheinehe“ (zawāǧ al-muḥallil).67 Aus al-Qaraḍāwīs Perspektive ist
eine ʿurfī-Ehe schariagemäß (zawāǧšarʿī), da in ihrem Rahmen alle signifikanten Teile
des Ehevertrags erfüllt würden. Seitens des Staates werde dieser aber nicht anerkannt,
sofern eine amtliche Registrierung ausbliebe. Der Unterschied zwischen den beiden Formen
liege darin, dass der Mann für die Unterkunft und den Lebensunterhalt seiner ʿurfī-Ehefrau
aufkomme, wohingegen er in einer misyār-Ehe von den finanziellen Verpflichtungen befreit
werde. Ferner behauptet al-Qaraḍāwī, dass misyār-Ehen in den meisten Fällen (wie in SaudiArabien oder in den Vereinigten Arabischen Emiraten) registriert würden. Wenngleich alQaraḍāwī präferiert, dass der Vertrag einer misyār-Ehe amtlich eingetragen werden sollte, um die
Rechte der Frau und der Kinder abzusichern, fügt er zugleich hinzu, dass er dennoch einen nichtregistrierten misyār-Ehevertrag nicht für ungültig erklären könne (lā astaṭīʿu an ubṭila al-ʿaqd),
solange alle weiteren Bedingungen eingehalten würden. Er verweist an dieser Stelle ganz
allgemein auf das Personalstatut arabischer Länder, welche die Registrierung des Ehevertrags
vorsieht. Diese würden das Eintragen der Eheverträge vorschreiben, da ansonsten im
Scheidungsfall einer ʿurfī-Ehe keine Klage annehmbar wäre.68 Folglich bestünde der Unterschied
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 292.
AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 292.
67 In al-Qaraḍāwīs Ausführungen wird der Begriff muḥallil (‫ )محلِّل‬fälscherweise muḥallal (‫ )محلَّل‬geschrieben. Es handelt sich
möglicherwiese um einen Tippfehler hinsichtlich der Vokalisierung. Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 298.
68 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 293 f.
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
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zwischen beiden Eheformen lediglich in der Befreiung des Mannes von der Bezahlung des
Lebensunterhalts an die Frau. Für die Richtigkeit des Ehevertrags müsse dieser folglich nicht
registriert sein. Auf die Frage hin, wie die mit dem Ehevertrag einhergehenden Rechte und
Pflichten zwischen Mann und Frau geregelt werden sollten und wer diese schützt, gibt alQaraḍāwī keine Antwort.
Im Vergleich zur Genussehe (zawāǧ al-mutʿa) sieht al-Qaraḍāwī einen großen Unterschied zwischen
den beiden Eheformen. Dieser bestünde in der Festlegung des Zeitraumes sowie des Entgelts für
die jeweilige Eheschließung: Während die Dauer einer mutʿa-Ehe von vorneherein festgelegt wird
– weswegen sie auch als „Zeitehe“ bekannt ist – und je nach Frist ein vereinbarter Lohn
ausgehändigt wird, bleibt eine misyār-Ehe unbefristet und die Frau verzichtet freiwillig auf einige
ihrer Rechtsansprüche, erklärt al-Qaraḍāwī. Zum anderen bedürfe es bei der mutʿa-Ehe im Falle
der Beendigung der Ehe keiner Scheidung oder Annullierung (fasḫ) des Ehevertrags, da diese
automatisch mit dem Ablauf der Frist ende, die bereits beim Vertragsabschluss bestimmt und
beabsichtigt war. In der misyār-Ehe dürfe die Scheidung hingegen nicht beabsichtigt, geschweige
denn auf eine Frist festgelegt werden. Drittens zähle die Ehefrau einer Zeitehe nicht zu den
islamisch legitimen vier Ehefrauen, eine misyār-Ehefrau hingegen schon.69 Al-Qaraḍāwī ist
demnach bemüht, diese Eheform stark von der schiitischen mutʿa-Ehe abzugrenzen.
Quellenangaben bleiben jedoch aus. Unangesprochen bleibt zudem die Frage, ob im Falle einer
Scheidung in der jeweiligen Ehe das Recht auf Unterhalt oder ein wie auch immer gearteter
Versorgungsausgleich besteht.
