Dea Loher - Biografie Dea Loher, die Tochter eines Försters, wurde

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Dea Loher - Biografie
Dea Loher, die Tochter eines Försters, wurde 1964 in Traunstein geboren. Sie studierte
Germanistik und Philosophie an der Universität München. Nach ihrem Magister Artium 1988
verbrachte sie ein Jahr in Brasilien. Ab 1990 nahm sie an dem Studiengang ‚Szenisches
Schreiben’ bei Heiner Müller und Yaak Karsunke an der Hochschule der Künste in Berlin teil.
Ihr erstes Stück Olgas Raum kam bereits 1991 im Hamburger Ernst Deutsch Theater zur
Uraufführung. Dea Loher lebt und arbeitet heute in Berlin.
Im Oktober 2003 inszenierte Andreas Kriegenburg ihr Stück “Unschuld” im Thalia Theater.
Im Juni 2004 folgte "Das Leben auf der Praça Roosevelt", uraufgeführt unter der Regie von
Andreas Kriegenburg im Thalia in der Gaußstraße, das im Herbst 2004 zu Festivals nach
Sao Paulo, Porto Alegre und Rio de Janeiro reiste.
Theaterstücke
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Olgas Raum (Uraufführung Ernst Deutsch Theater Hamburg, 1992)
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Fremdes Haus (Uraufführung Niedersächsisches Staatstheater Hannover, 1995)
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Adam Geist (Uraufführung Niedersächsisches Staatstheater Hannover, 1998)
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Blaubart - Hoffnung der Frauen (Uraufführung Bayerisches Staatsschauspiel
München, 1997)
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Manhattan Medea (Uraufführung steirischer herbst, 1999)
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Klaras Verhältnisse (Uraufführung Burgtheater Wien, 2000)
•
Der dritte Sektor (Uraufführung Thalia Theater Hamburg, 2001)
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Magazin des Glücks (Uraufführung Thalia Theater Hamburg, 2001)
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Unschuld (Uraufführung Thalia Theater Hamburg, 2003)
•
Das Leben auf der Praca Roosevelt (Uraufführung Thalia Theater Hamburg, 2004)
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Quixote in der Stadt (Uraufführung Thalia Theater Hamburg, 2005)
•
Tätowierung
Prosa
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Hundskopf, Wallstein Verlag, Göttingen 2005
Auszeichnungen
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Goethepreis der Mülheimer Theatertage 1993 (für Tätowierung in der Inszenierung
von Friderike Vielstich am Theater Oberhausen)
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Preis der Frankfurter Autorenstiftung 1993
•
Wahl zur Nachwuchsdramatikerin der Jahre 1993 und 1994 in Theater heute
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Jakob Michael Reinhold Lenz-Preis der Stadt Jena 1997 (für Adam Geist)
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Mülheimer Dramatikerpreis 1998 (für Adam Geist)
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Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis 2005
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Bertolt-Brecht-Preis 2006
Das Stück
In „Unschuld“ versammelt die Autorin Dea Loher eine kleine Gesellschaft von Verzweifelten
und Verstrickten, von Schuld-, Tod- und Schicksalssuchenden. Sie leben an den
Abrissrändern unserer Gesellschaft und haben mit der Banalität des Alltags ebenso wie mit
den ewig großen Fragen der Menschheit zu kämpfen. Loher zeigt, ohne zu erklären oder zu
werten, ein tragikomisches Gesellschaftspanorama der Gegenwart.
Eine Stadt am Meer in Europa: Elisio und Fadoul sind illegale schwarze Immigranten. Sie
sehen eine junge Frau ins Meer gehen und retten sie nicht – aus Angst vor der Entdeckung
ihrer Illegalität. Der eine kann nicht mehr schlafen, der andere findet eine Tüte voller Geld
und verliebt sich in das blinde Mädchen Absolut. Sie arbeitet als Stripperin in einer Bar am
Hafen und wartet vergeblich darauf, dass Fadoul kommt und sich ihre Show ansieht. Frau
Zucker hat Diabetes im Endstadium und erfindet immer wieder aufs Neue ihre eigene
Vergangenheit und ihre Tochter Rosa wünscht sich ein Kind vom Bestatter Franz.
