Art: Fantastische Geschichten Themen: Insekten, Tiere des Waldes, Vögel Kategorien: Tiere, Gefühle Altersgruppen: ab 3, 5 bis 6, 7 bis 10 Wie eine Ameise zum Helden der Geschichte wurde von Folke Tegetthoff Wir haben uns heute hier versammelt“, beginnt Hugo Hirsch mit feierlicher Stimme, „um eine sehr wichtige Angelegenheit zu besprechen. Einige Mitbewohner unseres Waldes haben sich bei mir beschwert. Sie finden es schrecklich, dass man sie nicht achtet, ihnen keinen Respekt entgegenbringt, nur weil sie klein oder winzig klein sind. Sie berichten immer wieder von schrecklichen Unglücksfällen. Frau Schmetterling berichtete mir zum Beispiel, dass vor drei Tagen eine ganze Gruppe von Raupen Opfer eines gefräßigen Hirsc..., äh, ich meine, eines gefräßigen, großen Tieres wurde, das einfach Blätter fraß, ohne darauf zu achten, ob sich an der Hinterseite nicht jemand befindet. Mistkäfer werden Unfallopfer von rasenden Wieseln. Unlängst hat ein Bär 47 Bienen während einer Honigjause ,aus Versehen‘ getötet. Ich spreche nicht davon, dass es unter uns Tiere gibt, die andere Tiere fressen. Wir werden den Spazzos keinen Vorwurf machen, wenn sie sich zum Abendessen ein paar Regenwürmer holen. Wir haben nichts dagegen, dass die Uhus mal Appetit auf eine von den Mäusen haben. Kein Problem mit Familie Fuchs, die sich mal um ein Huhn kümmert. Aber jemanden aus Achtlosigkeit und nur, weil er kaum zu erkennen ist, zu töten, sollten wir nicht einfach so hinnehmen. Jeder von uns, JEDER, ist wertvoll und hat seine ganz eigene Geschichte.“ Flutsch Spazzo stupst seinen Papa an und flüstert: „Papa, hast du gehört: Geschichte! Kannst du uns nicht eine Geschichte erzählen.“ „Ja, bitte Papa“, beginnt jetzt auch noch Kiki zu betteln. „Erstens verstehen wir kein Wort von dem, was Hugo da redet, und zweitens ist es langweilig!“ „O. K., kommt, wir fliegen zwei Äste höher, damit wir niemanden stören. Dann erzähle ich euch eine Geschichte! Lachen, fürchten oder weinen?“ Roberto hätte sich die Frage ersparen können, denn von zehnmal fragen antworten die Zwilling neunmal mit „lachen“ ... „Gut. Hört zu. Auf einer meiner Reisen machte ich eine Rast unter einem großen Baum, der auf einer wunderschönen, weiten Wiese stand. Ich saß im hohen Gras und hatte Lust, mir eine neue Geschichte auszudenken. ,Vielleicht sollte ich von einem Löwen erzählen‘, dachte ich mir.“ „Ja, bitte Papa, eine Geschichte von einem Löwen“, rufen Flutsch und Kiki. aus "Roberto Spazzo" erschienen: G&G Verlag © G&G Verlag geladen von [email protected] 1/3 Art: Fantastische Geschichten Themen: Insekten, Tiere des Waldes, Vögel Kategorien: Tiere, Gefühle Altersgruppen: ab 3, 5 bis 6, 7 bis 10 „Oder doch besser von einem riesigen Drachen“, überlegte ich. „Ja, viel besser! Von einem Drachen, bitte, bitte!“ „Meine Gedanken malten ein großes Tier nach dem anderen vor meine Augen, ich sah sie über die Wiese rennen, aber sie waren alle gleich wieder verschwunden. Schon fast alle mächtigen, gefährlichen Tiere waren an mir vorübergelaufen, als ich plötzlich etwas entdeckte. Auf meiner linken Kralle saß eine Ameise, zitterte am ganzen Körper und starrte mich an. ,Natürlich! Das ist es!‘, rief ich laut. ,Ich werde über DICH eine Geschichte erzählen.‘ Die Ameise begriff zuerst gar nicht, dass ich mit ihr sprach. Anscheinend hatte noch nie jemand das Wort an sie gerichtet. Die Arme zitterte, weil sie normalerweise entweder aufgefressen oder totgetrampelt wird. ,Was?! Über mich willst du eine Geschichte erzählen? Willst du dich über mich lustig machen?