Peter Gallmann Das Komma beim Infinitiv Erschienen in: Typografische Monatsblätter 1/1992, 10–16 Die Kommaregeln beim Infinitiv mit «zu» gelten als sehr kompliziert und unübersichtlich. Vielleicht wird die Sache etwas einfacher, wenn man die dahinter steckenden grammatischen Gesetzmäßigkeiten kennt. Wir wollen ihnen im folgenden schrittweise näherkommen. (1) Die Grundstruktur des deutschen Satzes läßt sich ins folgende Schema fassen: Vorfeld Satzkern Mittelfeld Prädikatsteil Nachfeld Vorfeld und Satzkern werden je nach Satzart unterschiedlich besetzt. Im einfachen Aussagesatz zum Beispiel ist das Vorfeld mit genau einem Satzglied gefüllt; das kann das Subjekt oder auch ein anderes Satzglied sein. Der Satzkern wird von der nach Person und Zahl bestimmten Verbform besetzt (Bezeichnungen: Personalform, finites Verb). Die übrigen Verbteile und der Verbzusatz bei zusammengesetzten Verben stehen – sofern vorhanden – am Satzende im Prädikatsteil. Im Mittelfeld können beliebig viele Satzteile stehen (oder auch gar keines). Das Nachfeld ist nur in besonderen Fällen besetzt. Ich gebe es im folgenden nur an, wenn dies tatsächlich der Fall ist. Vorfeld Satzkern Mittelfeld Prädikatsteil Ich kaufe etwas Gemüse Ø Ich kaufe etwas Gemüse ein. Ich hätte etwas Gemüse einkaufen sollen. Ich gehe Ich gehe nachher Ich gehe nachher noch etwas Gemüse einkaufen. einkaufen. einkaufen. In Nebensätzen stehen meistens alle Verbformen im Prädikatsteil am Satzende. Das Vorfeld kann dann nur von einem Relativ- oder Fragepronomen, der Satzkern mit einer unterordnenden Konjunktion besetzt werden. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv Das ist der Film, 2 den Ø ich mir noch ansehen will. Ich weiß noch nicht, welchen Film Ø ich mir ansehen soll. Bedauerlich ist nur, daß ich den Film verpassen werde. Im Schweizerdeutschen (und darum fälschlich auch im «Schweizer Hochdeutschen») steht nach dem Satzteil mit dem Fragepronomen oft noch die Konjunktion daß im Satzkern. Es sind dann also sowohl das Vorfeld als auch der Satzkern besetzt: Ich weiß noch nicht, welchen Film daß ich mir ansehen soll. (2) Nebensätze kann man unterschiedlich einteilen. Im folgenden spielen vor allem zwei Gesichtspunkte eine Rolle: die Funktion der Nebensätze und die Form ihres Prädikats. Ich gehe zuerst auf die Funktion ein. Hier kann man drei Gruppen unterscheiden: 1. Subjekts- und Objektssätze, 2. Adverbialsätze, 3. Attributsätze. (2.1) Subjekts- und Objektssätze vertreten das Subjekt bzw. das Objekt im übergeordneten Satz. Man kann diese Funktion deutlich machen, indem man den Nebensatz durch einfaches Satzglied ersetzt: Daß dies vorgefallen, → Dieser Vorfall ist bedauerlich. ist bedauerlich. Ich bedaure, daß dies vorgefallen ist. → Ich bedaure diesen Vorfall. Eine besondere Gruppe von Subjekt- und Objektsätzen sind die Relativsätze, die mit dem Pronomen wer/was eingeleitet werden: Ich notierte mir, was vorgefallen ist. → Ich notierte mir diesen Vorfall. (2.2) Adverbialsätze ersetzen einen adverbialen Satzteil im übergeordneten Satz, zum Beispiel eine Zeitangabe oder eine Bedingung. Auch hier kann man den Nebensatz probeweise in ein einfaches Satzglied umwandeln: Wenn die Katze aus dem Haus ist, Ist die Katze aus dem Haus, → Dann tanzen die Mäuse. tanzen die Mäuse. tanzen die Mäuse. