Am 30. Januar 2015 führte Botschafterin Angelika Viets ein Interview mit der Tageszeitung Kosova Sot. Lesen Sie hier das vollständige Interview. Kosova Sot: Frau Botschafterin, wir würden das Interview gern mit einem Kommentar von Ihnen zu den neusten Entwicklungen beginnen. Die Demonstration der Oppositionsparteien in Prishtina endete mit zahlreichen Verletzen, Polizisten als auch Demonstranten. Neue Demonstrationen sind angekündigt worden. Wie sieht die Deutsche Botschaft diese Lage? Botschafterin Viets: Wir haben die Demonstrationen am 24. und 27. Januar mit großer Sorge verfolgt. Es ist ein fundamentales und unveräußerliches demokratisches Bürgerrecht, friedlich zu protestieren. Es ist ein Weg der Bürger, auf demokratische Art und Weise ihren politischen Führern eine Botschaft zu übermitteln. Gewalt ist hingegen völlig inakzeptabel. Diese Demonstrationen – die größten seit der Unabhängigkeit Kosovos im Jahre 2008 – sind nach unserer Einschätzung in erster Linie Ausdruck der Frustration der Bürger über die allgemeine und vor allem die wirtschaftlichen Lage, und dies insbesondere nach dem langen Stillstand 2014. Die Motivation, auf die Straße zu gehen, geht damit über die Auslöser der Demonstrationen hinaus. Seit Monaten beobachten wir, wie Kosovaren in großer Anzahl ihr Land verlassen. Offensichtlich treiben ähnliche Gründe die Menschen dazu, nach einem Job außerhalb Kosovos zu suchen oder sogar Opfer von illegaler Migration und Menschenschmuggel zu werden. Diese Demonstrationen sollen eine Botschaft an die politische Klasse senden. Wenn eine solche Botschaft notwendig war, wurde sie nun verstanden, denke ich. Daher hoffen wir, dass der Regierung jetzt die nötige Zeit und auch Kraft gegeben wird, sich auf die großen bevorstehenden Herausforderungen zu konzentrieren. Diese Herausforderungen und enormen Aufgaben hat die neue Regierung von den vorherigen geerbt. Selbst wenn einige ihrer Mitglieder bereits vor den Wahlen im vorherigen Kabinett Verantwortung trugen, glauben wir, dass der neuen Regierung eine Chance gegeben werden sollte, für die Menschen zu arbeiten, die sie gewählt haben. Ich möchte Folgendes hinzufügen: Die Kosovaren wollten die Unabhängigkeit. Das haben sie vor sieben Jahren erreicht. Einen Staat von diesen bescheidenen Anfängen aufzubauen ist verbunden mit viel Schweiß und Tränen, mit harter Arbeit, und es verlangt Opfer. Erfolg und Wohlstand kommen nicht über Nacht. Nur wenige Länder, die ich kenne, haben so viel internationale Unterstützung erhalten, sei es finanziell oder durch Expertise. Vielleicht wurden Fehler gemacht, vielleicht war der Aufbau eigener Kapazitäten über längere Zeit kein Schwerpunkt dieser Arbeit. Vielleicht hat diese Unterstützung – zusätzlich zu den Auslandsüberweisungen – keinen Anreiz für die Gründung von Unternehmen und Eigeninitiativen dargestellt. Aber nun ist die Zeit gekommen, dass alle Verantwortlichen der Gesellschaft sich diese Sache zueigen machen und konstruktive Anstrengungen unternehmen, um das Schicksal Kosovos zum besseren zu wenden. Und mit diesem Hinweis richte ich mich insbesondere an die Medien: Sie sind Teil des Staatsbildungsprozesses und haben eine große Verantwortung. Pressefreiheit ist ein wertvolles Gut, aber nutzen Sie es mit der nötigen Vorsicht zum Wohle des Staates. Meine Kollegen und ich beobachten viele Erfolgsgeschichten und ermutigende Entwicklungen. Warum schreiben Sie nicht einmal hierüber und helfen Ihren Mitbürgern, auch einmal stolz auf und hoffnungsvoll über ihr Land zu sein? Kosova Sot: Eine weitere Forderung der Demonstranten ist die Verabschiedung des Trepça-Gesetzes. Was hätte Ihrer Ansicht nach, die Regierung im Fall von diesem Unternehmen, die auch 15 Jahre nach dem Krieg einen ungelösten Status hat, und möglicherweise auch enorme Verpflichtungen, tun müssen? Botschafterin Viets: Die Entscheidung des Parlaments, das Law on Reorganization of Certain Enterprises and their Assets zu ergänzen, war