Der Kulturhistoriker Ibn Khaldun - Al

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Orient und Okzident:
Denker, Ideen- und
Geistesgeschichte
Dialog
Der Kulturhistoriker Ibn Khaldun
S. A. Sattar*
Unter der Rubrik „Orient und Okzident im Spiegel ihrer Denker, Geistes- und Ideengeschichte“ wollen wir
im Sinne eines konstruktiven kulturellen Dialogs die beiden Kulturkreise
miteinander bekannt machen, indem
wir die unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen, philosophie- und
problemgeschichtlichen
Horizonte
des islamischen und christlichen bzw.
die Problemfelder orientalischen und
westlichen Denkens beleuchten. Sie,
verehrte Leserinnen und Leser, sind
aufgerufen, sich aktiv an dieser Rubrik zu beteiligen, indem Sie uns Ihre
persönlichen Favoriten unter den
Denkern und Ideenlehren vorstellen.
Der Islam bildete für die Araber die
einende Grundlage, die sie dazu führte, ihre eigene Geschichte zu schreiben und diese aus der Perspektive des
Islam zu konstituieren. Im Laufe der
Umayyaden- und Abbasidenzeit (7.
bis 12. Jh.) traten eine Reihe arabischer Geschichtsschreiber auf. Sie
haben die Weltgeschichte aus islamischer Sicht dargestellt und knüpften
dabei an den Ausdruck „Umma“, d.
h. „Gemeinschaft der Muslime“ an.
Ibn Khaldun gehört zu den Geschichtsschreibern der vierten Generation der Araber.
Wer war Ibn Khaldun?
Abd al-Rahman Ibn Khaldun wurde
am 27. Mai 1332 in Tunis als Sohn
66
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einer vornehmen südarabischen Familie geboren, die im 9. Jahrhundert
nach Spanien gekommen war und
eine zeitlang eine bedeutende Rolle
am Hofe von Sevilla gespielt hatte.
Im 14. Jahrhundert, als die Muslime
immer größere Teile von Spanien
verloren, war seine Familie nach
Nordafrika zurückgekehrt.
Ibn Khaldun wurde wie sein Bruder,
der sich ebenfalls als Historiker auszeichnete, schon früh von seinem Vater und anderen Wissenschaftlern
ausgebildet und erwarb dabei vorzügliche Kenntnisse in den verschiedensten Wissenszweigen. So konnte er
bereits mit zwanzig Jahren Sekretär
des Hafidensultans in Tunis werden.
1354 trat er in den Dienst des Herrschers von Fes. Das Wohlwollen, das
der Sultan ihm anfänglich entgegenbrachte, schwand bald. Aufgrund von
Intrigen wurde er zweimal inhaftiert
und erst 1359, nach dem Tode des
Sultans, befreit. 1362 begab er sich
nach Granada, wo er sich mit dem
Dichter und Historiker Ibn al-Khatib
(1313-1374) anfreundete, der Wesir
am Hof von Granada war. Er blieb
einige Jahre in dessen Dienst. Im
Jahre 1365 verließ Ibn Khaldun Granada, wahrscheinlich aufgrund einer
Rivalität mit Ibn al-Khatib, und wurde Premierminister seines Freundes,
des Herrschers von Bougie. Es folgten unruhige Jahre, in denen Ibn
Khaldun nacheinander im Dienst verschiedener nordafrikanischer Herrscher stand.
1375 entsagte Ibn Khaldun eine Zeit
lang seinen politischen Ambitionen
und zog sich auf das Schloss Salama
in der Nähe von Tlemcen im Nordwesten Algeriens zurück, um sich
drei Jahre lang der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen. In dieser
Zeit reifte der Plan zu einem umfassenden Geschichtswerk; er vollendete die Vorrede, die berühmte „Muqaddima“, in der er seine geschichtsphilosophischen Ideen darlegte und
die Geschichte der Araber und Berber beschrieb. Da er zur Vollendung
dieses Werkes zahlreiche Bücher benötigte, begab sich Ibn Khaldun 1378
nach Tunis, wo er sein Geschichtswerk abschloss und gleichzeitig Vorlesungen hielt.