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 3 (2.3) Attributsätze hängen wie andere Attribute von einem Nomen ab: Der Glaube, die Wissenschaft sei allmächtig, geriet ins Wanken. Der Glaube, daß die Wissenschaft allmächtig sei, geriet ins Wanken. → Der Glaube an die Allmächtigkeit der Wissenschaft geriet ins Wanken. (3) Ein zweiter wichtiger Gesichtpunkt bei der Einteilung der Nebensätze ist die Form des Prädikats. Das Prädikat eines Satzes kann aus einer oder auch aus mehreren Verbformen bestehen. Wie wir oben gesehen haben, stehen sie je nachdem im Satzkern oder im Prädikatsteil. Bei den meisten Nebensätzen befindet sich unter diesen Verbformen auch eine nach Person und Zahl bestimmte Verbform (Personalform, finite Verbform). Es gibt aber auch Nebensätze ohne eine solche Verbform. Wir gehen im folgenden auf eine solche Sonderform von Nebensatz näher ein: auf die Infinitivgruppe. Das Prädikat besteht hier – wie der Name sagt – aus einem Infinitiv mit zu. Neben dem Infinitiv mit zu kann auch noch ein weiterer Infinitiv oder auch ein Partizip stehen. In den folgenden Beispielgruppen steht jeweils zuerst ein Nebensatz mit einer Personalform und nachher eine Infinitivgruppe. Objektssatz: Sie behauptete, daß sie einen Schatten gesehen habe. Sie behauptete, einen Schatten gesehen zu haben. Adverbialsatz: Ohne daß es einen Schaden angerichtet hatte, Ohne einen Schaden anzurichten, ist das Wasser wieder abgeflossen. ist das Wasser wieder abgeflossen. Attributsatz: Ich hatte die Hoffnung, daß ich den Film doch noch sehen könnte. Ich hatte die Hoffnung, den Film doch noch sehen zu können. (4) Nebensätze können im Deutschen grundsätzlich an unterschiedlichen Stellen stehen, das heißt im Vorfeld, im Mittelfeld oder im Nachfeld: Nebensatz Hauptsatz Haupt… Nebensatz …satz Hauptsatz Nebensatz Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 4 Es gibt hier aber eine wichtige Einschränkung. Eine Stellungsregel des Deutschen lautet: Subjekts- und Objektssätze (ausgenommen Relativsätze) dürfen nicht im Mittelfeld des übergeordneten Satzes stehen. Diese Regel wenden wir so automatisch an, daß sie in den meisten Grammatiken gar nicht aufgeführt ist. In den folgenden Beispielen sind im Hauptsatz der Satzkern und der Prädikatsteil, die das Mittelfeld umklammern, fett gesetzt: Falsch: Besonders bedauerlich ist, daß ich diesen Film verpaßt habe, gewesen. Falsch: Ich habe, Falsch: … weil ich daß ich diesen Film verpaßt habe, sehr bedaure. Falsch: Ich habe, daß ich diesen Film verpaßt habe, sehr bedauert. diesen Film verpaßt zu haben, sehr bedauert. Bei gewöhnlichen Subjekten und Objekten, aber auch bei Relativsätzen gilt diese einschränkende Regel nicht: Richtig: Ich habe dieses Mißgeschick sehr bedauert. Richtig: Ich habe mir, was ich noch einkaufen muß, auf einen Zettel geschrieben. Ebensowenig gilt die Regel bei Attribut- und Adverbialsätzen: Richtig: Ich habe, als ich nach Hause kam, einen Brief vor der Tür gefunden. Richtig: Das Wasser ist, Richtig: Ich habe das Buch, das du mir empfohlen hast, schon gelesen. Richtig: Ich hatte die Hoffnung, den Film noch sehen zu können, nicht aufgegeben. ohne einen Schaden anzurichten, wieder