DIE WAHLEN ZUM REPRÄSENTANTENHAUS DER NATIONALVERSAMMLUNG DER REPUBLIK BELARUS (5. WAHLPERIODE) Analytischer Wochenbericht Nr. 1 zu den Ergebnissen der Wahlbeobachtung Zeitraum: Erste Woche der Wahlkampagne (18. bis 24. Juni 2012) Zusammenfassung Am 23. September 2012 werden die nächsten Parlamentswahlen in Belarus stattfinden. Die Kampagne „Menschenrechtler für freie Wahlen“, an der sich das Belarussische Helsinki Komitee und das Menschenrechtszentrum Viasna beteiligen, hat am 21. Juni den Beginn des Langzeitmonitorings der Wahlen bekanntgegeben. Die Organisatoren planen den Einsatz von 90 Langzeit- und 200 Kurzzeitbeobachtern. Der Europäische Austausch, eine Nichtregierungsorganisation aus Berlin, unterstützt die einheimischen Wahlbeobachter und berichtet international über den Ablauf der Wahlen. Die anstehenden Parlamentswahlen werden zum ersten Mal nach der neuen Fassung des Wahlgesetzes von 2010/2011 durchgeführt. Der Ablauf der Kommunal- und der Präsidentenwahlen 2010 zeigen jedoch, dass die eingeführten neuen Bestimmungen kein wirksames Mittel zur Verhinderung von Wahlverstößen sind. Der Wahlprozess hat vor dem Hintergrund politischer Repressionen begonnen. Die 14 politischen Gefangenen – unter ihnen Ales Byalyatski, der Vizepräsident der Internationalen Föderation für Menschenrechte (IFHR) und Vorsitzender des Menschenrechtszentrums Viasna, sowie Mikalai Statkevich, Präsidentschaftskandidat von 2010 – befinden sich weiterhin im Gefängnis. Die kürzlich erfolgte Verhaftung des unabhängigen Journalisten Andrei Pachobut verdeutlicht die zunehmenden Repressionen gegen unabhängige Medien. Keine der bislang in Belarus erfolgten Parlamentswahlen ist von der internationalen Gemeinschaft als frei und fair anerkannt worden. Trotzdem ist Lidia Yermoshina, seit 1996 Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission, im Dezember 2011 in ihrem Amt bestätigt worden. Gegenwärtig sprechen sich die meisten nicht registrierten politischen Subjekte (Europäisches Belarus, das Organisationskomitee der Belarussischen Christdemokratie (BKhD), das Organisationskomitee der Belarussischen Bewegung, die Junge Front und die Konservativ-Christliche Partei der Belarussischen Volksfront (KKhP-BNF) gegen eine Teilnahme an den Wahlen aus. Die Sozialdemokraten von Mikalai Statkevich, die Belarussische Sozialdemokratische Partei (BSDP) „Hramada“ sowie die Partei der Linken „Gerechte Welt“ haben ihre Teilnahme an den Wahlen angekündigt. Eine Reihe registrierter Oppositionsparteien (Vereinigte Bürgerpartei (OGP), Partei der Belarussischen Volksfront (PBNF), Bewegung „Für die Freiheit“ und „Sprich die Wahrheit“) haben beschlossen, Kandidaten aufzustellen, diese aber später wieder zurückzuziehen, falls ihre Forderungen nach veränderten Bedingungen für die Wahl nicht erfüllt werden. 1 Die Kampagne „Für faire Wahlen“, die auf Initiative von 13 politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen gemeinsam mit den wichtigsten oppositionellen Parteien durchgeführt wird, hat ebenfalls eine Wahlbeobachtung angekündigt. Die Organisatoren planen 1000 Kandidaten für die Wahlkommissionen aufzustellen und 2000 Wahlbeobachter zu nominieren. Es gibt Befürchtungen, dass möglicherweise vor den Wahlen die Durchführung nicht autorisierter Meinungsumfragen unter Administrativstrafe gestellt werden kann. Einleitung Die Wahlen zum Repräsentantenhaus der Nationalversammlung (5. Wahlperiode) wurden per Erlass Nr. 276 des Präsidenten vom 18. Juni 2012 für den 23. September 2012 angesetzt. Der zweite Wahlgang soll bei Bedarf am 7. Oktober 2012 stattfinden. Die bevorstehenden Parlamentswahlen werden erstmals auf der Grundlage des Wahlgesetzbuches in seiner neuesten Redaktion vom 4. Januar 2010 durchgeführt. Die Erfahrungen mit den Regelungen des Wahlgesetzbuches bei den Kommunalwahlen und insbesondere während der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2010 belegen, dass die Änderungen des Wahlgesetzbuches kein hinreichendes Mittel darstellen, um die