Rivalitäten bewogen ihn etwas später, Tunis zu verlassen. So begab er
sich 1382 auf die Pilgerfahrt nach
Mekka. Auf der Reise gelangte er
zunächst nur bis Alexandria. Als er
sich von dort aus nach Kairo begeben
hatte, wurde er seines wissenschaftlichen Rufes wegen zum Professor der
Azhar-Moschee ernannt. Der Sultan
berief ihn bald darauf zum Oberqadi
seiner Rechtsschule. Durch sein
strenges und gerechtes Vorgehen gegen die üblichen Gesetzesmissbräuche machte sich Ibn Khaldun jedoch
auch dort unbeliebt.
Als seine Familie auf dem Weg von
Tunis nach Kairo bei einem Schiffbruch umgekommen war, bat der Gelehrte um seine Entlassung und vollzog die schon Jahre zuvor geplante
Pilgerfahrt. Während der nächsten
Jahre in Ägypten widmete er sich
ausschließlich der wissenschaftlichen
Tätigkeit und verfasste u. a. eine Autobiographie, die bis ins Jahr 1394
reicht.
In späteren Jahren wurde Ibn Khaldun nochmals zum Oberqadi in Kairo
ernannt und spielte auch in der Politik eine bedeutende Rolle. Im Jahre
1400 nahm er an der Verteidigung
gegen den mongolischen Eroberer
Timur i-Läng teil, der Damaskus belagerte. Berichten zufolge soll er an
den Friedensverhandlungen teilgenommen haben und von Timur aufgefordert worden sein, ihn in seine
Residenz nach Samarkand zu begleiten. Doch Ibn Khaldun zog es vor,
auf seinen Posten in Kairo zurückzukehren, wo er am 15. März 1406
starb.1
deckt. Von dieser Zeit an wuchs und
vertiefte sich das Interesse an Ibn
Khaldun bei Soziologen und Geschichtsphilosophen.
Annemarie Schimmel bemerkt:2 „...
man hat ihn mit Machiavelli, mit Vico, mit Gibbon, mit Montesquieu und
Gobineau, mit Abbé de Mably und
mit Herder verglichen, hat ihn neben
Ferguson, Condorcet, Compte und
Bodin gestellt, hat Beziehung gewisser soziologischer Lehren zu denen
Tardes, gewisser geschichtsphilosophischer Gedanken zu denen Breysigs, einiger religionsphilosophischer
Ideen zu denen William James' festgestellt; man hat Ibn Khaldun einmal
als einen Vertreter der so genannten
ethno-graphischen und ein anderes
Mal der ökonomischen Geschichtsauffassung gekennzeichnet, während
A. von Kremer ihn zum Verteidiger
Ibn Khaldun aus der Sicht verschiedener Wissenschaftler
Im 14. Jahrhundert zerfielen die arabische Macht und Kultur in Nordafrika und Spanien. In diese Epoche
fällt die Lebenszeit Ibn Khalduns in
jenem Raum. Häufige Ortswechsel,
eine politisch instabile Zeit und die
Tatsache, dass er keine unmittelbaren
Schüler hatte, führten dazu, dass er
als einziger arabischer Denker mit
soziokulturellem Schwerpunkt ohne
Nachfolger geblieben ist; sowohl bei
den Arabern, als auch den Europäern
war er lange Zeit unbekannt. Annemarie Schimmel schildert, dass seine
Geschichte der Araber und Berber
mit der berühmten Vorrede „Muqaddima“ zu Beginn des 18. Jahrhunderts ins Türkische und hundert Jahre
später ins Französische übersetzt
wurde.
Im Jahre 1812 bezeichnete der Wiener Orientalist J. von HammerPurgstall Ibn Khaldun als „arabischen Montesquieu“. Die Wissenschaftler begannen von verschiedenen Aspekten her über ihn zu schreiben.