Eine weitere Eheform ist die muḥallil-Ehe. Hierbei handelt es sich um eine kurzfristige
Zwischenehe mit einem Scheinehemann zwecks der Wiederaufnahme einer unwiderruflich
geschiedenen Ehe.70 Der Scheinehemann (muḥallil) geht eine Ehe mit einer dreimal verstoßenen
Ehefrau ein und verstößt sie dann selbst erneut, damit sie ihren ehemaligen Ehemann (muḥallal lah)
wieder heiraten darf. Einen solchen Scheinehemann nennt al-Qaraḍāwī, gestützt auf einen
Hadith,71 „den ausgeliehenen Bock“ (at-tais al-mustaʿār) und erklärt mit Berufung auf Ibn Taimīya
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 298 f.
Nach islamischem Recht gilt die Ehe als nicht wieder aufnehmbar, wenn die Scheidung dreimal vollzogen ist. Nur, wenn die
Frau neu heiratet und wieder geschieden wird, was nicht vorsätzlich geschehen darf, kann ihre erste Ehe wieder aufgenommen
werden. Muḥallal lah ist der Exmann, der seine Frau dreimal verstoßen hat und ihre Scheidung von dem muḥallil
(„Scheinehemann“) erwartet, um sie erneut zu heiraten. Vgl. ISMA ʿIL, supra Fn. 34, 115 f.
71 In einer Überlieferung soll Muḥammad seinen Gefährten gesagt haben: „Soll ich euch über den ausgeliehenen Bock berichten?
Sie sagten: Doch oh Prophet. Er setzte fort: Er ist der muḥallil; verflucht seien der muḥallil und der muḥallal lah.“ AL-QARADĀWĪ,
supra Fn. 20, Bd. 3, 298 f.
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
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(gest. 1328) das eindeutige Verbot (taḥrīm) dieser Eheform, da sie eine „Brücke“ (qanṭara) sei,
welche lediglich zur Wiederaufnahme der ersten Ehe geschlagen werde. Es bestehe dabei somit
keine Absicht zur Fortsetzung der Ehe, sondern die Scheidung werde grundsätzlich bei der
Eheschließung eingeplant. Die misyār-Ehe hingegen stelle eine dauerhafte Beziehungsform dar, die
alle notwendigen Ehebedingungen erfülle.72
2.Kritische Stimmen zur misyār-Ehe
In der Debatte um die Rechtmäßigkeit sowie die negativen Folgen der misyār-Ehe haben sich in
den vergangenen Jahren Kritiker aus unterschiedlichen Bereichen, darunter insbesondere
Frauenrechtlerinnen und Feministinnen, zu Wort gemeldet.73 In seiner Abhandlung räumt alQaraḍāwī dieser Kritik einen großen Platz ein, wobei Namen oder Vertreter dieser Kritik leider
anonym bleiben. Er wirft die Kritikpunkte zunächst selber auf und versucht, diese im Anschluss
zu widerlegen. Unter anderem wird der misyār-Ehe nach seiner Darstellung vorgeworfen, dass sie
die erstrebten Ziele einer konventionellen Ehe nicht verwirkliche. Sie diene lediglich der sexuellen
Befriedigung und dem Genuss (mutʿa) zwischen Mann und Frau, obwohl eine eheliche Beziehung
bei weitem nicht nur darauf abziele. Al-Qaraḍāwī sieht in dieser Eheform keine im Sinne des Islam
erstrebenswerte Variante, betrachtet sie aber als eine Möglichkeit,
die „[…] die
Lebensnotwendigkeiten, die Entwicklungen der Gesellschaften sowie die Lebensumstände
auferlegten (awǧaba) […].“74 Kinderlosigkeit oder das Nichtvorhandensein von Ruhe und
Barmherzigkeit setzten die Gültigkeit des Ehevertrags nicht außer Kraft. Es gebe zahlreiche Ehen,
aus denen aufgrund der Zeugungsunfähigkeit eines der Ehepartner keine Kinder hervorgingen.
