Dipl. Psych. B. Gatzweiler: Akkuttraumatisierung bei Menschen mit

Werbung
Akuttraumatisierung bei Menschen
mit besonderen Bedürfnissen
Birga Gatzweiler
München
Akuttraumatisierung
- „bei behinderten Menschen“
- „bei Menschen mit Behinderung“
- „Personen mit erhöhtem Hilfebedarf“
- „mit besonderem Bedürfnissen“?
…haben wir eine homogene Gruppe vor uns?
…über welche Personen sprechen wir…?
• Im Jahre 2012 galten 1,2 Mio Schweizer Bürger als „behindert“,
40% davon als stark beeinträchtigt, 2 % der Wohnbevölkerung
lebte in Heimen oder spezialisierten Institutionen.
In Deutschland wurden zum Jahresende 2013 insgesamt 7,5
Millionen schwerbehinderte Menschen statistisch erfasst.
Der Anteil an der Gesamtbevölkerung betrug 9,4 %.
• Die deutschen Statistiken erfassen nur Personen, die den
rechtlichen Status eines Schwerbehinderten (Grad der
Behinderung mindestens 50, Schwerbehindertenausweis
erhalten) haben, nicht jedoch alle, die ihn beantragen könnten
(ca 10 % der Gesamtbevölkerung).
Eine von mehreren möglichen Grobklassifikationen:
-
Sinnesbehinderung (siehe Eunad) => Europäisches Netzwerk
für psychosoziales KrisenKörperbehinderung
management – Hilfe für
Psychische Behinderung
behinderte Menschen im
Mehrfachbehinderung
Katastrophenfall
-
Geistige Behinderung
Geistige Behinderung / Intelligenzminderung:
DSM V und ICD 10 und beschreiben die drei Faktoren:
-
unterdurchschnittliche Intelligenz
Probleme im adaptiven Verhalten
Beginn in Entwicklungsphase (kleiner 18 Jahre).
Warum schauen wir diese Gruppe von Menschen genauer an?
Kinder und Erwachsene mit intellektuellen Beeinträchtigungen
leiden 3-4 (2-3?!) mal häufiger an psychiatrischen Störungen.
Es liegen dieselben Arten von psychischen Erkrankungen vor wie
in der „Normal-Bevölkerung“. Die Symptomatik aber kann sich
unterscheiden.
Der mit sich selbst redende Depressive…
Es liegt die Tendenz vor, psychische Symptome als reine
„Verhaltenskomponenten eines kognitiven Defizits“ fehl
zu interpretieren.
Die gleiche psychische Störung wird bei einer geistig
behinderten Person als weniger wichtig und weniger
behandlungsbedürftig erachtet als bei einer „normal
intelligenten“ Person („diagnostic overshadowing“)
Siehe: Razza, N.,J., and Tomasulo, D.,J. (2005), Healing Trauma – The Power of Group Treatment for People With Intellectual
Disabilities, American Psychological Assoziation, London
Siehe: Lotz-Rambaldi, W., 2006, Folien zu „Trauma und geistige Behinderung“, Vortrag auf der Fachtagung „Geistige Behinderung und
Trauma“ in Bremen (Internet)
Bei einem derart gehäuften Vorkommen psychiatrischer Störungen,
welche sich nicht einfach durch die Primärdiagnose erklären
lassen, können wir uns die Frage stellen,
•
ob die Personen überaus verletzbar sind
•
ob die Lebensbedingungen derart „krankmachend“ wirken.
Eine solche erhöhte Vulnerabilität für seelischen Verletzungen
könnte dann in einem Zusammenhang mit
lebensgeschichtlichen Erfahrungen gesehen werden.
Die folgende Auswahl impliziert nicht in jedem Fall eine erhöhte
Verwundbarkeit und ist stets als „vielleicht könnte das sein“
zu betrachten.
Wir haben keine Studien, die zeigen, welche dieser Erfahrungen
als Risikofaktoren oder als Schutzfaktoren fungieren.