Die Soziologen haben ihn erst durch
Robert Flints „History of Philosophy
of History“ aus dem Jahre 1893 ent-
der Nationalitätsidee in der Geschichte, d.h. also zum Anhänger der
politischer Geschichtsauffassung gestempelt hatte.“3
Khalduns Gesamtwerk erweckte großes Interesse bei den europäischen
Wissenschaftlern. Es gibt seiner eigenen Meinung Ausdruck, wenn Ph.
K. Hitti von Ibn Khaldun „als dem
Entdecker des wahren Bereichs und
Wesens der Geschichte und dem Begründer der Soziologie, als einem der
größten Historiker aller Zeiten“4
spricht. Nach Ch. Rappoport habe er
Ibn Khaldun als einen „Vorläufer
von Marx“5 bezeichnet.
Ibn Khalduns Zeit
Die Araber hatten im 11. Jahrhundert
(1058) durch das Vordringen der Tataren ihre Zentralmacht in Bagdad
verloren. Im 14. Jahrhundert erlitt die
arabische Macht in Spanien und
Nordafrika ihren Zusammenbruch. In
dieser Zeit gab es eine Stagnation im
arabischen Kulturbereich.
Als Ibn Khaldun in Tunis geboren
wurde, bestand von dem einstigen
Weltreich der Khalifen nur noch ein
Rest. In Ägypten herrschten die
Mamlukensultane. In Spanien war
vom islamischen Reich nur noch die
Nasridenherrschaft
in
Granada
geblieben. In Nordafrika gab es praktisch drei Staaten: Marokko unter der
Herrschaft der Mariniden, Tlemcen
unter den Abdalwadiden und Ifriqiya
unter den Hafsiden. Zwischen diesen
drei Dynastien herrschte ein fortwährender Kleinkrieg. Ursprünglich waren Berberstämme die Bewohner
Nordafrikas. Im 7. Jh. dehnten die
Araber ihre Macht jedoch über Nordafrika und Spanien hinaus immer
weiter aus und wurden so allmählich
zu den Zweitbewohnern dieser Länder. Durch zunehmenden arabischen
Einfluss bildete sich im 13. Jahrhundert eine geschlossene arabische Gesellschaft. Für die Berberdynastien,
die in den nordafrikanischen Staaten
regierten, stellten die Araberstämme
somit einen politischen Faktor dar,
mit dem sie in starkem Maße rechnen
mussten. Tunis war in jener Zeit eine
Metropole der Araber und Europäer
im Mittelmeerraum. „Tunis unterhielt
enge Beziehungen vor allem zu Pisa,
Genua, Venedig, zu Marseille und
zum christlichen Spanien.“6
Überblick über die „Muqaddima“
Ibn Khaldun schrieb aus den Erfahrungen eines wechselvollen Lebens
seine berühmte Vorrede „Muqaddima“ im Jahre 1375. Er behandelte die
islamische Geschichte bzw. die Geschichte der Araber, Berber, Perser
und der meisten Nationen, die eine
bedeutende Rolle in der Historie gespielt haben. Er knüpfte dabei an die
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vorausgegangenen arabischen Geschichtsschreiber an und verwendete
vor allem die Werke des persischarabischen Gelehrten At-Tabari (839923) und des arabischen Geschichtsschreibers Ibn al-Athir (1160-1234)
als Quellen für seine analytischen
Studien über das Beduinenleben und
die Zivilisation. Annemarie Schimmel schließt sich der Meinung von
H.A.R. Gibb an, wonach die Muqaddima eine „...objektive(n) Analyse
der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Faktoren, die der Gründung von politischen Gebilden und
der Entwicklung des Staates zugrunde liegen; ...“ darstelle.7.
