Eine letzte Reise Großes Lob ans Publikum „Peter Pan muss fliegen

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STAATSTHEATER
Eine letzte Reise
Der Protagonist ist aber mehr als nur ein Reisender, der von den Errungenschaften des medizinischen Fortschritts profitiert. Sein Name, Johannes, erinnert an den berühmten Humanisten
und Religionsforscher Johannes Reuchlin, der in
der Stuttgarter Leonhardskirche begraben ist.
Johann Wolfgang von Goethe nannte Reuchlin ein ,Wunderzaichen‘, daher der Titel der
Oper. „wunderzaichen“ ist eine Art „metaphysischer Roadtrip“. Ich habe mir vorgestellt, Johannes Reuchlin würde heute als alter Mann eine letzte Reise ins Heilige Land
unternehmen, um nach Gott und den Spuren von Jesus von Nazareth zu suchen. Am
Flughafen Ben Gurion wird Johannes die
Einreise verwehrt, er muss im Transitbereich
bleiben und begegnet dort einer Frau, die
sich Maria nennt. Johannes ist als Hauptfigur übrigens der einzige Schauspieler, ich
wollte ihn in eine andere Zeitkategorie versetzen. Während alle anderen Rollen gesungen werden, ist sein Part rhythmisch und
melodisch frei, das verleiht ihm eine gewisse
Zerbrechlichkeit.
Sie sind während der Vorarbeiten zur Oper zur
Recherche nach Israel geflogen. Wonach haben
Sie dort gesucht?
Ich habe besondere Orte aufgesucht, die für
Jesus von Nazareth, aber auch für das Judentum wichtig sind. Johannes Reuchlin hat als
einer der ersten Nicht-Juden die Kabbala
und die hebräische Sprache erforscht. Auf
unserer Reise waren wir in der Grabeskirche,
an der Klagemauer, in Synagogen, in Emmaus und in der Wüste. Ich wollte die Be-
Wie lassen sich die Spuren, nach denen Sie suchen, aufnehmen?
Jede Kirche hat eine eigene Akustik, und
auch das Geräusch des Windes klingt in der
Wüste anders als in einer Stadt. In der Grabeskirche haben wir mit mehreren Mikrofonen den – fast stillen – Raum aufgenommen.
Die Grabeskirche hat den Grundton „e“. Außerdem sind dort noch andere Klangtypen
sehr präsent, die den Raum prägen. Aus diesem Material ist die harmonische Grundstruktur des letzten Teils von „wunderzaichen“ entstanden, der nicht mehr im Flughafen, sondern im Jenseits spielt. Ich habe
aber auf meiner Reise auch nach anderen
Spuren gesucht, die Jesus vielleicht hinterlassen hat. Ich gehe davon aus, dass die Orte,
die er besucht hat, noch heute etwas Besonderes ausstrahlen. Zum Beispiel habe ich in
der Synagoge, an der Jesus gelehrt hat, in
mir selbst Schwebungen gespürt. Diese
Schwebungen habe ich anschließend metrisch notiert. Ich spreche nicht von objektiven Realitäten, sondern von persönlichen
Erfahrungen. In der Oper sind häufig rhythmische Schwebungen zu hören, die unmittelbar auf diese Erfahrungen zurückgehen.
Die Übergänge zwischen realen und surrealen,
inneren und äußeren Räumen – Sie sprechen
von „Faltungen“ – sind ein zentrales Motiv Ihrer
Arbeit. Haben diese Vorstellungen einen Einfluss auf das räumliche Konzept Ihrer Oper?
Zu Beginn wird sich alles auf der Bühne und
im Orchestergraben abspielen. Später, wenn
sich die Handlung ins Metaphysische wendet, ändert sich auch der theatralische
Raum. Die wichtigste kompositorische Aufgabe und Herausforderung liegt für mich
darin, das Verschwinden des Jesus von Nazareth in Emmaus oder während der „Noli me
tangere“-Episode
klanglich darzustellen und
zu entfalten.
Ich bin gespannt,
wie
wir das zusammen mit Jossi
Wieler, Sergio
Morabito und
Anna
Viebrock umsetzen werden.
Die Fragen
stellte
Martina
Seeber.
Der Komponist Mark Andre
Frank Hilbrich ortet in Stuttgart die Lust am Risiko
D
Neue Klangwelten
an der Oper
G
eneralmusikdirektor Sylvain Cambreling hat sich eingelebt und will
an der Oper Stuttgart die Tradition
weiterführen und ein kleines Stück Musikgeschichte schreiben.