Utopie einer gerechteren Welt
Wie Birgit Haas in ihrer Polemik gegen das postmoderne Theater fast an Dea Loher
vorbei schreibt und ihr doch wieder begegnet
Von Peggy Mädler
Beim Lesen des Buches wird schnell deutlich, dass die Germanistin Birgit Haas in ihrer
Auseinandersetzung mit der deutschen Dramatikerin Dea Loher ein über die engere
Werkanalyse hinaus weisendes Ziel verfolgt: einen Rundumschlag gegen das, was Haas als
postmodernes oder, einen Begriff von Hans Thies-Lehmann aufgreifend, als
postdramatisches Theater bezeichnet. Ohne DramatikerInnen oder RegisseurInnen zu
nennen, wird dem postmodernen Theater "an sich" eine umfassende Anklageschrift
gewidmet, bewirkt es doch der Autorin zu Folge nicht nur die Zerstörung der Form, sondern
auch die der Kunst. Es entstellt Sinn, erzeugt sprachliches Durcheinander, hektische,
unmotivierte Bühnenauftritte und abstrakte, unverständliche Konzepte. Folgt man Birgit
Haas, dann ist das postmoderne Theater gänzlich unpolitisch, schockiert und überfordert es
lediglich das Publikum. Es ist schlussendlich eigentlich nur l'art pour l'art, was an mehreren
Stellen des Buchs eindringlich wiederholt wird. Die Untersuchung von Haas zeigt deutlich,
dass Akzeptanz von Vielfalt nicht nur im politischen, sondern auch im künstlerischen bzw.
wissenschaftlichen Bereich geübt sein will. Der Versuch von Thies-Lehmann, aber zum
Beispiel auch von Gerda Pöschmann, postdramatische Texte gleichwertig ins Feld der
Dramatik einzuordnen und damit deren wissenschaftliche und literarische Wahrnehmbarkeit
zu fördern, wird von Birgit Haas polemisch abgewehrt.
Die Dramatikerin Dea Loher, die 1992 mit ihrem Stück "Tätowierung" bekannt wurde,
erscheint vor Haas' entworfenem Szenarium als Lichtblick in einer Theaterlandschaft, die
sich von den letzten 30 Jahren erst wieder erholen muss. Ihre eher an Bertolt Brecht
orientierten, auf Fabel, Handlung und Dialog setzenden Stücke holen Haas' Meinung nach
endlich den Menschen, das Individuum ins Theater zurück und machen die Bühne wieder
zum politischen Ort. Dem entsprechend wird die Dramatikerin in die Tradition des politischen
Theaters seit den 1920er Jahren eingebettet.
Ausgehend von Erwin Piscators Theater der politischen Agitation setzt sich Birgit Haas vor
allem mit Lohers Bezügen zu Brecht und dem epischen Theater auseinander. Auch Ödön
von Horváths Bedeutung für Lohers Werk wird herausgestellt, nicht zuletzt trägt ihr Zyklus
"Magazin des Glück" von 2001 den Namen eines Theaterprojekts von Horváth, das er kurz
vor der Machtergreifung Hitlers entwarf, aber nicht mehr realisierte. Der Abriss des
politischen Theaters führt weiter über Max Frisch und Friedrich Dürenmatt bis hin zum
Dokumentartheater von Peter Weiss, Heinar Kipphardt und Hans Magnus Enzensberger ab
Mitte der 1960er Jahre. Zu guter Letzt werden die Theatertexte von Tankred Dorst, Thomas
Bernhard und Heiner Müller untersucht, was zu der Annahme führt, dass, obwohl Birgit Haas
Müllers Texte ab den 70er Jahren als mit zuviel Informationsmaterial überschwemmt
empfindet, sie ihn wenigstens nicht wie den Rest des postmodernen Theaters als unpolitisch
einstuft. Sie stellt sogar fest, dass Dea Loher einige sprachliche Stilmittel von Müller
aufgreife, versichert aber gleich mit, dass es dabei nicht um Entstellung von Sinn gehe,
sondern darum, die Sätze mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen, um mehrere
Deutungsmöglichkeiten und Assoziationen zuzulassen. Solche Erklärungen sind ärgerlich,
transportieren sie doch nur reine Grabenkämpfe ohne Erkenntnisgewinn und lassen darüber
hinaus nicht auf eine eingehendere Beschäftigung mit Heiner Müller schließen.