abgeflossen. (5) Subjekts- und Objektssätze im Mittelfeld können zum Glück vermieden werden. Es gibt hierzu drei Möglichkeiten der Abhilfe: (1) Der Nebensatz wird ins Vorfeld verlagert. (2) Der Nebensatz wird ins Nachfeld gestellt (= Ausklammerung ins Nachfeld). (3) Das Prädikat des Nebensatzes und das Prädikat des Hauptsatzes bilden zusammen ein komplexes Prädikat. (5.1) Besetzung des Vorfeldes: Daß ich den Film verpaßt habe, habe ich sehr bedauert. Dieses Buch gelesen zu haben, hat noch niemand bereut. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 5 (5.2) Ausklammerung ins Nachfeld: Ich habe (es) sehr bedauert, Ich werde (es) sehr bedauern, daß ich diesen Film verpaßt habe. diesen Film verpassen zu müssen. (5.3) Bildung eines komplexen Prädikats. Diese Möglichkeit gibt es nur bei Infinitivgruppen. Infinitivgruppen verlieren ihre Satzwertigkeit, wenn der Infinitiv mit dem Prädikat des übergeordneten Satzes ein komplexes Prädikat bildet. Das Resultat ist ein einfacher Satz: Ich hätte noch etwas anderes zu erledigen gehabt. → Ich hätte noch etwas anderes zu erledigen gehabt. (6) Eine Grundregel der deutschen Zeichensetzung lautet: Nebensätze werden vom übergeordneten Satz mit Komma abgetrennt. Infinitivgruppen haben grundsätzlich den Wert eines Nebensatzes; sie sind also satzwertig, genauer nebensatzwertig. Entsprechend werden sie wie alle anderen Arten von Nebensätzen vom übergeordneten Satz mit Komma abgetrennt. Dies gilt aber, wie wir gesehen haben, genau dann nicht, wenn der Infinitiv mit dem Prädikat des übergeordneten Satzes zu einem komplexen Prädikat verschmilzt. Wir können für Infinitivgruppen also die folgende Regel formulieren: Infinitivgruppen werden vom übergeordneten Satz mit Komma abgetrennt, außer wenn der Infinitiv mit dem Prädikat des übergeordneten Satzes ein komplexes Prädikat bildet. Man kann dies kurz auch so fassen: Normalfall: Kein komplexes Prädikat → Satzwertigkeit → Komma. Sonderfall: Komplexes Prädikat → keine Satzwertigkeit → kein Komma. Diese Regel wird für Sonderfälle noch zu modifizieren sein. Zuerst wollen wir allerdings auf die Normalfälle eingehen. (7) Woran erkennt man nun, ob ein Infinitiv Teil eines komplexen Prädikats ist oder nicht? Es gibt dafür eine Reihe von Indizien, die alle mit der Wortstellung zu tun haben. (7.1) Ein erstes Indiz kann man so umschreiben: Wenn eine Infinitivgruppe ausgeklammert rechts vom Prädikatsteil des übergeordneten Satzes steht, ist sie satzwertig und daher mit Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 6 Kommas abzutrennen. Dies wird eindeutig sichtbar: (1) wenn der übergeordnete Satz eine zusammengesetzte Verbform oder ein Verb mit Verbzusatz enthält, (2) wenn es sich beim übergeordneten Satz um einen Nebensatz mit Endstellung der Personalform handelt: Yvonne hat versucht, Yvonne hatte vor, den Schalter zu drehen. den Schalter zu drehen. Wir erwarten, daß Yvonne versucht, den Schalter zu drehen. In den folgenden Beispielen steht der Infinitiv eindeutig links vom Prädikatsteil des übergeordneten Satzes. Er ist also nicht satzwertig, sondern Teil eines komplexen Prädikats. Es dürfen keine Kommas stehen: Yvonne hat den Schalter zu drehen versucht. → Yvonne hat den Schalter zu drehen versucht. Wir erwarten, daß