Auch in einer herkömmlichen Ehe könne eine streitsüchtige Ehefrau ihrem Ehemann das Leben
verbittern und trübe machen. Dazu schreibt er: „Die Nichtrealisierung aller erstrebten Ziele macht
den Vertrag [rechtlich] nicht zunichte und annulliert die Ehe nicht, beeinträchtigt (yuḫdišuhu) sie
jedoch und setzt sie herab (yanālu minhu).“75
In Bezug auf den Kritikpunkt, dass die Frau in einer misyār-Ehe sexuell ausgenutzt würde,
versucht al-Qaraḍāwī, anhand von koranischen und prophetischen Beweisen die Bedeutung der
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 298 f.
Vgl. AL-MUṬLAQ, supra Fn. 7, 125 ff. und „Muṭālabāt bi-taʾhīl al-azwāğ fī as-suʿūdīya“, (10.08.11) abrufbar unter: al-Jazeera.net
(Stand: 15.12.15).
74 AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 295.
75 AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 295.
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Misyār-Ehe: Begriffsbestimmung und islamrechtliche Grundlagen unter besonderer Berücksichtigung Yūsuf al-Qaraḍāwīs
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Sexualbeziehung innerhalb der Ehe hervorzuheben und dabei aufzuzeigen, dass das Sexualleben
im Islam respektiert wird und einen „großen Stellenwert“ (qīma kabīra) hat. Im Koran (2:187) heiße
es: „Es ist euch erlaubt, zur Fastenzeit bei Nacht mit euren Frauen Umgang zu pflegen. Sie sind für
euch, und ihr für sie (wie) eine Bekleidung.“ Darüber hinaus soll Muḥammad beispielhaft gesagt
haben: „Oh ihr jungen Männer! Wer immer unter euch die Mittel zur Ehe hat, der soll heiraten.
Denn dies hilft, die Blicke zu senken und die Keuschheit zu wahren.“76 In diesem Zusammenhang
beschreibt al-Qaraḍāwī die Befriedigung der physischen Bedürfnisse sowohl für den Mann als
auch für die Frau als „das primäre Ziel der Heirat“ (awwal ahdāf az-zawāǧ). Dieses Bedürfnis stelle
ein natürliches Verlangen dar, dessen Erfüllungswege islamrechtlich erleichtert werden sollten.77
Al-Qaraḍāwī stellt des Weiteren dar, was an dieser Ehe darüber hinaus kritisiert wird: Diese stelle
das Vormundschaftsrecht (qiwāma) des Mannes gegenüber der Frau in Abrede.78 Da die Frau im
Rahmen einer misyār-Ehe auf den Unterhalt durch den Mann verzichte und gegebenenfalls selbst
dafür aufkomme, würde sie das qiwāma-Recht beanspruchen, was im Widerspruch mit der
koranischen Vorschrift stünde, dass der Mann die Verantwortung für seine Ehefrau trage und
demnach über die qiwāma-Macht verfüge.79 Al-Qaraḍāwīs Gegenargumente fallen an dieser Stelle
knapp aus: Die qiwāma für den Ehemann ergebe sich aus zwei Faktoren; zum einen daraus, dass
Gott dem Mann im Vergleich zur Frau Vorzüge wie Geduld und stärkere Ausdauer gewährt habe
und zum anderen, dass der Mann für die finanziellen Sorgen der Familie aufzukommen habe.
Ersterer sei naturgemäß gegeben und letzterer sei schon durch die von dem Mann geleistete
Brautgabe erfüllt. Das ṣadāq, das hier nicht näher definiert wird, betrachtet al-Qaraḍāwī als
„ausreichend“ (yakfī) für den Unterhalt und für die Vorsorge, damit der Mann das
Vormundschaftsrecht beibehalten darf: „Der Verzicht der Frau auf den Unterhalt bedeutet daher
nicht, dass er [der Ehemann] das Vormundschaftsrecht aufgibt.“80 Wie die Brautgabe den
Lebensunterhalt ersetzen soll, vor allem, wenn sie in erster Linie der finanziellen Absicherung der
Frau im Scheidungsfall dient, lässt al-Qaraḍāwī offen.
Ferner wird die Möglichkeit, die misyār-Ehe geheim zu halten, als Einwand gegen ihre
Rechtmäßigkeit vorgebracht. Al-Qaraḍāwīs Widerlegung basiert auf der Tatsache, dass die
AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 296.