Insgesamt ist der Blick auf die Entwicklung des politischen Theaters aber durchaus
gelungen, nur nutzt Birgit Haas ihn nicht wirklich dazu, die Dramatikerin nun eigenständig in
diesem Feld zu beschreiben. Es werden zwar Parallelen und Ähnlichkeiten formaler oder
inhaltlicher Zugänge herausgearbeitet, aber letztendlich gelingt keine Ablösung von den
genannten Dramatikern bzw. Theatermachern. Statt den Abriss der politischen
Theatertradition als vorangestellte Basis für eine Untersuchung von Lohers Theaterästhetik
zu nutzen, wird ihre Ästhetik fast ausschließlich in einem Wechselspiel von Abgrenzung und
Zuordnung beschrieben. Irgendwann entschwindet die Dramatikerin in diesen
Dauervergleichen, ihre Stücke erscheinen nun fast als ein "Best-Off" des politischen
Theaters. Sie nutzt Brechts Verfremdungseffekte, ist aber nicht didaktisch, sie greift inhaltlich
die postmoderne Diskussion auf, zerstört aber nicht die Form, sie setzt sich mit politischen
Themen und Ereignissen auseinander, ohne aber, wie das Dokumentartheater, eine
scheinbare Authentizität vermitteln zu wollen. Birgit Haas' schlussendlicher Versuch, Dea
Lohers Texte als eine hybride Dramatik zu beschreiben, weil sie sich keiner der bestehenden
dramatischen Formen zuordnen lassen, ist daher eher fragwürdig. Haas greift hier Homi
Bhabhas Begriff des Hybriden und sein Konzept der kulturellen Differenz auf, das die
Auffassung, eine Nation oder Kultur sei "rein", in Frage stellt. Die Anwendung des Begriffs
auf die Theaterästhetik von Loher ist jedoch schwierig. Da Bhabha mit seinem Begriff
generell das Konzept der Reinheit dekonstruiert, kann man mit diesem Begriff auch
schwerlich nur eine bestimmte Dramatik kennzeichnen. Eine theaterwissenschaftliche
Verwendung des Begriffs, die hier durch Haas anregt wird, würde eher daraufhin verweisen,
dass jede dramatische Handschrift in einem Geflecht von verschiedenen Einflüssen
überhaupt erst entsteht.
Die Darstellung der außertheatralischen Bezüge zu Dea Lohers Werk gelingt Birgit Haas
dagegen fast spielend. Sie zeigt die Verbindungen zu Werner Heisenbergs
Unschärferelation, Gerhard Richters RAF-Zyklus, zu Walter Benjamins Bildraum oder zu
Gedächtnistheorien von Maurice Halbwachs oder Jan Assmann auf, ohne dabei zu
verharren. Die Bezüge werden lediglich als Ausgangspunkt genommen und kreativ in den
Stückanalysen angewandt bzw. auf Lohers Theaterästhetik übersetzt. Nur wäre es nicht
nötig gewesen, die einzelnen Verknüpfungen teilweise drei bis viermal im Buch fast
wortwörtlich zu wiederholen, auch erscheinen Stückauszüge, Zitate und Interpretationen
mehrfach, was beim Lesen eher irritiert. Aber obwohl oder gerade weil bei den Bezügen zur
bildenden Kunst, Physik, Kulturwissenschaft und Philosophie der Sprung zu den Stücken
erst einmal größer erscheint, kann sich Haas auch schneller wieder davon lösen und gerät
gar nicht erst in die Gefahr, die Dramatikerin mit den genannten Künstlern bzw. Theoretikern
zu vergleichen.
Schlussendlich entfaltet das Buch eine schöne, der Germanistin aber wahrscheinlich nicht
bewusste Dramaturgie. Ihr Versuch, eindeutige Aussagen über Dea Loher zu treffen und
genaue Zuordnungen oder Abgrenzungen deutlich zu machen, führt die Wissenschaftlerin
immer wieder in hausgemachte Widersprüche hinein und zunächst von der Autorin weg. So
wird der Dramatikerin an einigen Stellen der Stückanalysen ein Glauben an die
Durchschaubarkeit der Welt und an die verändernde Kraft von Kunst unterstellt, an anderen
Stellen wird dieser Glaube mit der gleichen Nachdrücklichkeit abgelehnt. Es scheint fast, als
könnte man sämtliche widersprüchliche Haltungen aus den Stücken gleichermaßen
herauslesen. In diesen Widersprüchen zeigt sich die eigenwillige Schönheit von Dea Lohers
Dramatik, plötzlich wird der von Haas beschriebene Moment der Unschärfe unmittelbar
erfahrbar. Diese Unschärfe zwingt dazu, die Schwierigkeit im Umgang mit Mehrdeutigkeit
und Vielfalt auszuhalten. Und plötzlich wird auch verständlich, dass Loher, wenn sie über
das Unglück, das "Nichtfunktionieren" und den emotionalen, sozialen und physischen Tod
von Menschen in gesellschaftlichen Strukturen schreibt, zugleich vom Glück und von der
Utopie einer gerechteren Welt erzählt.
