EOS 20828 Vorwort

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II
Vorwort
Im März 1872 wurde in der Presse angekündigt, dass Léon Carvalho
die künstlerische Leitung des Théâtre du Vaudeville übernommen
hatte, eines Pariser Theaters, das sein Repertoire nach 1860 über die
Produktion von ausschließlich Vaudevilles hinaus auch auf Komödien
und andere neue Stücke erweitert hatte, die neue Musik einschließen
konnten.1 Kurz nach seiner Ernennung schlug Carvalho vor, L’Arlésienne von Alphonse Daudet (1840 –1897) zu inszenieren, der daraufhin
eingeladen wurde, Anfang Juni 1872 sein Drama einer Hörerschaft
vorzutragen, die sich zusammensetzte aus dem Verwaltungskomittee
und den Hauptteilhabern des Theaters. Das Projekt wurde einstimmig
gebilligt und eine öffentliche Aufführung für Anfang September 1872
angekündigt.2
Im Mittelpunkt von Daudets Geschichte steht die Erzählung von Liebe
und Freitod, inspiriert durch eine wahre Begebenheit, in die ein junger
Verwandter des provençalischen Dichters Mistral verwickelt war. An
deren Anfang verliebt sich der junge Held Fréderi in ein Mädchen aus
Arles und will sie heiraten. Seine Familie holt flüchtige Erkundigungen
ein, um zu erfahren, ob sie eine gute Partie ist, und gibt dann ihre Zustimmung. Doch das Mädchen, das im Verlauf des Dramas nie in Erscheinung tritt, war seit zwei Jahren die Geliebte eines Pferdehüters
namens Mitifio. Er hatte von den Heiratsplänen vernommen, begehrt
jedoch das Mädchen aus Arles noch immer und tritt mit Briefen auf
den Plan, die ihr Verhältnis unter Beweis stellen. Die Hochzeit wird abgesagt, und Fréderi fällt in selbstzerstörerische Depression, woraufhin
seine Mutter die übrige Familie überredet, ihn seine Arlésienne ungeachtet der Vergangenheit heiraten zu lassen. Fréderi geht nicht darauf
ein und beschließt stattdessen, ein Mädchen aus dem Ort zu ehelichen, das ihn von Kindesbeinen an geliebt hatte. Kurz vor Fréderis
Hochzeit erscheint Mitifio und fordert seine Liebesbriefe ein. Fréderi
wird Ohrenzeuge dieses Gesprächs und fällt erneut in Verzweiflung
über den Gedanken an seine Arlésienne in den Armen eines anderen.
In dieser Nacht nimmt er sich durch einen Sprung vom Dachboden das
Leben.3
Carvalho, der zuvor das Théâtre-Lyrique geleitet hatte, schlug vor, den
Ernst dieser einfachen Handlung durch Musik zu mildern wie in einem
Melodram. Ein Vorspiel und Zwischenaktmusiken sollten die Stelle der
instrumentalen Abschnitte einer Oper einnehmen, andere Teile des
Stückes wiederum von Musik begleitet sein. Das Genre des Melodrams war zur Zeit der Französischen Revolution und im frühen 19.
Jahrhundert beliebter Bestandteil der Opéra comique, 1872 jedoch
schon ohne Bedeutung. Dadurch, dass Carvalho ein Stück eines hoch
angesehenen jungen Autors angenommen hatte und Musik bei einem
vielversprechenden jungen Komponisten in Auftrag gab, wollte er
fraglos Aufmerksamkeit auf seine neue Unternehmung ziehen. Zehn
Tage nach Annahme des Werkes durch das Komitee des Theaters
wurde die Entscheidung getroffen, sowohl Chorsätze als auch instrumentale Musik in L’Arlésienne einzubeziehen.4 Carvalho mag Daudet
zunächst vorgeschlagen haben, Ernest Guiraud die Chance zur Komposition der erforderlichen Schauspielmusik zu geben.5
Wann genau Carvalho an Bizet herantrat, diese Aufgabe zu übernehmen, ist ungewiss. Schon vor Mitte Juli 1872 war die Wahl endgültig
auf Bizet als Komponist gefallen, und die Rollenbesetzung der Premiere war ebenso festgelegt.6 Bizet schrieb die Partitur mit 27 Einzelstücken innerhalb weniger Wochen nieder, weil ihn der Text anregte,
und vielleicht auch, weil es ihn reizte, für nur 26 Instrumentalisten zu
komponieren – so viel, wie Carvalhos Budget hergab. Die Wahl der Instrumente blieb Bizet überlassen, und nachdem er verschiedene Möglichkeiten erwogen hatte, entschied er sich für eine ziemlich ungewöhnliche Anordnung, die bei der Premiere des Werks Anlass zu so
manchem Kommentar war: 2 Flöten (Piccolo), 1 Oboe (Englischhorn),
1 Klarinette, 2 Fagotte, 1 Altsaxophon in Es, 2 Hörner (1 Ventil- und
1 Waldhorn), 7 Violinen (4 erste, 3 zweite), 1 Viola, 5 Violoncelli, 2
Kontrabässe, ein Klavier, Pauken und das provenzalische Tambourin.