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 296.
78 Weiterführend zu diesem Kritikpunkt vgl. AL-AŠQAR, supra Fn. 1, 197 ff.
79 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 297 f.
80 AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 298.
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(geb. 1926) Ansichten| von Mahmud El-Wereny
Bekanntmachung einer Ehe keine Bedingung für ihre Gültigkeit darstelle. Für den Zweck der
Bekanntgabe reichten zwei Zeugen oder auch nur die Anwesenheit des Vormundes (walī) bzw.
seine Erlaubnis. Auch wenn die Ehe geheim gehalten werden sollte, stelle dies nach der Meinung
der Gelehrtenmehrheit ihre Rechtsgültigkeit nicht infrage. Die mālikitische Auffassung, dass der
Ehevertrag als nichtig gelte, wenn den Zeugen die Verheimlichung der Ehe auferlegt werde,
interpretiert al-Qaraḍāwī folgendermaßen: Dies bezöge sich nur auf den Zeitpunkt der
Eheschließung. Erfolge diese Auferlegung nach dem Abschluss des Vertrags, stelle diese keinen
Grund für die Ungültigkeit des Vertrags dar. Ad-Dardīrī, ein mālikitischer Gelehrter (gest. 1786),
bewertet laut al-Qaraḍāwī darüber hinaus die Bekanntmachung der Ehe als wünschenswert
(mustaḥab), nicht aber als Pflicht (īǧāb).81 Demnach wäre die misyār-Ehe, wie sie hier von alQaraḍāwī gestaltet wird, eine ungültige Ehe aus Ibn Bāz‘ Perspektive, der, wie bereits angeführt,
die Bekanntgabe der Ehe als eine unabdingbare Voraussetzung für ihre Richtigkeit darstellt.
Zum Schluss spricht al-Qaraḍāwī die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Eheform an. Aus seiner
Argumentation geht hervor, dass ihm bewusst ist, dass diese Ehe auf sehr geringe Akzeptanz
unter Muslimen stößt. Dazu bemerkt er, es gebe viele andere Eheformen, die „aus
schariarechtlicher Perspektive erlaubt“ (ǧāiʾz min al-wiǧha aš-šarʿīya), dennoch „aus
gesellschaftlicher Sicht inakzeptabel“ (ġair maqbūl min an-nāḥīya al-iǧtimāʿīya)82 seien, wie
beispielsweise die Ehe zwischen einer wohlhabenden Frau und ihrem Chauffeur oder einem Mann
und seiner indischen oder philippinischen Hausangestellte. Solche Ehen könne man nicht für
verboten erklären, solange alle islamischen Bedingungen erfüllt seien, auch wenn sie von der
Gesellschaft nicht gutgeheißen oder Missfallen erregen würden.83 Dem Einwand, dass ein Ehepaar
innerhalb einer misyār-Ehe kein gemeinsames Leben führe, begegnet al-Qaraḍāwī damit, dass dies
auch im Rahmen einer traditionellen Ehe vorkommen könne, wenn der Ehemann beispielsweise
aus geschäftlichen Gründen immer wieder reisen müsse.84
Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 301.
AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 303.
83 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 303.
84 Vgl. AL-QARADĀWĪ, supra Fn. 20, Bd. 3, 295.
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V. Fazit
Aus den obigen Darstellungen geht Folgendes hervor: Al-Qaraḍāwī erklärt die misyār-Ehe zwar für
erlaubt, hält sie aber persönlich für nicht empfehlenswert. Bei der Rechtfertigung seiner Ansicht
bedient er sich in erster Linie dem maṣlaḥa-Prinzip und unterstützt es mit Beweisen aus dem Koran
und der Sunna. Indikatoren, die er jedoch weitestgehend unkommentiert anführt. Sie erlauben laut
seiner Darstellung der Frau, auf Verpflichtungen des Ehemannes ihr gegenüber zu verzichten,
wenn sie für sich einen Nutzen darin sieht. Auf der anderen Seite nimmt er keine Notiz vom
Koran oder der Sunna, die es dem Mann als Pflicht auferlegen, für den Lebensunterhalt der Frau
zu sorgen. Er bemüht sich vielmehr, die misyār-Ehe von anderen Eheformen abzugrenzen, wobei
seine Erläuterungen dazu recht knapp ausfallen und demnach viele Aspekte offenlassen. Termini
wie muḥallil, muḥallal lah oder ṣadāq bleiben ebenfalls unscharf. Auch der Begriff misyār wird durch
al-Qaraḍāwī sprachlich nicht definiert. Daher setzt das Lesen seiner Abhandlung zur misyārThematik gute Vorkenntnisse über das islamische Familienrecht voraus, sowohl was die Termini
als auch die Funktionsweise der Eheregeln anbelangt.