Vielfältige Verlusterfahrungen, z.B. von Bindungspersonen, von
persönlichen Zielen, von Urvertrauen, von der Kontrolle über
selbstrelevante Aspekte
Kleines soziales Stützsystem, oft sehr enge Eltern-KindBindungen oder früher Abbruch, eingeschränkte Mobilität hat
Einfluss auf Freundeswahl
Definition der eigenen Persönlichkeit in Abhängigkeit von
anderen, Übernahme festgelegter Rollen
Begrenzte Handlungsmöglichkeiten / geringes oder nicht
adäquates Repertoire an Problemlösefähigkeiten / eventuell ein
geringes Selbsteffizienzerleben
Gewalterfahrung/ -erleben (z.B. bei Überforderung in der
Erziehung, in der Durchsetzung von Förderzielen, Fixierungen
bei medizinischen Eingriffen, etc)
Erfahrungen der Lebensbedingungen als wenig verlässlich und
sicherheitsspendend
Geringe Verfügbarkeit externer Ressourcen
Modelllernen in wesentlichen Lebensbereichen durch Mangel an
Möglichkeiten erschwert
Verstärkung für positive Emotionsäußerungen / Wissen um die
Wirkung bestimmter Äußerungen und Verhaltensweisen
Hoher (Förder-) Druck hin zu größtmöglicher Selbständigkeit, und/
oder dem Erhalt einmal erworbener Fähig- und Fertigkeiten
Ein geringes verbales Repertoire, um Gefühle auszudrücken /
erschwerte Reflexion eigener Emotionen / Verhaltenstendenzen
In der PSNV könnten wir bei der Klientel der Menschen mit
geistiger Behinderung auf Personen treffen,
welche hoch belastet sind, bereits Traumata erlitten, eventuell
aktuell noch unter Traumafolgestörungen leiden
oder wir begleiten eine Personengruppe, welche aufgrund ihrer
Vulnerabilität Gefahr läuft, häufiger als die sog.
Normbevölkerung Traumafolgestörungen zu entwickeln.
Und immer wieder begleiten wir in der PSNV auch Menschen mit
geistiger Behinderung,
welche besonders resilient / abwehrstark gegenüber akut
belastenden Ereignissen reagieren!
Ein Trauma ist…
„ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaßes (kurz oder
langhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung
hervorrufen würde“ (ICD-10)
„ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen
Situationsfaktoren und den individuellen
Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit
und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte
Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“
(Fischer und Riedesser (1998))
„
Jan, ein Junge mit Down-Syndrom“
Eine wahre Geschichte über einen nicht betreuten Jungen!
Im akuten Krisengeschehen und im Anschluss daran, könnten
Personen mit geistiger Behinderung folgende Besonderheiten
zeigen bzw. besondere Bedürfnisse haben (Auswahl):
andere Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmöglichkeiten/
geringe Toleranz gegenüber Veränderungen/ schnelle
Reizüberflutung/ Erschwernis, relevante Informationen
herauszufiltern
Fehlende Konzepte, in die das Erlebte eingearbeitet werden
kann
Gabe „ Alltag zu leben“ wird missverstanden/ Fehlinterpretation
durch „Dolmetscher“/ Akute Belastungsreaktionen (z.B. freeze)
werden vom Umfeld nicht erkannt / hohe Suggestibilität
eingeschränkte exekutive Kontrollprozesse (Generalisierungen,
Verbinden von Geschichten und Geschehnissen, enge
Assoziation von Vergangenheit und Gegenwart, Festhalten an
„unlogischen“ Verknüpfungen)
Erschwernis, Erlebtes so zu kommunizieren, dass es von der
Umwelt gut verstanden wird / “Doppeltes“ Fehlen der Worte in
der Stresssituation
Besonderes Verhältnis zu Eltern führt zu ausgeprägten
Existenzängsten
Begrenzte Auswahl an Handlungs- und
Bewältigungsmöglichkeiten
Leiden unter Begleitfaktoren der aktuellen Krise
Und in der Folgezeit?
Symptome, die Hinweise auf eine deutliche Belastung von
Menschen mit (schwerer) geistiger Behinderung geben können:
Schwindel, Kopfschmerzen
Rückzug
Sexualisierte Verhaltensweisen
Exzessives Schreien
Ess- und Schlafstörungen
Verweigerungsverhalten
Regressive Phänomene
Angst vor Neuem
ausgeprägte Trennungsängste
Durchfälle, Kotschmieren
Angst vor fremden Personen
unklare Schmerzen
Aggressive Verhaltensweisen
Erstarren
Auffälliges Schmerzempfinden
Schwitzen, Herzrasen
Selbstverletzende Verhaltensweisen Anhaltende Erregung
fehlende Ansprechbarkeit
usw.