‘ Und die Ameise sagte, über sie gäbe es nichts zu erzählen. Sie sagte, sie könne weder auf einem Besenstiel reiten noch Drachen besiegen. Sie sagte, sie sei weder ein Clown noch ein Astronaut. Und sie sagte, sie fände sich selbst echt langweilig. ,Wenn du von mir erzählst‘, meinte sie, ,wird dir niemand zuhören. Hast du Kinder? Die wollen sicher nur von Abenteuern, von Ungeheuern und von Zauberern hören. Die wollen entweder lachen oder weinen oder sich fürchten. Aber doch nicht gähnen. Und das werden sie, wenn sie von mir hören. Bestimmt.‘ Ich schaute auf das winzige Ding und dachte: ,Sie ist wirklich nicht sehr groß. Sie trägt keine bunten Federn. Sie hat keine witzigen Ohren, über die man lachen könnte. Sie kann weder singen noch bellen noch brüllen. Es gibt wirklich nichts an ihr, bei dem man ausrufen könnte: Wow – das ist aber interessant!!! Sie ist so unscheinbar, dass man sie übersehen muss. Sie tut auch nie etwas, was andere nicht auch tun. Sie schaut nie rechts oder links, wenn sie über eine Straße geht, sie putzt sich nie die Zähne. Bohrt auch nie in der Nase. Das tun Ameisen einfach nicht. Das heißt, sie würden es auch nicht tun, wenn sie Zähne und eine Nase hätten ... Es würde ihr nie einfallen, auf der Straße zu tanzen oder in einem Blatt über eine Wasserlache zu segeln. Es käme ihr sicher nie in den Sinn, sich mit gelbem Blütenstaub zu maskieren. Nein, niemand erzählt eine Geschichte über eine Ameise, ganz einfach, weil es über sie nichts zu erzählen gibt, weil ihr ja auch nie etwas Besonderes passiert.‘ Ich schaute die Ameise an, die zu zittern aufgehört hatte, und sagte: ,Warum glaubst du aus "Roberto Spazzo" erschienen: G&G Verlag © G&G Verlag geladen von [email protected] 2/3 Art: Fantastische Geschichten Themen: Insekten, Tiere des Waldes, Vögel Kategorien: Tiere, Gefühle Altersgruppen: ab 3, 5 bis 6, 7 bis 10 eigentlich, dass es so uninteressant ist, von einem Tier zu erzählen, das gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern fähig ist, ein Haus zu bauen, das 150-mal größer ist als es selbst. Ein Tier, das eine Last tragen kann, die 40-mal schwerer ist, als es selbst wiegt. Ein Tier, das etwas Gutes zum Essen riechen kann, das 1.000-mal weiter entfernt als seine Körpergröße ist. Naja, und es ist wirklich gar nicht interessant zu hören, dass ein Ameisenvolk an einem einzigen Sommertag 100.000 (jawoll: EINHUNDERTTAUSEND) Beutetiere in seinen Bau bringen kann.‘ Aber die Ameise schüttelte nur den Kopf und sagte: ,Das ist doch nichts Besonderes. Schau dich doch an: Du kannst fliegen. Und schau die Fische an: Die können schwimmen. Und schau die Menschen an: Die können Autos bauen. Wenn du eine Geschichte erzählst, wollen die, die zuhören, von etwas Besonderem hören. Sie wollen von einem Prinzen hören. Oder von einer Frau, die den Freund des Schwagers der Schwester des Weitspuckweltmeisters kennt. Ich bin eine ganz gewöhnliche Ameise. Ich kann nicht Ski fahren und bin nicht stark. Ich spreche nicht mit Menschen und verstehe kein Wort von dem, was der Mond erzählt. Ich kann mich nicht in ein Nashorn verwandeln und mit meinen Fühlern schießen kann ich auch nicht! Wozu also eine Geschichte?‘ Plötzlich musste ich lachen: ,Aber – das ist ja schon DIE Geschichte! Ameise, du hast ja keine Ahnung! Es ist doch langweilig, immer nur von Hexen, Drachen und Löwenzu hören! Oder?!‘“ An dieser Stelle der Geschichte machen Kiki und Flutsch etwas, was sie noch nie gemacht haben: Sie warten nicht, wie es weitergeht, sondern springen hoch und fliegen, ohne ein Wort zu sagen, einfach vom Ast weg. Roberto lächelt und weiß, wo er die beiden finden wird: beim Haus der Ameisen, rechts hinter der Lichtung ... aus "Roberto Spazzo" erschienen: G&G Verlag © G&G Verlag geladen von [email protected] 3/3