Orient und Okzident: Denker, Ideen- und Geistesgeschichte Dialog Der Kulturhistoriker Ibn Khaldun S. A. Sattar* Unter der Rubrik „Orient und Okzident im Spiegel ihrer Denker, Geistes- und Ideengeschichte“ wollen wir im Sinne eines konstruktiven kulturellen Dialogs die beiden Kulturkreise miteinander bekannt machen, indem wir die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen, philosophie- und problemgeschichtlichen Horizonte des islamischen und christlichen bzw. die Problemfelder orientalischen und westlichen Denkens beleuchten. Sie, verehrte Leserinnen und Leser, sind aufgerufen, sich aktiv an dieser Rubrik zu beteiligen, indem Sie uns Ihre persönlichen Favoriten unter den Denkern und Ideenlehren vorstellen. Der Islam bildete für die Araber die einende Grundlage, die sie dazu führte, ihre eigene Geschichte zu schreiben und diese aus der Perspektive des Islam zu konstituieren. Im Laufe der Umayyaden- und Abbasidenzeit (7. bis 12. Jh.) traten eine Reihe arabischer Geschichtsschreiber auf. Sie haben die Weltgeschichte aus islamischer Sicht dargestellt und knüpften dabei an den Ausdruck „Umma“, d. h. „Gemeinschaft der Muslime“ an. Ibn Khaldun gehört zu den Geschichtsschreibern der vierten Generation der Araber. Wer war Ibn Khaldun? Abd al-Rahman Ibn Khaldun wurde am 27. Mai 1332 in Tunis als Sohn 66 Al-Fadschr Nr. 126 einer vornehmen südarabischen Familie geboren, die im 9. Jahrhundert nach Spanien gekommen war und eine zeitlang eine bedeutende Rolle am Hofe von Sevilla gespielt hatte. Im 14. Jahrhundert, als die Muslime immer größere Teile von Spanien verloren, war seine Familie nach Nordafrika zurückgekehrt. Ibn Khaldun wurde wie sein Bruder, der sich ebenfalls als Historiker auszeichnete, schon früh von seinem Vater und anderen Wissenschaftlern ausgebildet und erwarb dabei vorzügliche Kenntnisse in den verschiedensten Wissenszweigen. So konnte er bereits mit zwanzig Jahren Sekretär des Hafidensultans in Tunis werden. 1354 trat er in den Dienst des Herrschers von Fes. Das Wohlwollen, das der Sultan ihm anfänglich entgegenbrachte, schwand bald. Aufgrund von Intrigen wurde er zweimal inhaftiert und erst 1359, nach dem Tode des Sultans, befreit. 1362 begab er sich nach Granada, wo er sich mit dem Dichter und Historiker Ibn al-Khatib (1313-1374) anfreundete, der Wesir am Hof von Granada war. Er blieb einige Jahre in dessen Dienst. Im Jahre 1365 verließ Ibn Khaldun Granada, wahrscheinlich aufgrund einer Rivalität mit Ibn al-Khatib, und wurde Premierminister seines Freundes, des Herrschers von Bougie. Es folgten unruhige Jahre, in denen Ibn Khaldun nacheinander im Dienst verschiedener nordafrikanischer Herrscher stand. 1375 entsagte Ibn Khaldun eine Zeit lang seinen politischen Ambitionen und zog sich auf das Schloss Salama in der Nähe von Tlemcen im Nordwesten Algeriens zurück, um sich drei Jahre lang der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. In dieser Zeit reifte der Plan zu einem umfassenden Geschichtswerk; er vollendete die Vorrede, die berühmte „Muqaddima“, in der er seine geschichtsphilosophischen Ideen darlegte und die Geschichte der Araber und Berber beschrieb. Da er zur Vollendung dieses Werkes zahlreiche Bücher benötigte, begab sich Ibn Khaldun 1378 nach Tunis, wo er sein Geschichtswerk abschloss und gleichzeitig Vorlesungen hielt. Rivalitäten bewogen ihn etwas später, Tunis zu verlassen. So begab er sich 1382 auf die Pilgerfahrt nach Mekka. Auf der Reise gelangte er zunächst nur bis Alexandria. Als er sich von dort aus nach Kairo begeben hatte, wurde er seines wissenschaftlichen Rufes wegen zum Professor der Azhar-Moschee ernannt. Der Sultan berief ihn bald darauf