Verstöße gegen die Prinzipien freier und fairer Wahlen zu verhindern. Eine Besonderheit der bevorstehenden Wahlen besteht darin, dass sie auf dem Hintergrund politischer Repressionen durchgeführt werden, die seit den vergangenen Präsidentschaftswahlen am 19. Dezember 2010 anhalten. Zu diesen spezifischen Bedingungen gehört auch die von einer Reihe oppositioneller Parteien verkündete Absicht, die Wahlen zu boykottieren oder in der Endphase der Wahlen die Kandidaturen ihrer Vertreter zurückzuziehen, falls die Behörden die politischen Gefangenen nicht freilassen sowie die übrigen Bedingungen, unter denen die Wahlen stattfinden, nicht ändern. Die gesetzliche Regelung des Wahlprozesses Bei den Wahlen werden die Änderungen im Wahlgesetzbuch berücksichtigt, die 2010 und 2011 verabschiedet wurden. Unter den Neuerungen sind die vereinfachten Bedingungen für den Wahlkampf zu nennen: so können Stände zur Sammlung von Unterstützerunterschriften errichtet werden. Auch besteht nun die Möglichkeit, individuelle Wahlkampffonds einzurichten; es können Debatten zwischen Kandidaten veranstaltet werden und es bestehen Quoten für die Vertretung von politischen Parteien und gesellschaftlichen Vereinigungen in den Wahlkommissionen. Im Vergleich zu den letzten Wahlen sind in das Wahlgesetzbuch Beschränkungen eingeführt worden, die Spenden an die Wahlkampffonds der Kandidaten durch Unternehmen mit ausländischen Beteiligungen betreffen, sowie Spenden von Subjekten, die ausländische Unterstützung erhalten haben. Die Vorsitzende der Zentralen Wahlkommission Lidia Yermoshina hat mehrfach ihre tiefe Loyalität zum Kurs des amtierenden Staatsoberhaupts bekundet. Sie ist im Dezember 2011 als Leiterin der Zentralen Wahlkommission bestätigt worden, obwohl sie die Altersgrenze für den Staatsdienst erreicht hat. Dies gibt Grund zur Annahme, dass die Politik der Zentralen Wahlkommission beim Erlassen von Verordnungen und erläuternden Richtlinien für die Wahlen unverändert bleibt. Die Verordnungen der Zentralen Wahlkommission sind auch eine wichtige methodologische Quelle, die viele Aspekte der Wahlen normativ regeln und klarstellen. Bereits am 19. Juni, dem Tag nach der 2 Ansetzung der Wahlen, hat die Zentrale Wahlkommission eine Reihe von Beschlüssen zu den Parlamentswahlen verabschiedet. Es sei hier erwähnt, dass im Vorfeld der Parlamentswahlen die Kompetenzen des KGB gesetzlich gestärkt wurden, was für eine Kontrollierung des Wahlprozesses besonders günstige Bedingungen schafft. Die Normen der belarussischen Gesetzgebung, die von Menschenrechtlern kritisiert werden, sind vor den Wahlen weder geändert noch abgeschafft worden. Unter anderem ist die strafrechtliche Verantwortung für die Betätigung im Rahmen einer nicht registrierten gesellschaftlichen Vereinigung, religiösen Organisation oder politischen Partei erhalten geblieben, ebenso die Strafbarkeit der Verleumdung oder Beleidigung des Präsidenten oder anderer Amtsträger des Staates. Der Kontext des Wahlprozesses: Das Problem der politischen Gefangenen Ein besonders wichtiger Umstand, der vor den Wahlen die gesellschaftliche Atmosphäre im Lande prägt, sind die politischen Gefangenen. Zum Zeitpunkt der Ansetzung der Wahlen geht das Menschenrechtszentrum „Viasna“ von vierzehn politischen Gefangenen aus und fordert deren unverzügliche Freilassung. Der Fall des Journalisten und Aktivisten der polnischen Minderheit Andrei Pachobut aus Hrodna (Grodno), der am 21. Juni verhaftet wurde und der Beleidigung des Präsidenten beschuldigt wird, ist ein schlechtes Zeichen zum Auftakt der Wahlkampagne. Am 21. Juni erging durch die Staatsanwaltschaft eine offizielle Verwarnung an den Direktor der Einrichtung „Platforma“ Andrei Bandarenka, in der auf mögliche strafrechtliche Konsequenzen wegen der Diskreditierung der Republik Belarus verwiesen wird. Grundlage für diese Verwarnung war die Beteiligung der Menschenrechtler an einer gesellschaftlichen Kampagne gegen die Durchführung der Eishockey-WM, solange es politische