ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 archiv - LHÖ – medizin ALTERSVERÄNDERUNGEN - KRANKHEITEN bei Menschen mit intellektueller Behinderung 1991 - 2005 THEMEN HEFT 11 Inhalt: Fachliteratur (Skripten) Praxis Seite Seite 3 37 Zusammenfassung: Dr. Maria BRUCKMÜLLER LEBENSHILFE ÖSTERREICH Wien 2008 [email protected] 1 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 FACHLITERATUR BARTELS, 1982/ JANCAR, 1987/ TREBERT, 1991: Altersveränderungen bei Menschen mit intellektueller Behinderung. Seite 3 HAVEMAN, Meindert Jan: Zur Epidemiologie von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen. In: WEBER: Alt werden mit geistiger Behinderung. Bern 1997. Seite 8 MOSS, Steve: Diagnostische Methoden in Zusammenhang mit psychischen Störungen bei älteren Erwachsenen mit intellektueller Behinderung. Univ. of Manchester, Hester Adrian Research Center. Manchester UK 1995. Seite 9 MOSS, Steve: Neuere psychodiagnostische Verfahren zur Erfassung psychischer Störungen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung. In: Weber: Psychische Störungen. Bern 1997. MB Wien 1998. Seite 24 J.JANCAR: Konsequenzen der längeren Lebensdauer für Menschen mit geistiger Behinderung. Stoke Park Hospital, Bristol. GERIATRIC MEDICINE 1988/ 81-87. Übers.: Bruckmüller/ Wurst 1988. Seite 26 BRUCKMÜLLER, Maria: Psychische Störungen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung. Untersuchung der LH Wien; Berichtsband über IASSMD Tagung, Wien 1996. Seite 33 DOSEN, Anton: Psychische Gesundheit bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung. In: Weber: Psychische Störungen. Huber Bern 1997. Seminarunterlagen Folien MB 1998. Seite 35 PRAXIS BRUCKMÜLLER, Maria: Geragogische Unterstützung alternder Menschen. Folie. LHÖ Wien 2004. Seite 37 TREBERT, Martin: Psychiatrische Altenpflege. Ein praktisches Lehrbuch. Weinheim 1991. Bearb. MB 1993 LHÖ. Seite 38 BABITS, Dr. Rudolf: Gesundheitsunterstützung. Maßnahmen. Wien 2005. Seite 39 2 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 BARTELS, 1982 JANCAR, 1987 TREBERT, 1991 ALTERSVERÄNDERUNGEN BEI MENSCHEN MIT INTELLEKTUELLER BEHINDERUNG BIOLOGISCHE VERÄNDERUNGEN: Die Haare werden grau oder immer weniger; Die Haut wird schlaff und runzelig, es treten vermehrt Pigmentflecken auf; Die Beweglichkeit ist eingeschränkt; Die Knochen werden dünner (Osteoporose); In den Gelenken verändert sich der Knorpel. Häufig treten Arthrosen an Hüft- und Kniegelenken auf. Physikotherpeutische Maßnahmen (Kurzwelle, Ultraschall) können die Beschwerden lindern. Die Betreuer müssen dafür sorgen, daß die alten Menschen genügend Bewegung machen (Seniorenturnen). Mit zunehmendem Alter kommt es häufig zu Störungen des Stoffwechsels;, Es kommt zur Verlangsamung der Zellteilung und damit zu einer Qualitätsverminderung der Zellen: verzögerte Einstellung auf höhere körperliche Leistungsanforderungen; verringerte Abwehrmöglichkeiten von Infektionen; verminderte Fähigkeit des Konstanthaltens der Körpertemperatur; verlängerte Rekonvaleszenz nach Krankheiten; veränderte Reaktion auf Medikamente. Altersveränderungen an den Organsystemen: Ab dem 45.-50.Lebensjahr brauchen die meisten Menschen eine Brille, weil die verminderte Anpassungsfähigkeit der Linse zur Alterssichtigkeit führt. Bei vielen Menschen machen sich in diesem Alter Veränderungen im Innenohr bemerkbar. Sinneszellen sterben ab. Es kommt zu Schwerhörigkeit, die im oberen Frequenzbereich beginnt und mit zunehmendem Alter zu völliger Fehlhörigkeit führen kann. Beim Atmungssystem wird der Anteil der elastischen Fasern des Lungengewebes geringer. Diese Veränderungen können bei alten Menschen relativ harmlose Erkrankungen, wie z.B. Bronchitis, chronisch werden lassen oder zu lebensbedrohender Lungenentzündung führen. Der Verdauungstrakt zeigt mit zunehmendem Alter immer dünner werdende Schleimhäute, die ihre Fähigkeit, Sekrete abzusondern oder Nahrungsstoffe aufzunehmen, verlieren. Die Flüssigkeitsregulation ist eingeschränkt, was zu "Austrocknung" und Verstopfung führt. Das Gefäßsystem wird ebenfalls im Laufe des Lebens verändert. Durch Einlagerungen an den Innenwänden engt sich das Volumen ein, die Durchblutung ist gestört. Kommt es zu völligem Verschluß der Gefäße, 3 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 kann das davon betroffene Gewebe absterben. In diesen Fällen handelt es sich um krankhafte arteriosklerotische Veränderungen. Bei chronischen Durchblutungsstörungen der Hirngefäße kommt es im Laufe der Zeit zu geistiger Verwirrtheit (Demenz). Diese Demenz kann auch durch Hirnabbauprozesse erfolgen und ist erkennbar an Störungen der Merkfähigkeit (Kurzzeitgedächtnis), Verstimmungen, Kopfweh, Orientierungs- und Schlafstörungen. Als Störung im endokrinen System sei die Zunahme von Zucker-krankheit (Diabetes mellitus) genannt. Zu erwähnen ist ferner die Zunahme von Magen- und Darmkrebs, wobei Krebs auch als Todesursache hervortritt. Bei all diesen Veränderungen ist die Unterscheidung zwischen normalen Altersveränderungen und krankhaften Altersprozessen wichtig. Die Übergänge sind fließend, umso bedeutsamer ist die genaue Beobachtung durch das Betreuungspersonal. PSYCHSISCHE KRANKHEITEN: Auch alte Menschen mit geistiger Behinderung können, abgesehen von den geschilderten Altersveränderungen, im Alter von psychischen Krankheiten betroffen werden. Die Schwierigkeit der Diagnosestellung liegt in den fließenden Übergängen zwischen einzelnen Krankheitsformen. Umso wichtiger ist die genaue Beobachtung des alten Menschen und die Behandlung durch einen Hausarzt, der Veränderungen über Jahre hin beurteilen kann. Demenzen und Verwirrtheitszustände: Gemeinsames Merkmal ist die Störung der Merkfähigkeit und die allgemeine Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit. Bei Demenzen handelt es sich um langanhaltende, progredient verlaufende Störungen, die nicht heilbar sind. In diese Gruppe gehört die Demenz vom Alzheimer Typus. Meist beginnt die Demenz mit leichter Vergeßlichkeit, die der alte Mensch bemerkt und kompensieren möchte, um seine Identität zu bewahren. Mit dem Schwinden der Erinnerung verliert er seine Geschichte; er muß immer weiter in die Vergangenheit zurückgreifen, um seiner selbst bewußt zu werden. Dieses Verlusterlebnis kann zu emotionalen Ausbrüchen (Wut, Zorn), aber auch zu Depression, Trauer und Ängsten führen. Hier sei auf die Bedeutung der Dokumentation für alte geistig behinderte Menschen hingewiesen. Verwirrtheitszustände hingegen beeinträchtigen die Wahrnehmung, ändern innerhalb von Stunden oder Tagen ihren Verlauf, klingen spontan ab und können in der Regel erfolgreich behandelt werden. In dieser Situation kann ein Wohnungswechsel für alte Menschen katastrophale Folgen haben. Während in der vertrauten Umgebung dementielle Erscheinungen oder Verwirrung wenig Ungemach bereiteten, findet sich der alte Mensch in einer neuen Umgebung nicht zurecht; sein Zustand wird als ernst empfunden, er wird u.U. für nicht zurechnungsfähig gehalten, isoliert, in der Bewegung eingeschränkt. Zornausbrüche werden als 4 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Folge der Krankheit und nicht als Folge der unangemessenen Lebensumstände bewertet. Besonders Menschen, die sich sprachlich nicht gut oder gar nicht äußern können, sind bedroht. Wahnhafte Störungen und Schizophrenie: Wahnvorstellungen sind von Beeinträchtigungsvorstellungen, die sich gegen die eigene Person richten, geprägt: Verfolgung, Vergiftung, Bestehlung, Verarmung, Vernichtung, Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber der Umwelt u.ä. Die Entstehung der Wahnidee läßt sich oft aufgrund der Lebensgeschichte nachvollziehen (Verfolgung, Krieg, Armut). Je weniger Kontakte ein Mensch hat, umso eher ist er diesen Gedanken ausgeliefert. Der Betreuer sollte bei diesem "Wahnspiel" nicht mitmachen. Gleichzeitig sind alle Sinneneindrücke zu verdeutlichen, um dem alten Menschen Anhaltspunkte für seine Vorstellungen zu geben. Bei Wahnvorstellungen aufgrund anhaltender körperlicher Schmerzen ist auf die Bedeutung der Schmerzbehandlung hinzuweisen. Auch bei der Schizophrenie bestehen Wahnvorstellungen, daneben können aber auch Denkstörungen und Halluzinationen auftreten. Gefühlsäußerungen werden oft unangemessen. Hinzu können psychomotorische Störungen kommen, die bis zur Starre führen. Eine medikamentöse Behandlung ist unerläßlich, um so weit als möglich Zugang zum kranken Menschen zu finden. Depression: Depression ist ein individuell variantenreicher Prozeß, der sich von der Traurigkeit dadurch unterscheidet, daß nicht ein aktuelles Ereignis bearbeitet und dann als erledigt betrachtet wird, sondern eine bedrückende Mißstimmung auftritt und der Vorgang in vielfacher Ausprägung verläuft . Die Krankheitsanzeichen sind fließend, die Lebensgeschichte wird einbezogen. Symptome: sozialer Rückzug, Schlaflosigkeit, Hypochondrie, Appetitverlust, Angst, Unsicherheit, Entschlußlosigkeit, Hoffnungslosigkeit, intensive Beschäftigung mit dem eigenen Körper, wobei mit körperlichen Beschwerden besondere Aufmerksamkeit und Zuwendung erreicht werden soll. Depressive Menschen wirken ansteckend auf Personen ihrer Umgebung. Depression ist eine der häufigsten Alterserkrankungen, wird aber kaum als solche diagnostiziert und angesprochen. Es besteht erhöhte Suizidgefahr. Zur Behandlung gehört die Einbindung des alten Menschen in einen stabilen sozialen Bezugsrahmen und medikamentöse Behandlung, ev. auch Psychotherapie. PSYCHOSOMATISCHE STÖRUNGEN: Alte Menschen bewerten besonders ihre körperliche Beweglichkeit und sensorische Einschränkungen als bedeutsam. Empfindungen der Vereinsamung führen zu negativer Einschätzung des Gesundheitszustandes. Schlafstörungen gehören zu den häufigsten psychosomatischen Störungen im Alter. Die nächtliche Schlafdauer nimmt ab. In der Regel reichen 6 5 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Stunden Schlaf für alte Menschen aus. Schlafstörungen sind daher häufig die Folge einer unangemessen langen, erzwungenen Ruhezeit (Diensteinteilung, Essenszeiten). Hausmittel gegen Schlafstörungen sind Kräutertee, warme Milch, Zuwendung u.ä. Störungen im Magen- Darmbereich können organische, aber auch psychische Ursachen haben. Magengeschwüre bilden sich bei alten Menschen eher kurzfristig aus. Das Bemühen, Harn und Stuhl möglichst zu halten, hängt mit dem Bedürfnis nach Eigenständigkeit zusammen. Inkontinenz bedeutet für den alten Menschen erhöhte Abhängigkeit und emotionale Belastung. Sie ist mit Kindheitserfahrungen verbunden und sollte daher reflektiert werden (Gefahren der Mißachtung, der Mißhandlung u.