Über Dea Loher und ihre Stücke – eine persönliche Vergewisserung
Von Michael Börgerding
Michael Börgerding ist Chefdramaturg des Hamburger Thalia Theaters.
Dea Loher und ihre Texte kenne ich jetzt seit über zehn Jahren. Ulrich Khuon bereitete 1992
einen Neuanfang für Hannover vor; wir hatten ihre ersten zwei Stücke gelesen und eine
Autorin gefunden, mit der wir langfristig zusammenarbeiten wollten. Merkwürdig genug: Eine
knapp 28-jährige kluge, lustige und schöne Frau aus dem bayerischen Traunstein wollte als
Auftragsstück für das Schauspiel Hannover über Ulrike Marie Meinhof und die Anfänge der
RAF schreiben. Natürlich war ich misstrauisch damals, auf jeden Fall nicht überzeugt von
ihrem Vorhaben. Als ich die erste Fassung dann las, war ich noch mehr verwundert. Der
Text leistete es sich, sich dem Thema vollkommen unironisch zu stellen. Er war in einem
eigentümlichen Sinne unschuldig. Die Premiere von «Leviathan» war im Herbst 1993, in
diesem Herbst trafen wir auch gemeinsam die Tochter von Ulrike Meinhof. Bettina Röhl
arbeitete bei der «Männer
Vogue» als Redakteurin, war vorher Volontärin bei «Tempo», dem journalistischen AntiAchtundsechziger-Projekt. Die beiden Frauen sind gleich alt, und von der Begegnung wird
mir in Erinnerung bleiben, wie Bettina Röhl erzählte von den Vorwürfen der linken Lehrer am
Hamburger Nobelgymnasium, wenn sie – die Tochter von «Ulrike»! (alle nannten ihre Mutter
immer nur
Ulrike) – mit dem Roller und dem teuren Kaschmir-Pullover durch Hamburg fuhr und nicht
vorhatte, sich irgendwie für Politik zu interessieren. Dea Loher hörte zu – so wie sie immer
gerne zuhört und zuschaut –; sie schien sich weiter für Politik interessieren zu wollen.
Autorin ohne Label
Jetzt gehört sie also zweifellos zu den wichtigsten, im In- und Ausland viel gespielten
Dramatikern Deutschlands. Und das ist umso erstaunlicher, da sie nie einer der vielen Modeoder In-Gruppen angehörte, die in den letzten Jahren durchs deutsche Theater gingen, seien
es die Kleinfamilienmassaker- und Lehrbuchgroteskenschreiber, das Poptheater oder die
neuen Boulevardrealisten. Natürlich hat auch sie sich ein Label erschrieben, eine
«Kassandra der Gegenwartsdramatik» sei sie, ihre Sprache habe die «Wucht zur Tragödie»,
aber vor allem gilt sie als die letzte – oder erste, je nachdem, von wo aus man guckt –
Vertreterin des politischen Theaters. Gegen diese Zuschreibung weiß sie sich bisweilen
deutlich zu wehren: «Der Begriff politisches Theater ist Scheiße. Man muss gleich an
Hochhuth denken. Das ist zwar auch billige Polemik, aber er scheint genau zu wissen, was
richtig oder falsch ist. Aber nur ein paar vom Aussterben bedrohte Menschen haben noch
einen Schwarz-Weiß-Fernseher, die Welt ist Farbe, und das Theater ist keine
Folterkammer.»
Und wenn sie auf die Frage nach Brecht als Vaterfigur diesen als «chauvinistisches
Arschloch» bezeichnet – im Übrigen im Gestus dem jungen Brecht sehr ähnlich –, ist das so
falsch ja nicht. Stichwort Chauvinismus: «Weibliches Schreiben» (auch so ein erschriebenes
Label) – auf kaum etwas reagiert Dea Loher so allergisch wie auf dieses Etikett. «Also ich.