Herr Cambreling, wie
fällt die Bilanz Ihrer
ersten Spielzeit aus?
Ich bin sehr zufrieden. Ich liebe die
Stimmung hier im
Haus. Und es gibt ein
sehr gutes, konzentriertes Publikum. Ich
glaube auch, dass vieS. Cambreling
le Zuschauer nicht
nur wegen der schönen Stimmen kommen, sondern um bestimmte Stücke zu sehen, sie haben keine
Angst, mit Überraschungen konfrontiert zu
werden. Was ich mir aber wünschen würde,
wäre mehr Neugierde für Stücke wie „Der
Schaum der Tage“.
Denisovs „Der Schaum der Tage“ war Ihre erste
Neuproduktion. Warum wird dieses Stück so
selten gespielt?
Die Uraufführung 1986 in Paris war ein totaler Misserfolg, danach gab es in Deutschland
zwei Produktionen und eine weitere in Russland. Aber dann wurde „Der Schaum der Tage“ völlig vergessen, was auch daran liegt,
dass diese Oper nicht leicht zu realisieren
ist. Ich glaube, wir haben eine Lösung gefunden, die gut funktioniert. Nicht ohne Grund
ist die Inszenierung ausgezeichnet worden
mit dem International Diaghilev Award!
Sollte man so eine gelungene Inszenierung nicht
häufiger zeigen?
Das Problem ist, dass nach acht Vorstellungen das potenzielle Publikum das Stück gesehen hat. Leider ist das kein Selbstläufer
wie „La Bohème“ oder „La traviata“. Und jede
Vorstellung kostet Geld, und wir müssen die
Balance zwischen Kosten und Einnahmen
abwägen.
Ist es nicht unbefriedigend, sich als Künstler solchen wirtschaftlichen Zwängen unterwerfen zu
müssen?
Man muss auf die Zeit vertrauen und Geduld
haben. Warten wir ab, wie die Vorstellungen
im September angenommen werden. Man
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„Peter Pan muss fliegen“
Foto: Borggreve
Mit einem Flughafen haben Sie für „wunderzaichen“ einen ungewöhnlichen Schauplatz gewählt. Ist es ein bestimmter Flughafen oder ein
symbolischer Ort?
„Wunderzaichen“ spielt konkret am Flughafen Ben Gurion von Tel Aviv, also an einem
realen Schauplatz. Zugleich ist der Flughafen aber auch ein Symbol für die Themen
der Oper, nämlich für den Übergang von
einem Land oder auch Dasein in ein anderes
und das Problem der Identität. Bei den Passkontrollen wird ja gefragt: Wer sind Sie?
Woher kommen Sie? Wohin wollen Sie? Und
warum kommen Sie ins Heilige Land? In
eine solche Passkontrolle gerät auch die
Hauptfigur der Oper. Ihn bringt die Frage
nach seiner Identität in Schwierigkeiten,
denn er trägt nach einer Transplantation ein
fremdes Herz in sich.
sonderheiten dieser Orte aufnehmen, die
akustischen, aber auch die metaphysischen.
Foto: Privat
S
STAATSTHEATER
Donnerstag, 19. September 2013
Großes
Lob ans
Publikum
Mark Andre über „wunderzaichen“
ieben Jahre nach dem „Pilotprojekt
Wunderzeichen“ in der Leonhardskirche bringen Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock am 2. März 2014
Mark Andres neues Musiktheater „wunderzaichen“ auf die Bühne: ein „metaphysischer
Roadtrip“ über den frühen Humanisten Johannes Reuchlin.
Donnerstag, 19. September 2013
Ausgezeichnet mit dem International Diaghilev Award: Die Stuttgarter Opernproduktion „Der Schaum der Tage“ von Edison Denisov
muss aber immer wieder Werbung für solche außergewöhnlichen Stücke machen.
die Musik eröffnet dem Zuhörer eine völlig
neue Klangwelt.
Ist es dann nicht riskant, in dieser Spielzeit zwei
Uraufführungen zu zeigen?
Ich finde, es ist die Aufgabe eines Opernhauses wie Stuttgart, eine Balance zwischen Repertoirestücken, modernen Werken und Uraufführungen zu finden. Das Publikum und
wir Künstler müssen wach und neugierig
sein, neue Stücke kennenzulernen. Außerdem gehört es zur Tradition der Stuttgarter
Oper. Natürlich investieren wir bei einem
Stück wie „wunderzaichen“ von Mark Andre
viel Zeit, Energie und Geld. Aber damit
schreiben wir ein kleines Stück Musikgeschichte.