ä.). Herz- Kreislaufstörungen entstehen sowohl durch psychischen Druck als auch durch Verengung von Gefäßen, durch Durchblutungsstörungen oder vorübergehenden Sauerstoffmangel. Das Risiko erhöht sich mit zunehmendem Alter (Cholesterinspiegel, Bluthochdruck). PSYCHISCHE VERÄNDERUNGEN: Neurotische Störungen können auch bei alten Menschen mit geistiger Behinderung auftreten. Dies besonders bei jenen, die aufgrund guter Voraussetzungen im Erwachsenenalter eher selbständig wurden und manche Lebensbereiche allein bewältigten. Mit zunehmendem Alter werden sie sich größerer Abhängigkeit bewußt und versuchen durch gesteigerte Anstrengung, den Kompetenzverlust zu vermeiden. Diese Bemühungen sind streßbesetzt und führen leicht zu neurotischen Symptomen. Psychische Veränderungen: Bedingt sind diese z.T. durch den körperlichen Abbau. Die Diskrepanz zwischen Wollen und Können ist belastend. Weitere Ursachen für psychische Veränderungen sind die Einstellung des Alternden zu seiner augenblicklichen Situation, die Selbsteinschätzung, der soziale Status, die Reduzierung von Umweltkontakten, die Wohn- und Lebensbedingungen, sowie die Erwartungen der Gesellschaft, die an alte Menschen gerichtet werden. Es ist keineswegs erwiesen, daß ab dem 3. Lebensjahrzehnt nur mehr ein Abbau der intellektuellen Fähigkeit eintritt. Es ist nachgewiesen, daß Intelligenzveränderungen eintreten; Wendigkeit, Kombi-nationsfähigkeit und Orientierung in neuen Situationen nehmen ab, aber Allgemeinwissen, Erfahrungswissen und Wortschatzkenntnisse nehmen zu. Die Lernfähigkeit bleibt also bis in ein hohes Alter erhalten. Alte Menschen lernen nicht mehr so schnell, dafür aber genauer. Wichtig sind Motivation im sozialen Kontext, richtige Aufbereitung des Lernstoffes und Übungsmöglichkeiten. Es wurde bei behinderten Menschen eine vorzeitige Vergreisung beobachtet, die allerdings durch entsprechende Trainingsprogramme hinausgezögert werden kann. Daraus ergibt sich die Bedeutung der Anforderung im Alter, wobei ein Überangebot an Aktivitäten zu vermeiden und das Ruhebedürfnis zu berücksichtigen ist. Besonders beobachtet wird eine Zunahme von Stereotypien bei der Bewältigung von Alltagssituationen. Diese 6 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Handlungsmuster können nicht rasch durchbrochen werden; im Gegenteil, Mitarbeiter benötigen sehr viel Zeit und Geduld, um den alten Menschen nicht einer Streßlage auszusetzen. Außerdem ist es wichtig, alte behinderte Menschen an Aktivitäten außerhalb des Hauses teilnehmen zu lassen (Besuche, Zusammenarbeit mit Volkshochschulen u.ä.). Wenn nach einer Übergangsphase die Tätigkeit in einer Werkstätte wegfällt, sollten alte Bewohner die Zeiteinteilung selbst mitbestimmen und gestalten. Ein vertrauter Zeitrahmen gibt Sicherheit. Arbeiten für die Gemeinschaft geben dem alten Menschen das Gefühl, gebraucht zu werden. Sie sollten aber nicht zur "Dauerpflicht" werden. In jedem Fall sind die individuelle Situation von alternden geistig behinderten Menschen und ihre Gewohnheiten und Bedürfnisse zu berücksichtigen. SOZIALE VERÄNDERUNGEN: Jeder alte Mensch erlebt auch Veränderungen im Sozialbereich. Schon das Ausscheiden aus dem Arbeitsprozeß verändert das Leben. Mit den behinderten Söhnen und Töchtern werden auch die Angehörigen älter und sterben meist früher als ihre Kinder. Die Stammfamilie als Ort der Sicherheit und Geborgenheit fällt also weg. Daher müssen andere Bezugspersonen (Sachwalter, Mitarbeiter, Freunde) das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe vermitteln und die Wahrung der Rechte (Recht auf Anerkennung als eigenständige Persönlichkeit, Unverletzlichkeit der Privatsphäre, Glaubensfreiheit, achtungsvolle Behandlung und Pflege), sowie eine sinnvolle Lebensgestaltung (Lebensplan) sichern helfen. Wohnbedingungen: Es wird immer deutlicher, daß ältere geistig behinderte Menschen in der gewohnten Umgebung alt werden möchten, nicht in ein eigenes "Altenhaus" übersiedeln wollen. Es wäre also nicht richtig, spezielle Behindertenaltenheime zu errichten. Soziale Kontakte würden dadurch erschwert oder abgebrochen, die Ghettoisierung gefördert werden. Es wäre aber auch nicht gut, ältere geistig behinderte Menschen in allgemeine Altersheime zu "verlegen". Sie würden doppelt diskriminiert (alt und behindert), in ihren Bedürfnissen nicht berücksichtigt und in die Isolation gedrängt werden. 7 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Meindert Jan HAVEMAN In: WEBER: Alt werden mit geistiger Behinderung Bern 1997 ZUR EPIDEMIOLOGIE VON PSYCHISCHEN STÖRUNGEN UND VERHALTENSSTÖRUNGEN Altern als primär soziales Schicksal (THOMAE) fordert für g.b. Menschen eine ihren Bedürfnissen entsprechende Lebenslage, um nicht eine mehrfache Stigmatisierung - behindert, alt, psychisch krank - zu erzeugen. Die Prävalenz psychischer Störungen bei älteren Personen m.g.B. ist nicht höher als bei jüngeren. Persönliche Lebensgeschichte erklärt unterschiedliche Reaktionen auf Lebensveränderungen im Alter (Kontakt zu Angehörigen, Wohnformen, Freizeitangebote). Lebenserwartung von Menschen m.g.B. steigt an, aus-genommen Personen mit Down-Syndrom. Unterschiede zwischen g.b.Personen mit und ohne Down-Syndrom: Bei Personen mit Down-Syndrom in höherem Alter Auftreten einer Alzheimer-ähnlichen Demenzerkrankung (Funktionsverluste von Orientierung, Sprache, Gedächtnis, Motorik, Alltagspraxis). Prävalenz psychischer Störungen: Ähnliche Beobachtung für psychische Störungen (Tabelle 1); ausschlaggebend sind Schweregrad und Ursache der g.Behinderung. Personen mit schwerer g.B. ohne Down-Syndrom zeigen deutlich mehr psychische Störungen. Demenzerkrankungen sind nicht aufgezeigt, so daß Symptome der Demenz bei Personen mit Down-Syndrom andere psychische Probleme überschatten könnten. Veränderungen der psychischen Gesundheit: Beobachtung während 3 Jahren (N=1.600), Fragestellung: Nehmen während einer 3Jahresperiode mit dem Alter psychische Störungen zu? Ist diese Zunahme bei älteren Personen größer? Ab welchem Alter steigt die Häufigkeit? Gibt es Unterschiede mit und ohne Down-Syndrom? Ab dem Alter von 60 Jahren wird die Gruppe mit Down-Syndrom wegen der hohen Sterblichkeit älterer Down-Syndrom Personen kleiner. Folgende Probleme wurden erfaßt: Apathie, Anpassungsschwierigkeiten, Irritationen, Angst, Weinen, Rastlosigkeit, Depressionen, Mißtrauen, Appetitlosigkeit. Bei Personen mit Down-Syndrom nehmen Probleme ab dem 40 Lj. zu, in höherem Alter stark progressiv. Im Alter von 50 - 60 a häufen sich Verhaltensstörungen, um später wieder abzunehmen. Bei Personen ohne Down-Syndrom Zunahme von psychischen Auffälligkeiten ab einem Alter von 70 Jahren. Im Beobachtungszeitraum von 3 Jahren keine Veränderungen bei störendem Verhalten. 8 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Auswirkungen des Alters auf das kognitive Funktionsniveau: Untersucht wurden Kurz- und Langzeitgedächtnis und Orientierung (Kernsymptome der Alzheimer-Erkrankung). Bei Personen mit Down-Syndrom ab etwa 40 a Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses und ab 50 a des Langzeitgedächtnisses. Bei gleichaltrigen Menschen m.g.B. bleiben Gedächtnisfunktionen stabil. Ab etwa 40 a haben Personen mit Down-Syndrom Probleme der außerhäuslichen Orientierung, deutliche Zunahme ab etwa 60 a. Bei anderen g.b.Menschen Rückgang des Orientierungsvermögens erst etwa ab 70 Jahren. Diskussion: Psychische Auffälligkeiten nicht mehr oder weniger bei älteren Personen m.g.B. im Verhältnis zu jüngeren. Nicht Alter, sondern Schweregrad der Behinderung, soziale Umgebung und äthiologische Diagnose sind von zentraler Bedeutung. Relevante Zunahme psychischer Auffälligkeiten erst ab 70 a. Hohe Korrelation zwischen psychischer Auffälligkeit und Diagnose Demenz, sowie Regression in kognitiven Funktionen bei älteren Personen mit Down-Syndrom weisen auf Demenzprozesse und nicht auf externe Faktoren hin. Bestätigt durch die Unterschiede zwischen Personen mit und ohne Down-Syndrom. Gefahr einer zu raschen Diagnostizierung von Demenzen (AlzheimerKrankheit), Notwendigkeit guter Differentialdiagnostik. Noch zu wenig Kenntnisse über den Zusammenhang von affektiven Störungen und Demenzen. Viele psychische Altersprobleme werden wegen Schwierigkeiten in der verbalen Kommunikation zu spät erkannt. Daher Bedeutung der prädiagnostischen Phase ohne Unterschied des Alters, Lebenslaufkenntnisse, empathisches Verstehen und systematisches Verfolgen von Verhaltensänderungen, aber auch Begreifen von tiefem Leiden bei begrenztem Sprachpotential. MOSS Steve, Univ. of Manchester Hester Adrian Research Center Manchester UK 1995 DIAGNOSTISCHE METHODEN IN ZUSAMMENHANG MIT PSYCHISCHEN STÖRUNGEN BEI ÄLTEREN ERWACHSENEN MIT INTELLEKTUELLER BEHINDERUNG. 9 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Die Bedeutung von Geisteskrankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung: Obwohl es seit vielen Jahren ein Bewußtsein für die Tatsache gibt, daß Leute mit geistiger Behinderung an Geisteskrankheiten leiden können, hat dieses Thema erst in den letzten Jahren größere Beachtung gefunden. Probleme in der Erkennung und Diagnose psychischer Krankheitsbilder in dieser Bevölkerungsgruppe, das Fehlen spezialisierter psychiatrischer Ausbildung und mangelndes Verständnis von symptomatischem Verhalten bei den Pflegenden haben insgesamt zur Unzulänglichkeit von psychiatrischen Einrichtungen beigetragen. Bei einer älteren geistig behinderten Person wird das Problem noch komplexer. [Der Alterungsprozeß kann die Personen infolge einer Abnützung ihrer Fähigkeit zur Problembewältigung in zunehmendem Maße verletzbar und damit anfälliger für umgebungsbedingten Streß machen, der zu Geisteskrankheit führen kann. Gleichzeitig sind die am weitesten verbreiteten Zustände im Alter, nämlich Demenz und Depression, selbst eher schwierig frühzeitig zu entdecken, sogar in der Durchschnittsbevölkerung. (Goldberg & Huxley, 1980). Insgesamt weisen die Einflüsse von Geisteskrankheit, Altern und geistiger Behinderung zusammen auf eine Gruppe von Menschen hin, die wohl einen beträchtlichen Bedarf an Unterstützung haben, und deren Lebensqualität schwer beeinträchtigt bleiben wird, wenn deren psychische Probleme nicht in effizienter Weise diagnostiziert und behandelt werden. Diese Diskussion der Probleme der geistigen Verfassung (1) bei geistig Behinderten beginnt mit der von manchen Autoren geäußerten Ansicht, daß eine gute geistige Verfassung ein Gleichgewicht zwischen Individuum und Umgebung erfordert und daß die Bedürfnisse des Menschen für Unterstützung und Anregung in geeigneter Weise die verfügbaren Möglichkeiten und daraus abgeleiteten Wünsche widerspiegeln. Ein ökologischer Rahmen für den Alterungsprozeß: Bronfenbrenner (1979) prägte den Begriff der „Äkologie der menschlichen Entwicklung“ (The Ecology of Human Development) um die Art und Weise zu beschreiben, in der eine Person eine Interaktion mit verschiedenen Umgebungsformen entwickelt (z. B. Zuhause, Nachbarschaft und so weiter), mit denen sie in Berührung kommt. Er schlug ein Modell vor, in der das Leben einer Person innerhalb eines vier Schichten umfassenden sozialen Systems gesehen wird, die man sich als Kreise von zunehmendem Radius um das Individuum herum vorstellen kann. Diese Schichten umfassen das unmittelbare physische und soziale Umfeld bis hin zu den politischen und wirtschaftlichen Strukturen, die, wenn auch in weniger direkter Weise, dennoch einen bedeutsamen Einfluß auf das Leben haben. Während ich nicht gerne das Bronfenbrennersche Modell im formalen Sinn definierbarer sozialer Schichten anwenden mächte, betont diese Sichtwei10 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 se doch, wie wichtig es ist, die Person in einem vollständigen sozialen Kontext zu sehen. In diesem Rahmen bemerken Lawton und Nahemov (1973), daß der Alterungsprozeß als kontinuierliche Anpassung gesehen werden kann - sowohl an die Umgebung als auch an Veränderungen in internen Fähigkeiten und Funktionsweisen, die sich innerhalb eines Lebens ereignen. Aus ihrer Sichtweise ist die Äkologie des Alterns als ein System kontinuierlicher Anpassungen definiert, in dem sowohl die Person als auch die Umgebung in nicht zufälliger Weise im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen sind. Eine Veränderung im Zustand der Person oder der Umgebung kann einen Aktionszyklus einleiten, der Adaption erfordert. In konkreterer Hinsicht haben Headey und Wearing (1989) ein Modell eines dynamischen äkologischen Gleichgewichtes gegeben, in dem von jeder Person „normale“ Gleichgewichtsniveaus von Ereignissen und subjektivem Wohlbefinden betrachtet werden, die aufgrund von Alter und Persänlichkeit vorhersagbar sind. Nur