Ich als Frau. Äh. Ah.» 1986 bereits hat Rainald Goetz ein Theaterstück – «Krieg», damals
noch «Heiliger Krieg» – geschrieben, in dem nur eine einzige Frau auftritt, ein sogenannter
WEIBLICHER MÜNDIGER BÜRGER, mit eben diesem Satz. Das ist vermutlich keine
Antwort auf die Frauenfrage, belegt aber vielleicht, wie heikel und kompliziert es geworden
ist, von bestimmten eindeutig definierten Orten aus zu schreiben.
Dea Loher weiß also – theoretisch wie praktisch – von den Schwierigkeiten, auf der Bühne
von Politik zu erzählen. Ihre Suchbewegung im Schreiben entfernt sich so auch
konsequenterweise vom dezidiert politischen Theater – und verfolgt es auf Umwegen doch
immer wieder. Ihre Stücke werden auf der einen Seite inhaltlich offener und größer, die
letzten auch leichter, auf der anderen Seite in der Form genauer und verdichteter. Erzählt
«Olgas Raum» noch im Folterszenario die politische Biographie der jüdischen Kommunistin
Olga Benario politisch korrekt nach und meint in der Inzestgeschichte «Tätowierung» (1992)
die scheinbar private Gewalt in der Familie Wucht immer auch eine Gesellschaft, die in
solchen Zwangszusammenhängen sich organisiert, so steht bereits im vermeintlich
«politischsten» Stück von Dea Loher – «Leviathan» (1993) – nicht so sehr die
Rekonstruktion einer Urszene des deutschen Terrorismus im Mittelpunkt (die bewaffnete
Befreiung von Andreas Baader durch Ulrike Meinhof), es geht im eigentlichen Sinne auch
gar nicht um den Staat, wie der Titel verspricht, vielmehr wird der dramatische Konflikt
zugespitzt auf eine ebenso individuelle wie ideologische Entscheidung der fiktiven Schwester
Christine.
Genau – und damit über die Form politisch – ist «Leviathan» vor allem im poetischen
Gebrauch der vorgefundenen Sprachen dieser Zeit, fast zitierend dekonstruiert sie das
Pathos, das Erhabene und gleichzeitig Kalte der Protagonisten Meinhof, Baader, Ensslin
oder Vesper. Durch chorisches Sprechen, rhythmisierte Verse und leichte inhaltliche
Verschiebungen sucht sie nach den Lücken in der behaupteten Zwangsläufigkeit der
Geschichte, des «gelesenen» Materials. In ihrer Sprache stecken Distanz – auch ihre
biographische Distanz –, Ironie und ein grimmiges Schmunzeln über diesen Jargon der
Eigentlichkeit.
In «Fremdes Haus» (1995), ebenfalls wie «Leviathan» ein Auftragswerk für das Schauspiel
Hannover, ist der Bürgerkrieg in Jugoslawien und die Geschichte von ein paar Exil-Jugos in
Deutschland Hintergrund oder Auslöser für ein Drama, das in einer fast klassischen IbsenDramaturgie der Frage von individueller Schuld nachgeht: Nach und nach wird ein verfehltes
Leben und ein individueller Verrat entdeckt. Die Konventionalität einer zum ersten Mal rein
fiktionalen Geschichte allerdings wird erschrieben mit einem «Damenopfer», dem Opfertod
von Terese – sie ist im Übrigen die erste Lohersche «Hure», allerdings noch nach (Lebens)Feierabend –; eine schöne Leiche also, und Risto, der alte Mann, kann erlöst seine Schuld
gestehen.
Andreas Kriegenburg inszenierte mit «Fremdes Haus» zum ersten Mal einen Loher-Text,
und er konnte sie auch verführen, den Schreibtisch zu verlassen und am Münchner
Residenztheater auf den Proben gemeinsam mit ihm und den Schauspielerinnen ein Stück
zu entwickeln (und nachts zu schreiben): «Blaubart – Hoffnung der Frauen» (1998). Blaubart
tötet, was er liebt – ein Grundmotiv, in sieben Variationen und von sieben Frauen erzählt,
Frauen auf der Suche nach einer Liebe «über die Maßen», einer Liebe, für die sie sterben
würde.