zum Oberqadi seiner Rechtsschule. Durch sein strenges und gerechtes Vorgehen gegen die üblichen Gesetzesmissbräuche machte sich Ibn Khaldun jedoch auch dort unbeliebt. Als seine Familie auf dem Weg von Tunis nach Kairo bei einem Schiffbruch umgekommen war, bat der Gelehrte um seine Entlassung und vollzog die schon Jahre zuvor geplante Pilgerfahrt. Während der nächsten Jahre in Ägypten widmete er sich ausschließlich der wissenschaftlichen Tätigkeit und verfasste u. a. eine Autobiographie, die bis ins Jahr 1394 reicht. In späteren Jahren wurde Ibn Khaldun nochmals zum Oberqadi in Kairo ernannt und spielte auch in der Politik eine bedeutende Rolle. Im Jahre 1400 nahm er an der Verteidigung gegen den mongolischen Eroberer Timur i-Läng teil, der Damaskus belagerte. Berichten zufolge soll er an den Friedensverhandlungen teilgenommen haben und von Timur aufgefordert worden sein, ihn in seine Residenz nach Samarkand zu begleiten. Doch Ibn Khaldun zog es vor, auf seinen Posten in Kairo zurückzukehren, wo er am 15. März 1406 starb.1 deckt. Von dieser Zeit an wuchs und vertiefte sich das Interesse an Ibn Khaldun bei Soziologen und Geschichtsphilosophen. Annemarie Schimmel bemerkt:2 „... man hat ihn mit Machiavelli, mit Vico, mit Gibbon, mit Montesquieu und Gobineau, mit Abbé de Mably und mit Herder verglichen, hat ihn neben Ferguson, Condorcet, Compte und Bodin gestellt, hat Beziehung gewisser soziologischer Lehren zu denen Tardes, gewisser geschichtsphilosophischer Gedanken zu denen Breysigs, einiger religionsphilosophischer Ideen zu denen William James' festgestellt; man hat Ibn Khaldun einmal als einen Vertreter der so genannten ethno-graphischen und ein anderes Mal der ökonomischen Geschichtsauffassung gekennzeichnet, während A. von Kremer ihn zum Verteidiger Ibn Khaldun aus der Sicht verschiedener Wissenschaftler Im 14. Jahrhundert zerfielen die arabische Macht und Kultur in Nordafrika und Spanien. In diese Epoche fällt die Lebenszeit Ibn Khalduns in jenem Raum. Häufige Ortswechsel, eine politisch instabile Zeit und die Tatsache, dass er keine unmittelbaren Schüler hatte, führten dazu, dass er als einziger arabischer Denker mit soziokulturellem Schwerpunkt ohne Nachfolger geblieben ist; sowohl bei den Arabern, als auch den Europäern war er lange Zeit unbekannt. Annemarie Schimmel schildert, dass seine Geschichte der Araber und Berber mit der berühmten Vorrede „Muqaddima“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts ins Türkische und hundert Jahre später ins Französische übersetzt wurde. Im Jahre 1812 bezeichnete der Wiener Orientalist J. von HammerPurgstall Ibn Khaldun als „arabischen Montesquieu“. Die Wissenschaftler begannen von verschiedenen Aspekten her über ihn zu schreiben. Die Soziologen haben ihn erst durch Robert Flints „History of Philosophy of History“ aus dem Jahre 1893 ent- der Nationalitätsidee in der Geschichte, d.h. also zum Anhänger der politischer Geschichtsauffassung gestempelt hatte.“3 Khalduns Gesamtwerk erweckte großes Interesse bei den europäischen Wissenschaftlern. Es gibt seiner eigenen Meinung Ausdruck, wenn Ph. K. Hitti von Ibn Khaldun „als dem Entdecker des wahren Bereichs und Wesens der Geschichte und dem Begründer der Soziologie, als einem der größten Historiker aller Zeiten“4 spricht. Nach Ch. Rappoport habe er Ibn Khaldun als einen „Vorläufer von Marx“5 bezeichnet. Ibn Khalduns Zeit Die Araber hatten im 11. Jahrhundert (1058) durch das Vordringen der Tataren ihre Zentralmacht in Bagdad verloren. Im 14. Jahrhundert erlitt die arabische Macht in Spanien und Nordafrika ihren Zusammenbruch. In dieser Zeit gab es eine Stagnation im arabischen Kulturbereich. Als Ibn