wenn die Ereignisse von ihrem Gleichgewichtsniveau abweichen, gibt es eine Veränderung im Wohlbefinden. Murrell und Norris (1983) haben ein verwandtes Modell vorgeschlagen, das auf der Casselschen Diskussion (1975) der Rolle psychosozialer Faktoren in der Krankheitsgenese beruht, und welches meiner Ansicht nach sehr geeignet für die Betrachtung der geistigen Verfassung in dieser Bevälkerungsgruppe ist. Zwei Faktoren werden betont, nämlich die Verursacher oder Ursachen von Streß bei einer Person und die Prozesse, die vor ihnen schützen, sie abpuffern oder dämpfen. Diese Faktoren sind Ereignisse wie Scheidung, Pension und Krankheit (Dohrenwend u. Dohrenwend, 1974), sowie mit Streß verbundene Lebensprozesse wie Armut, Familie mit alleinstehendem Elternteil, Lärm und Substandardwohnverhältnisse (Gersten, Langner, Eisenberg u. Simcha-Fagan, 1977). Bei Personen mit geistiger Behinderung wären besondere Streßfaktoren die unzureichende Unterstützung von Freunden, soziale Stigmatisierung, Dominanz von anderen Klienten am Arbeitsplatz bzw. in der Wohnumgebung oder eine Konfliktsituation zwischen dem Klienten und den Dienstleistenden. In einer unserer Studien über ältere Personen (Moss et al., 1991) haben wir gefunden, daß einer der am häufigsten angegebenen Gründe für Unzufriedenheit ein Konflikt mit der für die Wohnung des Menschen verantwortlichen Person war. Abhilfe geschaffen wird durch das Suchen von in der Umgebung verfügbaren Mäglichkeiten, von Schutz und Unterstützung, um bei Wachstum und Entwicklung zu helfen, und um als Puffer gegen die umgebungsbedingten Streßfaktoren zu wirken. Murrell u. Norris (1983) schlagen vor, daß diese Ressourcen vielfältige, z. B. materielle, kulturelle, physische, soziale und interpersonelle Formen annehmen kännen. Auf geistige Behinderung spezialisierte Einrichtungen würden an sich ein bedeutsames Potential darstellen. Die geistige Verfassung wird in diesem Modell in Abhängigkeit vom Grad gesehen, in dem die vorhandenen Ressourcen den Streßfaktoren entge11 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 genwirken oder sie überwinden kännen. Je stärker die Maßnahme im Verhältnis zum Streßfaktor ist, umso geringer ist das Risiko für die geistige Verfassung; wenn die Streßfaktoren jedoch die Ressourcen dominieren, ist das Ausmaß an nicht gedeckten Bedürfnissen hoch, und die geistige Verfassung kann gefährdet sein. Während eine umfangreiche Literatur die klare Beziehung zwischen mit Streß verbundenen Ereignissen und der geistigen Verfassung aufzeigt, ist es genauso klar, daß eine Umgebung, die vom Menschen zu wenig verlangt, ebenso schädlich sein kann (McGrath, 1970; Levi, 1974). Wildman u. Johnson haben (1977) beispielsweise herausgefunden, daß das Wohlbefinden bei Personen mit einem sehr wenig ereignisreichen Leben geringer war als bei Personen mit einer immerhin bescheidenen Anzahl von Ereignissen. Altern, geistige Behinderung und Geisteskrankheit: Eine geistig behinderte Person hat per definitionem weniger persönliche Ressourcen als Puffer gegen die Anforderungen des Lebens zur Verfügung. Das ist aber genau die raison d'être für die Existenz von Einrichtungen für geistige Behinderung - das Individuum bei einem gehaltvolleren und unabhängigeren Leben zu unterstützen und als Puffer gegen die sonst überbeanspruchende Umgebung zu wirken. Der Alterungsprozeß kann die Personen infolge einer Abnützung ihrer Fähigkeit zur Problembewältigung in zunehmendem Maße verletzbar und damit anfälliger für umgebungsbedingten Streß machen, der zu Geisteskrankheit führen kann. So kann psychische Stärung ein gewichtiger Faktor im Entschluß sein, eine ältere Person zu hospitalisieren; Gianturko und Busse haben gezeigt (1978), daß in den USA beispielsweise 50 Prozent aller Spitals- und Heimbetten von psychisch kranken älteren Personen belegt sind. Gleichzeitig sind die am weitesten verbreiteten Zustände im Alter, nämlich Demenz und Depression, selbst eher schwierig frühzeitig zu entdecken, sogar in der Durchschnittsbevälkerung. (Goldberg & Huxley, 1980). Insgesamt weisen die Einflüsse von Geisteskrankheit, Altern und geistiger Behinderung zusammen auf eine Gruppe von Menschen hin, die wohl einen beträchtlichen Bedarf an Unterstützung haben, und deren Lebensqualität schwer beeinträchtigt bleiben wird, wenn deren psychische Probleme nicht in effizienter Weise diagnostiziert und behandelt werden. Ein verzerrtes Bild - der Weg zur Pflege: Wenn man die auf die geistige Verfassung bezüglichen Bedürfnisse bei Leuten mit geistiger Behinderung in Betracht zieht, ist es wichtig das Ausmaß zu beachten, in dem psychische Zustände sozial bedingt sind und damit in intensiver Wechselwirkung mit dem Lebenskontext der Person stehen. Gewisse soziale Verhältnisse ermäglichen es anscheinend eher, die psychischen Symptome zu beherrschen oder mit ihnen umzugehen als andere, während andere Situationen derartige Symptome geradezu hervorrufen oder verstärken kännen. Diese Faktoren bestimmen zu einem 12 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 großen Teil, ob eine Person professionelle Hilfe für ein Problem sucht. Sobald eine Person Behandlung gesucht hat, bekommen die verschiedenen Einrichtungen eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung, ob eine Person spezialisierter Hilfe zugeführt wird. Jede „Stufe“ bestehend aus einer Einrichtung und einer Überweisung kann als Filter angesehen werden, durch den einige Patienten gehen und andere nicht. Goldberg u. Huxley haben gezeigt (1980), daß für die Durchschnittsbevölkerung der praktische Arzt der wichtigste Filter auf dem Weg zu psychiatrischer Hilfe ist. Innerhalb von Gemeinden ist wahrscheinlich der Amtsarzt („local general physician“) bei der Überweisung zu einem Spezialisten beteiligt, u. U. nur als Formalität. Ob nun die Hauptentscheidung vom Amtsarzt oder von einer anderen Einrichtung getragen wird, der Vorgang der Überweisung zu spezialisierten psychiatrischen Einrichtungen wird wahrscheinlich bei Leuten mit geistiger Behinderung in anderer Weise als in der Durchschnittsbevölkerung vonstatten gehen. Goldberg u. Huxley (1980) zeigen auf, daß dieser dritte Filter, nämlich derjenige zwischen primärer und spezialisierter Pflege der am wenigsten durchlässige unter den Filtern ist, die Psychiater von der Durchschnittsbevölkerung trennen. In Anbetracht der Schwierigkeiten bei der Diagnose mentaler Störungen innerhalb der Bevölkerung mit geistiger Behinderung, werden Amtsärzte den Patienten in einem früheren Stadium zu spezialisierten psychiatrischen Einrichtungen überweisen, so daß dieser dritte Filter durchlässiger als bei der Durchschnittsbevölkerung ist. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine geistig behinderte Person zunächst den Amtsarzt erreicht, wohl geringer als bei einer geistig nicht behinderten Person. Bei einer nicht behinderten Person wird das Einsetzen geistiger Behinderung oft durch die Unfähigkeit angekündigt, einen Beruf in effizienter Weise auszuführen, oder Rollen zu übernehmen, die vorher erfolgreich ausgeführt wurden (z. B. die eines Elternteils, Gattens, Geliebten oder Freundes). Allerdings können dieselben Kriterien auch für Leute mit mäßiger geistiger Behinderung zutreffen, die in der Gemeinschaft leben und möglicherweise einen Beruf haben. Andererseits haben viele Leute mit geistiger Behinderung wenige Rollenbilder zu erfüllen, abgesehen von dem eines sozial akzeptierten Verhaltens. Folglich ist es möglich, daß ganz extreme depressive oder psychotische Zustände sich in keiner klar abgegrenzten Weise manifestieren, was das soziale Rollenverhalten betrifft, wenn auch die Belastung für den Menschen beträchtlich sein kann. Ohne Spezialwissen kännte man annehmen, daß die Symptome Teil der Behinderung sind, und so erfolgt u. U. keine Überweisung zu einem Amtsarzt, um weitere psychiatrische Auswertungen durchzuführen. Das Obengenannte soll zeigen, wie wichtig es ist, daß man sich nicht nur darauf konzentriert, psychiatrische Techniken zu entwickeln, sondern daß man auch den Weg verbessert, über den geistig behinderte Leute eine geeignete Behandlung erhalten. In dieser Hinsicht ist die Rolle der Pflegenden bei der Erkennung von potentiellen Symptomen wesentlich, da diese zunächst am ehesten den Klienten zum Amtsarzt bringen. 13 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Wer wird überwiesen? Aus dem Gesagten folgt, daß der Mechanismus, über den Leute mit geistiger Behinderung zu psychiatrischen Einrichtungen gelangen es wahrscheinlich macht, daß viele Leute mit einer Geisteskrankheit unerkannt bleiben. Jedoch gilt dies auch für die Durchschnittsbevölkerung. Gewisse Zustände werden wahrscheinlich eher entdeckt als andere. Alkoholmißbrauch oder Schizophrenie werden per se leichter entdeckt, da diese oft auffälliges Verhalten ergeben, welches andere stärt. Unsere eigene neuere Arbeit (Moss et al., 1994) bestätigt, daß diese Tendenz auch für geistig Behinderte gilt. Psychotische Zustände wie Schizophrenie sind im Vergleich zu häufigeren Zuständen wie Depression oder Angst in massiver Weise bei den Leuten überrepräsentiert, die tatsächlich zu Psychiatern überwiesen werden. Bei geistig behinderten Leuten sind die am meisten verbreiteten auffälligen Zustände verschiedenartiges herausforderndes Verhalten - besonders Aggression und Autoläsionismus. Schweres Problemverhalten ist die am weitesten verbreitete Ursache für die Überweisung von Leuten mit geistiger Behinderung zu Psychiatern; es ist für über die Hälfte der Fälle von Langzeitpatienten und einem Drittel der Überweisungen in der Gemeinde verantwortlich. Jedoch sind diese Probleme oft eher Langzeitverhaltensmuster als Krankheiten mit einem vorhersagbaren zeitlichen Verlauf. Als solche passen sie oft nicht in die etablierten Kriterien für diagnostizierbare psychiatrische Zustände (Corbett, 1979). In dieser Hinsicht hat der Ein- oder Ausschluß von Problemverhalten einen bedeutsamen Einfluß auf das scheinbare Auftreten. Campbell und Malone (1991) berichten, daß das Auftreten von Geisteskrankheit bei geistig behinderten Leuten zwischen 14,3 und 67,3 Prozent variiert, je nach der Festlegung auf die betrachtete Population und den Kriterien zur Bestimmung der Anwesenheit von psychiatrischen Stärungen. Sind Verhaltensstörungen eingeschlossen, so ist das Vorkommen von psychiatrischen Störungen unter Leuten mit geistiger Behinderung eher hoch, wobei ein hoher Anteil an den Diagnosen aus Persönlichkeitsstörungen besteht. So fand Reiss (1990) ein Gesamtvorkommen von 39% und Menolascino (1989) eines von 30%. Wenn man jedoch Leute ausklammert, deren einzige Stärung das Verhalten betrifft, so beläuft sich anscheinend das Vorkommen von Psychose und Neurose zusammen auf nur 8-10 Prozent (Heaton-Ward, 1977). Diese Diskrepanz würde in Gruppen älterer Menschen eher kleiner sein, da diese in geringerem Ausmaß Problemverhalten zeigen als jüngere Menschen (Day, 1985; Kiernan u. Moss, 1990). Die Diagnose: Das Vorkommen von Geisteskrankheit bei Menschen mit geistiger Behinderung: Die Probleme im Zusammenhang mit der Diagnose bei Leuten mit geistiger Behinderung spiegeln sich in den großen Unterschieden in den berich14 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 teten Zahlen für das Vorkommen wider. Campbell und Mallone (1991) haben beispielsweise berichtet, daß das Vorkommen bei geistig behinderten Leuten zwischen 14,3% und 67,3% schwankt. In dieser Hinsicht ruft die Kategorie der Verhaltensstörungen besondere Probleme hervor. Das große Vorkommen solcher Störungen bei Leuten mit geistiger Behinderung zeigt, daß es manchmal extrem schwierig ist, zu entscheiden, ob ein