In «Adam Geist» (1998), Lohers bisher größtem und wichtigstem Werk, uraufgeführt in
Hannover von Andreas Kriegenburg und ausgezeichnet mit dem Mülheimer Dramatikerpreis,
kommt Politik in Beziehung zu benennbaren oder beschreibbaren gesellschaftlichen
Verhältnissen nicht mehr vor. Stattdessen eine schwarze (katholische) Passionsgeschichte
voller Schuld, eine wüste Welt ohne Himmel. Theologie. Allerdings negative Theologie: Eine
Erlösung wird nicht versprochen. Adam Geist könnte singen wie Jim Morrison: «I cancel my
subscription for the resurrection.»
Adam Geist: Vorname Adam, Familienname Geist. Der Vater ist nicht vorhanden, die
geliebte Mutter stirbt am Anfang, Adam, der Sohn, am Ende des Stückes. Adam ist
Hilfsschüler und Tischlerlehrling. Er bricht mit der Familie, verlässt die Arbeit und wird
Drogendealer. Am Grab der Mutter trifft er ein Mädchen, liebt sie, vergewaltigt sie – «das ist
es ficken ficken ficken bis zur Erleuchtung» –, das Mädchen stirbt. Adam schneidet sich die
Pulsadern auf, er überlebt. Immer wieder begegnet Adam der Untoten, ihrem Schatten, auf
seinen nächsten Stationen. Die «Giftler» wollen ihn bestrafen, weil er in der Dealerszene
noch Schulden hat. Ein Stadt- und Feuer-Indianer, genannt Karl, springt ihm zur Seite und
nimmt ihn mit zur Feuerwehr. Dort wird Adam ein Held, er rettet in einem Einsatz
Menschenleben. Sein neuer Freund, der Indianer, stirbt an einer Überdosis. Adam rächt den
Tod mit einem Kettensägenmassaker an den «Giftlern». Adam flüchtet zur Fremdenlegion,
kehrt zurück und wird Sekretär des Führers der Volkstreuen Außerparlamentarischen
Opposition, er geht freiwillig als Söldner in den Balkan, erschießt dort einen neuen Freund,
als dieser einen alten Mann und ein Kind quält, dann kehrt er zurück nach Hause, sucht
Zuflucht beim Glauben, findet ihn nicht und beschließt, aus dem Leben zu gehen. Eine
Übertreibungsgeschichte, völlig unwahrscheinlich und ganz selbstverständlich erzählt. Was
passieren kann in der Welt, passiert auch auf der Bühne.
Dea Loher enthält sich jedes Kommentars zu dieser Geschichte eines Opfers und eines
Mörders. Adam stellt Fragen und erhält keine Antworten. Er tötet, was er liebt. Und er tötet,
was er hasst und nicht versteht. Der Text ist ausufernd, unabgeschlossen und verweigert
sich jeder Eindeutigkeit, gleichwohl beschreibt er Wirklichkeit, indem er versucht, so viel Welt
und so viel Sprechweisen über diese Welt wie möglich in den Text zu holen. Mit «Adam
Geist» hat Dea Loher ein für sie wichtiges Stilprinzip entdeckt: Diskursvermehrung als eine
Antwort auf die Frage nach dem politischen Theater. Dieses Prinzip der Ausweitung von
Sprechakten zeichnet das Stück. Auf der einen Seite: große Ernsthaftigkeit, Unbedingtheit,
unsagbares und unspielbares Leid, auf der anderen Seite eine Überfülle an
Zeichensystemen und Verweisungszusammenhängen. Ironie als unendliche Reflexion. Die
Chöre der Feuerwehrmänner, Giftler oder Pilger spielen mit antiken Stoffen und Formen,
behaupten und unterlaufen klassische Größe. Das Mädchen ist die Tochter von Büchners
Woyzeck, der wie ein Schatten oder Leitstern den Text begleitet, die Szenen «Deal I» und
«Deal II» spielen «In der Einsamkeit der Baumwollfelder» von Koltès oder dem «Dickicht der
Städte» von Brecht. Das Kettensägenmassaker ist ein Zitat des Zitats von Rainald Goetz’
«Krieg» des Films «The Texas Chainsaw Massacre», Adams Freund kommt als William
Blake aus «Dead Man» von Jim Jarmusch, die Heiligenfiguren weinen echte Tränen wie in
Kusturicas «The Time of the Gypsies». Wie Abel Ferraras «Bad Lieutenant» wartet Adam
Geist noch immer auf seine Erlösung.
Das alles ist ein bewusstes Spiel und meint ganz selbstverständlich, was es offen ausspricht.