Ein Harmonium an der Seite der Bühne (gespielt von Bizet selbst,
Ernest Guiraud oder Antony de Choudens) begleitete den Chor hinter
der Szene.
Der Premierenabend am 30. September 1872 verlief für Daudet und
Bizet verheerend. Honoratioren, mit denen der Saal gefüllt war,
schwatzten während der Ouvertüre und der Zwischenaktmusiken,
wenngleich Bizets Minuetto zwischen den Akten II und III großen Anklang fand. Daudet berichtete an Camille Bellaigue, dass sie, während
der Abend sich dahinschleppte, das Gefühl hatten, als würden sie mit
einem Mühlstein um den Hals ersäuft.7 50 Jahre später erinnerte sich
Madame Daudet, wie beim Auftritt der Mutter Renaude im III. Akt
Jean-Hippolyte de Villemessant, der einflussreiche Herausgeber des Figaro, die Tür zu seiner Loge zuschmetterte und bekundete: „Wie tödlich langweilig doch all diese alten Weiber sind!”8 Die Theater-Klatschspalte seiner Zeitung meldete denn auch genüsslich die geringen Einnahmen dieses „tristen Werks” an der Theaterkasse während der
folgenden drei Wochen, bis L’Arlésienne nach der 19. Vorstellung am
18. Oktober 1872 vom Spielplan genommen wurde.
Der Musikkritiker und -wissenschaftler Arthur Pougin fand anerkennende Worte für Bizet wegen seiner Kunstfertigkeit bei der Instrumentation, bezeichnete L‘Arlesienne aber als ein wenig blass und monoton; sie gebe die warmen Sonnenstrahlen der Provence nicht angemessen wieder. Außerdem beschwerte er sich darüber, dass man das
provenzalische Tambourin mit einer gewöhnlichen kleinen Trommel
(Tambour) ersetzt hatte.9 Im Großen und Ganzen kam Bizet jedoch
wesentlich besser davon als Daudet. Ernest Reyer legte allen jungen
Musikern nahe, sich diese Musik anzuhören und lobte die kultivierte
Harmonik, die elegante Führung der Phrasen und die reizenden Details
der Instrumentation.10 Johannès Weber schlug sogar vor, Bizet solle
einzelne Stücke für die Concerts populaires herausnehmen und uminstrumentieren; dort würde die entzückende Musik eher gewürdigt als
im Vaudeville-Theater.11
Bizet muss sich ziemlich beeilt haben, Webers Anregung zu folgen,
denn die Uraufführung der ersten Arlésienne-Suite fand schon sechs
Wochen darauf in Pasdeloups Concerts populaires am 10. November
1872 statt. In jenen Wochen hat Bizet die Stücke für großes Orchester
uminstrumentiert, sechs neue Takte für die Coda des Minuetto (Intermezzo) komponiert und eine geschickte Überleitung geschrieben, um
die ungleichartigen Carillon (3/4-Takt) und Pastorale (6/8-Takt) miteinander zu verbinden.
Die Suite, wie sie Bizet aus seiner Schauspielmusik gewonnen hatte,
enthält folgendes:
1. Prélude. Es besteht aus der Ouvertüre (Nr. 1) zu Daudets Drama mit
der wirkungsvollen Folge von Variationen über Bizets Adaptation einer
Melodie aus dem 18. Jahrhundert, Marcho dei rei, der sich zwei kontrastierende Abschnitte anschließen. Deren erster basiert auf dem
Thema der Unschuldigen (das Bizet seiner 1871 verworfenen Opéra
comique Grisélidis entnahm), der zweite auf dem Gedanken, der für
Fréderis Leiden unter dem Bann seiner Leidenschaft für das Mädchen
aus Arles steht.