Yvonne den Schalter zu drehen versucht. → Wir erwarten, daß Yvonne den Schalter zu drehen versucht. Komplikationen ergeben sich bei regionalen Varianten des Deutschen – unter anderem im Schweizerdeutschen –, da hier bei komplexen Prädikaten die Abfolge der Verbformen umgedreht wird. Daß dennoch ein einfacher Satz vorliegt, sieht man im folgenden Beispiel daran, daß das Akkusativobjekt von «drehen», «den Schalter», von diesem getrennt steht: Yvonne hat den Schalter zu drehen versucht. → Yvonne hat den Schalter versucht zu drehen. Solche Konstruktion gelten nicht als einwandfreies Hochdeutsch. (7.2) Ein zweites Indiz ist mit der zuletzt diskutierten regionalen Konstruktion schon angesprochen worden: Wenn die Satzteile vom Infinitiv getrennt stehen, ist er Teil eines komplexen Prädikats. Es liegt also keine satzwertige Infinitivgruppe vor, es dürfen keine Kommas stehen: Leider vermochte niemand diesen Schalter zu drehen. → Leider vermochte diesen Schalter niemand zu drehen → Leider vermochte diesen Schalter niemand zu drehen. Leider vermochte niemand diesen Schalter zu drehen. → → Diesen Schalter vermochte leider niemand zu drehen. Diesen Schalter vermochte leider niemand zu drehen. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 7 (7.3) Ein drittes, verwandtes Indiz ist die Verneinung. Wenn die Verneinung eigentlich das übergeordnete Verb betrifft, aber unmittelbar vor dem untergeordneten Infinitiv steht, liegt ein komplexes Prädikat vor: Yvonne vermochte den Schalter nicht zu drehen. → Yvonne vermochte den Schalter nicht zu drehen. Wenn die Verneinung vor der Infinitivgruppe steht, ist diese hingegen satzwertig – es ist also ein Komma zu setzen: Yvonne vermochte nicht, den Schalter zu drehen. Daß hier wirklich das übergeordnete Verb verneint wird, kann eine Umschreibung deutlich machen: (Gemeint:) Yvonne hatte es nicht in ihrer Gewalt, den Schalter zu drehen. (Nicht gemeint:) Yvonne hatte es in ihrer Gewalt, den Schalter nicht zu drehen. (8) Mit Hilfe solcher Indizien findet man bald einmal heraus, daß im wesentlichen das Verb des übergeordneten Satzes bestimmt, ob ein Infinitiv mit ihm zusammen ein komplexes Prädikat bildet oder nicht. Es gibt dabei drei Fälle zu unterscheiden: (8.1) Das übergeordnete Verb bildet mit dem Infinitiv immer ein komplexes Prädikat; entsprechend wird nie ein Komma gesetzt. (8.2) Das übergeordnete Verb bildet mit dem Infinitiv nie ein komplexes Prädikat; entsprechend steht immer ein Komma. (8.3) Das Verb bildet mit dem Infinitiv manchmal ein komplexes Prädikat; entsprechend steht hier je nachdem ein Komma oder nicht. Kritisch ist hier die dritte Gruppe, bei der man nicht so recht weiß, woran man ist. Bei den ersten zwei Gruppen besteht auch dann bei der Kommasetzung keine Unsicherheit, wenn keines der in Punkt (7) genannten Indizien vorhanden ist. (9) Wir gehen im folgenden zuerst auf die ersten zwei Gruppen ein und gehen den Merkmalen nach, die eindeutig festlegen, ob ein bestimmtes Verb mit dem Infinitiv ein komplexes Prädikat bildet oder nicht. (9.1) Fälle, in denen immer ein komplexes Prädikat vorliegt (→ kein Komma). (9.1.1) Formales Merkmal: Fehlen der Partikel «zu». Es handelt sich immer um ein komplexes Prädikat, wenn das übergeordnete Verb