Die Überfülle an Diskursen erst produziert einen völlig neuen. Dieses politisch verzweifelte
und künstlerisch lustvolle Sampling macht nicht die Welt erträglich, aber das Sprechen über
sie überhaupt erst möglich. Es produziert einen Sound, der weiß, dass diese Sprechakte und
Schreibweisen mitgehört werden und präsent sind, und der nicht verheimlicht, dass eine
solche Findung auch Spaß macht. Spielerische Ironisierung und ernsthafte Rettung des
Gesagten und Gedachten zugleich. Politisch ist dieses Theater, weil es spielt (und
manchmal schwer arbeitet) mit Text- und Erfahrungsmächten: Schreiben ohne Ort – weil es
viele neue Orte gibt. An der Angstbesetztheit und dem Erlösungsbedürfnis der Welt lässt
«Adam Geist» keinen Zweifel. Es produziert aber Möglichkeiten, mit unserer Angst
umzugehen. Ein grimmiges, Distanz schaffendes Lachen kann dazugehören, genauso wie
die sehr persönliche Preisgabe und Auslieferung an den Betrieb: Das ist mein Leib. Das ist
mein Blut.
Dea Loher schreibt ein Happy End – und Christina Paulhofer bringt 2000 «Klaras
Verhältnisse» mit Johannes Terne und Judith Hofmann als Klara am Akademietheater in
Wien zur Uraufführung.
«Klaras Verhältnisse», Dea Lohers komischer wie tragischer Beziehungsreigen, geschrieben
2000 als Auftragswerk für das Wiener Burgtheater, schlägt einen anderen, einen neuen Ton
an: «Jetzt bin ich doch wieder ganz optimistisch.» Klara, Anfang dreißig, hat ihre Entlassung
provoziert. Ihre Arbeitslosigkeit begreift sie als Chance, auf keinen Fall will sie so werden wie
ihre Schwester Irene, die mit ihrem Mann Gottfried ein Leben in unaufgeregter Sicherheit
führt. Aber nichts wird so, wie Klara es sich wünscht. So fragil wie ihre äußeren Umstände
sind ihre Beziehungen. Tomas, der als Trödler die Restbestände des Lebens entsorgt,
betrügt sie mit Elisabeth, ihre Schwester Irene verliebt sich in diese Freundin und beendet
die frustrierende Ehe mit Gottfried; Georg sucht als Klaras Arzt nur eine unverbindliche
Affäre mit ihr; und der Bankangestellte Gottfried unterschlägt Geld für Klara, um sich ihre
Liebe oder wenigstens einen Kurzurlaub nach Afrika zu erkaufen. Klara, die aus ihren
Verhältnissen ausbrechen wollte, bleibt am Ende auf der Strecke. Sie verliert sich,
Selbstmord scheint der einzige Ausweg ...
Doch Dea Loher hat mit «Klaras Verhältnisse» auch eine Komödie geschrieben, schreiben
wollen, zumindest schreibt sie ein Happy End: Klara wird von einem unbekannten Chinesen
gerettet. «Das Herz an der Wand beginnt zaghaft zu blinken.» – Der letzte Satz eines
Stücks, das erstaunt und wie nebenbei die Geschichte einer Frau von heute erzählt, aber
auch versucht, ein Genre für sich zu erobern, das in den Achtzigern von Botho Strauß
dominiert wurde: die intellektuelle Gesellschaftskomödie.
Krystian Lupa, der große alte Mann des polnischen Theaters, hat «Klaras Verhältnisse» jetzt
in Warschau inszeniert – vorher war es schon in Polen in Wroclaw zu sehen, eine sehr
schöne, offene Inszenierung von Pawel Miskiewicz –, und sehen können hätte man Lupas
Inszenierung auch auf dem Festival in Avignon, wenn der Streik es nicht verhindert hätte.
Kürzest-Dramen, strenge Formen, Pop-Songs
Nach den beiden so unterschiedlichen wie großen und ambitionierten Stücken «Adam Geist»
und «Klaras Verhältnisse» wandte Dea Loher sich wieder kleineren Stoffen und Formen zu.
Für das Thalia Theater schrieb sie als Aufträge das streng formale Vierpersonen-Stück «Der
dritte Sektor» (2001) über das Glück und Unglück von älteren Hausangestellten, uraufgeführt
von Dimiter Gotscheff, und eine lose Folge von Kürzest-Dramen (2001/ 2002): «Magazin des
Glücks». Sieben Theatertexte, schnell und unter selbst gewähltem Zeitdruck geschrieben
und alle sechs Wochen von Andreas Kriegenburg in kurzer Zeit probiert und uraufgeführt.