Gefangene im Land gibt. Alyaksandr Lukashenka hat mehrfach verkündet, dass die politischen Gefangenen möglicherweise aus Anlass des Tages der Republik am 3. Juli amnestiert werden könnten. Ein großer Teil der politischen Analytiker ist jedoch der Ansicht, dass die bestehende wirtschaftliche und außenpolitische Situation es der belarussischen Regierung erlaubt, weiterhin in einer Konfliktlage mit der Europäischen Union zu bleiben und dabei einen Handel mit substantielleren Zugeständnissen zu betreiben. Dies bedeutete, dass ein Teil der gewaltlosen politischen Gefangenen wohl noch eine Weile in Haft bliebe, was den Ausstieg eines Teils der oppositionellen Kandidaten aus dem Wahlkampf bedeuten könnte. Die Konfiguration der wichtigsten politischen Kräfte Gegenwärtig sind innerhalb des belarussischen Parteiensystems drei Richtungen hinsichtlich einer möglichen Teilnahme an den Wahlen auszumachen. Die meisten nicht registrierten politischen Subjekte wenden sich gegen jedwede Teilnahme an den Wahlen. Diese Position wird durch die informelle und dem ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Andrei Sannikau nahestehenden Koalition „Europäisches Belarus“ (Eurapeyskaya Belarus) vertreten, durch das nicht registrierte Organisationskomitee der „Belarussischen Bewegung“ (Belaruski Rukh), das nicht registrierte Organisationskomitee der „Belarussischen Christdemokratie“ (BHD), die Junge Front (Malady Front) und die Konservativ-Christliche Partei der Belarussischen Volksfront (KKhPBNF). 3 Neben der Gruppe von Sozialdemokraten um Mikola Statkevich hat auch die Belarussische Sozialdemokratische Partei (Hramada) mit Irina Veshtard an der Spitze und die Partei der Linken „Gerechte Welt“ [„Spravyadlivy Svet“] ihre Teilnahme an der Wahl angekündigt. Eine solche Ankündigung erfolgte auch von der Liberal-Demokratischen Partei von Belarus (LDPB), doch haben die direkt regierungsfreundlichen Parteien zur Frage der Teilnahme an den Wahlen keine Position eingenommen Die Gesellschaftliche Vereinigung „Weiße Rus“ [„Belaya Rus“, BR], die wichtigste regierungsfreundliche Kraft hat ihre Absicht bekundet, die ihr nahestehenden Kandidaten aktiv zu unterstützen. Da das Projekt einer Umwandlung dieser Vereinigung in eine politische Partei nicht umgesetzt wurde, kann nicht von einer vollwertigen Teilnahme von BR auf politischer Ebene gesprochen werden. Eine Reihe registrierter politischer Parteien der belarussischen Opposition hat angekündigt, ihre Kandidaten per Parteinominierung aufzustellen, sie jedoch zurückzuziehen, falls die Forderungen nach veränderten Bedingungen für die Wahl und den Wahlkampf nicht erfüllt werden. Diese Position ist von der Vereinigten Bürgerpartei (OGP) und der Partei der Belarussischen Volksfront (PBNF) bekannt gegeben worden. Für eine Unterstützung einer solchen Position haben sich auch die Bewegung „Für die Freiheit“ [„Za svabodu“] und die Kampagne „Sprich die Wahrheit“ [„Havary Praudu“] ausgesprochen. Da diese Subjekte jedoch keine eigenen Kandidaten aufstellen, sondern lediglich bestimmte Kandidaten unterstützen, die sich über Unterstützerunterschriften selbst aufgestellt haben, könnte die Position dieser beiden Subjekte davon abhängen, welche Haltung jeder einzelne dieser Kandidaten hinsichtlich einer zukünftigen Rücknahme seiner Kandidatur einnimmt. Im Beobachtungszeitraum ist festgestellt worden, dass eine Reihe regionaler Gliederungen der Parteien Sitzungen zur taktischen Frage der Teilnahme an den Wahlen abgehalten hat. Diejenigen politischen Kräfte die so oder so an den Wahlen teilnehmen wollen, sind weiterhin mit dem Verfahren zur Nominierung der Kandidaten und der Vertreter für die Wahlkommissionen befasst. Wahlbeobachtung und -monitoring Unter den positiven Veränderungen für die Arbeit der Beobachter ist zu nennen, dass die leitenden Gremien der politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen das Recht erhalten, in allen Wahlbezirke unabhängig von den organisatorischen Strukturen Beobachter zu nominieren. Bei