Ibn Khaldun kann Schimmel als Kulturphilosoph bezeichnet werden.8 Er
beschrieb die gesellschaftlichen Gesetze, die den Gang der Geschichte
bestimmen, im Sinne eines ewigen
Kreislaufs in jeder Kultur. Man bezeichnete ihn auch als Begründer der
Soziologie und der Geisteswissenschaft. Er stellt die gesamte Entwicklung der menschlichen Kultur („die
menschliche Gesellung“, wie er es
nennt) bis zu seiner Zeit dar, gekennzeichnet durch ländliches und städtisches Leben, Gründung und Verfall
der Staaten, Wirtschaft, Künste und
Wissenschaften.
Die Muqaddima umfasst sieben Bände. Jeder Band behandelt verschiedene Themen; z. B. besteht „Kitab alTbar“ aus drei Büchern, nämlich
Vorrede, Geschichte der Araber und
Geschichte der Berber. Nach Simon9
ist historischen Standpunkt das dritte
Buch, die Geschichte der Berber, am
wertvollsten, denn hierin liefert Ibn
Khaldun vorzügliches Material, beschreibt Dinge, von denen er größtenteils unmittelbare Kenntnis besaß.
Es stellt unsere beste Quelle für die
Kenntnis der nordafrikanischen Verhältnisse überhaupt dar. Ibn Khaldun
verwendet den Begriff „Asabiya“,
der als zentral in seiner philosophischen Theorie über Entstehung und
Verfall der Kulturen gilt.
Die Asabiya
Die Übersetzer haben dem zentralen
Begriff „Asabiya“ verschiedene Be68
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deutungen gegeben: Die Enzyklopädie des Islam10 erklärt „Asabiya“ als
„Patriotismus, Parteigeist“. Schimmel11 erwähnt, dass „Asabiya“ auch
übersetzt wurde als „ésprit de corps,
Nationalitätsidee, Parteigeist, Gemeinsinn“. Sie selbst bezeichnet sie
als Kraft, die die Menschen z. B.
durch Blutsverwandtschaft verbindet.
Interpretation des Wortes „Asabiya“
Ibn Khaldun verwendete mit „þaÈabÍya“ einen sehr wichtigen Begriff,
der den Schlüssel zu seiner Geschichtstheorie bildet. Sprachlich
wurde „þaÈabÍya“ vom Stamme „þaÈaba“ abgeleitet, der „binden“ oder
auch „Gruppe“ bedeutet. Die Asa-
Urschrift des ersten Buches von Ibn Khalduns „Lubab al-muhassal fi usul
ad-din“, einem Kommentar zur Theologie ar-Razis, aus dem Jahre 1351.
Simon12 stützt sich auf Ayad, der
diesem Wort unterschiedliche Bedeutungen beimisst: „Blutsverwandtschaft schlechthin“, „Parteinahme für
die Blutsverwandten“, „gegenseitige
Parteinahme überhaupt“ und „Lebenskraft eines Stammes oder Volkes, die sich in seinem einheitlichen
Willen äußert“.
In einer Fußnote heißt es bei Simon
entsprechend: „Asabiya ist eine instinktive oder bewusst eingenommene
Haltung, eine unter bestimmten Bedingungen existierende menschliche
Eigenschaft, die entsprechende Verhaltensweisen hervorruft.“13 Simon
hält den Terminus „Solidarität“ für
die zutreffendste deutsche Bezeichnung.
Der Orientalist Kremmer nach Simon14 fügt ergänzend hinzu, dass die
„Asabiya“ auch unter Personen existieren kann, die allein als Mitglieder
einer Gruppe durch langen und geschlossenen Kontakt in Beziehung
getreten sind.