Sieben krude, merkwürdige, schwarze Geschichten, so unterschiedlich in der Form, im Ton
wie im Personal. Sie erzählt von einer sonnenallergischen Politikergattin («Licht»), von
Handicaps durch Handprothesen («Hände»), von einem Müllfahrer, der einer Frau begegnet,
die verzweifelt etwas auf der Müllkippe sucht («Deponie»), von einem hinkenden Dieb und
einer alten Hure («Hund» – eine Hommage an Giacometti), von Notärzten, die ihre Patienten
sterben lassen, um sie an ein Bestattungsunternehmen zu verkaufen («Sanka» – ein
authentischer Fall aus Polen) und von einem Pförtner, der zum ersten Mal verschläft und
sein Leben riskiert, um den Fehler zu vertuschen («Samurai»). Am Ende ein Popsong, in
Englisch: «Futuresong».
Big bang becomes big black hole,
architect will be on the dole,
no-one wants to be a murphy,
the rhyme says, I’m gonna break up.
The hopeless turns to Rome.
My left shoe will be left single,
And I, I just wanna reach home.
Jetzt also «Unschuld». Angekommen? Wo spielt eigentlich dein Stück, habe ich Dea Loher
im Sommer in Berlin gefragt. Sie hat mich vollkommen überrascht angeschaut – «in
Hamburg natürlich». Ja natürlich, wie sollte sonst für Frau Habersatt Helgoland das Weiteste
sein, wo sie je war. Und den «Blauen Planeten», in dem Absolut, die blinde Frau, nackt
tanzt, wird es auch geben in Hamburg – und in jeder anderen Stadt am Meer in Europa. So
wie es in allen Städten Europas illegale schwarze Immigranten gibt, von überall
herkommend, Menschen eben wie Elisio und Fadoul. Wo die beiden herkommen, weiß Frau
Loher allerdings genau: «die beiden kommen natürlich nicht aus ägypten (also wenn mans
denn realistisch festmachen will), sondern aus dem sudan (20 jahre bürgerkriegswirren,
scharia, islamisten gegen christen usw.). es gibt da am blauen nil viele verzweigungen und
nebenflüsse, usw., aber ich hab das auch nur recherchiert, war ja noch nie da, deshalb
streichen wir den satz lieber, um die mißverständnisse auszuräumen. und dann heißt es
stattdessen: <Dort, wo die Sonne am höchsten steht. Am Ufer des Blauen Nils.>»
Was passieren kann in der Welt, passiert
Ein lohnendes Recherche-Thema könnte auch Ella, die Philosophin, sein. Louis Althussers
großes Rechenschaftsbuch «Die Zukunft hat Zeit» müsste man lesen. «Als ich zur Welt kam,
taufte man mich auf den Namen Louis. Ich weiß es nur zu genau.
Louis: ein Vorname, der mir lange buchstäblich Schrecken einjagte ... Und vor allem sagte
er: lui, jenes Pronomen der dritten Person, das wie der Aufruf eines anonymen Dritten
klingend, mich jeder eigenen Persönlichkeit beraubte und auf jenen Mann hinter meinen
Rücken anspielte: Lui – das war Louis, mein Onkel, den meine Mutter liebte, nicht ich.» Von
Lui zu Ella, ein anderes Geschlecht, die Welt ist beiden abhanden gekommen, und ein Opfer
gibt es auch: «Ella gibt Helmut so lange Schläge auf den Hinterkopf, bis er vornüber auf den
Tisch sinkt, blutig, tot.»
Was passieren kann in der Welt, passiert bei Dea Loher. Und die Welt ist ein Problem. Will
man sie verstehen, braucht man ein paar mehr Antworten. Odo Marquard zu zitieren ist nicht
ganz so schick: «Wer auf ein Problem gar keine Antwort gibt, verliert schließlich das
Problem; das ist nicht gut. Wer auf ein Problem nur eine Antwort gibt, glaubt das Problem
gelöst zu haben und wird leicht dogmatisch: auch das ist nicht gut. Am besten ist es, zu viele
Antworten zu geben: das bewahrt das Problem, ohne es wirklich zu lösen.»
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