den vergangenen Wahlen hatte diese Frage gewisse Streitereien und Missverständnisse ausgelöst, was eine zusätzliche, gesonderte Regulierung erforderlich machte. Die Kampagne „Menschenrechtler für freie Wahlen“ hat am 21.Juni den Beginn des Monitorings der Wahlen zum Repräsentantenhaus der Nationalversammlung der Republik Belarus (5. Wahlperiode) bekannt gegeben. Die Kampagne wird mit Kräften des Belarussischen Helsinki-Komitees (BHK) und des Menschrechtszentrums Viasna durchgeführt. Die Koordinatoren der Kampagne „Für faire Wahlen“ [„Za spravyadliviya vybary“], die auf Initiative von 13 politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen gemeinsam mit den wichtigsten oppositionellen Parteien durchgeführt wird, haben ebenfalls eine Wahlbeobachtung angekündigt. Die zuvor von der Partei „Die Grünen“, der PBNF und der Bewegung „Für die Freiheit“ gesonderte Wahlbeobachtungskampagne „Volkskontrolle – für ehrliche Wahlen“ [„Narodny kantrol – za sumlenniya vybary“] hat sich der gemeinsamen Kampagne angeschlossen. Die Organisatoren der Kampagne „Für faire Wahlen“ planen, 1000 Personen als Kandidaten für die Wahlkommissionen und 2000 Wahlbeobachter zu nominieren. Im Vorfeld der Wahlen hat die Kampagne versucht, sich registrieren zu lassen, doch wurde die Registrierung durch das Justizministerium verweigert. 4 Am 19. Juni hat Lidia Yermoshina vor Journalisten versprochen, dass „Beobachter von der OSZE bei den Parlamentswahlen anwesend sein werden“. Sie konnte aber keinen konkreten Zeitraum für deren Arbeit nennen, wobei sie auf das Außenministerium verwies, das eine Einladung auszusprechen habe. Die Bildung der Wahlkreise und die Nominierung der Vertreter in den Wahlkommissionen Die ersten eingehenden Informationen über die Einteilung der Wahlkreise weisen auf einige wesentliche Veränderungen hin: Unter anderem gibt es Minsk nicht mehr den SukhareuskiWahlkreis, in dem die demokratischen Kandidaten eine starke Position innehatten (das Gebiet des Wahlkreises wurde auf die benachbarten Wahlkreise verteilt) und die Stadt Smalyavichy gehört erstmals nicht mehr zum Wahlkreis Zhodzina. In einer Reihe von Wahlkreisen weicht die durchschnittliche Wählerzahl erheblich von der durch die Zentrale Wahlkommission festgelegten Zahl ab. So ist beispielsweise die Zahl der Wähler im Wahlkreis Nr. 26 Orsha im Vergleich zu 2008 von 66.658 auf 69.015 gestiegen, während die Einwohnerstatistik für die Stadt Orscha einen Rückgang von fast 3.000 ausweist. Solche Ungereimtheiten geben Anlass zum Misstrauen gegenüber den offiziellen Angaben. Verschiedene Stellen der Föderation der Gewerkschaften haben erklärt, dass ihre Organisationen bereits damit begonnen haben, Anwärter für die Besetzung der Wahlkommissionen auf Wahlkreisebene zu nominieren. Bei den Oppositionsparteien haben die OGP, die PBNF, die Partei der Linken „Gerechte Welt“ sowie Organisationsstrukturen der Gesellschaftlichen Vereinigung der BNF „Wiedergeburt“ [„Adradzhenne“] ähnliche Beschlüsse verkündet. Die Nominierung der Anwärter für die Wahlkommissionen wird bis zum 6. Juli andauern. Soziologische Umfragen bedroht Im Kontext des Wahlprozesses verdient die Meldung, dass eine Verletzung der Vorschriften nach denen soziologische Umfragen durchgeführt werden sollen zukünftig mit verwaltungsrechtlichen Strafen belegt werden könnte, besondere Aufmerksamkeit. Diesen Meldungen zu Folge ist auf Initiative des Präsidenten ein Gesetzentwurf in das Repräsentantenhaus eingebracht worden, mit dem das Gesetzbuch über verwaltungsrechtliche Verstöße entsprechend geändert würde. Zu den Änderungen gehört ein neuer Paragraph „Gesetzeswidrige Durchführung von Meinungsumfragen“. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass die Einführung eines solchen Paragraphen sehr schnell erfolgen könnte, noch während der Frühlingssitzungen des Parlaments. In diesem Falle würde die Arbeit der Soziologen und auch der Medien, die über Ergebnisse soziologischer Studien berichten, ernstlich eingeschränkt. 5