Wenngleich
al-Qaraḍāwī
nachdrücklich
für
die
Befreiung
von
unhinterfragter
Rechtsschulzugehörigkeit appelliert, bewegt er sich im Rahmen der hier angeführten Fatwa
ausschließlich im Rahmen des tradierten Rechtserbes und übernimmt die überlieferten
Bedingungen eines Ehevertrags. Er unternimmt keinen Versuch, diese zeitgemäß zu modifizieren,
vielmehr betreibt er talfīq – von ihm als iğtihād tarğiḥī oder iğtihād ğuzʾībezeichnet – und stützt sich
auf die Rechtsaussagen unterschiedlicher Rechtsschulen als Begründung seiner Erlaubnis jeder
Eheform, die diese herkömmlichen Anforderungen erfüllt, sei sie ʿurfī oder misyār. Der Frage, wer
für die Rechte der Frau bzw. die gegenseitigen Rechte und Pflichten des Ehepaars garantiert,
schenkt er keine Aufmerksamkeit. Sein Grundsatz der Fatwa-Wandelbarkeit gemäß der Zeit- und
Ortsgebundenheit findet in diesem Fallbeispiel keine Anwendung. Tradierte Voraussetzungen
eines islamischen Ehevertrags haben sich, wie dargestellt, stets an den lokalen Gewohnheiten
orientiert. Die Garantie für die Einhaltung der mit dem Ehevertrag entstehenden Rechte und
Pflichten wurde durch die Familie bzw. die Gesellschaft gewährleistet. Doch die Wahrung
derselben kann heute aufgrund der Veränderung der Lebenssituation sowie Umwälzungen
gesellschaftlicher Werte in vielen Fällen auf diese Art und Weise nicht mehr vorausgesetzt werden.
Als Reaktion auf diese Veränderungen wurde die Kodifizierung des islamischen Familienrechts in
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vielen islamisch geprägten Ländern vorgenommen. Es sei hier beispielhaft die Registrierung des
Ehevertrags erwähnt: Einerseits muss dieser laut islamischer Rechtstraditionen nicht verschriftlicht
oder amtlich registriert, sondern kann ausschließlich mündlich ausgeführt werden. Anderseits
erkennen Gesetze sogenannter islamischer Länder nur solche Eheverträge an, deren
Verschriftlichung und amtliche Registrierung vorgenommen wurden. Auf die Frage, wer die
Rechte und Pflichten des Ehepaars wahrt, kann das islamische Familienrecht aufgrund der
veränderten Lebensumstände keine zeitgemäße Antwort geben. Auch der staatliche Gesetzgeber
kann dies nicht, wenn der Ehevertrag nicht amtlich eingetragen wurde, was jedoch von
angesehenen und anerkannten Gelehrten bzw. Muftis wie al-Qaraḍāwī und Ibn Bāz islamisch
legitimiert wird. Dementsprechend besteht eine Lücke zwischen Theorie und Praxis im
islamischen Familienrecht. Es gibt eine Diskrepanz zwischen erstellten Fatwas und den vom
staatlichen Gesetzgeber vorgesehenen Regelungen eines Ehevertrags. Um dies zu vermeiden, ist
das islamische Rechtsdenken aufgefordert, die traditionellen Bestandteile des Ehevertrags in
Übereinstimmung mit staatlichem Recht entsprechend der heutigen Lebenslage neu zu
überbedenken sowie nach einer Harmonie zwischen positivem und islamischem Recht zu streben.
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