biya war bereits in vorislamischer
Zeit bei den Arabern ein bedeutender
Faktor als treibende Kraft, um sich
vor Feinden zu schützen und sich als
Gemeinschaft zu erhalten. Schimmel
zufolge15 baut Ibn Khaldun diesen
Begriff in die islamische Auffassung
ein; die Asabiya wird nun vollendet
durch die Religion, die ihre Kraft
mehrt und sie zur Gründung eines
wahrhaft gottgefälligen Reiches
führt. Simon führt aus16: „Khemiri
weist darauf hin, dass das Wort 'Asabiya' sich zuerst in der HadithLiteratur findet ...“ Sie „... wird vom
frühen Islam abgelehnt, denn es handelt sich um eine Tugend der vorislamischen Beduinenstämme, die Verbundenheit mit der Stammesgruppe,
wodurch das Denken und Handeln
des Individuums bestimmt wird.“
Der Islam lehnte die Asabiya für
Sippen ab und ersetzte sie gemäß islamischen Vorstellungen durch den
umfassenderen Begriff der „Umma“.
Ibn Khaldun ist bei seiner Betrach-
tung von den einfachen Gruppenbindungen in Familie und auf Stammesebene ausgegangen. „... Dass jemand,
der einer bestimmten Familie entstammt, einer Familie anderer Abkunft zufallen (kann) infolge einer
Zuneigung, eines Schwurs, eines
Klientelverhältnisses, oder weil er
seinem Volk wegen eines begangenen Verbrechens entflohen ist.“17
Ibn Khaldun drückt auch aus, dass
man durch die Asabiya einer Gruppe
oder Verwandtschaft eine andere, rivalisierende Asabiya überwinden
kann. Zunächst sind die ersten und
engsten Bindungen der Menschen
untereinander die Blutsverwandtschaft. Asabiya gibt es aber z. B.
auch in den großen Städten: Der
betreffende Mann kann zu seinen
Vorfahren bekannte Edelleute zählen; dadurch, dass sie mit ihm ver-
wandt sind, gewinnt er Ansehen unter den Leuten seines Stammes, weil
in ihnen noch Achtung vor dem Ansehen seiner Vorfahren und der ihnen
eigenen Ehre lebt. Das Ziel der 'Asabiya' ist die Herrschaft. Nach
Schimmel erhält jeder Stamm seine
eigene Asabiya. Die stärkste Asabiya
gewinnt Macht über die anderen. So
entsteht eine neue Asabiya, die gegen
eine andere außerhalb ihres Stammes
kämpft und sich auf diese Weise weiter ausdehnt, bis schließlich durch
Zusammenschluss vieler Stämme
durch eine dominierende Asabiya eine Dynastie entsteht, die sich ihrerseits gegen andere Stämme oder Dynastien zur Wehr setzen kann.
In Europa befasst man sich mit Ibn
Khaldun im Rahmen zweier unterschiedlicher Interpretationsrichtungen. Zum einen vertreten westeuro-
päische Forscher wie Annemarie
Schimmel, Franz Rosenthal und Hamilton Gibb den Standpunkt, dass
Ibn Khalduns Lehre auf islamischer
Religion und arabischer Sozialstruktur beruht; und die Kausalität im
Weltgeschehen wie bei Pareto18 als
ein Kreislauf der Kulturen anzusehen
ist.
Zum anderen deuteten osteuropäische Forscher wie Heinrich Simon
Ibn Khaldun materialistisch. Simon
sagt, „... dass Religion für Ibn Khaldun
keineswegs
Grundtatsache
menschlichen Lebens war, sondern
ein sekundärer Faktor“.19 Simon fasst
Asabiya als „geistige Widerspiegelung einer objektiv vorhandenen gesellschaftlichen Situation ...“ auf und
weist darauf hin, dass sie „... keine
genetische Priorität in der gesellschaftlichen Struktur besitzt, sondern
eine soziale Ordnung, eine bestimmte
Organisation der Menschen zur Voraussetzung hat“.
Gegenwartsbezug der Geschichtsphilosophie von Ibn Khaldun
Ergänzend zu den bisherigen Ausführungen soll an dieser Stelle ein Blick
auf Zusammenhänge zwischen der
Geschichtstheorie Ibn Khalduns und
der modernen politischen Entwicklung geworfen werden. Als Ibn
Khaldun sein großes Werk verfasste,
geriet das islamische Reich in eine
Stagnation und seine Macht zerfiel.