einen Infinitiv ohne «zu» verlangt: Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 8 Ich habe den Schalter drehen können. → Ich habe den Schalter drehen können. (9.1.2) Inhaltliches Merkmal: Es liegt immer ein komplexes Prädikat vor, wenn das übergeordnete Verb dem Subjekt keine inhaltliche Rolle zuweist; dessen Rolle ist dann allein vom untergeordneten Infinitiv bestimmt: Der Zug scheint verspätet abgefahren zu sein. Der Zug dürfte verspätet abgefahren sein. Manchmal gilt es zu unterscheiden: Der Gangster drohte, uns alle umzubringen. Der Sturm drohte uns alle umzubringen. Im ersten Fall wird die Rolle des Subjekts vom Verb «drohen» (mit-)bestimmt: Der Gangster spricht eine Drohung aus. Im zweiten Fall ist die Rolle des Subjekts nur vom Verb «umbringen» bestimmt: Es bestand die Drohung, daß der Sturm uns umbringt. Anmerkung: Wenn der Infinitiv Teil eines komplexen Prädikats geworden ist, kann die Infinitivgruppe nicht ins Nachfeld ausgelagert werden: Richtig: Ich hätte noch etwas anderes zu erledigen gehabt. Unmöglich: Ich hätte gehabt, noch etwas anderes zu erledigen. (9.2) Fälle, in denen nie ein komplexes Prädikat vorliegt (→ Komma!) (9.2.1) Formales Merkmal: Es liegt nie ein komplexes Prädikat vor, wenn die Infinitivgruppe mit dem übergeordneten Verb nur indirekt über ein Verweiswort (es, das, daran, darauf...) verbunden ist. Die Infinitivgruppe ist dann also immer satzwertig und wird mit Komma abgetrennt. Das folgende Beispiel enthält das Verweiswort «damit»: Nicht: Die Skifahrerin hat damit doch noch zu gewinnen gerechnet. Nicht: → Die Skifahrerin hat damit doch noch zu gewinnen gerechnet. Hier hilft nur Ausklammerung ins Nachfeld: Richtig: Die Skifahrerin hat damit gerechnet, doch noch zu gewinnen. (9.2.2) Grammatisches Merkmal: Es liegt nie ein komplexes Prädikat vor, wenn die Infinitivgruppe das Subjekt des übergeordneten Satzes vertritt. Auffallenderweise soll nach den geltenden Normen trotzdem kein Komma gesetzt werden, wenn der Infinitiv am Anfang, das heißt im Vorfeld steht: Solche Bücher zu lesen ist ihm immer schwergefallen. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 9 Mit dieser Regel haben viele Schreibende Mühe – wie wir sehen, aus grammatischer Sicht zu Recht. Dies dürfte der Grund sein, daß der Duden eine schwammige Ausnahmeregel geschaffen hat: Ein Komma kann trotzdem stehen, wenn der Subjektsinfinitiv sehr lang ist. Anmerkung: Die Normen sehen allgemein ein Komma vor, wenn der übergeordnete Satz ein Verweiselement enthält (siehe oben, Punkt 9.2.1), in den folgenden Beispielen «das» und «es»: Solche Bücher zu lesen, das ist ihm schon immer schwergefallen. Ihm ist es immer schwergefallen, solche Bücher zu lesen. (9.2.3) Infinitive, die von einem Adjektiv abhängen, sind normalerweise satzwertig. Die Bildung eines komplexen Prädikats aus übergeordnetem Verb plus Adjektiv plus Infinitiv ist ungewöhnlich: Normalfall: Sie ist fähig, diese Aufgabe zu lösen. Ungewöhnlich: Sie ist diese Aufgabe zu lösen fähig. (9.2.4) Infinitive mit «zu» in der Funktion eines Adverbiales (siehe oben, Punkt 2.3) bilden mit dem übergeordneten Verb nie ein komplexes Prädikat. Meist werden sie von einer Partikel eingeleitet (um, ohne, statt, anstatt…): Ohne einen Schaden