2. Minuetto (Intermezzo). Ursprünglich erster Teil der Zwischenaktmusik vor dem III. Akt, übernahm Bizet dieses Stück (Nr. 17) weitgehend
unverändert, ausgenommen die erweiterte Instrumentation und hinzugefügten 6 Takte in der Coda, wo ein Dialog zwischen Holzbläsern
und den Streichern dazu beiträgt, ein delikateres abschließendes
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Decrescendo zum Ende zu führen. Die Coda des Minuetto ist in zwei
weiteren Quellen belegt: einer Skizze in der Bibliothèque nationale,
fonds du Conservatoire, F-Pc MS 435, und einem prunkvollen Arrangement des Minuetto von E. M. Delaborde (Choudens, 1873, Pl.-Nr. A.
C. 2634).
3. Adagietto. Ursprünglich für Streichquartett con sordino gedacht,
übernahm Bizet dieses Stück (Mittelteil von Nr. 19, Mélodrame) ohne
weiterreichende Änderungen in die Suite, wo es von allen Streichern
vorgetragen wird. Im Bühnenstück unterstreicht es das innige Wiedersehen des Schafhirten Balthazar mit Mutter Renaude.
4. Carillon. Es verbindet zwei Teile der Partitur miteinander. Das erste,
das brillante Carillon, diente ursprünglich als den III. Akt eröffnende
Zwischenaktmusik (Nr. 18). Das Carillon geht hier der Pastorale im 6/8Takt (Nr. 19, Mélodrame), die zuvor das Adagietto eingerahmt hatte,
voran und schließt sich dann wieder an sie an. Bei der Vorarbeit zur
Suite transponierte Bizet die Pastorale um einen Halbton nach oben
und komponierte Übergänge an Anfang und Ende dieses zentralen
Abschnittes. Das Dreiermetrum des Carillon schiebt sich für die letzten
8 Takte der Pastorale ein und gewinnt allmählich (T. 98–105) in einem
überaus wirkungsvollen Übergang die Vorherrschaft. Die Pastorale der
Suite ist auch durch eine Wendung zur Dominante (T. 83–94) erweitert. Beim Wiedereintritt des Carillon (T. 106) hält Bizet etwas von der
pastoralen Atmosphäre aus dem vorangegangenen Abschnitt fest,
indem er die Melodie neu instrumentierte und für 8 Takte der Oboe
übertrug. Jedoch besteht der Hauptanteil dieses Schlussabschnittes
(T. 114–141) aus einer Wiederaufnahme des Beginns (T. 21–48) unter
Hinzufügung des abschließenden Kadenzabschnitts, der ursprünglich
als Übergang in die Eröffnungsszene von Daudets III. Akt komponiert
worden war.
Durch Uminstrumentierung dieser fünf Passagen für großes Orchester
war Bizet imstande, das Klavier durch eine Harfe zu ersetzen, außer
wenn das Orchester klein war. Bei den Aufführungen von 1872 im
Théâtre du Vaudeville hatte das Klavier ursprünglich die Bässe verstärkt, eine Harfe ersetzt und bei Stellen mit dünner Textur den Klang
aufgefüllt. Für die Concerts populaires fügte Bizet außerdem Holzbläser hinzu (2. Oboe und 2. Klarinette), den überwiegenden Teil der
Blechbläser (zwei weitere Waldhörner, zwei Trompeten, zwei Kornette
und drei Posaunen) sowie eine komplette Streichergruppe (besonders
bemerkenswert, wo es doch vordem nur eine einzige Viola gab); und
er setzte eine kleine Trommel an die Stelle des provenzalischen Tambourin, das im Autograph der Schauspielmusik vorgegeben ist.
Vergleiche von Orchestersuite und Autograph der Schauspielmusik
verdeutlichen, dass Bizet aus dem Zuwachs an Hilfsmitteln seinen Vorteil zog, indem er die dynamische Bandbreite erweiterte. Ebenso balancierte er die Stimmführung bestimmter Passagen neu aus und übertrug den Blechbläsern oder Violen Material, das zuvor dem Klavier vorbehalten war. Und er entfaltete einige rein orchestrale Effekte wie das
Decrescendo am Ende des Trios im Minuetto, wo in der Suite die Streicher über 7 Takte hinweg pultweise aufhören zu spielen.