Was bedeutet das?
Es gibt zwar Chor, Orchester und Solisten.
Aber die Hauptfigur ist eine Sprechrolle. Dazu werden die Musiker überall verteilt, auch
im Zuschauerraum. Manches wird durch
Mikrofone verstärkt, überhaupt spielen
elektronische Klänge eine wichtige Rolle.
Die Musik wird dadurch in vielen Momenten
so filigran, dass man als Zuhörer zum Beispiel nicht mehr weiß, ob der Herzschlag,
den man hört, aus dem Orchester, von der
Elektronik oder aus dem eigenen Inneren
kommt.
Worum geht es in diesem Stück?
Es geht um die menschliche und kulturelle
Identität, um die sehr philosophische Frage:
Wer bin ich?
Ist das formal eine traditionelle Oper?
Das ist keine Oper, sondern das sind theatralische Situationen, die musikalisch extrem
verinnerlicht sind, ohne große, äußerliche
Effekte. Im Gegenteil, die Musik ist sehr diffizil, oft an der Grenze zur Hörbarkeit. Und
Die erste Premiere wird Verdis „Falstaff “ sein –
als Gegengewicht zu „wunderzaichen“?
„Falstaff “ ist ein wunderbares Ensemblestück, in dem Verdi alle seine Kenntnisse zusammenbringt und sich selbst ironisiert.
Vordergründig ist es eine Komödie, aber darin blitzt die bittere Sicht eines alten Mannes auf die Welt durch.
Am Ende der Spielzeit machen Sie dann Wagners „Tristan“.
Das war ein Wunsch von mir. „Tristan“ ist ein
GMD-Stück, und ich wollte das gerne mit
diesem Orchester machen. Natürlich ist das
eine Herausforderung für jedes Opernhaus,
weil man die entsprechenden Sänger
braucht.
Wie findet man den Tenor für die Hauptpartie?
Im Gegensatz zu einem Siegfried kann man
den Tristan schon als relativ junger Sänger
studieren. Bei uns wird Erin Caves diese Partie singen, und für ihn wird es das erste Mal
sein. Er bereitet sich schon seit einem Jahr
darauf vor und wir werden auch schon sehr
früh, im November, mit den Proben beginnen. Dann unterbrechen wir bis zum Juni.
Dadurch verhindern wir, dass er durch eine
lange Probenzeit in der Premiere müde ist.
Gerade für ein Wagner-Rollendebüt ist das
sehr sinnvoll.
Im 1. Sinfoniekonzert machen Sie etwas Ungewöhnliches, Messiaens „Et Exspecto Resurrectionem Mortuorum“ von 1964 und Ihre Bearbeitung von Haydns „Die sieben letzten Worte“.
Das ist ein sehr altes Projekt, das ich schon
mit dem SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gemacht habe. Der Ausgangspunkt war Haydns wunderbare Musik,
von der er selbst fünf verschiedene Fassun-
Foto: A.T. Schaefer
gen gemacht hat. Obwohl jeder einzelne
Satz schön ist, ist das Problem, dass sie in
der Summe für den Zuhörer eine Herausforderung sind. Also habe ich nach einer Möglichkeit gesucht, wie man dieses Stück
unterbrechen und mit etwas anderem kontrastieren kann. Bei Messiaen ist die Situation
ähnlich. Und so entstand dieses Programm.
Dann wird die Bühne aber sehr voll, wenn Sie
hier mit zwei unterschiedlichen Besetzungen
musizieren.
Das stimmt. Deshalb entstand der Gedanke,
dass nur die Messiaen-Besetzung auf der
Bühne ist und die Streicher im Zuschauerraum verteilt werden. Aber wie bekommt
man ein ganzes Streichorchester in den
Saal? Also habe ich auf die Idee von Haydn
zurückgegriffen, der eine Fassung für
Streichquartett geschrieben hat. Wir machen das jetzt mit vier Streichseptetten, die
an verschiedenen Stellen des Saals postiert
werden, dazu ein Solo-Cello mitten im
Raum. Um dem Publikum einen besseren
Zugang zu ermöglichen, gibt es den Text von
Martin Mosebach, ein Dialog zwischen
einem Mann und einer Frau über das Grabtuch von Turin. Das passt perfekt!
