KRANKHEITSBILD: Eine voll ausgeprägte FSME verläuft

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arznei-telegramm® 2014; Jg. 45, Nr. 4
Fortsetzung von Seite 36
KRANKHEITSBILD: Eine voll ausgeprägte FSME verläuft
typischerweise in zwei Phasen. Die Mehrzahl der Infektionen
bleibt allerdings unbemerkt oder äußert sich lediglich durch
unspezifische Symptome. Wie häufig eine Beteiligung des ZNS
tatsächlich vorkommt, ist unklar, da es für die vom RKI und
vielen deutschen Autoren seit Jahrzehnten genannten Zahlen
– unspezifische Symptome bei 30%, ZNS-Manifestation bei
10% der Infizierten2 – keine nachvollziehbaren Daten gibt.*
Klassisch treten nach einer Inkubationszeit von durchschnittlich 7 bis 14 Tagen (beschrieben sind 4 bis 28 Tage20) grippeartige Beschwerden mit mäßigem Fieber, Kopf- und
Gliederschmerzen, Müdigkeit und eventuell gastrointestinalen
Symptomen wie Bauchschmerzen auf.2,5,6,12 Bei einem Teil der
Infizierten kommt es im Anschluss an ein fieberfreies Intervall
von etwa einer Woche (bis zu 20 Tagen) zu einem Befall des
ZNS,2,7,21 überwiegend in Form einer Meningitis (50%) oder
Meningoenzephalitis (40%)20,21 mit hohem Fieber, Kopfschmerz, Erbrechen, Meningismus und vereinzeltem Auftreten von Stupor bis hin zum Koma.2 10% der Patienten mit
ZNS-Beteiligung erkranken an einer Meningoenzephalomyelitis, die häufig mit schweren Bewusstseinsstörungen, Ataxie,
Lähmungen der Extremitäten und/oder Hirnnerven und
Ateminsuffizienz einhergeht.20
Vor allem bei dieser schwersten Verlaufsform besteht die
Gefahr bleibender Schäden.2,20 In einer prospektiven Untersuchung werden 230 von insgesamt 656 Patienten, die zwischen 1994 und 1998 in Baden-Württemberg und Südhessen
wegen FSME mit Beteiligung des ZNS stationär behandelt
werden, im Median zwölf Monate lang nachbeobachtet. Von
diesen leiden 53 (23%) an länger als drei Monate andauernden
Beschwerden, überwiegend Paresen, die die Arbeitsfähigkeit
bzw. die Lebensqualität mäßig bis stark beeinträchtigen und
bei einigen Betreuung in einer Pflegeeinrichtung erfordern. Da
die nicht nachbeobachteten Patienten bei der Entlassung aus
dem Krankenhaus keine Lähmungen hatten, dürfte die
Häufigkeit solcher Schäden jedoch überschätzt sein.20 In anderen Untersuchungen wird zudem ein so genanntes postenzephalitisches Syndrom mit anhaltender Müdigkeit, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen u.a. beschrieben.12 Etwa
1% der Erkrankungen mit ZNS-Beteiligung enden tödlich.2,20
Häufig kommt es aber selbst nach schweren Verläufen zu völliger Heilung.2 Die Erkrankung hinterlässt lebenslange Immunität.5,6
Schwere Verlaufsformen werden fast nur bei Erwachsenen
beobachtet, vor allem bei älteren Patienten.2,20 Kinder und Jugendliche erkranken seltener an FSME, die Erkrankung verläuft bei ihnen milder und hat eine deutlich bessere Prognose.20,21 In einer prospektiven Untersuchung22 mit 124 Kindern
und Jugendlichen unter 16 Jahren aus Süddeutschland, die
zwischen 1994 und 2003 wegen FSME stationär behandelt
werden, manifestiert sich die Erkrankung bei zwei von drei
Betroffenen als isolierte Meningitis. Abgesehen von einem
zehnjährigen Jungen, der als einziger an einer schweren Enzephalomyelitis erkrankt, bestehen bei der Entlassung aus dem
Krankenhaus bei keinem neurologische Funktionsstörungen.
Der schwere Verlauf bei dem Jungen könnte auf die Behandlung mit hochdosierten Glukokortikoiden in der akuten Erkrankungsphase zurückzuführen sein.22
Das Paul-Ehrlich-Institut fand 2001 bei einer Literaturrecherche anlässlich der Marktrücknahme der FSME-Vakzine
TICOVAC, nach der in Deutschland vorübergehend kein
Impfstoff für unter Zwölfjährige zur Verfügung stand, in der
deutschsprachigen Literatur nur einen einzigen Bericht über
*
Auf unsere Anfrage verweist das RKI18 auf mehrere Übersichten, in denen sich
jedoch keine nachvollziehbaren Daten finden, sowie auf eine zweijährige
serologische Untersuchung19 aus einem schwedischen Endemiegebiet. Dort
wird im ersten Jahr bei 3 (1,2%) von 258 und im zweiten Jahr bei 5 (2,4%)
von 211 Personen eine Serokonversion festgestellt. Jeweils ein Betroffener gibt
per Fragebogen Symptome einer Enzephalitis an.19 Die Schlussfolgerung der
Autoren, dass demnach etwa drei von vier Infektionen subklinisch verlaufen
(und dementsprechend ca. 25% mit ZNS-Beteiligung), stufen wir angesichts
der kleinen Zahlen und methodischer Mängel der Untersuchung allenfalls als
grobe Schätzung ein.