bestimmtes Verhaltensmuster sich als echte psychische Störung herausstellt. Folglich können Studien, die Verhaltensstörungen als psychische Probleme betrachten in einem hohen Vorkommen derselben resultieren. Punkte, die das Verhältnis zwischen Geisteskrankheit und herausforderndem Verhalten betreffen, sind ein wichtiges und in Entwicklung begriffenes Forschungsgebiet. In der Vergangenheit hat es eine beträchtliche Verwirrung in Bezug auf die Bedingungen gegeben, unter denen herausforderndes Verhalten die formalen Kriterien für eine psychische Störung erfüllt. Diese Verwirrung wurde durch die Tatsache verstärkt, daß herausfordernde Verhaltensformen den häufigsten Grund für eine Überweisung von geistig behinderten Leuten zu einem Psychiater darstellen, und diese so für ein Drittel der Zugänge aus dieser Gruppe verantwortlich sind (Day, 1985). Jedoch stellen diese Probleme oft eher Langzeitverhaltensmuster als Krankheiten mit einem vorhersagbaren Verlauf dar. Als solche passen sie oft nicht zu den Standardkriterien für diagnostizierbare psychische Zustände (Corbett, 1979). Auch wenn es eine beträchtliche Übereinstimmung zwischen den Methoden gibt, die üblicherweise dazu dienen, herausforderndes Verhalten und psychische Störungen zu diagnostizieren (Edelbrock und Costello, 1988), ergibt sich gewiß keine eineindeutige Zuordnung (Gould, Bird u. Jaramillo, 1993). Im Spektrum mentaler Störungen weisen Indizien aus großräumigen Studien darauf hin, daß das Vorkommensmuster etwas anders als in der Durchschnittsbevölkerung ist. Ein Vergleich zwischen zwei umfassenden Studien über die Krankheitsziffern (Moss, 1995), eine in Bezug auf die Durchschnittsbevölkerung (Bland, Newman und Orn, 1988) und die andere speziell über Leute mit geistiger Behinderung (Lund, 1985), zeigte ein viel höheres Vorkommen von affektiven Störungen und Neurosen. Es wird berichtet, daß es unter Leuten mit geistiger Behinderung einen höheren Anteil von Psychosen und Autismus gibt, sowie einen sehr hohen Anteil an Verhaltensstörungen (Day u. Jancar, 1994) Vorkommen bei älteren Leuten mit geistiger Behinderung: Die Ziffern für den älteren Bevölkerungsanteil zeigt ähnlich weitgestreute Schwankungen wie die oben beschriebenen. In einer neueren Untersuchung berichten Day und Jancar (1994) ein Vorkommen gewichtiger psychischer Störungen von 30-40% für die über 40-jährigen und von 20% für die über 65-jährigen. Unsere eigene Arbeit über die über 50-jährigen (Patel, Goldberg u. Moss, 1993; Moss, Goldberg, Patel u. Wilkin, 1993) zeigen ein Vorkommen von 11,4% Geisteskrankheiten, 11,4% Demenz und 21% 15 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 beides zusammen . Ein besonders bedeutsamer Punkt bei unseren Ergebnissen ist, daß im Gegensatz zu anderen Untersuchungen die Stichprobe nicht viele Leute mit herausfordendem Verhalten oder psychotischen Zuständen enthielt. Der Großteil der Fälle waren Depression, Angst oder Demenz. Das ist von großer Bedeutung, da genau diese Zustände in der Durchschnittsbevölkerung am wenigsten entdeckt werden (Goldberg u. Huxley, 19??). Es ist deshalb nicht überraschend, daß ein Großteil der Fälle den psychiatrischen Einrichtungen nicht bekannt ist. Weiters zeigen unsere Daten über die physische Verfassung dieses Bevölkerungsanteils, daß die unter Demenz leidende Gruppe eine wesentlich schlechtere physische Verfassung hat als der Durchschnitt. Richtwerten zufolge gibt es ein höheres Maß an chronischen und akuten physischen Störungen, besonders solchen, die das Zentralnervensystems und da Funktionieren des gastrointestinalen Systems betreffen. Viele der Menschen mit einer feststehenden Diagnose auf Demenz zeigten eine Verschlechterung in einer Vielzahl von Bereichen, die die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen und mit anderen umzugehen betreffen. Dies zusammen mit einer im allgemeinen schlechten Gesundheit, legt nahe, daß das Ausmaß der Bedürfnisse dieser Leute einen bedeutenden Anteil der Mittel sozialer Einrichtungen in Anspruch nimmt. Probleme der Erkennung und Diagnose Die schlechte Ausdrucksfähigkeit vieler Leute mit geistiger Behinderung ist klarerweise eine Behinderung bei einer psychiatrischen Diagnose. Jedoch sind diese Probleme nicht auf Angehörige dieses Bevölkerungsanteils beschränkt. Diese sind mit einer weit größeren Gruppe von Themen verbunden: (a) Definitionen von Geisteskrankheit, (b) der Wert von Informationen, (c) der relative Beitrag der Beobachtung und des Gesprächs mit dem Patienten. (d) die Verwendung von ärztlicher Intuition im Gegensatz zu objektiv spezifizierten diagnostischen Kriterien. Die Diagnose eines physischen Zustandes ist oft klar in dem Sinn, daß, sobald die notwendige Information zur Verfügung steht, eine sichere Diagnose gestellt werden kann, da die Kriterien absolut sind. So werden Krankheitsbilder wie Tuberkulose, HIV und Syphilis durch die Anwesenheit eines gewissen Organismus definiert. In anderen Fällen, besonders an der Grenzlinie zwischen körperlicher und geistiger Krankheit, sind die Kriterien von etwas anderer Qualität, mit dem Resultat, daß die Behandlung oder ihre mögliche Wirksamkeit weniger klar definiert sind. So sind Bedingungen wie geschwürbildende Collitis durch die entsprechende Pathologie definiert und andere wie Migräne durch ihre Symptome. Kendell illustriert dieses besondere Problem der Gültigkeit psychiatrischer Diagnosen mit dem Beispiel eines 40-jährigen Mannes, der berichtet, daß 16 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 er schlecht schläft, nicht klar denken kann und den Verdacht hegt, daß seine Arbeitskollegen hinter seinem Rücken über ihn reden. Solche Symptome können sowohl für Schizophrenie als auch für depressive Krankheiten typisch sein, aber die Unterscheidung zwischen den Diagnosen ist derart unscharf, daß verschiedene Therapeuten zu völlig anderen Schlüssen kommen können. Wenn er schizophren ist, wird er wahrscheinlich mit Phenothiazin behandelt und erholt sich teilweise, oder er wird chronisch krank. Wenn er an einer depressiven Krankheit leidet, wird er eher mit ECT oder einem trizyklischen Antidepressivum behandelt, und er wird sich innerhalb von zwei oder drei Monaten vollständig erholen. Aber welche Diagnose auch gestellt wird, er kann trotzdem Phenothiazin, ECT, ein trizyklisches Medikament oder sogar alle drei Mittel erhalten, und es ist möglich, daß er sich ganz, teilweise oder überhaupt nicht erholt. Psychiater werden wahrscheinlich untereinander nicht übereinstimmen, ob er an Schizophrenie oder einer affektiven Krankheit leidet, oder darin, wie diese beiden Begriffe überhaupt definiert sind (Kendell, 1975). Um auf dieses Problem eine Antwort zu finden, sind innerhalb der letzten hundert Jahre schrittweise internationale Vereinbarungen getroffen worden. Insbesondere haben die Weltgesundheitsorganisation und die American Psychiatric Association die wichtigsten psychiatrischen Klassifikationen entwickelt, die derzeit in Anwendung sind, wobei die neueste Version das International Classification of Diseases (ICD 10) und das Diagnostic and Statistic Manual of Mental Disorders (DSM IV) ist. Auf diese konkreten Kriterien gestützt kann eine beträchtliche Verbesserung bei der Verläßlichkeit von Diagnosen erreicht werden, besonders wenn diese Kriterien selbst noch weiter in Form von strukturierten oder semistrukturierten ärztlichen Gesprächen konkretisiert werden. Wing et al. haben (1967) gemeinsam Gespräche mit einer Gruppe von 172 Patienten unter Verwendung der Present State Examination geführt und eine Übereinstimmung in 92% der Fälle bei Schizophrenie gefunden. Die Anwendung dieser Technik der strukturierten Gespräche ist, wie ich weiter unten schildere, einer der Wege, auf denen wir versuchen, die Verläßlichkeit der Diagnose bei geistig Behinderten zu erhöhen. Verbesserung von Diagnose und Erkennung bei Leuten mit geistiger Behinderung: Um das Niveau der psychiatrischen Versorgung für diesen Teil der Bevölkerung zu heben, ist es klar, daß wir zumindest in drei Bereichen Verbesserungen anstreben müssen. Erstens: Psychiater, die mit geistig Behinderten arbeiten, müssen eine Spezialausbildung erhalten. Zweitens: Die diagnostischen Methoden müssen objektiver und gültiger werden. Drittens: Wir müssen die Kennzeichnung psychiatrischer Einrichtungen verbessern. Das erfordert, daß diejenigen, die den geistig Behinderten am besten kennen, d.h. Familienangehörige und Mitarbeiter, in der Lage 17 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 sein müssen, mögliche Geisteskrankheit bei den Menschen, die sie pflegen, besser zu erkennen. Das wiederum erfordert den Zugang zu Informationen über die Anzeichen von Geisteskrankheit bei Leuten mit geistiger Behinderung, Werkzeuge für einen systematischen Rahmen für die Beschaffung von Informationen und eine Leitfaden für die Entscheidung, wer zu einer psychiatrischen Untersuchung überwiesen werden soll. Was wir insgesamt anstreben, ist ein vielschichtiger Zugang zur Erkennung und Diagnose von mentalen Störungen. Die Pflegenden und die Familien haben die unmittelbarste Wahrnehmung von Veränderungen bei Leuten, um die sie sich kümmern, aber nicht unbedingt das Wissen, um diese Verhaltensformen zu verstehen. Professionelle Pflegende wie Sozialarbeiter und Psychologen könnten für ein größeres Verständnis in Fragen der mentalen Verfassung ausgebildet werden und so zum Weg werden, auf dem Leute mit potentiellen psychischen Problemen psychiatrischen Einrichtungen überwiesen werden. Schließlich haben die Psychiater die Aufgabe, umfassende Untersuchungen aufgrund ihres ärztlichen Wissens durchzuführen. Es folgen einige der Initiativen, die in The Hester Adrian Research Centre und anderswo unternommen werden, und die dazu bestimmt sind, die Entwicklung dieses vielschichtigen Prozesses zu unterstützen. Detaillierter psychiatrischer Befund Eine Vielzahl von Methoden zur Erstellung eines Befundes - die meisten stammen aus den USA- stehen zur psychiatrischen Beurteilung von geistig Behinderten zur Verfügung. Das sind eher kurze Fragebögen, die üblicherweise wesentlich auf Berichten von Informanten beruhen, aber den Vorteil haben, daß sie im allgemeinen von nicht ärztlich ausgebildeten Fragestellern verwendet werden können. Solche Methoden sind: Das PIMRA (Matson, Kadzin u. Senatore, 1984), die Reiss-Untersuchung (Reiss, 1987) und die DASH-Skala (Mason et al., 1991). Für einen umfassenden Befund wird eine Methode benötigt, welche die Fähigkeiten eines Experten in der psychiatrischen Behandlung von geistig Behinderten einsetzen kann. In Zusammenhang mit unserer Arbeit über Geisteskrankheit bei älteren Leuten mit geistiger Behinderung haben wir daher das Psychiatric Assessment Schedule for Adults with Developmental Disability (PAS-ADD) entwickelt, das die oben erwähnten Prinzipien des semistrukturierten ärztlichen Gesprächs verwendet. Das PAS-ADD leitet sich aus den Schedules for Clinical Assessment in Neuropsychiatry (SCAN) ab und verwendet parallele Versionen für ein Gespräch sowohl mit dem Patienten als auch einem wichtigen Informanten, wobei sich die endgültige Diagnose aus diesen beiden Quellen ergibt. Das Patientengespräch wurde mit einer vielschichtigen Struktur entworfen um eine Gesprächsführung zu ermöglichen, die für eine große Bandbreite geistiger Behinderung geeignet 18 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 ist. Dies, zusammen mit der Tatsache, daß man sich auf zwei Quellen zu Beschaffung der Daten stützt, gewährt größtmögliche Flexibilität und Sensibilität für die Symptome. In unseren Studien hat sich das PAS-ADD als erfolgreich in der Entdeckung und der