anzurichten, ist das Wasser wieder abgeflossen. Ich trug ein Stoffhütchen, um mich vor der stechenden Sonne zu schützen. (9.2.5) Infinitivgruppen, die als Attribut einem Nomen folgen (siehe oben, Punkt 2.3), können mit dem Verb des übergeordneten Satzes kein komplexes Prädikat bilden, sie sind also immer satzwertig: Der Versuch, den Apparat zu flicken, ist mir mißglückt. (10) Bleibt die Restgruppe von Infinitivgruppen, bei denen nicht ohne weiteres festgestellt werden kann, ob sie mit dem übergeordneten Verb ein komplexes Prädikat bilden oder nicht. Im allgemeinen handelt es sich um Infinitivgruppen in der Funktion eines Objekts. Einige der entsprechenden übergeordneten Verben erlauben die Bildung eines komplexen Prädikats, andere nicht. In der Praxis bleibt nichts anderes übrig, als sich an die in Punkt (7) diskutierten Indizien zu halten. Die folgenden Beispiele zeigen, daß beim Verb «wagen» offenbar sowohl Ausklammerung ( → Satzwertigkeit, → Komma) als auch Komplexbildung (→ keine Satzwertigkeit, → kein Komma) möglich ist: Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 10 Er hatte das Zimmer zu betreten gewagt. Er hatte gewagt, das Zimmer zu betreten. Er wagte das Zimmer nicht zu betreten. Er wagte nicht, das Zimmer zu betreten. Wenn sich keine Indizien für oder gegen Satzwertigkeit finden, überläßt man die Kommasetzung am besten dem Schreibenden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn es sich beim übergeordneten Satz um einen Hauptsatz mit nur einer einfachen Verbform handelt: Er wagte das Zimmer zu betreten. Er wagte, das Zimmer zu betreten. Ein Verweiswort macht die Sache aber eindeutig: Der Infinitiv ist dann satzwertig (siehe oben, Punkt 9.2.1): Er wagte es, das Zimmer zu betreten. Die folgenden Beispiele zeigen, daß das Verb «bedauern» nur satzwertige Infinitivgruppen bei sich duldet: Falsch: Sie hat diesen Film gesehen zu haben bedauert. Richtig: Sie hat bedauert, diesen Film gesehen zu haben. Bei solchen Konstruktionen setzt man am besten auch dann immer ein Komma, wenn es sich beim übergeordneten Satz um einen Hauptsatz mit nur einem einfachen Verb handelt: Sie bedauert, diesen Film gesehen zu haben. (11) Die geltenden Normen haben den grammatisch fundierten Kommaregeln, wie sie im vorangehenden dargestellt worden sind, noch einige weitere Regeln beigegeben. Nicht alle sind gleich gut motiviert. (11.1) Eine wichtige Zusatzregel, auf die wir bis jetzt nicht eingegangen sind, betrifft einfache Infinitive, also Infinitive, von denen kein Satzglied abhängt. Hier wird grundsätzlich kein Komma gesetzt – auch wenn grammatisch gesehen Satzwertigkeit vorliegt: Nicht satzwertig: Er hatte nicht zu rauchen gewagt. Satzwertig: Er hatte nicht gewagt zu rauchen. Satzwertig: Das Wagnis zu rauchen nahm er nicht auf sich. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 11 Einfache Infinitive werden offenbar als zu «leichtgewichtig» betrachtet, um ein Komma zu erhalten. Bei anderen Nebensätzen, zum Beispiel Relativsätzen, gibt es keine solchen Ausnahmen – mag der Nebensatz noch so kurz sein: Alles, was glitzert, zieht Elstern an. (11.2) Bei nicht grammatisch fundierten Ausnahmeregeln besteht immer die Gefahr, daß noch Ausnahmen zu den Ausnahmen kreiert werden. Das ist auch bei den einfachen Infinitiven der Fall. Ich zähle die wichtigsten auf: (11.2.1) Adverbiale Infinitive mit «zu» werden eigentlich zu Recht als satzwertig behandelt (siehe Punkt 9.2.4). Nur stimmt die in den Regelwerken angegebene Begründung nicht: die einleitenden Partikeln gelten als «Erweiterung» des Infinitivs. Dabei hängt doch der Infinitiv von der Partikel ab und nicht umgekehrt! Ohne zu warten, griff sich Daniel ein Stück Kuchen. (11.2.2) Wenn vom Infinitiv ein Nebensatz abhängt, der ihm folgt (also in dessen Nachfeld steht), muß der Infinitiv nach den Normen merkwürdigerweise nicht als erweitert betrachtet werden. Ein Komma ist immerhin erlaubt: Ich beeile mich(,) beizufügen, daß die Sache auch ihre Schattenseiten hat. Den Mut(,) zu versuchen, das Schloß aufzubrechen, brachte er nicht auf. (11.2.3) Nachgestellte Subjektsinfinitive gelten als satzwertig – eigentlich zu Recht, siehe Punkt 9.2.2: Das Ziel der Mannschaft war, zu gewinnen. Diese Ausnahme soll offenbar helfen, Fehllesungen zu vermeiden. Ohne Komma könnte man meinen, es liege ein komplexes Prädikat vor: Das Ziel der Mannschaft war zu gewinnen. (Falsche Lesart: Das Ziel der Mannschaft konnte gewonnen werden.) (11.2.4) Einfache Infinitive mit einem Verweiselement (siehe Punkt 9.2.1) sind grammatisch gesehen satzwertig. Die geltenden Regeln geben hier das Komma frei: Er dachte nicht daran(,) zu helfen. (11.2.5) Weitere Ausnahmen regeln die Kommasetzung bei mehrteiligen Infinitiven und bei Reihungen: Sie hatte vor, zu packen und abzureisen. Der Zeuge bereute es, ausgesagt zu haben. Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 12 (11.2.6) Schließlich gibt es noch die Ausnahmeregel, daß bei der Gefahr von «Mißverständnissen» auch einfache Infinitive mit Komma abgetrennt werden dürfen. Ein typisches Beispiel: Wir raten ihm, zu helfen. Wir raten, ihm zu helfen. Fazit: Im Grunde genommen leisten all die genannten Ausnahmen nichts anderes, als die unflexible Regel, daß einfache Infinitive ohne Komma stehen müssen, zu «reparieren». (11.3) Infinitivgruppen können die Funktion eines Objekts haben (siehe oben, Punkte 2.1 und 3); man spricht dann von Objektsinfinitiven. Wenn solche Infinitivgruppen im Vorfeld des übergeordneten Satzes stehen, werden sie von den Normen als satzwertig behandelt, müssen also mit Komma abgetrennt werden: Das Zimmer zu betreten, hat nur Alessandra gewagt. Grammatisch gesehen sind die Verhältnisse allerdings nicht immer eindeutig. Der obenstehende Satz kann von beiden folgenden Varianten abgeleitet werden: Satzwertig: Nur Alessandra hat gewagt, Nicht satzwertig: das Zimmer zu betreten. Nur Alessandra hat das Zimmer zu betreten gewagt. Aus grammatischer Sicht wäre es also denkbar, das Komma hier freizugeben. Mit der Regel, die das Komma für obligatorisch erklärt, soll wohl der Bereich der Schwankungs- und Zweifelsfälle vermindert werden. Wie bei allen grammatisch nicht gut fundierten Festlegungen macht man auch hier die Erfahrung, daß sich selbst geschulte Schreibende häufig nicht an die Regel halten. (12) Fazit für die Kommaregeln: Die geltenden Kommaregeln sind inhaltlich gar nicht so schlecht – sie sind grammatisch grundsätzlich fundiert. Ihr schlechter Ruf beruht vermutlich vor allem auf