Die Fragen stellte Markus Dippold.
Neue Wege zu einem Altbekannten
Ein Wochenende ganz im Zeichen des Jubilars Giuseppe Verdi
E
in neuer Blick auf Verdi? Wie kann ein
neuer Blick auf einen Komponisten
aussehen, der zentral in den Spielplänen aller Opernhäuser weltweit ist, dessen
Stücke bekannt und beliebt sind und dessen
Melodien Ohrwurmcharakter haben? Für
Sergio Morabito, Chefdramaturg der Stuttgarter Oper, liegt genau in dieser Popularität und dem Erfolgsmodell Verdis das Problem: „Ich halte Verdi für einen der sperrigsten und schwierigsten Komponisten
überhaupt. Seine Opern sind ‚Selbstläufer‘;
in ihrer auf Erfolg getrimmten dramaturgischen Form und Eigendynamik sind sie auch
ein Korsett, in dem für Fragen und Bedürfnisse der Interpreten wenig Raum vorgesehen ist. Deswegen stellen wir die Frage, ob
und wie wir Verdi für uns heute entdecken
können.“ Angesichts einer regelrechten Flut
von Verdi-Inszenierungen landauf, landab,
nicht nur im langsam zu Ende gehenden Jubiläumsjahr, erscheint dieser Gedanke im
besten Sinne „unzeitgemäß“.
Gleichwohl hatte Verdi trotz dieses neuen Werkcharakters Einfluss auf Sänger und
Gesangstechnik, mit ihm entsteht beispielsweise ein völlig neues Stimmfach, der VerdiBariton: „In ‚Nabucco‘ ist erstmals der Bariton der Protagonist, und in ‚Falstaff ‘ ist er es
wieder. In einem Sonderkonzert mit drei
Vertretern dieses Stimmfachs, das der Musikwissenschaftler und Stimmenexperte
Thomas Seedorf moderieren wird, soll
untersucht werden, wie sich der Typus VerdiBariton etabliert und entwickelt hat.“
WISSENSCHAFT
UND PRAXIS
Foto: A.T. Schaefer
Damit verknüpft Sergio Morabito einen
weiteren wichtigen Aspekt des Verdi-Wochenendes: „Wir schauen über den eigenen
Tellerrand, da es für uns am Theater wichtig
ist, nie den Bezug zu dem zu verlieren, was
in der Musik- und Theaterwissenschaft passiert, zu welchen fachwissenschaftlichen Erkenntnissen man an den Universitäten
kommt.“
Deshalb sollen Interpreten, Dramaturgen, Regisseure und Wissenschaftler in einer
Gesprächsrunde versuchen, die Frage zu diskutieren, ob und wie Giuseppe Verdi heute
aufgeführt werden kann: „Ich finde es vermessen zu sagen, man wüsste, wie man sich
Verdi heutzutage zu nähern hat. Ich finde
ihn einen der spannendsten Musiktheaterkomponisten überhaupt. Aber ich zweifle
aktuell an seiner Aufführbarkeit“, meint Sergio Morabito, der noch einen Schritt weiter
geht in seinem Zweifel an einem der bedeutendsten Komponisten der Operngeschichte: „Ich kenne auch nur ganz wenige VerdiProduktionen, die mich überzeugt haben,
etwa die wunderbare Berghaus-Inszenierung von ‚La Traviata‘, die wir in dieser Spielzeit wieder zeigen.“
Markus Dippold
ger: „Für die Interpreten bedeutet das, dass
sie teilweise nur noch Erfüllungsgehilfen
eines Erfolgsmodells sind. Bei Verdi kann
sich der Sänger keine Freiheiten, zum Beispiel für eigene Verzierungen, nehmen, wie
das im Belcanto selbstverständlich war.“
L Das Verdi-Wochenende findet vom 25. bis
zum 27. Oktober statt. Neben Aufführungen
von „Falstaff “ (26.10.) und „Nabucco“
(27.10.) gibt es eine Gesprächsrunde
(25.10.), Vorträge (26./27.10.) und ein moderiertes Sonderkonzert (27.10.).