Diagnose von Fällen bei Leuten erwiesen, deren Entwicklungsstand relativ gering ist. Unter den über 50jährigen geistigen Behinderten haben wir eine adäquate Gesprächsführung bei einer Gruppe erreichen können, deren IQ im Durchschnitt nur 39 war. Die benötigte Zeit für das PAS-ADD hängt von der Anzahl der vorhandenen psychischen Symptome ab. Das PAS-ADD besteht konkret aus einer Reihe von Punkten, die als Filter wirken, gefolgt von detaillierteren Fragen, d.h. Leuten mit einer guten geistigen Verfassung werden weniger Fragen gestellt als solchen mit vielen Symptomen. Die Gesprächszeit ist zumindest 30 Minuten. Eine vollständige Bewertung erfordert, daß das Gespräch zweimal geführt wird, mit dem Betroffenen und einem wichtigen Informanten. Kennzeichnung und Überweisung: Zwei weitere Komponenten unseres vielschichtigen Zuganges zur Erkennung sind derzeit im Hester Adrian Research Centre in Entwicklung. Diese sind die PAS-ADD Checklist und das mini-PAS-ADD. Die PAS-ADD Checklist ist ein Fragebogen über Probleme, die manchmal mit einer schlechten geistigen Verfassung verbunden sind. Die Checklist strebt danach, die Mitarbeiter und Pflegenden bei der Entscheidung zu unterstützen, ob eine weitere Feststellung der geistigen Verfassung des jeweiligen Menschen hilfreich sein könnte, und sie ist als Teil einer regulären Untersuchung gedacht. Sie ist zur Festhaltung des Vorhandenseins einer Reihe von Problemen bestimmt, von denen alle Teil eines psychischen Zustandes sein können. Das Ziel ist es, daß die Checklist als an die Pflegenden gerichtetes Warnsignal für die mögliche Anwesenheit von psychischen Problemen dient. Ein geistig Behinderter mit mehreren Punkten in dieser Checklist kann dann einer ausführlicheren Bewertung mittels des Mini-PAS-ADD unterzogen werden. Wenn dies ein Problem mit der geistigen Verfassung nahelegt, können dann die Pflegenden eine weitere Bewertung des Zustandes der Person mittels einer Überweisung zum Amtsarzt oder zu einem Psychiater erreichen. Das Mini-PAS-ADD stellt die zweite Stufe im Vorgang der psychiatrischen Überweisung dar und ist dazu bestimmt, den Pflegenden dabei zu helfen, eine genauere Auswertung des Geisteszustandes durchzuführen und so eine begründete Entscheidung in Bezug auf die Überweisung zu weiteren psychiatrischen Bewertungen zu treffen. Es wird verwendet, wenn ein Pflegender eine vollständige Checklist erstellt hat, die nahelegt, daß die Person, mit der sie arbeiten, ein Problem mit der geistigen Verfassung haben könnte. Das Mini-PAS-ADD ist ein Fragebogen, der von klinischen Psychologen, Schwestern, Sozialarbeitern und anderen, die mit geistig behinderten Erwachsenen arbeiten, verwendet werden soll. Er besteht aus 19 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 elf Abschnitten, von denen jeder sich auf ein primäres Symptom für die geistige Verfassung bezieht. Sein Zweck ist es, für Geisteskrankheit typische Verhaltensformen und Symptome zu entdecken, die innerhalb des letzten Monats vorhanden waren. Man bittet die Leute, sich an die Anoder Abwesenheit jedes Symptoms zu erinnern und dessen Häufigkeit und Intensität abzuschätzen. Die Symptome werden beschrieben, um den Befragten bei der Bestimmung der Anwesenheit oder der klinischen Signifikanz eines Symptoms zu helfen. Wie oben erwähnt ist das Mini-PAS-ADD dazu bestimmt von Mitarbeitern verwendet zu werden, die eine gewisse Ausbildung in geistiger Krankheit und Behinderung haben. Eine neuere Initiative des Guy' and St. Thoma's hospital hat zur Entwicklung eines Lehrganges zur Ausbildung der in der Betreuung tätigen Mitarbeiter geführt, welcher speziell diesem Thema gewidmet ist (Bouras et al. 1995). Er hat eine modulare Struktur und damit eine Flexibilität im Gebrauch sowohl für Mitarbeiter, die das Gebiet noch nicht kennen, als auch für solche, die schon einige Erfahrung haben. Das Hester Adrian Research Centre schreibt derzeit eine Einheit für die nächste Ausgabe des Lehrganges, die speziell in Bezug auf den Umgang mit unseren Methoden Informationen enthält. Erkennung und Diagnose von Demenz: Oft fällt einem in Zusammenhang mit Demenz sofort das besondere Risiko ein, daß bei Leuten mit Down-Syndrom besteht. Während jedoch der Zusammenhang zwischen Alzheimerscher Krankheit und Down-Syndrom wohlbekannt ist (Zigman et al., 1990), vergißt man oft, daß infolge der verkürzten Lebenserwartung dieser Menschen, Leute mit Down-Syndrom nur einen recht geringen Anteil der über 50-jährigen darstellen. Somit gibt es wahrscheinlich mehr Leute mit Demenz und geistiger Behinderung, die nicht das Down-Syndrom aufweisen als solche, die es aufweisen. Auf jeden Fall stellt natürlich Demenz eines der Hauptprobleme für die geistige Verfassung älterer Menschen dar. - 10 Beträchtliche Anstrengungen sind unternommen worden, um die Methoden zur Erkennung und Diagnose zu verbessern, sie wurden aber oft durch einen Mangel an Übereinstimmung in der Definition des Krankheitsbildes behindert. Allerdings wurde kürzlich eine internationale Arbeitsgruppe unter den Auspizien der American Association on Mental Retardation und der International Association for the Scientific Study of Intellectual Disability einberufen. Diese Arbeitsgruppe wird bald Berichte über drei Gebieten erstellen: Erkennung und Diagnose, Epidemiologie und Praxis. Der erste wird Richtlinien für eine umfassende ärztliche Untersuchung und einen Test der kognitiven Fähigkeiten geben und seine Umsetzung sollte sicherstellen, das die besten vorhandenen Methoden bekannt werden und innerhalb der klinischen Praxis und Forschung verwendet werden. 20 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Schlussfolgerungen: Auch wenn im Bereich der Epidemiologie über den Einfluß des Alterungsprozesses auf Leute mit geistiger Behinderung viele Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben, sind einige Aspekte klar. In demographischer Hinsicht wissen wir, daß die Altersstruktur der Bevölkerung einen „Grauton“ bekommt, und dies schließt auch Leute mit geistiger Behinderung ein. Innerhalb der Bevölkerung gibt es ein beträchtliches Ausmaß an unerkannten Geisteskrankheiten, hauptsächlich Demenz, Depression und Angstzustände. Gleichzeitig bedeutet der Einfluß der Selektion, daß eine überraschend große Anzahl sich in guter physischer Verfassung befindet. Folglich wird der Bedarf an Unterstützung für den älteren Bevölkerungsanteil immer größer, angefangen von denjenigen mit guter Funktionsfähigkeit und Gesundheit bis zu denjenigen mit Demenz und zusätzlichen physischen gesundheitlichen Problemen. Diese Arbeit hat versucht, die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung von Geisteskrankheit auf das Leben älterer Leute mit geistiger Behinderung zu lenken und einige der Initiativen zu erwähnen, die im Hester Adrian Research Centre und anderswo unternommen werden. Diese und andere Initiativen erfordern noch viele weitere Arbeit, bevor wir die Faktoren, die zu Geisteskrankheit bei geistig Behinderten beitragen, und die Möglichkeiten, die am Besten zur Behandlung der Probleme geeignet sind, verstehen. Es ist jedoch klar, daß ein bedeutender Antrieb zur Erreichung dieser Ziele vorliegt und wichtige Fortschritte bereits erzielt wurden. Literatur: BLAND, R.C., NEWMAN, S.C. u. ORN, H. (1988) Epidemiology of psychiatric disorders in Edmonton, Acta Psychiatrica Scandinava, Supplement 338, 77 BOURAS, N., MURRAY, B., JOYCE, T. KON, Y. u. HOLT, G. (1995) Mental Health in Learning Disabilities: A training pack for staff working with people who have a dual diagnosis of mental health needs and learning disabilities. Pavilion: Brighton BRONFENBRENNER, U. (1979) The ecology of human development. London: Harvard University Press. CAMPBELL, M. u. MALONE, R.P. (1991) Mental Retardation and Psychiatric Disorders. Hospital and Community Psychiatry, 42, 374-379. 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(1) In diesem Text wurde „mental health“ meistens durch „geistige Verfassung“ wiedergegeben (Anm. des Übersetzers). 23 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Steve MOSS In: Weber: Psychische Störungen Bern 1997 MB Wien 1998 NEUERE PSYCHODIAGNOSTISCHE VERFAHREN ZUR ERFASSUNG PSYCHISCHER STÖRUNGEN BEI ÄLTEREN MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG. Mängel in der psychiatrischen Versorgung, Probleme bei der Diagnose und unzureichendes Verständnis der Betreuer machen ein besseres psychodiagnostisches Instrumentarium erforderlich. Psychische Gesundheit besteht u.a. aus einem Gleichgewicht von Individuum und Umwelt. "Ökologie der menschlichen Entwicklung: (BRONFENBRENNER): wie eine Person mit den Settings der Umwelt in Interaktion tritt. Person im Zentrum des sozialen Systems größer werdender Kreise > politische und ökonomische Strukturen. Ökologie des Alterns als System kontinuierlicher Anpassungsleistungen, Veränderungen von Person oder Umwelt lösen Vorgänge aus, die adaptive Reaktionen erfordern > Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit (LAWTON, NAHEMOW). "Ökologiemodell des dynamischen Gleichgewichts" (HEADEY, WEARING): Gleichgewicht zwischen Lebensereignissen und subjektivem Wohlbefinden. Veränderungen, wenn Ereignisse innerhalb des Gleichgewichtsniveaus abweichen > Symptome psychischer Auffälligkeiten. Bedeutende Faktoren: Ursache für Stress (Tod von Angehörigen, Krankheit, Ruhestand, Lärm, Substandardverhältnisse, Stigmatisierung, Konflikte mit Betreuern, Unterforderung, Überbehütung) und Puffer vor Stressoren (materielle, kulturelle, physische, soziale Ressourcen). Psychische Störungen entstehen bei Dominanz von Stress gegenüber Ressourcen. Zusammenhang zwischen Versorgung, Betreuung, Diagnostik und Behandlung: Hauptfunktion der Dienste: Lebensbewältigung, Förderung der Unabhängigkeit, Verantwortung für die Pufferfunktion. Soziale Erwartungen an Menschen m.g.B. niederer als in der Gesamtpopulation, daher erst späteres Erkennen psychischer Störungen mit Zuweisung zu psychiatrischer Behandlung. Notwendig wird besseres Erkennen der Störungen und Verbesserung im Behandlungszugang. 