Ausgehend von der Beobachtung des
Aufstiegs und Niedergangs des islamischen Reiches entwickelte Ibn
Khaldun seine Geschichtstheorie, in
deren Zentrum der Begriff „Asabiya“
steht. Der Islam lehnte diese Lehre
ab und verkündete stattdessen die
Lehre von der „Umma“, der transnationalen muslimischen Gemeinde. So
stehen sich zwei Theorien über die
Gesellschaft in der arabisch-islamischen Welt gegenüber:
Der Begriff „Asabiya“ wurde durch
den Islam erweitert; die Asabiya als
Stammeszusammenhalt wird durch
die Religion verstärkt.
Es ergibt sich der Kreislauf. Asabiya
und Religion führen zu:
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1. Macht,
2. Eroberung; diese führen
3. zur Sesshaftigkeit.
Die Stadtgründung wiederum bedingt
eine Zentralmacht, Zivilisation und
Kultur. Es folgen wieder Nomadentum und Asabiya in den kleinen und
großen Bereichen an jedem Ort. Daraus resultieren Dauerkonflikte zwischen den unterschiedlichen Asabiyen.
Der Begriff der „Umma“
Nach islamischer Auffassung hat
Gott den Propheten Mohammad auserwählt, die Gebote des Islam zunächst den Arabern zu verkünden,
sodass in der Umma „... von Anfang
an alle Muslime, ungeachtet ihrer
Bekehrung, staatlicher oder politischer Bindungen, ihrer kulturellen
oder rassischen Zugehörigkeit ...“ 20
integriert sind. Umma ist also eine
Gemeinschaft auf der Grundlage des
Glaubens, d. h. dass durch die Umma, die Gemeinschaft der Muslime,
eine dauernde Herrschaft der islamischen Religion begründet wird. Während des Osmanischen Reiches wurde die Umma äußerlich verwirklicht.
Obwohl diese Einheit durch den Ersten Weltkrieg zerfiel, hegten die Araber weiterhin den Wunsch nach einer Umma. Sie streben ihre Einheit
unter einem religiösen Führer an.
Husain ibn Ali erfüllte dieses Bedürfnis, indem er sich 1916 zum
„König von Arabien“ erklärte. Im
Jahre 1914 brach der Erste Weltkrieg
zwischen England, Frankreich, Italien, Russland auf der einen Seite
und Deutschland, Österreich, Ungarn
und dem Osmanischen Reich auf der
anderen Seite aus. Tatsächlich haben
die Engländer und Franzosen während des Ersten Weltkriegs in einem
heimlichen Abkommen (Sykes-Picot)
vom Mai 1916 die zukünftige Aufteilung der arabischen Provinzen des
Osmanischen Reiches in verschiedene kleine und größere Gebiete beschlossen: Syrien wurde in Syrien,
Libanon, Jordanien, Palästina (später
Israel) aufgeteilt. Die arabische Halbinsel zerfiel in Saudi-Arabien, Nordjemen und Südjemen (die durch den
70
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Krieg vereinigt wurden), Kuwait, die
sieben Vereinigten Arabischen Emirate, Oman. Ägypten wurde aufgeteilt in Ägypten und Sudan. Nordafrika zerfiel in Marokko, Algerien,
Tunesien, Libyen. Die meisten Gebiete blieben lange Zeit unter dem
Mandat von England und Frankreich.
Husain bin Ali wurde mit Hilfe der
Engländer und verschiedener arabischer Stämme aus dem Stamm Ibn
Saud aus Saudi-Arabien vertrieben.
Dadurch wurde sein Streben nach einer Umma der Muslime unterbunden.