DER BARITON ALS
PROTAGONIST
Drei Tage lang wird das Opernhaus Ende
Oktober ganz im Zeichen Giuseppe Verdis
stehen. Ausgangspunkt seien, so Morabito,
die beiden Neuproduktionen „Nabucco“, der
in der vergangenen Spielzeit Premiere hatte,
und „Falstaff “, der am 20. Oktober auf die
Bühne kommen wird: „Zunächst einmal haben wir uns konzeptuell langfristig entschieden, den ‚Nabucco‘ aus Verdis früher
Schaffensphase und sein Alterswerk ‚Falstaff ‘ zu kontrastieren. Wir können so Verdis
unglaubliche Entwicklung nachvollziehen
und gleichzeitig staunen, wie er sich dennoch treu geblieben ist. An der Entwicklung
des Opernwesens in diesen 50 Jahren hat er
natürlich einen entscheidenden Anteil.“
Verdi sei ein wichtiger Brennpunkt des
Prozesses der Opernentwicklung im 19. Jahrhundert gewesen, sowohl was die Strukturierung und Dramaturgie von Musiktheater
betrifft als auch hinsichtlich des Umgangs
mit Sängern. „Komponisten vor Verdi, also
etwa Donizetti und Bellini, haben noch für
konkrete Sänger und deren stimmliche
Atalla Ayan als Ismaele und der Staatsopernchor Stuttgart in Verdis „Nabucco“
Möglichkeiten geschrieben.“ Im Extremfall
konnte das bedeuten, dass ganze Arien geopfert oder ersetzt wurden.
Mit Verdi, so Morabito, habe sich ein viel
stärkerer Werkgedanke entwickelt; das
Stück wurde wichtiger als der einzelne Sän-
er Regisseur kommt von der Probe –
und ist heiser. Ist ihm die brütende
Sommerhitze auf die Stimme geschlagen? Nein, dafür seien die Proben mit
den Kindern verantwortlich, bei denen er
mitgesungen habe, versichert Frank Hilbrich, der wohl auch ohne Heiserkeit kein
lauter Typ ist. Wobei man die Gelassenheit,
die der gebürtige Bremer an den Tag legt,
nicht falsch einschätzen sollte: Hilbrich
weiß, was er will, und ist auch jenseits der
vierzig nicht der Routine anheimgefallen:
„Ich werde immer anspruchsvoller, besonders für die Theaterleiter“, sagt er.
Derzeit bereitet Frank Hilbrich die Uraufführung von „Peter Pan“, einem Musiktheater des Briten Richard Ayres, vor. Während „Peter Pan“ in Stuttgart, dem Konzept
der Jungen Oper gemäß, für Zuschauer „von
neun bis neunzig“ gespielt wird, wie Hilbrich sagt, soll das Werk später an der Komischen Oper Berlin überwiegend für Kinder
angeboten werden, und die ebenfalls beteiligte Welsh National Opera in Cardiff plant
im Gegensatz dazu ausschließlich Abendvorstellungen. Für ihn als Regisseur sei das
eigentlich kein Problem, sagt Frank Hilbrich: „Oper soll plastisch sein, sie soll sinnlich erfahrbar gemacht werden“, erläutert er
– dabei sei es nicht die Frage, was Kinder verstehen könnten und was nicht. Sehr abstrakte Lösungen strebt Hilbrich für „Peter Pan“
allerdings nicht an, und eines sei klar: „Peter
Pan muss fliegen.“
Um das zu garantieren, treibt die Oper
Stuttgart einigen Aufwand. In Bregenz traf
Hilbrich den eigens engagierten Flugchoreografen Ran Arthur Braun zum Vorgespräch und zu ersten praktischen Übungen
mit den Sängern. Dass der zuständige Bühnenoberinspektor Michael Zimmermann
mitgereist war und alles tut, um die komplizierte Herausforderung zu bewältigen und
die fliegerischen Anforderungen zu erfüllen,
findet der Regisseur typisch für die Stuttgarter Verhältnisse: „Es gibt dort eine Tradition
der Neugier, große Aufgeschlossenheit und
die Lust am Risiko“, schwärmt Hilbrich, der
in den späten 1990ern Regieassistent in
Stuttgart war und sich auf viele Wiederbegegnungen freut. Er habe an der Stuttgarter
Oper „gelernt, was Regie eigentlich ist“, resümiert der inzwischen weithin gefragte Regisseur, der nach einer festen Station in
Schwerin seit über einem Jahrzehnt freiberuflich arbeitet und mit Regietaten wie Wagners kompletten „Ring“ in Freiburg, der
Wiederentdeckung von Aubers „Das bronzene Pferd“ in Berlin und Schostakowitschs
„Lady Macbeth von Mzensk“ in Hannover für
Aufsehen gesorgt hat. Dabei misst Hilbrich
seine Wirkung nicht an Buhs oder Bravos.