Khaldun in Tunis geboren wurde, bestand von dem einstigen Weltreich der Khalifen nur noch ein Rest. In Ägypten herrschten die Mamlukensultane. In Spanien war vom islamischen Reich nur noch die Nasridenherrschaft in Granada geblieben. In Nordafrika gab es praktisch drei Staaten: Marokko unter der Herrschaft der Mariniden, Tlemcen unter den Abdalwadiden und Ifriqiya unter den Hafsiden. Zwischen diesen drei Dynastien herrschte ein fortwährender Kleinkrieg. Ursprünglich waren Berberstämme die Bewohner Nordafrikas. Im 7. Jh. dehnten die Araber ihre Macht jedoch über Nordafrika und Spanien hinaus immer weiter aus und wurden so allmählich zu den Zweitbewohnern dieser Länder. Durch zunehmenden arabischen Einfluss bildete sich im 13. Jahrhundert eine geschlossene arabische Gesellschaft. Für die Berberdynastien, die in den nordafrikanischen Staaten regierten, stellten die Araberstämme somit einen politischen Faktor dar, mit dem sie in starkem Maße rechnen mussten. Tunis war in jener Zeit eine Metropole der Araber und Europäer im Mittelmeerraum. „Tunis unterhielt enge Beziehungen vor allem zu Pisa, Genua, Venedig, zu Marseille und zum christlichen Spanien.“6 Überblick über die „Muqaddima“ Ibn Khaldun schrieb aus den Erfahrungen eines wechselvollen Lebens seine berühmte Vorrede „Muqaddima“ im Jahre 1375. Er behandelte die islamische Geschichte bzw. die Geschichte der Araber, Berber, Perser und der meisten Nationen, die eine bedeutende Rolle in der Historie gespielt haben. Er knüpfte dabei an die Al-Fadschr Nr. 126 67 vorausgegangenen arabischen Geschichtsschreiber an und verwendete vor allem die Werke des persischarabischen Gelehrten At-Tabari (839923) und des arabischen Geschichtsschreibers Ibn al-Athir (1160-1234) als Quellen für seine analytischen Studien über das Beduinenleben und die Zivilisation. Annemarie Schimmel schließt sich der Meinung von H.A.R. Gibb an, wonach die Muqaddima eine „...objektive(n) Analyse der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die der Gründung von politischen Gebilden und der Entwicklung des Staates zugrunde liegen; ...“ darstelle.7. Ibn Khaldun kann Schimmel als Kulturphilosoph bezeichnet werden.8 Er beschrieb die gesellschaftlichen Gesetze, die den Gang der Geschichte bestimmen, im Sinne eines ewigen Kreislaufs in jeder Kultur. Man bezeichnete ihn auch als Begründer der Soziologie und der Geisteswissenschaft. Er stellt die gesamte Entwicklung der menschlichen Kultur („die menschliche Gesellung“, wie er es nennt) bis zu seiner Zeit dar, gekennzeichnet durch ländliches und städtisches Leben, Gründung und Verfall der Staaten, Wirtschaft, Künste und Wissenschaften. Die Muqaddima umfasst sieben Bände. Jeder Band behandelt verschiedene Themen; z. B. besteht „Kitab alTbar“ aus drei Büchern, nämlich Vorrede, Geschichte der Araber und Geschichte der Berber. Nach Simon9 ist historischen Standpunkt das dritte Buch, die Geschichte der Berber, am wertvollsten, denn hierin liefert Ibn Khaldun vorzügliches Material, beschreibt Dinge, von denen er größtenteils unmittelbare Kenntnis besaß. Es stellt unsere beste Quelle für die Kenntnis der nordafrikanischen Verhältnisse überhaupt dar. Ibn Khaldun verwendet den Begriff „Asabiya“, der als zentral in seiner philosophischen Theorie über Entstehung und Verfall der Kulturen gilt. Die Asabiya Die Übersetzer haben dem zentralen Begriff „Asabiya“ verschiedene Be68 Al-Fadschr Nr. 126 deutungen gegeben: Die Enzyklopädie des Islam10 erklärt „Asabiya“ als „Patriotismus, Parteigeist“. Schimmel11 erwähnt, dass „Asabiya“ auch übersetzt wurde als „ésprit de corps, Nationalitätsidee, Parteigeist, Gemeinsinn“. Sie selbst bezeichnet sie als