richtig. Die dadurch gewonnene Zeit von weniger als zwei Jahren muß aber nun auch von der Privatisation Agency of Kosovo (PAK) genutzt werden, mit Hilfe von internationalen Beratungsfirmen eine Bestandsaufnahme zu machen und so die wichtigen Fragen zu klären. Etwa: Wie hoch ist der Wert des Unternehmens? Welche Kosten sind für die Beseitigung der Umweltschäden anzusetzen? Wie groß sind die noch nicht erschlossenen Erzreserven? etc. Erst wenn diese Daten vorliegen, kann ein fundierter Reorganisationsplan erstellt werden. Und erst dann kann es eine Entscheidung geben, ob das Unternehmen oder Teile davon privatisiert oder in Staatseigentum überführt werden soll. Anstatt das Thema Trepça politisch zu instrumentalisieren, sollten nun endlich die „technischen“ Hausaufgaben gemacht werden. Kosova Sot: In der Tat sind Jablanovic und Trepça nicht die einzigen Gründe für den Zorn von vielen Bürgern. Es ist offensichtlich, dass die Menschen in Kosovo sich von Politikern betrogen fühlen, insbesondere von den zwei größten Parteien, die eine Regierungskoalition bildeten und ihre großen Wahlversprechungen für Tausende neue Arbeitsplätze nicht erwähnen. Wäre es eine gute Idee, einen Dialog mit der Opposition zu führen und eine technische Regierung bis zur neuen Wahlen zu bilden? Botschafterin Viets: Kosovo muss eine gemeinsame Sprache finden, um Fortschritte in den Bereichen wirtschaftliche Entwicklung und Rechtsstaatlichkeit zu machen. Wir rufen die politischen Führer sowohl der Koalition wie auch der Opposition auf, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, um Antworten auf die Sorgen und Hoffnungen der Menschen zu finden. Für diese Diskussionen eignet sich als Ort am besten das Parlament. Deutschland – ebenso wie die EU und andere Länder, die sich dem Wohlergehen Kosovos verschrieben haben – werden weiterhin dabei helfen, Antworten auf diese Fragen zu finden, da sie die Grundlage für Kosovos Weg in die Europäische Union sind. Es ist sehr unverantwortlich, in diesem Zusammenhang über Neuwahlen zu sprechen, wie ich in meiner vorherigen Antwort versucht habe deutlich zu machen. Es gibt eine funktionierende, kürzlich neu gebildete Regierung mit einer stabilen Mehrheit. Kosova Sot: Es besteht der Eindruck, dass diese Koalition lediglich aufgrund von einigen Problemen, wie das Spezialgericht und der Dialog mit Serbien, nicht jedoch wegen der zahlreichen wirtschaftlichen und sozialen Probleme gebildet wurde. Wie bewerten Sie aus Ihrer Sicht? Botschafterin Viets: In einer parlamentarischen Demokratie besteht eine Koalitionsregierung aus einer Koalition von Parteien, die sich darauf geeinigt haben, gemeinsam zu regieren. Diese Einigung deckt selbstverständlich alle Bereiche des Regierens ab, nicht nur bestimmte Angelegenheiten. Bitte lesen Sie den Koalitionsvertrag und schreiben auch einmal darüber. Nach meinem Verständnis stehen Wirtschaftsreformen hoch auf der Agenda. Kosova Sot: Für jede Entscheidung, die Verfassung zu ändern, bspw. die Gründung der Bewaffneten Kräfte, sind die Stimmen von Srbska Lista, die aus Belgrad gelotst wird, nötig. Auch um weitere Entscheidungen treffen zu können, muss Belgrad gefragt werden. Ist es richtig, dass Serbien so offen sich in Angelegenheiten Kosovos einmischt? Botschafterin Viets: Die Minderheiten haben in der Verfassung Kosovos weitreichende Mitwirkungsrechte erhalten. Das ist wichtig, richtig und in der Region vorbildlich. Erstmals sind Mitglieder der SL im Kabinett vertreten. Am Kabinettstisch müssen regelmäßige Besprechungen unter allen Ministern stattfinden. Alle Minister wurden im kosovarischen Parlament vereidigt und sind ausschließlich der kosovarischen Legislative gegenüber rechenschaftspflichtig. Kosova Sot: Vucic erklärte neulich, dass über das Eigentum Kosovos, für welches aber Serbien Forderungen gestellt hat, in Brüssel diskutiert wird. Verfügen Sie über Informationen, dass das wahr sein kann? Botschafterin Viets: Nein. Kosova Sot: Deutschland hat stets Druck gegenüber Serbien ausgeübt, was die Frage der europäischen Integration und die Bedingungen mit Bezug auf Kosovo angeht. Werden Sie (wird Deutschland) die EU-Mitgliedschaft Serbiens an die Normalisierung der Beziehungen zu Kosovo anknöpfen? Botschafterin Viets: Ja. Die Bundesregierung ist an den Beschluss des Bundestags gebunden, das erste Beitrittskapitel erst zu öffnen, wenn die Vorgaben der Brüsseler Vereinbarung von April 2013 umgesetzt sind. Die Kapitel 35, 23 und 24 sollen dabei als die schwierigeren Kapitel zuerst geöffnet werden. Kosova Sot: Tausende Menschen verlassen Kosovo und viele von Ihnen enden auch in Deutschland. Was können Sie denjenigen sagen, die auf einen Aufenthaltserlaubnis in Ihrem Staat und in anderen Ländern hoffen? Botschafterin Viets: Dazu kann ich nur wiederholen, was ich bereits an anderer Stelle immer wieder gesagt habe: Wer ohne ein gültiges Visum einreist, wird in aller Regel zurückgeschickt. Die Kosten der Rückführung trägt der Betroffene. Wenn er die Flugkosten nicht bezahlen kann, wird er trotzdem zurückgeschickt und kann in der Zukunft so lange nicht wieder einreise, bis diese Kosten beglichen sind. Die Schutzquote bei kosovarischen Asylantragen beträgt ebenfalls nur etwa 1%, d.h. 99% der Anträge werden abgelehnt. Kosova Sot: Die Wirtschaft bereitet allen Sorgen. Mit 30% Arbeitslosigkeit, 40% Armut, Mangel an Produktion, Importabhängigkeit erwartet keiner eine (positive) Überraschung. Wie kann unter diesen Umständen vorangegangen werden? Botschafterin Viets: Aus vielen Gesprächen weiß ich: Die Regierung unter PM Mustafa hat eine Wirtschaftsagenda, die sie vorrangig und nachdrücklich verfolgen will. Hören Sie ihr zu und berichten Sie darüber! Deutschland wird sie dabei unterstützen. In der Tat ist die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Die Rahmenbedingungen in Kosovo für Investitionen aus dem Ausland haben sich in den letzten Jahren verbessert. Wir können einige deutsch-kosovarische Erfolgsgeschichten verzeichnen – berichten Sie darüber, damit junge Unternehmer ermutigt werden. Gleichwohl scheuen sich nach wie vor deutsche Firmen, die durchaus vorhandenen Standortvorteile hier zu erkennen. Ein Grund ist die nicht immer ausreichende Qualifikation von Fachkräften. Hieran arbeitet die GIZ, die den Berufsbildungssektor fördert. Wir hören auch immer wieder von Firmen, die sich über fehlende Rechtssicherheit beklagen. Wichtig – und das betrifft alle in Kosovo – ist zuallererst, die Energiesicherheit sicherzustellen. Die umfassende Ertüchtigung des steinzeitlichen Kraftwerks Kosova A und B ist überfällig, der Bau eines weiteren Großkraftwerks erforderlich. Wir sollten auch nicht vergessen, dass viele Kosovaren, die in Deutschland leben, ihre Familien in großartiger Weise unterstützen. Gerade hier sehe ich ein Potential, dass die Gelder zukünftig verstärkt für Investitionen, also weniger für den privaten Verbrauch, genutzt werden. Kosova Sot: Worauf wird Deutschland in diesem Jahr auf dem Balkan und speziell in Kosovo seine Aufmerksamkeit legen? Botschafterin Viets: Die deutsch-kosovarischen Beziehungen sind eng und vielfältig, daher gibt es vieles, das uns am Herzen liegt – die Fortsetzung des Dialogs mit Serbien als Grundvoraussetzung, dass es vorangeht; SITF, die nächste Runde der Konferenz der Westbalkanstaaten in Wien im Sommer, usw. usw. Wir beobachten aufmerksam, dass alle Institutionen operativ werden, allen voran der General Prosecutor oder die PAK. Die deutsche Botschaft, aber auch die Kosovarisch-Deutsche Wirtschaftsvereinigung haben großes Interesse, die Wirtschaftskontakte zwischen unseren Ländern weiter auszubauen. Daher sind substantielle Maßnahmen und umsetzbare Strategien notwendig, um ein besseres und sicheres Umfeld für Unternehmen sicherzustellen. Der Privatsektor sollte gestärkt werden, denn momentan ist der größte Arbeitgeber im Land die öffentliche Verwaltung. Hieran sollte sich etwas ändern!