24 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Probleme der Untersuchung und Diagnose: Geringe verbale Ausdrucksfähigkeit vieler Menschen m.g.B.; Definition von psychischen Störungen; Validität der Informationen von Informanten; Beitrag von Beobachtung und Gespräch; Benutzung klinischer Erfahrung versus Gebrauch von objektiven Diagnosekriterien. Verbesserungen des diagnostischen Vorgehens: Psychiater benötigen spezielle Ausbildung über geistige Behinderung; Diagnosemethoden müssen objektiver werden; Zielsetzungen psychiatrischer Einrichtungen zu sind verbessern; verstärkte Kooperation mit Angehörigen und Betreuern, Aufzeichnungen und Informationen austauschen. Detaillierte psychiatrische Erfassung und Beurteilung: PAS-ADD 10: Semi-strukturiertes Interview, Parallelanwendung für Patient und Informant, mehrstufige Interviewdurchführung für Menschen m.g.B. angemessen, gründliche Begutachtung, für große Bandbreite von Zustandsbildern. Letztlich verbesserte Version ermöglicht zuverlässige und gültige Beurteilung der Symptome und der Diagnose. Durchführungsdauer hängt von der Zahl der psychiatrischen Symptome ab (ab 30 min. aufwärts). Gegenwärtig werden folgende Störungsformen abgedeckt: F 20 Schizophrenie F 32 Depression F 40 Phobische Angststörungen F 41 Andere Angststörungen F 84 Tiefgreifende Entwicklungsstörungen. An der Bearbeitung weiterer erfaßbarer Kategorien wird gearbeitet (euphorische Stimmungs- und Zwangsstörungen, Autismus). Herausfinden der kritischen Personen und Überweisung: Entwicklung von Fragebögen mit Checkliste (PAS-ADD Checkliste) für Betreuer zur Entscheidungsfindung. Ermöglicht die Feststellung von Auffälligkeiten. Bei verstärkter Vermutung Überweisung an den Psychiater. Der Mini-PAS-ADD ist ein Fragebogen für Betreuungspersonal im Hinblick auf Primärsymptome, um jüngst aufgetretene auffällige Verhaltensweisen festzustellen. Diagnose von Demenz: Bei älteren Menschen mit g.B. und Personen mit Down-Syndrom eines der häufigsten Probleme mit gravierenden Auswirkungen auf psychische Gesundheit und kognitiv-intellektuelle Leistungsfähigkeit. Wegen der bis jetzt 25 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 divergierenden Übereinstimmungen in der Definition des Zustandsbildes wird international an einheitlichen Richtlinien gearbeitet. Schlußfolgerungen: Bei Menschen mit g.B. hohe Zahl unerkannter psychischer Störungen, bes. Demenz, Depression und Angstzustände. Große Zahl dieser Menschen bei guter körperlicher Gesundheit. Bedarf an Unterstützung wird immer breiter und notwendig. J.JANCAR Stoke Park Hospital, Bristol GERIATRIC MEDICINE 1988/ 81-87 Übers.: Bruckmüller/ Wurst 1988 KONSEQUENZEN DER LÄNGEREN LEBENSDAUER FÜR MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG Langzeitstudien bei geistig behinderten Menschen geben zusätzliche Einsichten in ihre Verfassung und ihre Bedürfnisse; auffallende Veränderungen sind mit größerer Langlebigkeit verbunden. Zahlreiche Studien wurden zur Langlebigkeit gemacht, und über die damit verbundene klinische und geistige Pathologie des Alterns wurde vom Stoke Park, Bristol, berichtet. In einer 1983 erschienenen Übersicht über Sterblichkeitstrends bei behinderten Personen der Stoke Park Anstalten der Jahre 1930-1980 fanden wir einen auffallenden Trend zu größerer Langlebigkeit und eine auffallende Veränderung der Todesursachen während der vergangenen 50 Jahre. Obgleich Tuberkulose nicht mehr eine bedeutende Todesursache ist, so stehen bei geistig behinderten Menschen noch immer andere Erkrankungen der Atemwege für den letalen Ausgang im Vordergrund. Tod durch epileptischen Status wurde seltener, aber Tod durch Krebserkrankungen, Herzinfarkt und Gehirnschlag haben zugenommen (Tab.1). Vor 50 Jahren war die Sterblichkeit geistig behinderter Menschen in allen Altersgruppen beachtlich höher als unter der allgemeinen Bevölkerung; nun ist der Unterschied relativ gering. Diese Veränderungen waren besonders deutlich während der letzten 25 Jahre zu erkennen, weil neue Antibiotika und Antikonvulsiva, aber auch geeignetere Diäten, sowie bessere Pflege- und Umweltbedingungen für geistig behinderte Menschen einge26 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 führt wurden. Die Lebensdauer von Personen mit Down Syndrom hat sich im Durchschnitt um 40 Jahre, bei anderen behinderten Personen um mehr als 30 Jahre erhöht. Psychosen und Neurosen: 1975 nahm HEATON-WARD eine Untersuchung der psychiatrischen Erkrankungen an den 1251 geistig behinderten Erwachsenen der Stoke Park -Anstalten vor. Die Häufigkeit von Psychosen und Neurosen, die in dieser Übersicht zusammen gefaßt wurde, betrug 10 %. Manischdepressive Zustände setzten bei Männern im dritten, vierten und fünften Jahrzehnt, bei Frauen im vierten, fünften und sechsten Jahrzehnt ein. Andere Übersichten haben psychiatrische Erkrankungen bei mehr als 60 % der in Anstalten lebenden Behinderten ausgewiesen. Der Unterschied in den Prozentangaben hängt von den Diagnosekriterien, dem Grad der geistigen Behinderung und dem Alter der untersuchten Personen ab. 1978 untersuchten wir in der gleichen Personengruppe organische Ursachen der Geisteskrankheit und stellten fest, daß, abgesehen von einigen wenigen, der Ausbruch der Geisteskrankheit nach dem 40. Lebensjahr eintrat. In einem Rückblick auf zwei Gruppen von geistig behinderten Personen, im Alter von 40 Jahren und darüber fand DAY, daß 30 % der begutachteten Langzeitbewohner der Anstalt psychiatrische Auffälligkeiten aufwiesen, dagegen nur 20 % von jenen Personen, die daheim leben konnten. Er folgerte daraus, daß manche der eher idealistischen Vorschläge für die Entwicklung einer gemeindenahen Versorgung den Bedarf an Spezialeinrichtungen und Fachkräften ignorieren. Die neurotische Störung ist ebenfalls ein bedeutsames Problem bei leicht geistig behinderten Menschen des mittleren Lebensalters und bei älteren Menschen, die in der Gemeinde leben. Ihr Ansteigen hängt mit den Veränderungen im Anstaltsalltag zusammen, noch mehr aber mit den streßartigen Belastungen des Lebens außerhalb von Anstalten. Kognition und Verhalten: HEWITT u.a. stellten 1986 eine Studie über 148 Personen im Alter zwischen 65 und 88 Jahren vor, die in Bereichen unserer Anstalten lebten und die über eine 50 Jahre dauernde Periode hindurch psychologisch getestet wurden. Sie stellten eine beständige geistige Entwicklung im Erwachsenenalter bis zum späteren mittleren Lebensalter fest. Ihr folgte in der Regel eine Abnahme der intellektuellen Funktionen. Signifikant wurde sie bei 18 % jener Personen, deren intellektueller Abbau mit Verschlechterungen in der Alltagsroutine und mit Orientierungsschwäche verbunden war und bei denen auch Betreuer über den Rückgang berichteten. Dies war nicht in Verbindung zu bringen mit der Höhe früherer Fähigkeiten oder mit längerer Hospitalisierung. Bei der ganzen untersuchten Gruppe war die Kompetenz in der Alltagsroutine hoch, wenngleich Verhaltensstörungen bei mehr als der Hälfte der Personen festzustellen waren. Diese 27 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Ergebnisse zeigen die Bedeutung von Arbeit und Förderung älterer Menschen mit geistiger Behinderung. Die Annahme, daß Personen mit Down Syndrom frühzeitig altern, ist nicht neu. In unserer Anstaltsübersicht hatten wir 98 Personen mit Down Syndrom, von denen 35 über 50 Jahre alt waren. Detaillierte psychologische und klinische Studien bei 23 Personen mit Down Syndrom, die über 50 Jahre alt waren, wurden einer vergleichbaren Gruppe von Personen ohne Down Syndrom gegenübergestellt; dabei zeigte sich, daß signifikante intellektuelle Verschlechterungen im mittleren Lebensalter, im Durchschnitt bei 49 Jahren eintraten. Dies zeigte sich unabhängig vom Geschlecht, von der geistigen Ausgangslage oder der Länge des Anstaltsaufenthaltes. Aber die Verschlechterung war begleitet von Hörverlust, Verminderung der Sehschärfe und Makrozytose. Klinisch gab es bei keinem der Personen den Nachweis einer akuten physischen Erkrankung, einer neurologischen Erkrankung oder einer Demenz. Die Lebenserwartung für Personen mit Down Syndrom hat sich erhöht, aber sie ist dennoch niedriger als jene der Gesamtbevölkerung. Es wurde immer gedacht, daß Alzheimer'sche Erkrankung und Down Syndrom miteinander zusammenhängen, weil amyloide Plaques bei Personen mit Alzheimer'scher Krankheit jenen sehr ähnlich sehen, die man im Gehirn von älteren Personen mit Down Syndrom fand. Neuere Arbeiten konzentrieren sich auf die Isolierung der Gene für Betaamyloidprotein, das als Ablagerung im Gehirn bei beiden Gruppen gefunden wurde. Die jüngsten Ergebnisse legen bekräftigend nahe, daß ein Gendefekt am Chromosom 21 oder ein Reguliermechanismus bei Morbus Alzheimer anzunehmen ist, wobei die Überexpressivität dieses Gens ebenso als Ursache für Morbus Alzheimer als auch als histopathologisches Kennzeichen bei Down Syndrom anzusehen ist. Carzinom - Krebs: Zwischen 1936 und 1975 betrug die Gesamtzahl der Todesfälle von Menschen mit geistiger Behinderung in den Stoke Park Anstalten 1125. Von diesen Personen starben 81 (7,2 %) an Krebs. Von 1956 bis 1975 war die Zahl der Krebserkrankungen, vorzugsweise des Magen-Darmtraktes, höher als in der Normalpopulation (Tab.2). Es ist interessant, daß das Durchschnittsalter bei Tod durch Krebs, das in früheren Studien mit 56,5 Jahren angegeben war, 1982 auf 65 Jahre angestiegen ist. Das Ansteigen von Magen-Darmkrebs mag, abgesehen von der erhöhten Lebensdauer, noch andere Faktoren widerspiegeln. In der Übersicht war von 288 Epileptikern kein Fall von Leberkrebs zu beobachten, aber ein Fall von Lebervergrößerung und ein Fall von Gallenblasenkrebs war bei den nicht-epileptischen Personen zu verzeichnen; keiner von beiden hatte irgendwelche Medikamente bekommen. Längerer Gebrauch von Antikonvulsiva und Tranquillizern, manchmal in hohen Dosen, hatte keinen wie immer gearteten karzinogenen Effekt an der Leber unserer Epilepsiepatienten. Nur 3 Personen (2 Männer und 1 Frau) starben an Lungenkrebs bei einer Gesamtzahl von 81 Krebstoten, obgleich eine Anzahl 28 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 unserer Bewohner z.Teil starke Raucher waren, die sowohl industriell gefertigte, als auch selbstgemachte Zigaretten rauchten. Interessanterweise starb während dieser 40 Jahre keiner der an Down Syndrom leidenden Personen an Krebs. Ein männlicher Patient mit einigen Merkmalen des Down Syndroms starb an Magenkrebs, gegenwärtig haben wir einen Patienten mit Hodenkrebs, einem sogen. Seminom. Diabetes mellitus - Zuckerkrankheit: In einer Übersicht vom 1.8.1982 über die 1116 geistig behinderten Personen fanden wir, daß 23 von ihnen Diabetiker waren (13 Frauen, 10 Männer). Zum Diagnosezeitpunkt erstreckte sich die Altersstreuung von 24 bis 75 Jahren, mit einem Durchschnittswert von 56,7 Jahren. Diabetes fand sich im Zusammenhang mit folgenden Zuständen: Down Syndrom, Achondroplasie, Potter'sches Syndrom, Tetraploidie (erhöhtem DNAGehalt im Zellkern), familiäre Mikrocephalie, Vorhofswanddefekt und Dupuytren'sche Erkrankung. Komplikationen wurden bei 34 % der Patienten festgestellt (wiederholte Infektionen, Bluthochdruck, Lidrandentzündung, Grauer Star, Netzhauterkrankung und org. Nervenleiden). In 5 Fällen gab es in der Famili-engeschichte psychiatrische Erkrankungen und in 2 Fällen Diabetes mellitus. Die Verbreitung von Diabetes mellitus scheint bei geistig behinderten Menschen höher zu sein als in der allgemeinen Bevölkerung und, bei größerer Langlebigkeit, früher entdeckt zu werden; die Einleitung einer geeigneten Behandlung ist wichtig. Dupuytren'sche Krankheit: In einer im Jänner 1984 in der Anstaltsgruppe durchgeführten Übersicht fanden wir, daß von 1092 geistig behinderten Menschen 36 an der Dupuytren'schen Krankheit litten (22 Männer, 14 Frauen). Die Altersstreuung lag zwischen 31 und 77 Jahren (Mittelwert 53,3 Jahre) bei Männern, zwischen 32 und 96 Jahren bei Frauen (Mittelwert 69,1 Jahre). Von diesen Personen hatten 9 Männer und 7 Frauen Epilepsie, 2 Männer litten an einer fragilen X-Chromosom- Abnormität und 1 Frau an Diabetes. Personen mit Down Syndrom litten weder an der Dupuytren'schen Krankheit noch an einer anderen Abnormität. Hepatits B: Alle Bewohner der 7 Anstalten zusammen mit jenen der 7 Wohnhäuser für geistig behinderte Menschen in Bristol wurden zwischen 1976 und 1980 auf Anzeichen von Hepatitis B überprüft. Von 2239 Personen waren 123 Träger von Hepatitis B Antigenen (5,5 %) und 1/3 von ihnen war infektiös. Personen mit Down Syndrom waren 18 mal häufiger Infektionsträger als Personen ohne Down Syndrom; Männer waren 6 mal häufiger Träger als Frauen. Die Trägerrate nahm mit dem Alter ab, aber das Verhältnis von Trägern, die antigen- positiv waren, wurde durch das Alter nicht beeinflußt. Die Überwachung der in den Anstalten und in den regionalen Wohnhäusern lebenden geistig behinderten Menschen hinsichtlich Hepati29 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 tis B mußte daher aufrechterhalten werden; Bewohner und Mitarbeiter wurden, wenn es zweckmäßig erschien, geimpft. Augen, Ohren, Zähne und Füße: Vorläufige Ergebnisse einer ophthalmologischen Übersicht zeigen weite Verbreitung von Augenfehlern und in einer frühen, von COOK