Kraft, die die Menschen z. B. durch Blutsverwandtschaft verbindet. Interpretation des Wortes „Asabiya“ Ibn Khaldun verwendete mit „þaÈabÍya“ einen sehr wichtigen Begriff, der den Schlüssel zu seiner Geschichtstheorie bildet. Sprachlich wurde „þaÈabÍya“ vom Stamme „þaÈaba“ abgeleitet, der „binden“ oder auch „Gruppe“ bedeutet. Die Asa- Urschrift des ersten Buches von Ibn Khalduns „Lubab al-muhassal fi usul ad-din“, einem Kommentar zur Theologie ar-Razis, aus dem Jahre 1351. Simon12 stützt sich auf Ayad, der diesem Wort unterschiedliche Bedeutungen beimisst: „Blutsverwandtschaft schlechthin“, „Parteinahme für die Blutsverwandten“, „gegenseitige Parteinahme überhaupt“ und „Lebenskraft eines Stammes oder Volkes, die sich in seinem einheitlichen Willen äußert“. In einer Fußnote heißt es bei Simon entsprechend: „Asabiya ist eine instinktive oder bewusst eingenommene Haltung, eine unter bestimmten Bedingungen existierende menschliche Eigenschaft, die entsprechende Verhaltensweisen hervorruft.“13 Simon hält den Terminus „Solidarität“ für die zutreffendste deutsche Bezeichnung. Der Orientalist Kremmer nach Simon14 fügt ergänzend hinzu, dass die „Asabiya“ auch unter Personen existieren kann, die allein als Mitglieder einer Gruppe durch langen und geschlossenen Kontakt in Beziehung getreten sind. biya war bereits in vorislamischer Zeit bei den Arabern ein bedeutender Faktor als treibende Kraft, um sich vor Feinden zu schützen und sich als Gemeinschaft zu erhalten. Schimmel zufolge15 baut Ibn Khaldun diesen Begriff in die islamische Auffassung ein; die Asabiya wird nun vollendet durch die Religion, die ihre Kraft mehrt und sie zur Gründung eines wahrhaft gottgefälligen Reiches führt. Simon führt aus16: „Khemiri weist darauf hin, dass das Wort 'Asabiya' sich zuerst in der HadithLiteratur findet ...“ Sie „... wird vom frühen Islam abgelehnt, denn es handelt sich um eine Tugend der vorislamischen Beduinenstämme, die Verbundenheit mit der Stammesgruppe, wodurch das Denken und Handeln des Individuums bestimmt wird.“ Der Islam lehnte die Asabiya für Sippen ab und ersetzte sie gemäß islamischen Vorstellungen durch den umfassenderen Begriff der „Umma“. Ibn Khaldun ist bei seiner Betrach- tung von den einfachen Gruppenbindungen in Familie und auf Stammesebene ausgegangen. „... Dass jemand, der einer bestimmten Familie entstammt, einer Familie anderer Abkunft zufallen (kann) infolge einer Zuneigung, eines Schwurs, eines Klientelverhältnisses, oder weil er seinem Volk wegen eines begangenen Verbrechens entflohen ist.“17 Ibn Khaldun drückt auch aus, dass man durch die Asabiya einer Gruppe oder Verwandtschaft eine andere, rivalisierende Asabiya überwinden kann. Zunächst sind die ersten und engsten Bindungen der Menschen untereinander die Blutsverwandtschaft. Asabiya gibt es aber z. B. auch in den großen Städten: Der betreffende Mann kann zu seinen Vorfahren bekannte Edelleute zählen; dadurch, dass sie mit ihm ver- wandt sind, gewinnt er Ansehen unter den Leuten seines Stammes, weil in ihnen noch Achtung vor dem Ansehen seiner Vorfahren und der ihnen eigenen Ehre lebt. Das Ziel der 'Asabiya' ist die Herrschaft. Nach Schimmel erhält jeder Stamm seine eigene Asabiya. Die stärkste Asabiya gewinnt Macht über die anderen. So entsteht eine neue Asabiya, die gegen eine andere außerhalb ihres Stammes kämpft und sich auf diese Weise weiter ausdehnt, bis schließlich durch Zusammenschluss vieler Stämme durch eine dominierende Asabiya eine Dynastie entsteht, die sich ihrerseits gegen andere Stämme oder Dynastien zur Wehr setzen kann. In Europa befasst man sich mit Ibn Khaldun im Rahmen zweier unterschiedlicher Interpretationsrichtungen. Zum