Längerfristig sind die Symptome oft nicht spezifisch genug, um
einen sicheren Hinweis auf eine PTBS geben zu können.
Betreuer und Angehörige kennen Reaktionsweisen des betreuten
Menschen sehr genau, mit akuten Belastungsreaktionen oder
Traumafolgestörungen aber haben sie keine Erfahrung.
Im pädagogischen Alltag werden die Reaktionen auf das
Stressgeschehen allzu schnell als Provokation, Leistungsverweigerung, Suche nach Aufmerksamkeit oder generell als
Verhaltensauffälligkeit fehlinterpretiert
Ein „late onset“ der Symptome verhindert ebenso eine richtige
Diagnosestellung
Und so könnten fälschlicherweise
flashbacks – Halluzinationen
Dissoziation - ADS
numbing – Depression
Verminderter Antrieb – Negativsymptomatik einer
Psychose
(Hyper-)Arousal – ADHS
werden.
Mögliche Kennzeichen einer Traumafolgesymptomatik:
- Beginn im zeitlichen Kontext
- Symptome sind als möglicher Bestandteil einer Notfallreaktion
oder Stressreaktion erkennbar
- Traumabezogene Auslösereize sind erkennbar
- Hinweise auf situative Verkennung (z.B. falscher Name)
- Einsetzen der Symptomatik mit voller Intensität
- Bestimmter wiederkehrender Ablauf, kaum zu beeinflussen
- Belohnungsaspekt - zumindest anfangs- nicht erkennbar
- Wird von der Person selbst als ich-fremd erlebt, wirkt von
draußen als Fremdkörper im übrigen psychischen Erleben
Quelle: Mitschrift Veranstaltung „Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger
Behinderung“, Marburg, 28.11.2011, workshop Dieter Irblich
Obwohl es ein diagnostisches Manual für Menschen mit geistiger
Behinderung in Amerika gibt (DM-ID), können wir in
Deutschland damit noch nicht arbeiten. Im DSM 5 wird jetzt ein
Subtyp aufgeführt, nämlich PTSD bei Vorschulkindern, es gibt
noch nichts entsprechendes für MbgB.
M. Jagla et al. (Hochschule Magdeburg-Stendal) erstellten SCL-90(Symptom-Checklist-90®-Standard) in einfacher Sprache und
mit graphischer Unterstützung (Notfallpsychtagung 10/2015).
Fletcher, R., Loschen E., Stavrakiki, C., First, M. (Eds.),2007, Diagnostic Manual – Intellectual Disability (DM – ID):
A Textbook of Diagnosis of Mental Disorders in Persons with Intellectual Disability, Kingston, NY:NADD Press.
Chapter 21: Tomasulo, D.J., and Razza, N.J., Posttraumatic Stress Disorder
…Traumafolgestörungen werden bei Personen mit geistiger
Behinderung häufig nicht diagnostiziert…
Hinweise für den Einsatz (Auswahl):
-
Auf Sinnes- und Mobilitätseinschränkungen achten, NäheDistanz-Regulierung unterstützen
Grundkenntnisse im Umgang mit dem Rollstuhl umsetzen
„Siezen“ (bei Erwachsenen) mit einem möglichen Übergang
zum gegenseitigen „Duzen“
(Re-) Orientierung in einfacher Sprache
Sinneseindrücke erklären, „etwas vorhersagen“
Mit körperlichen Reaktionen rechnen (Anklammern, Abwehr),
auf Eigenschutz achten (Schal, Brille, Kette)
Selbstberuhigungsverhalten „verstehen“, bei Selbstgefährdung
eingreifen
- Wut wahrnehmen und ausdrücken lassen
„Geballte Fäuste vs. tippelnde Beine“
- Gruppendynamik im Blick behalten, Betroffene kontinuierlich
supervidieren
- Entkoppelung von Emotion und Mimik in Betracht ziehen
- Vertrauensperson (Angehöriger, Wohnheim-Betreuer, ggf
gesetzlichen Betreuer) erfragen, hinzu bitten
- Sicherheitsbietende Routinen weiter leben lassen (roles-rulesroutines)
- Kontaktgestaltung z.B. über Kommunikation über die Aufgaben
am Arbeitsplatz
- Mit Bildkarten arbeiten
-
-
Für Erfüllung grundlegender Bedürfnisse sorgen (Trinken,
Essen, Toilettenbesuch, Medikamente), die richtigen
„Zauberworte“ finden.