an 222 über 45 Jahre alten Personen vorgenommenen Übersicht fand man 70 Personen, die an Hördefekten litten (31,5 %). Bei 36 Personen wurde ein Audiogramm gemacht und 26 wurden mit einem Hörgerät ausgestattet, aber nur 7 Personen waren bereit, es zu tragen. Dies zeigt eine der Schwierigkeiten der Behandlung von Hörschwächen bei alten geistig behinderten Menschen auf, weil es ihnen widerstrebt, eine Hörhilfe zu tragen. Von 37 Personen mit Down Syndrom litten 14 an verschiedenen Graden von Hörverlust. Das Hauptproblem in der Zahnbehandlung ist deren zeitgerechte Durchführung, weil behinderte Personen häufig behandlungsunwillig sind oder nicht in der Lage, die Symptome bekanntzugeben. Daher sind regelmäßige Zahnuntersuchungen unentbehrlich, um unnötige Schmerzen zu verhindern und um das Kauen, das Sprechen und das Erscheinungsbild zu verbessern. Der Fußpfleger spielt bei der Erhaltung der Beweglichkeit eine bedeutende Rolle, ebenso bei der Linderung oder Verhinderung von Fußschmerzen. Er erkennt Krankheitszustände, die sich an den Füßen manifestieren, behandelt sie und verbessert den Zustand der Füße. Allgemein bekannte Beispiele dafür sind Zirkulationsstörungen, Diabetes und Geschwüre. Medikamente: Alle Medikamente, die ältere geistig behinderte Menschen benötigen, müssen sorgfältig überwacht werden. Eine 1983 von JAMES durchgeführte Studie zeigte, daß die regelmäßige und systematische Anwendung einfacher Richtlinien für die Verschreibung und Kontrolle von Psychopharmaka zu einer Verringerung der Medikation an Menge und Einnahmefrequenz führt, wodurch die Nebenwirkungen vermieden werden. Darüber hinaus spart man an Arbeitszeit des Personals und an Medikamentenkosten. Frakturen - Brüche: Wir haben gerade eine Übersicht abgeschlossen, die die hohe Anzahl von Unfällen mit Frakturen bei über vierzigjährigen geistig behinderten Personen an 731 Fällen aufzeigt (366 Männer und 365 Frauen). Darunter waren 54 Männer (72 Frakturen) und 62 Frauen (110 Frakturen)mit einem oder mehreren Brüchen. Die am häufigsten bekannten Anlässe für Frakturen sind Epilepsie, die Menopause, Medikamente, die Osteoposore, Skelettdysplasien, neurologische Krankheiten und chromosomale Abnormitäten. Andere geistige oder physische Störungen, Krankheiten oder genetische Abweichungen verursachten oder trugen ebenfalls zu Frakturen bei. 30 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Abgesehen vom menschlichen Leiden verursacht die Behandlung von Frakturen hohe Kosten durch Arbeitsbelastung und Materialaufwand. Die Beachtung der regelmäßigen Zugabe von Mineralstoffen, Vitaminen und anderen Substanzen ist bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung daher unentbehrlich, um die Anzahl der Frakturen zu verringern. Regionale Hilfe in der Gemeinde: Zwei Gemeindepflegerinnen, COLLEDGE und CROOK, fanden 634 geistig behinderte Personen heraus, die außerhalb der Anstalt leben. Von ihnen waren 130 Personen über 40 Jahre oder älter (20,5 %), 23 Personen waren über 60 Jahre alt (3,6 %) und 7 über 70 Jahre alt. 14 von diesen über 40 Jährigen (10,8 %) waren Personen mit Down Syndrom (Altersgruppe von 40 bis 52 Jahren). Ein Drittel von diesen 130 alten geistig behinderten Menschen erhielt keine Tagesbetreuung außerhalb ihrer Wohnung. Über die Hälfte einer Zufallsgruppe von 50 hatte signifikante Ausfälle in der Alltagsroutine oder war medizinisch behandlungsbedürftig. Fast die Hälfte von ihnen hatte bereits beide Elternteile verloren, 34 % hatten noch einen lebenden Elternteil und bei nur 12 % lebten noch beide Eltern. CARTER fand, daß in einem Beobachtungszeitraum von über 10 Jahren fast 75 % aller Daueraufnahmen von behinderten Personen in die Anstalt auf das höhere Alter der Eltern, auf Erkrankung der Eltern oder deren Tod zurückzuführen ist. Das Bild, das vom alten geistig behinderten Menschen entsteht, wirft grundsätzliche Fragen für die künftige Hilfe auf, da viele dieser Personen immer wieder aus der Anstaltsbetreuung entlassen werden, um selbständig für sich zu sorgen. Mit zunehmendem Alter werden diese Menschen einen erhöhten Aufwand an Hilfe und Behandlung durch ein spezialisiertes, multidisziplinäres Team benötigen, damit ihre Lebensqualität aufrechterhalten werden kann. Diät und Umwelt: Genaue Diätvorschriften und eine geeignete Umwelt für ältere geistig behinderte Menschen leisten einen großen Beitrag zur besseren und gesünderen Lebensführung. Unsere beiden Wohneinheiten für die Älteren im Stoke Park liegen in ruhiger Umgebung am Rande der Anstalten, in der Nähe des Waldes, mit Gärten, einem Vogelhaus und einem Futterplatz für Tiere. Die Wohneinheiten sind gut geplant, warm und wohnlich, gut beleuchtet, in lebhaften Farben gehalten. Das therapeutische Team: Neben den bereits erwähnten professionellen Mitarbeitern gehören noch andere wesentliche Mitarbeiter dem therapeutischen Team an: Krankenpfleger, Physiotherapeuten, Beschäftigungs-, Musik- und Sprachtherapeuten. Der Sozialarbeiter ist häufig die Schlüsselfigur im therapeutschen Team; er beschafft wichtige Informationen, über die häusliche Umgebung des Behinderten oder entsprechende Plätze seiner Unterbringung; er berät 31 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Anstaltsbewohner und Angehörige und stellt die Verbindung zwischen der Anstalt und anderen Hilfsstellen her. Seelsorgerische Unterstützung aller Bekenntnisse ist sehr wichtig, besonders in Zeiten der Trauer über den Verlust von Angehörigen, in Verlassenheit, in der Todeskrankheit und zur Vorbereitung auf den Tod. Das therapeutische Team wird vervollständigt durch die Hinzuziehung von Konsili-arärzten der verschiedenen medizinischen Sparten, durch die Anstaltsapotheke, sowie das Röntgen und Fotolabor. Schlußfolgerung: Benötigt wird eine alle Mitarbeiterebenen umfassende, die Probleme der Langlebigkeit und des Alterns betreffende Ausbildung; ebenso hat die Forschung vordringliche Bedeutung. Ohne Forschung können wir weder Hilfe, Behandlung und Vorsorge gegen Altersstörungen und Alterserkrankungen verbessern, noch geeignete Vorsorge für zukünftige Dienste und Arbeitsleistungen planen. Die Zahl der gegen Ende ihres Lebens erkrankenden geistig behinderten Menschen ist im Ansteigen begriffen. Spezielle Einrichtungen und angemessen ausgebildete Mitarbeiter werden benötigt, um dieser Personengruppe adäquate Hilfe zuzusichern, damit sie ihr Leben friedlich und schmerzfrei in ihrer Umgebung mit ihren Freunden und mit vertrauten Betreuern beenden können. Ich möchte meinen Dank den früheren und derzeitigen Mitarbeitern der Stoke Park Anstalten für ihre ausgezeichnete Pionierarbeit aussprechen, ebenso auch der Frenchay Gesundheitsbehörde in Bristol für die andauernde Unterstützung und die realitätsgerechte Planung von Diensten für die alten behinderten Menschen. Literatur: CARTER G.: Why are the mentally handicapped admitted to hospital? Br J Psychiat 1984;145:283-288. CARTER G, JANCAR J.: Mortality in the mentally handicapped: a 50-jear survey at the Stoke Park group of hospitals (1930-1980). J Ment Defic Res 1963.27:143-156. CLARKE S K R, CAUL E O, JANCAR J, GORDON-RUSSELL J B.: Hepatitis B in seven hospitals for the mentally handicapped. J Infection 1984;8:34-43. COOKE L B: Hearing loss in the mentally handicapped - a study of its prevalence and association with ageing. Br J Ment Subnormality (in press). COLLEDGE A, CROOK P.: Community care for ageing mentally handicapped people: a nursing surviey. In Science and Service in Mental Retardation 1986. BERG J M.(Ed.) Methuen, London and New York. 335-344. HEATON-WARD W A.: Psychosis in mental handicap (Blake Marsh lecture). Br J Psychiat 1977;130:525-533. 32 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 DAY K A.: Psychiatric disorder in the middle-aged and elderly mentally handicapped. Br J Psychiat 1985;147:660-667. HEWITT K E, FENNER M E, TORPY D.: Cognitive and behavioural profiles of the elderly mentally handicapped. J Ment Defic Res 1986;30:217-225. JAMES D H.: Monitoring 1983;142:163-165. drugs for the mentally handicapped. Br J Psychiat JANCAR M P, JANCAR J.: Cancer and mental retardation (a 40-year review). Bristol Med Chir J 1977;92:3 Dr. Maria BRUCKMÜLLER Int. Tagungsbericht IASSMD Wien 1996 PSYCHISCHE STÖRUNGEN BEI ÄLTEREN MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG Untersuchung der LH Wien; Berichtsband über IASSMD Tagung, Wien 1996 Es gibt eine Reihe von Gründen, die es erforderlich machen, sich dem Thema "Psychische Störungen bei älteren Menschen mit geistiger Behinderung " zu widmen. Das Zusammentreffen von Alter und psychischer Störung oder Erkrankung betrifft nicht nur diese Menschen, sehr wohl aber handelt es sich um eine Gruppe, die in erhöhtem Maß betreut und gepflegt werden muß - Menschen also, die nicht für sich selbst sorgen können und auf die aufmerksame Beobachtung ihrer Helfer angewiesen sind. Ältere Menschen mit geistiger Behinderung leben in der Regel nicht mehr bei ihren Angehörigen, sie wohnen in Gruppen oder Heimen und sind häufig noch in Tagesstätten beschäftigt. Die Symptome psychischer Veränderungen im Zusammenhang mit Lebenskrisen, Verlusterfahrungen und Krankheiten werden von der Umwelt nicht selten als Verhaltensstörungen erlebt. Die Reaktion darauf geht eher von Krisenmanagement oder Verhaltensmodifikation aus, weniger von dem Gedanken einer medizinischpsychiatrischen Intervention. Bei Menschen, die ihren Betreuern über viele Jahre hin bekannt sind, werden langsam verlaufende, schleichende Übergänge zu psychischer Krankheit oder Störung oft erst dann wahrgenommen, wenn akute Phasen oder Verläufe massive Eingriffe erfordern. Die berufliche Interdisziplinarität hat nun dazu geführt, daß der Austausch nationaler und internationaler Erfahrungen in der Begleitung von Menschen 33 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 mit geistiger Behinderung zum besseren Verständnis des Phänomens beiträgt. Die Literatur zum Thema ist umfangreich, sie enthält die Bandbreite der Diagnose- und Behandlungsformen in Medizin, Psychologie und Psychotherapie. Es genügt allerdings nicht, wissenschaftliche Erkenntnisse aufzunehmen; die gesellschaftlichen Formen der Betreuung müssen dazu ebenso angemessen geändert werden wie die Einstellung im Bewußtsein der Umwelt. Ansätze zu weiteren Überlegungen kommen auch durch die in vielen europäischen Ländern vorgesehenen rechtlichen Regelungen zur Ausgliederung aus der Psychiatrie. Gerade ältere Menschen mit geistiger Behinderung sind davon häufig dann betroffen, wenn sie über Jahre in psychiatrischen Einrichtungen gelebt haben, weil andere Wohnformen nicht zur Verfügung standen. Unterscheidungen zu treffen zwischen psychischen Störungen und Deprivationsschäden ist nicht leicht. Veränderungen in den Ansichten über psychische Störungen und über das Leben von älteren geistig behinderten Menschen, damit verbunden eine qualitätvolle Zusammenarbeit zwischen Psychiatrie und Pädagogik, setzt gegenseitige Kenntnis und vorurteilsfreien Austausch der Betreuungsergebnisse voraus. Darüber hinaus ist "Geistige Behinderung" keine einheitliche Gruppenbezeichnung, sondern benennt divergierende, nach Ursachen getrennte Personengruppen, deren unterschiedliche Reaktionen und Verläufe psychischer Störungen/ Krankheiten im Alter in zahlreichen Studien belegt sind. Das vorliegende Buch ist der Berichtsband über eine Internationale Konferenz zum Thema "Geistige Behinderung und psychische Störungen im Alter", die im April 1995 in Wien stattgefunden hat. Die Referate und Workshops vermittelten den Teilnehmern nicht nur einen aktuellen Stand internationaler wissenschaftlicher Arbeit, sondern darüber hinaus