einen vertreten westeuro- päische Forscher wie Annemarie Schimmel, Franz Rosenthal und Hamilton Gibb den Standpunkt, dass Ibn Khalduns Lehre auf islamischer Religion und arabischer Sozialstruktur beruht; und die Kausalität im Weltgeschehen wie bei Pareto18 als ein Kreislauf der Kulturen anzusehen ist. Zum anderen deuteten osteuropäische Forscher wie Heinrich Simon Ibn Khaldun materialistisch. Simon sagt, „... dass Religion für Ibn Khaldun keineswegs Grundtatsache menschlichen Lebens war, sondern ein sekundärer Faktor“.19 Simon fasst Asabiya als „geistige Widerspiegelung einer objektiv vorhandenen gesellschaftlichen Situation ...“ auf und weist darauf hin, dass sie „... keine genetische Priorität in der gesellschaftlichen Struktur besitzt, sondern eine soziale Ordnung, eine bestimmte Organisation der Menschen zur Voraussetzung hat“. Gegenwartsbezug der Geschichtsphilosophie von Ibn Khaldun Ergänzend zu den bisherigen Ausführungen soll an dieser Stelle ein Blick auf Zusammenhänge zwischen der Geschichtstheorie Ibn Khalduns und der modernen politischen Entwicklung geworfen werden. Als Ibn Khaldun sein großes Werk verfasste, geriet das islamische Reich in eine Stagnation und seine Macht zerfiel. Ausgehend von der Beobachtung des Aufstiegs und Niedergangs des islamischen Reiches entwickelte Ibn Khaldun seine Geschichtstheorie, in deren Zentrum der Begriff „Asabiya“ steht. Der Islam lehnte diese Lehre ab und verkündete stattdessen die Lehre von der „Umma“, der transnationalen muslimischen Gemeinde. So stehen sich zwei Theorien über die Gesellschaft in der arabisch-islamischen Welt gegenüber: Der Begriff „Asabiya“ wurde durch den Islam erweitert; die Asabiya als Stammeszusammenhalt wird durch die Religion verstärkt. Es ergibt sich der Kreislauf. Asabiya und Religion führen zu: Al-Fadschr Nr. 126 69 1. Macht, 2. Eroberung; diese führen 3. zur Sesshaftigkeit. Die Stadtgründung wiederum bedingt eine Zentralmacht, Zivilisation und Kultur. Es folgen wieder Nomadentum und Asabiya in den kleinen und großen Bereichen an jedem Ort. Daraus resultieren Dauerkonflikte zwischen den unterschiedlichen Asabiyen. Der Begriff der „Umma“ Nach islamischer Auffassung hat Gott den Propheten Mohammad auserwählt, die Gebote des Islam zunächst den Arabern zu verkünden, sodass in der Umma „... von Anfang an alle Muslime, ungeachtet ihrer Bekehrung, staatlicher oder politischer Bindungen, ihrer kulturellen oder rassischen Zugehörigkeit ...“ 20 integriert sind. Umma ist also eine Gemeinschaft auf der Grundlage des Glaubens, d. h. dass durch die Umma, die Gemeinschaft der Muslime, eine dauernde Herrschaft der islamischen Religion begründet wird. Während des Osmanischen Reiches wurde die Umma äußerlich verwirklicht. Obwohl diese Einheit durch den Ersten Weltkrieg zerfiel, hegten die Araber weiterhin den Wunsch nach einer Umma. Sie streben ihre Einheit unter einem religiösen Führer an. Husain ibn Ali erfüllte dieses Bedürfnis, indem er sich 1916 zum „König von Arabien“ erklärte. Im Jahre 1914 brach der Erste Weltkrieg zwischen England, Frankreich, Italien, Russland auf der einen Seite und Deutschland, Österreich, Ungarn und dem Osmanischen Reich auf der anderen Seite aus. Tatsächlich haben die Engländer und Franzosen während des Ersten Weltkriegs in einem heimlichen Abkommen (Sykes-Picot) vom Mai 1916 die zukünftige Aufteilung der arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches in verschiedene kleine und größere Gebiete beschlossen: Syrien wurde in Syrien, Libanon, Jordanien, Palästina (später Israel) aufgeteilt. Die arabische Halbinsel zerfiel in Saudi-Arabien, Nordjemen und Südjemen (die durch den 70 Al-Fadschr