6 ZEIT ◆ GESCHEHEN SONNTAGS-ECHO SAMSTAG, 5. OKTOBER 2013 Oh, wie so trügerisch MUSIK In aller Ausführlichkeit erklärt ein aufgefrischtes Verdi-Handbuch, woran der Hörer mit dem vor 200 Jahren geborenen italienischen Komponisten ist VON CHRISTIAN KNATZ Kurz vor Giuseppe Verdis 200. Geburtstag hat der Metzler-Verlagdievölligüberarbeitetezweite Auflage des Verdi-Handbuchs herausgegeben. Vom Gewicht her eignet es sich auch als Trainings-Hantel, doch es steckt eben derart viel Gewichtiges drin. M ichael Walter zum Beispiel erklärt die trügerische Schlichtheit von „Va pensiero“, dem Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco“, der erst im Nachhinein zur Hymne der italienischen Wiedervereinigung bis 1870 wurde. Verdis Rolle im „Risorgimento“ sei „überschätzt und doch wichtig“, ergänzt Martina Grempler, und so verhält es sich bei vielem in Leben und Werk dieses Komponisten. Vieles ist nicht einfach so, wie es scheint, aber die zahllosen Klischees beschreiben doch oft Teilwahrheiten. Zwar hatte Verdi häufig Probleme mit der Zensur; zur Speerspitze der künstlerischen Freiheitsbewegung aber avancierte der früh zu Reichtum Gekommene erst spät. Zwar schuf er mit seinem Requiem eines der bis heute prägenden Werke der Kirchenmusik; gerade diesem aber haftet etwas „Agnostisches“ an, wie Uwe Schweikert bemerkt. Ja, Verdi, dem der Kritiker Eduard Hanslick zubilligte, „mit dem lieben Gott italienisch zu reden“, scheint ein Teilzeit-Atheist gewesen zu sein. Wie die Hässlichkeit zum Haupt-Thema wird Nicht nur bei dem von Hans von Bülow als „Oper im Kirchengewande“ geschmähten Requiem, auch bei den rund 30 vollendeten Opern lohnt der genaue Blick, den dieses Buch erlaubt. Herausgeber Anselm Gerhard bündelt sie unter dem griffigen Titel „Theater des Todes“; andere Autoren erklären, wie die Hässlichkeit vom Leitmotiv bei „Macbeth“ zum eigentlichen Thema des „Rigoletto“ wurde. Um zum springenden Punkt der Oper zu kommen, wird etwa der erste Auftritt Otellos in der gleichnamigen Oper geradezu virtuos auseinanderklamüsert. VieleswidersprichtdervonVerdi gepflegten Selbststilisierung, etwa die Beobachtung, dass sogar in den kühnsten Würfen mindestens ebenso viel Konvention wie Innovation steckt. Der Gegensatz zum Altersgenossen Richard Wagner, den Verdi um 18 Jahre überlebte, wurde erst nach beider Tod auf die Spitze getrieben – von Igor Strawinsky etwa, der in der Canzone „La donna è mobile“ „mehr wahre Erfindung als in dem rhetorischen Redeschwall der Tetralogie“ fand. Abermals Gerhard bringt Wagners Idee vom Gesamtkunstwerk freilich in geradezu frivole Nähe zu Verdis „multimedial durchorganisiertem Musiktheater“. Schon gar nicht passt Verdis Eigenbeschreibung als „Bauer von Le Roncole“. Die Quellen zeichnen vielmehr das Bild eines gebildeten, „realitätsbewussten Kaufmannssohns“, der als Ich-AG in Sachen Oper allen Kollegen – Freund wie Feind – einen Dienst erwies: Er Volle Kanne Verdi Anselm Gerhard/Uwe Schweikert (Herausgeber): Verdi-Handbuch. MetzlerVerlag, 757 Seiten, 69,95 Euro. Neue Bücher und CDs Lustvolle Messdiener: „Gato Loco“ modeln Verdis „Requiem“ in zackigem Bläsersound um. Fetten Partysound gibt es ja öfters in Verdi-Opern, wenn Dorffeste, Hochzeiten und Heldentaten gefeiert werden. Aber so hat man ihn dann doch noch nicht gehört: Mit zackigen Blechbläser-Sätzen, rappelnder Latin-Percussion und twängenden Westerngitarren bringt die Formation „Gato Loco“ Verdis Musik herüber. Noch kurioser: Nicht die schmissigen Ouvertüren und Ohrwurm-Arien des italienischen Meisters hat sich der Saxofonist Stefan Zeniuk, trieb die Gagen in schwindelerregende Höhen. Schwindelig werden könnte es auch dem Leser angesichts all der Gelehrsamkeit, vor der dieser Wälzer schier birst. Aber den meisten Schreibern gelingt es, kluge Gedanken in verständliches Deutsch zu gießen. Experten profitieren vom scharfen Blick über die Schulter des Meisters bei der Arbeit oder der feinstofflichen Analyse seines Werks. Liebhaber finden allerhand in den Überblicks-Aufsätzen und im Werkführer-Teil. Wer letzteren am Stück liest, kommt womöglich aus Versehen zur scherzhaften Zusammenfassung fast aller klassisch-romantischen Opernlibretti: Tenor liebt Sopran, doch Bariton ist dagegen. FOTO: JAN MEISSNER Mastermind hinter dem Irrsinn, vorgenommen, sondern Kirchenmusik: das tragisch-magische „Requiem“; hier lautet der Albumtitel „The Enchanted Messa“ (Label: Winter & Winter). So brechen die „dies irae“, die biblischen „Tage des Zorns“, mit furiosem Bläsersound über den Hörer her, schäumend vor Temperament und so gar nicht todtraurig. Die pure Lebenslust tönt aus diesem Album – eine der schönsten Überraschungen des Verdi-Jahres. two Was für ein Leben, vom Sohn eines Dorfwirts zum verehrten Komponisten in Mailand, dem das Scala-Publikum zu Füßen lag − meistens jedenfalls. Joachim Campe schreibt es kenntnisreich auf. „Verdi. Eine Biografie“ (Primus-Verlag) zeichnet die vielen feinen Linien dieses Lebens nach, widmet auch Förderern, Frauen und Neidern Charakterskizzen und malt die italienische Landschaft schön aus. Begleitmusik auf CD gibt's auch noch dazu − eine runde Sache. Was Verdi nicht in seinen Briefen offenbarte, reimt sich die Autorin Lea Singer im Roman „Verdis letzte Versuchung“ zusammen (C. Bertelsmann). Die späte Liebe des verheirateten Meisters zur jungen Sopranistin Teresa Stolz schmückt sie aus − auch aus der Sicht von Ehefrau Giuseppina Strepponi, selbst ein Star ihrer Zeit. Wie „Die Macht des Schicksals“ und „Aida“ − in denen Stolz brillierte − auf Deutsch klingen, ist in einer Neuauflage bei Berlin Classics zu hören: Verdis Opern-Highlights auf fünf CDs, eingesungen von heimischen Kräften wie Herman Prey und Anneliese Rothenberger. Den aktuellen Stand der Kunst bietet Tenor Jonas Kaufmann auf seiner neuen CD: The Verdi Album (Sony), eingespielt mit echten Italienern (Orchestra dell' Opera di Parma), „La donne è mobile“ frisch vorneweg, ein einziges Vergnügen. e