Die Uraufführung der Suite wurde gut aufgenommen. Die Revue et
Gazette musicale lobte die charakteristische musikalische Persönlichkeit, die sich hier offenbarte: „Bis jetzt hatte er eine ausgesprochene
Vorliebe für Wagner, und Gounod hätte seinen Namen unter seine
Musik setzen können: ein Widerspruch, der seit L’Arlésienne nicht
mehr besteht, dem Werk, mit dem Bizet beginnt, nur noch auf seine
eigenen Möglichkeiten zurückzugreifen. Die Wirkung der vier am
Sonntag aufgeführten Stücke ist im Konzert noch besser gewesen als
auf der Bühne: Aufgrund des anhaltenden Applauses hat ein reizen-
des Menuett wiederholt werden müssen, und es fehlte nicht viel, und
dem anschließenden Adagietto wäre dieselbe Ehre zuteil geworden.”12
Johannès Weber widmete seiner Besprechung der Suite beträchtlichen
Raum und schloss eine ausführliche Beschreibung ein, indem er Bizets
nachkomponierte Erweiterung der Coda im Minuetto und das „köstliche” Adagietto lobte; ferner erwähnte er die neue kunstvolle Überleitung von der Pastorale in die Reprise des Carillon. Doch hinsichtlich des
ersten Stückes der Suite hatte er das Gefühl, die Zuhörerschaft sei über
den tragischen Abschluss (mit Fréderis Thema) befremdet gewesen. Er
beschloss seine Kritik mit dem Hinweis, noch weitere Stücke aus der
Arlésienne-Partitur mögen herausgelöst werden.13
Pasdeloup wiederholte das Werk am 26. Januar 1873, 16. März 1873
und 18. Januar 1874. Andere Konzertgesellschaften beeilten sich, es in
ihr Repertoire aufzunehmen: die Concerts Colonne am 9. November
1873, 18. Januar (nur Adagietto und Intermezzo), 15. März und 22.
November 1874; die Concerts du Conservatoire am 21. Februar 1875.
Auf diese Weise erfuhr Bizet vor seinem Tod im Juni 1875 die Genugtuung, dass seine Arlésienne-Suite von allen größeren Pariser Konzertgesellschaften gespielt wurde. Sie gehört seitdem zum festen Bestandteil des Repertoires von Konzert und Platteneinspielungen.
Lesley A. Wright
(Übersetzung: Norbert Henning)
1 Siehe Nicole Wild, Dictionnaire des théâtres parisiens au XIXe siécle, Paris
1989, S. 420 –426.
2 Le Figaro vom 3. Juni 1872, S. 3 und vom 5. Juni 1872, S. 4.
3 Zusammenfassung von Alphonse Daudets L’Arlésienne, Paris 1872. Diese
Quelle gibt auf ihrem Titelblatt den 1. Oktober 1872 als Datum der Premiere
an. Bizet, Mme Daudet und mehrere Zeitungen legen die Premiere jedoch
auf den 30. September.
4 Le Figaro vom 11. Juni 1872, S. 4.
5 Revue et Gazette musicale, XXXIX/27 vom 7. Juli 1872, S. 214.
6 Le Figaro vom 15. Juli 1872, S. 3. Mina Curtiss (Bizet and his World, New
York 1958/1974, S. 331) versichert, dass Bizet mit der Arbeit an der Partitur
von L’Arlésienne kurz vor der Geburt seines Sohnes Jacques (10. Juli 1872)
begonnen habe.
7 Léon Daudet, Quand vivait mon père, Paris 1940, S. 21.
8 Julia Daudet, Le Cinquantenaire de L’Arlésienne, in: Les Annales politiques
et littéraires vom 1. Oktober 1922, S. 353.
9 Le Soir vom 8. Oktober 1872, S. 1f.
10 Journal des débats vom 10. Oktober 1872, S. 1f.
11 Le Temps vom 8. Oktober 1872, S. 1.
12 Revue et Gazette musicale, XXXIX/46 vom 17. November 1872, S. 365.
13 Le Temps vom 19. November 1872, S. 2.
Anmerkung im Erstdruck der Partitur
Das Saxophon kann durch Klarinetten, Fagotte und Hörner ersetzt
werden. In diesem Fall sind die kleiner gestochenen zusätzlichen Stimmen auszuführen. [Siehe die Seiten 11f., 21f., 23f., 28, 36 –39, 42f.
und 45–48 der vorliegenden Ausgabe.] Auf die Trompeten kann in
den Nummern 1 und 4 völlig verzichtet werden; im Minuetto (Nr. 2)
sollten sie durch Kornette ergänzt werden.
Die Teilung in Violinen, Violen und Violoncelli basiert auf dem großen
Orchester der Uraufführung und kann der Anzahl der zur Verfügung
stehenden Streicher angepasst werden. In kleinen Orchestern ist das
Klavier der Harfe vorzuziehen.
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