schlechten Formulierungen, den meist fehlenden Begründungen in den Regelwerken und auf den unter Punkt (9.2.2) und (11) erwähnten, nicht ohne weiteres motivierbaren Ausnahmen. Eine Reform, die am Grundkonzept der bisherigen Kommaregeln festhält, also mit der Schreibtradition nicht brechen will, könnte zu den folgenden Regeln führen: Hauptregel: Infinitivgruppen mit der Partikel «zu» werden mit Komma abgetrennt. Ausnahme 1: Wenn der Infinitiv mit dem übergeordneten Verb ein komplexes Prädikat bildet, wird kein Komma gesetzt. Ausnahme 2: Bei einfachen Infinitiven kann auf das Komma verzichtet werden. Diese Regeln führen – obwohl gegenüber den bisherigen wesentlich vereinfacht – nur in ganz wenigen Fällen zu anderen Schreibungen (etwa beim Subjektsinfinitiv). Im Grunde genommen kann man sich – im Sinne von Faustregeln – schon heute darauf abstützen. Dies gilt Peter Gallmann: Das Komma beim Infinitiv 13 vor allem für diejenigen, die zwar einerseits sich darum bemühen, korrekt und verständlich zu schreiben, andererseits aber vor dem Irrgarten der heutigen Regeln zurückschrecken. Der Begriff des komplexen Prädikats bedarf in einem zukünftigen Regelwerk natürlich der grammatischen Erläuterung. Damit meine ich wirkliche Erläuterungen mit passenden Beispielen, keine neuen Unter- und Sonderregeln. Wenn nicht entscheidbar ist, ob ein komplexes Prädikat vorliegt oder nicht, ist die Schreibung konsequenterweise freizugeben. Ein Vorteil der hier skizzierten Regeln dürfte auch sein, daß auf vage Kriterien für Kommasetzung verzichtet wird. Korrektoren und Korrektorinnen, die fremde Texte zu bearbeiten haben, können wenig mit Regeln der folgenden Art anfangen: Ein Komma kann gesetzt werden, um die Gliederung des Satzes deutlich zu machen. Oder: Ein Komma kann gesetzt werden, um mögliche Mißverständnisse oder Fehllesungen zu vermeiden. (13) Literatur Die im folgenden genannte Literatur ist für Nicht-Linguisten wohl allzu harte Kost, da sie von Wissenschaftlern für Wissenschaftler geschrieben worden ist. Ich führe sie dennoch an, damit deutlich wird, auf welche Quellen ich mich bei der Ausarbeitung dieses Artikel gestützt habe. Der Artikel ist denn auch als ein Versuch anzusehen, den Graben zwischen reiner Wissenschaft und Praxis ein bißchen zu überbrücken. Baker, Mark C. (1988): Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago / London: The University of Chicago Press. Bech, Gunnar (1983): Studien über das deutsche Verbum infinitum. 2., unveränderte Auflage mit einem Vorwort von Catherine Fabricius-Hansen. Tübingen: Niemeyer (= Linguistische Arbeiten, 139). [1. Auflage: 1955/57.] Fabricius-Hansen, Catherine / Stechow, Arnim von (1990): «Explikative und implikative Nominalerweiterungen im Deutschen. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft, Band 8/1989, Heft 2, Seiten 173–205. Gallmann, Peter (1985): Graphische Elemente der geschriebenen Sprache. Grundlagen für eine Reform der Orthographie. Tübingen: Niemeyer (= Reihe Germanistische Linguistik, 60). Stechow, Arnim von: «Status Government and Coherence in German». In: Grewendorf, Günther / Sternefeld, Wolfgang (1990): Scrambling and Barriers. Amsterdam / Philadelphia: John Benjamins (= Linguistik Aktuell, Band 5), Seiten 143–198.