Man kann davon ausgehen, dass sich
die Engländer und Franzosen vor der
Abfassung dieses Abkommens mit
den Lehren der Umma auseinandergesetzt haben. Die Umma bedeutete
für sie ein gewaltiges Machtpotential
im Vorderen Orient und Nordafrika,
während die Förderung des AsabiyaGedankens als ethno-politische Lehre
in der Zersplitterung der arabischen
Gebiete resultieren würde. Deshalb
haben sich die Engländer und Franzosen an der Lehre Ibn Khalduns orientiert, weil sie einer möglichen
Machtkonzentration im arabischen
Raum entgegenwirken wollten.
Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg war das Werk Ibn Khalduns vor
allem durch französische und englische Orientalisten in Europa bekannt
geworden. Die Verwirklichung des
Abkommens hat dazu geführt, dass
die arabische Welt heute noch stärker
zersplittert ist als in vorislamischer
Zeit. Auch heute gibt es Dauerkonflikte zwischen einzelnen arabischen
Ländern und zwischen den verschiedenen Asabiyen der Stämme. Hinzu
kommen Konflikte mit nichtarabischen Ländern. Infolge der Zersplitterung geht bei vielen Menschen
die Bindung an die Religion durch
kulturelle Fremdeinflüsse allmählich
verloren oder wird geschwächt.
Nach der Lehre Ibn Khalduns kann
ein Stamm, in dem Religion keine
Rolle spielt, keine dauerhafte Machtposition erreichen. Zu bemerken ist
jedoch, dass in allen arabischen Dynastien, von den Umayyaden bis zu
den Osmanen, die Stämme eine zentrale Rolle in der Machtentfaltung gespielt haben. In den heutigen arabischen Nationalstaaten wird dem
Stamm des Herrschers eine wichtige
Rolle beigemessen, insofern er
Grundlage ist, aus der heraus er seine
Macht im Stamm eines modernen
Staatssystems ausbauen kann.
* Dr. Sami A. Sattar hat Islamwissenschaften und Soziologie studiert
und als interkultureller Berater tätig.
Anmerkungen:
1
Bel, Alfred: Ibn Khaldun, in: Enzyklopädie des Islam Bd. 2 Leipzig
1913, S.419f.
2
Schimmel, Annemarie: Ibn Khaldun, Schriften zur Soziologie und
Kulturphilosophie, hrsg. von Max
Graf zu Solms, Tübingen 1951, S.
XVII.
3
Ebd.. S. XVI.
4
Hitti, Ph. K.: History of the Arabs,
London 1937, S. 568.
5
Rappoport, Charles: La philosophie
de l`histoire comme science de
l’évolution. Paris 1925, S.84.
6
Simon, Heinrich: Ibn Khaldun,
Wissenschaft von der menschlichen
Kultur, Leipzig 1959, S.17.ff.
7
Schimmel, a.a.O., S. XVII.
8
Ebd., S. XVIII ff.
9
Simon, a.a.O., S. 30.
10
Enzyklopädie des Islam, a.a.O., S.
412.
11
Schimmel, a.a.O., S. XVIIIf.
12
Simon, a.a.O., S. 50ff; Ayad, M.
Kamil: Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns. Stuttgart u.
Berlin 1930, S. 234.
13
Ebd., S. 50f.
14
Simon, a.a.O., S. 48f
15
Schimmel, a.a.O., S. XVIIIf.
16
Simon, a.a.O., S. 48f.
17
Ebd., S. 50f.
18
Pareto, Vilfredo spricht auch von
einer herrschenden Klasse und Beherrschten. Die Asabiya (bzw. Elite)
als Kulturträger wird bei Sesshaftigkeit zu einer herrschenden Minderheit, die durch Interessenverschiedenheit gegenüber den rivalisierenden Gruppen Konflikte in der Gesellschaft herbeiführt. S. Brockhaus Enzyklopädie Bd. 14, Wiesbaden 1972,
S. 234.
19
Simon, a.a.O., S. 61f.
20
Lexikon der arabischen Welt, S. u.
N. Ronort (Hg.), Stuttgart 1972, S.
1032.
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