Wichtig sind ihm Authentizität der Perso-
Regisseur Frank
Hilbrich schätzt
an der Oper Stuttgart die Tradition
der Neugier und
eine große Aufgeschlossenheit.
Foto: Hansjörg Michel
nenführung und die Erkennbarkeit einer gesellschaftlichen Relevanz seiner Inszenierungen, die nicht aus Prinzip provozieren sollen
– aber doch „irritieren“, meint Hilbrich,
denn das rege zum Nachdenken an.
Zu seinem Beruf kam Frank Hilbrich
nicht auf den gewöhnlichen Wegen. „Ich habe ja keine Berufsausbildung“, sagt er gelassen und erzählt von den frühen Erfahrungen
im Jugendclub des Bremer Theaters und der
Begegnung mit dem damaligen Schauspieldirektor Günter Krämer, der viele Probenbesuche ermöglicht habe und für alle Fragen
offen gewesen sei.
„WIR SPIELEN, WAS WIR
NICHT KAPIEREN“
„Das war ein ganz großes Glück“, resümiert Hilbrich, der inzwischen Gesangsstudenten an Hochschulen in Berlin und Basel
Schauspielunterricht gibt und wohl auch
sich selbst meint, wenn er in diesem Zusammenhang davon spricht, man müsse „die
Fantasie trainieren, sonst kommt man nicht
voran“. Hilbrich ist ganz gut vorangekommen, doch manchmal treibt er mit dem Thema Karriere einen hintergründigen Spaß.
„Eigentlich ist das ja schrecklich, dass ich
jetzt schon 25 Jahre an Profitheatern arbeite“, sagt er dann und erzählt, dass seine einzige berufliche Alternative die Ornithologie
gewesen sei.
Lugt in solchen Momenten etwa Peter
Pan, das ewige Kind, aus dem erfahrenen
Theatermacher hervor? Nein, diese Sehnsucht empfinde er nicht, sagt Hilbrich und
lächelt vieldeutig: „Ich darf ja spielen“. Wie
bitte? Ja, Theaterleute verhielten sich doch
wie Kinder: „Wir spielen, was wir nicht kapieren“. Aber man dürfe gerade „Peter Pan“
ohnehin nicht als reines Kinderthema missverstehen. Gerade in Großbritannien werde
die 1902 von J. M. Barrie erfundene Figur viel
abgründiger verstanden. „Es ist ein großer
Stoff über das Kindsein ebenso wie über das
Erwachsensein“, erklärt Hilbrich, und das
Buch sei voller „hinreißend schöner Bilder
für die seelische Befindlichkeit“. Allein von
dem Kuss, den Mrs Darling in ihrem Mundwinkel für später aufbewahrt, kann der Regisseur ganz begeistert schwärmen. Eine
Abenteuergeschichte, möglichst sinnlich zu
erzählen, sei „Peter Pan“, und die Musik von
Richard Ayres führe tief in die Figuren hinein, spreche von unerfüllter Liebe, von Gewalt, aber auch von der göttlichen Aura, die
den Titelhelden umgebe.
Als Frank Hilbrich für ein Interview des
Schweizer Radios die Zwischenmusiken aussuchen konnte, wählte er neben Wagner
auch Nina Hagen und den kubanischen Sänger Bola de Nieve. Die Berliner Punkerin sei
„nicht weit entfernt von der Intensität Richard Wagners“, begründete er die Auswahl,
und für Lateinamerika hege er seit langem
eine starke Zuneigung. Dort gebe es „ehrliches Pathos“, erzählte Regisseur Hilbrich
und gab zu, dass auch ihm der Gegensatz
zwischen „himmelhoch jauchzend“ und „zu
Tode betrübt“ vertraut sei. Er frage sich oft,
ob man wirklich immer Ausgeglichenheit
suchen solle, ob „das Leben als Achterbahnfahrt“ nicht eigentlich besser sei. Wer das
Theater kennt, der weiß, wie anstrengend
diese Achterbahnfahrt ist. Aber die „Lust am
Risiko“, die Frank Hilbrich gerade in Stuttgart ortet, ist eben nicht im Ohrensessel zu
gewinnen.
Jürgen Hartmann
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