dessen praktische Anwendung. Die Beschäftigung mit dem Thema fordert als Konsequenz ein Umdenken in der Betreuung älterer Menschen mit geistiger Behinderung, womit sowohl ein adäquater Umgang der Betreuungspersonen als auch eine angemessene gesellschaftpolitische Sorge für diese Menschen gemeint ist. Dies sollte in letzter Konsequenz zu einer selbstverständlichen Einbeziehung von alten Menschen mit geistiger Behinderung in das jeweils nationale Netz der Gesundheitsfürsorge für alte Menschen führen. Gefordert ist damit auch ein antdiskriminierter Umgang mit Psychiatrie und psychischen Störungen oder Krankheiten. Mit der Dualdiagnose "Geistige Behinderung und psychische Krankheit" sollte ebenso selbstverständlich umgegangen werden wie mit jener von Alterskrankheiten bei Menschen mit geistiger Behinderung. Die Veranstaltung, so hoffen wir, konnte zu diesem umfassenden Verständnis von Störungsformen im Alter beitragen. Die ständig gewünschte 34 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Interdisziplinarität wurde dankenswerter Weise zwischen dem psychologischen Institut der Universität Wien, der International Assiciation for the Scientific Study of Mental Deficiency und der LEBENSHILFE ÖSTERREICH praktiziert. Sie führte zu einem regen Austausch zwischen Wissenschaft, Betreuungspraxis und Behörden. Die Ergebnisse werden daher nicht nur den älteren Menschen mit geistiger Behinderung zugute kommen, sondern mithelfen, den Betreuungsalltag für alle darin eingebundenen Menschen zu verbessern. Der besondere Dank gilt daher dem Herausgeber und Mitarbeitern, sowie dem Verlag, der es übernommen hat, den Berichtsband zu erstellen und einer interessierten Leserschaft zugänglich zu machen. Anton DOSEN In: Weber: Psychische Störungen Huber Bern 1997 Seminarunterlagen Folien MB 1998 PSYCHISCHE GESUNDHEIT BEI ÄLTEREN MENSCHEN MIT GEISTIGER BEHINDERUNG Neuere Entwicklungen und Problembereiche. Problembereiche: Schwierigkeiten bei der Identifikation und der Diagnose psychischer Störungen in dieser Population; Risiken der fehlerhaften Diagnose, besonders bei Personen mit Down-Syndrom. Grundprobleme bei der psychiatrischen Versorgung: 1. 2. 3. 4. Problembereich: unterschiedliche Professionen, kulturelle Einstellungen, Organisationsform psychiatrischer Versorgungsstrukturen, Erkennen und Erfassen psychischer Störungen. ad 1) Konflikte zwischen den betreuenden Berufsgruppen, deren Positionen die Qualität der Versorgung bestimmen. Allgemeiner Mangel an spezifischem Wissen bzgl. psychischer Auffälligkeiten bei g.B. 35 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Priorität der Forschungsthemen: Persönlichkeitsentwicklung; Zusammenhang zwischen emotionaler Entwicklung und psychischen und Verhaltensstörungen; psychosoziale Bedürfnisse bei g.B. (Langzeituntersuchung); differenzierte psychiatrische Diagnostik der zugrundeliegenden psychopathologischen Mechanismen; Beurteilung der Behandlungseffektivität, besonders der psychopharmakologischen Behandlung. ad 2) Ansicht über g.B. als negatives und schmerzvolles Phänomen, besetzt mit Vorurteilen. Bezeichnung als "Krankheit" wegen leichterer Akzeptanz. Unterschiedliche kulturelle Einstellung maßgeblich für nationale Politik und der Versorgungsstrukturen. ad 3) Bedeutung der spezialisierten Dienstleistungen, nicht allgemeine Versorgung von Menschen m.g.B. in psychiatrischen Krankenhäusern; Mangel an Spezialisten, besonders an Psychiatern; Mangel an wissenschaftlicher Forschung; Bedeutung einer gemeinsamen Sprache und Terminologie.; Notwendigkeit der multidisziplinären Kooperation. Konsequenzen: Aufbau geeigneter Versorgungsstrukturen; diagnostisches Basiswissen zum Erkennen psychischer Störungen; Förderung einer gesunden psychischen Entwicklung bei Menschen m.g.B.; Prävention psychischer Störungen; Behandlung psychischer Krankheit und Verhaltensstörungen. 36 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Dr. Maria BRUCKMÜLLER LHÖ Wien 2004 Folie GERAGOGISCHE UNTERSTÜTZUNG ALTERNDER MENSCHEN Lebensgestalt Lebensgeschichte Gruppenleben Erfahrungen Ängste Ich bin unnötig Angebote Biographienarbeit Seniorengruppen Seniorenbeschäftigung Privatraum Interessenbildung Mitsprache/ Bestimmung Geldregelung Beziehungen Verläßlichkeit Alltag Pflegebedürftigkeit Sterben Tod Ich bin ungeliebt Ich bin abhängig Ich bin ausgesetzt Bezugsbetreuer Besuchsdienst Muße und Zeit Freizeitgestaltung Sicherheit Pflegehilfen Tagesstruktur Sinnfrage Sterbebegleitung Abschiedsrituale Distanz u. Intimität Folie 37 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Martin TREBERT Weinheim 1991 Bearb. MB 1993 LHÖ PSYCHIATRISCHE ALTENPFLEGE Ein praktisches Lehrbuch. Das Buch geht von einigen wichtigen Grundsätzen der Altenpflege aus. Es betrachtet den Menschen in seiner Ganzheitlichkeit. Hilfe und Pflege richten sich daher nicht an der Krankheit, sondern am kranken Menschen aus. Entscheidend für die psychischen Erkrankungen von alten Menschen sind deren einschneidende Lebensveränderungen: Verlust und Einschränkung. Ein passiver Lebensstil hat nachteilige Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit. Die Grenzen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit werden als fließend angesehen. Die Krankheitsbilder werden in mehrere Bereiche gegliedert: organisch bedingte psychische Störungen; Depressionen; wahnhafte Störungen und Schizophrenie; Abhängigkeitserkrankungen; psychosomatische Beschwerden; Selbsttötung. Bei der Pflege alter Menschen steht die Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Der Pfleger steht in partnerschaftlicher Haltung dem alten Menschen gegenüber; er muß sich in ihn einfühlen können, er dringt damit in die Privatsphäre ein und sollte, um Distanz zu behalten, sein Handeln auch supervidiert reflektieren. Gerade das Verständnis des kranken alten Menschen in der jeweils eigenartigen Situation verlangt ein großes Maß an fachlichem Können und persönlicher Reife. Der Autor hat es verstanden, nicht nur Fachkenntnisse in verständlicher Form zu vermitteln, sondern die Beziehung zwischen dem alten Menschen und dem Helfer darzustellen, um zur Pflege zu ermutigen und dadurch soweit als möglich die Lebensqualität alter Menschen zu verbessern. Das Buch geht nicht ausdrücklich auf die Altersprozesse oder -veränderungen bei Menschen mit geistiger Behinderung ein. Es ist aber für Betreuer in der Behindertenhilfe unschwer möglich, die dargestellten Krankheitsverläufe auf die Situation von geistig behinderten Personen zu übertragen. Es kann gerade durch seine Klarheit dazu beitragen, daß bei der Betreuung alter geistig behinderter Menschen nicht die Behinderung, sondern die Störung oder Erkrankung erkannt wird, so daß eine Behandlung eingeleitet werden kann, die die Beschwerden des Alterns entscheidend erleichtert. Darüber hinaus wird das Buch auch den Eltern von geistig behinderten Personen empfohlen, um die Bedeutung der zeitgerechten Unterbringung in einer Wohnstätte außerhalb der Familie, in der der behinderte Mensch alt werden kann, aus fachlichen Gründen zu unterstreichen. 38 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Dr. med. Rudolf BABITS Anhang zum Gesundheitsunterstützungsplan LHÖ Wien 2005 GESUNDHEITSUNTERSTÜTZUNG IM ALTER Anhang : Untersuchungen und Maßnahmen LABORUNTERSUCHUNGEN 1 x jährlich SENKUNG BLUTBILD: BB + Diff. Thrombozyten, BZ, TSH, HS, BUN, KREAT, NA, K, CA, CL, P, Fe, Chol, HDL-Chol, LDL-Chol, Triglyceride, yGT, GOT, GPD, alu. Phosphatase, Bili. HARN komplett Es liegt im Ermessen des behandelnden Arztes, diese Untersuchungen öfter als 1 x jährlich durchzuführen, in Abhängigkeit von den Grunderkrankungen des Klienten, bzw. seines Risikoprofils. Dementsprechend ist obiger BASISBLOCK durch Zusatzuntersuchungen zu ergänzen, z.B. entsprechender Medikamentenspiegel bei Epilepsie; Lithium oder Digitalismedikation; Blutzuckerbelastungstests und Hb A1 C bei Diabetesverdacht, bei bekanntem familiärem Diabetes und bei übergewichtigen Klienten; seltenere Parameter wie Hormonuntersuchungen, Rheumafaktoren oder Tumormarker bei entsprechenden Symptomen und Verdachtsmomenten. Es wäre günstig, diese Blutabnahme in eine allgemeine Vorsorgeuntersuchung einzubinden. Wenn Risikofaktoren frühzeitig erkannt und verbessert werden, ist dies die beste Altersvorsorge. ANLAUFSTELLEN: Die zentrale Anlaufstelle für diese Untersuchungen ist der Arzt für Allgemeinmedizin. Es liegt an ihm, die entsprechenden Fachärzte einzubinden, wie z.B. GYNÄKOLOGIE: Routineuntersuchung, Brustkrebs, Eierstock- und Unterleibsvorsorge. ZAHNARZT: Paradontisprophylaxe, rechtzeitiger Zahnersatz, bzw. Implantate. HNO: rechtzeitige Diagnose von Hörverlusten. AUGEN: Glaukom = erhöhter Augendruck, 39 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 Sehverschlechterungsdiagnose + Catarakt und Netzhauterkrankungen. INTERNIST: Herz- Kreislauferkrankungen, überhöhter Blutdruck beim Kardiologen; Dickdarmkrebsfrüherkennung beim Gastroenterologen ohne Endoskopie ab dem 40. Lebensjahr; Diabetesfrüherkennung; Erkennung von Fettstoffstörungen und Gefäßerkrankungen. HAUTARZT: Vorstellung von Klienten mit vielen Muttermalen – 1 x jährlich. UROLOGE: 1 x jährlich bei Männern ab dem 50. Lebensjahr. NEUROLOGIE: rechtzeitige Diagnose von Abbauerkrankungen des Nervensystems. ORTHOPÄDIE: Vorbeugung von Haltungsschäden; Osteoporoseprophylaxe. Diese Aufzählung kann bei der Komplexität von Erkrankungsverläufen nicht komplett sein. Sie soll lediglich als eine erste Orientierung verstanden werden. MEDIKAMENTE: Diese sollen rechtzeitig verordnet werden; trotzdem ist in erster Linie auf allgemeine Maßnahmen zu achten: Ernährung, mehr Bewegung usw. Prinzipiell dürfen nicht rezeptpflichtige Medikamente, bzw. solche, die als Nahrungsmittelzusätze registriert sind und auch Vitamin – Kombinationen selbständig gegeben werden. Ich würde aber empfehlen, auch in diese Entscheidungen den Arzt für Allgemeinmedizin einzubeziehen. In Frage kommen: Vitaminkombinationen mit oder ohne Sporenelementzusätzen (SUPRADYN ®, BEROCCA ®); Vitaminkombinationen wie z.B. VITA u.E (GEROGELAT ®, ARCAVIT AE ®) VIT B1, B6, B12 (Neurobion forte ®, ARCA BE ®); Calcium und VIT D bei Osteopenie und Osteoporose, Eisen mit oder ohne Folsäure bei Mangelzuständen, Magnesiumpräparat;. Sogenannte „Basenmischungen“; Klassische Nahrungsmittelergänzungen wie von der Firma Ökopharm, bzw. Ergosum. Vom Arzt zu verordnen: Durchblutungsfördernde Mittel, die Blutviskosität verbessernde Mittel, die Darmflora unterstützende Mittel, Enzyme, 40 ARCHIV Medizin 1991-2005 lLHÖ Altersveränderungen Erkrankungen Fachliteratur, Praxis - Wien – Unterlagen MB 2009 - Themenheft 11 bzw. die gesamte Palette von Molekülen, welche die im vorangegangenen Text erwähnten Krankheiten regulieren und heilen. Bei der Auswahl der Partner – Ärzte/ Ärztinnen ist neben dem allgemeinen Ruf, welchen die Kollegen und Kolleginnen besitzen, darauf zu achten, ob diese ein Geriatriediplom besitzen. In Wien haben sich die Ambulatorien der einzelnen Krankenkassen zur Durchführung von Gesundenuntersuchungen, fachärztlichen Begutachtungen und Operationsfreigaben sehr bewährt. Weitere Adressen in Wien: Sophienspital, KH Göttlicher Heiland, gyn. Ambulanz AKH – Termin am Nachmittag vereinbaren für behinderte Frauen, Lungenabteilung und Neurolog. Abteilung Wilhelminenspital, KH Rosenhügel, Zahnsanierung KH Lainz Anschrift: Dr. med. Rudolf Babits, Blumeng. 18, 1180 Wien Tel. +43-1-405 42 93 SELBST/ FREMDVERTRETUNG JURISTIK MENSCHENRECHTE BEHAUSUNG - Legalität ZEIT RING FUNKTIONEN MATERIE KörperGeistSeele BEWEGUNG - Individualität DEMENZEN MEDIZIN PFLEGE RAUM BEZIEHUNG - Sozialität BIOGRAPHISCHE BEGLEITUNG 41