Direkte und unverblümte Äußerungen für sich selbst
umformulieren
Stabilisierung durch Wahrnehmungslenkung
Positiven Beitrag deutlich betonen
„Mit-Verantwortung“ / Schuldgefühle ansprechen
Kleine Aufgabe übertragen
(Der Konservierer: der eindrücklichen traurigen Erfahrung
etwas Gutes gegenüber setzen)
-
Mit Perseverationen (Wiederholen von oder Haftenbleiben an
Denkinhalten) „fürsorglich“ umgehen
Mit Symbolen arbeiten
Be-greifen lassen
Das Geschehene und Kommende eventuell in Geschichtsform
darstellen
Mit Kraftsteinen und ggf Einsatz magischen Denkens
Selbsteffizienzerleben erhöhen
Gespräche über den Glauben anbieten, beten
Bei schwerstmehrfach behinderten Personen: in Assistenz
handeln, mit Bezugsperson zusammen handeln, mit
wertschätzendem Bauchgefühl handeln
-
-
Beratung des Betroffenen:
Psychoedukation / Stabilisierungsübungen /
Distanzierungsübungen / Meiden von Stress auslösenden
Situationen / Aufforderung, gut für sich zu sorgen und sich
mitzuteilen etc.
Beratung des familiären Umfeldes:
Psychoedukation/ „sichere Bedingungen“ schaffen/ Stress
auslösende Situationen meiden / Trigger identifizieren und
meiden / darauf hinweisen, dass „keine Reaktion eine Reaktion
ist“ etc.
-
Beratung des professionellen Umfeldes:
Psychoedukation / sichere Bedingungen schaffen/ Stress
auslösende Situationen meiden / Trigger identifizieren und
meiden / für gute Übergaben sorgen / Ansprechpartner für die
folgende Zeit erfragen oder festlegen / darauf hinweisen, dass
„keine Reaktion eine Reaktion ist“/ Bestärken, sich
Unterstützung von außen zu holen / ggf auch spätere Nachfrage
einräumen etc.
Post-akut Begleitung:
- Die Grundlage des Umgangs bildet: Sicherheit, Vorhersehbarkeit,
Kontrollierbarkeit und stabile Beziehungsangebote
- Ziel ist eine Reduzierung der akuten Stressbelastung,
Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit und
Aktivierung von Ressourcen und Hilfsnetzwerken
- Es wird gearbeitet mit Mitteln der Distanzierung, Stabilisierung &
Ressourcenorientierung
Beispiele:
Körperübungen
Traumfänger
Kraftsocken
Schlafhygiene
Entspannungsmethoden
Uhren gestalten
Life-lines
Imaginationsreisen
Ich-Bücher
Klettern, Balancieren
Die Arbeit mit dem schütteren Fell
Schatz- und Wunschketten auffädeln
neue Kräfte ausprobieren
die Angst anschauen
Rituale in den Alltag implementieren
mit „Krafttieren“ arbeiten
mit Symbolen arbeiten
Unerledigtes erledigen lassen
zu kreativem Trauerausdruck ermutigen
Symbole zur Identifikation von Gefühlen
einsetzen
Wünsche/Forderungen
von Birga Gatzweiler und
Heinz Rembor, ASB KIT Coburg
Die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung in der PSNV und
der Post-Akut-Versorgung in den Fokus der Aufmerksamkeit
rücken / Großschadenslagen vor-denken.
Deutlich machen, um wie viele Personen es sich handelt:
10,8 Mio Kinder bis 14 Jahre (2011)
7,5 Mio Menschen mit GdB >=50 (2013)
Aufnahme des Themas in die Ausbildungen Kit / NfS sowie die
rettungsdienstlichen Ausbildungen.
Leitende PSNV-Kräfte bestärken, auf entsprechende
Fortbildungsangebote hinzuweisen.
Erstellung einer Datenbank, damit in schwierigen Einzelfällen
besonders befähigte Unterstützer angefordert werden können.
Gründung eines Kompetenz-Zentrum, über das auch Ansprechpartner für die post-akute Versorgung zeitnah erreichbar und
einsatzbereit sind.
Danke für die Aufmerksamkeit
Dr. phil. Birga Gatzweiler, München, [email protected]
Herunterladen