Nr. 126 Krieg vereinigt wurden), Kuwait, die sieben Vereinigten Arabischen Emirate, Oman. Ägypten wurde aufgeteilt in Ägypten und Sudan. Nordafrika zerfiel in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen. Die meisten Gebiete blieben lange Zeit unter dem Mandat von England und Frankreich. Husain bin Ali wurde mit Hilfe der Engländer und verschiedener arabischer Stämme aus dem Stamm Ibn Saud aus Saudi-Arabien vertrieben. Dadurch wurde sein Streben nach einer Umma der Muslime unterbunden. Man kann davon ausgehen, dass sich die Engländer und Franzosen vor der Abfassung dieses Abkommens mit den Lehren der Umma auseinandergesetzt haben. Die Umma bedeutete für sie ein gewaltiges Machtpotential im Vorderen Orient und Nordafrika, während die Förderung des AsabiyaGedankens als ethno-politische Lehre in der Zersplitterung der arabischen Gebiete resultieren würde. Deshalb haben sich die Engländer und Franzosen an der Lehre Ibn Khalduns orientiert, weil sie einer möglichen Machtkonzentration im arabischen Raum entgegenwirken wollten. Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg war das Werk Ibn Khalduns vor allem durch französische und englische Orientalisten in Europa bekannt geworden. Die Verwirklichung des Abkommens hat dazu geführt, dass die arabische Welt heute noch stärker zersplittert ist als in vorislamischer Zeit. Auch heute gibt es Dauerkonflikte zwischen einzelnen arabischen Ländern und zwischen den verschiedenen Asabiyen der Stämme. Hinzu kommen Konflikte mit nichtarabischen Ländern. Infolge der Zersplitterung geht bei vielen Menschen die Bindung an die Religion durch kulturelle Fremdeinflüsse allmählich verloren oder wird geschwächt. Nach der Lehre Ibn Khalduns kann ein Stamm, in dem Religion keine Rolle spielt, keine dauerhafte Machtposition erreichen. Zu bemerken ist jedoch, dass in allen arabischen Dynastien, von den Umayyaden bis zu den Osmanen, die Stämme eine zentrale Rolle in der Machtentfaltung gespielt haben. In den heutigen arabischen Nationalstaaten wird dem Stamm des Herrschers eine wichtige Rolle beigemessen, insofern er Grundlage ist, aus der heraus er seine Macht im Stamm eines modernen Staatssystems ausbauen kann. * Dr. Sami A. Sattar hat Islamwissenschaften und Soziologie studiert und als interkultureller Berater tätig. Anmerkungen: 1 Bel, Alfred: Ibn Khaldun, in: Enzyklopädie des Islam Bd. 2 Leipzig 1913, S.419f. 2 Schimmel, Annemarie: Ibn Khaldun, Schriften zur Soziologie und Kulturphilosophie, hrsg. von Max Graf zu Solms, Tübingen 1951, S. XVII. 3 Ebd.. S. XVI. 4 Hitti, Ph. K.: History of the Arabs, London 1937, S. 568. 5 Rappoport, Charles: La philosophie de l`histoire comme science de l’évolution. Paris 1925, S.84. 6 Simon, Heinrich: Ibn Khaldun, Wissenschaft von der menschlichen Kultur, Leipzig 1959, S.17.ff. 7 Schimmel, a.a.O., S. XVII. 8 Ebd., S. XVIII ff. 9 Simon, a.a.O., S. 30. 10 Enzyklopädie des Islam, a.a.O., S. 412. 11 Schimmel, a.a.O., S. XVIIIf. 12 Simon, a.a.O., S. 50ff; Ayad, M. Kamil: Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns. Stuttgart u. Berlin 1930, S. 234. 13 Ebd., S. 50f. 14 Simon, a.a.O., S. 48f 15 Schimmel, a.a.O., S. XVIIIf. 16 Simon, a.a.O., S. 48f. 17 Ebd., S. 50f. 18 Pareto, Vilfredo spricht auch von einer herrschenden Klasse und Beherrschten. Die Asabiya (bzw. Elite) als Kulturträger wird bei Sesshaftigkeit zu einer herrschenden Minderheit, die durch Interessenverschiedenheit gegenüber den rivalisierenden Gruppen Konflikte in der Gesellschaft herbeiführt. S. Brockhaus Enzyklopädie Bd. 14, Wiesbaden 1972, S. 234. 19 Simon, a.a.O., S. 61f. 20 Lexikon der arabischen Welt, S. u. N. Ronort (Hg.), Stuttgart 1972, S. 1032.