eine neurologische Dauerschädigung nach FSME-Infektion
„ohne zusätzlichen Risikofaktor” bei einem zwölfjährigen Jungen (vgl. a-t 2001; 32: 41-3).23,24*
Eine 2004 veröffentlichte Zusammenstellung der seit den
1970er Jahren international publizierten Daten aus Kasuistiken und kleinen Fallserien über FSME-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen bestätigt die günstige Prognose.26 Vereinzelt werden jedoch auch bei diesen anhaltende neurologische Defizite beschrieben. Allerdings sollen Defektheilungen
bei unter Sechsjährigen nur bei Kindern beobachtet worden
sein, die nach dem Zeckenstich eine (inzwischen nicht mehr
angebotene) passive Immunisierung erhalten hatten und/oder
unter dem anfänglichen Verdacht einer bakteriellen Meningitis mit hochdosierten Glukokortikoiden behandelt worden
waren.26
Die beiden anderen FSME-Virus-Subtypen, insbesondere
der fernöstliche Typ, sollen häufiger schwere Erkrankungen
und tödliche Verläufe hervorrufen als der europäische Typ.
Die Sterblichkeit wird beim fernöstlichen Typ mit bis zu 40%
angegeben. Angesichts deutlich höherer FSME-Seroprävalenzraten in der russischen Bevölkerung (30% bis 100%) als in Europa (1% bis 20%) und des begrenzten Zugangs zu medizinischer Versorgung in der Mehrzahl der fernöstlichen Endemiegebiete könnten die hohen Zahlen jedoch zumindest zum Teil
darauf zurückzuführen sein, dass dort vor allem die besonders
schwer Erkrankten erfasst werden.5,12
DIAGNOSE: An eine FSME ist bei Patienten zu denken,
die entsprechend der Aktivität der übertragenden Zecken vom
Frühjahr bis in den Spätherbst Symptome einer Meningitis
oder Meningoenzephalitis entwickeln und sich zuvor in einem
Risikogebiet aufgehalten haben. Nur etwa 60% bis 70% der
Erkrankten haben in den zurückliegenden Wochen einen Zeckenstich bemerkt.20,22 Da das klinische Erscheinungsbild sich
nicht von dem einer bakteriellen Meningitis22,26 bzw. anderen
viralen Meningoenzephalitiden5,6,12 unterscheidet, muss der
Verdacht durch den simultanen Nachweis FSME-spezifischer
IgM- und IgG-Antikörper im Blut oder Liquor oder einen
deutlichen Titeranstieg zwischen zwei Proben im Abstand von
zwei bis vier Wochen (z.B. mittels ELISA) bestätigt werden.2
Insbesondere IgM-Antikörper sind zum Zeitpunkt des Auftretens neurologischer Symptome praktisch immer im Serum
vorhanden.12 Ihr alleiniger Nachweis reicht zur Sicherung der
Diagnose aber nicht mehr aus.13 Innerhalb von zehn Tagen
nach Beginn der ZNS-Symptomatik lassen sich auch im Liquor Antikörper entdecken.5,12
Zu beachten ist, dass IgM-Antikörper auch noch Monate
nach einer früheren FSME-Infektion oder -Impfung nachweisbar sind2,5,6,16 und bei ZNS-Symptomen anderer Ursache zu
Fehldiagnosen verleiten können.5 Wegen einer ausgeprägten
Antikörper-Kreuzreaktivität mit anderen Flaviviren (Gelbfieber-, Dengue-, Japanisches Enzephalitis- und West-Nil-Virus)
sind zudem frühere Impfungen, durchgemachte Erkrankungen oder Aufenthalte in entsprechenden Endemiegebieten zu
berücksichtigen.2,5,13 Ein mindestens vierfacher Anstieg der
Antikörpertiter innerhalb von zwei (bis vier)13 Wochen
spricht für die Diagnose einer akuten FSME.5,13 Im Zweifelsfall
bietet das Konsiliarlabor für FSME am RKI einen Neutralisationstest an.13
Ein direkter Nachweis von FSME-Virusgenom in Blut oder
Liquor mittels PCR ist nur in der ersten Erkrankungsphase
möglich.2,5,12 Ein negativer Befund schließt eine Infektion jedoch nicht aus.2 Der direkte oder indirekte Nachweis des
FSME-Virus, soweit er auf eine akute Infektion hinweist, ist
dem Gesundheitsamt namentlich zu melden.2 In die Statistik
des RKI gehen jedoch nur Erkrankungen ein, die die Referenzdefinition erfüllen, welche neben der Laborbestätigung auch
das Vorhandensein klinischer Symptome in Form von grip*
Angesichts der lediglich rudimentären Angaben in der Originalpublikation25
lässt sich das Vorliegen von Risikofaktoren unseres Erachtens nicht ausschließen.
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