Einleitung § 1. Die Erste Philosophie als Lehre von der Wahrheit Mit dem Aristotelischen Terminus »Erste Philosophie« soll im folgenden diejenige philosophische Grundlagendisziplin bezeichnet werden – welche immer es sein mag –, in deren Eigenart der Grund dafür zu suchen ist, daß die Philosophie in der Vielfalt ihrer Disziplinen einen einheitlichen theoretischen Diskurs bildet, der sich vom sonstigen wissenschaftlichen Diskurs nach Inhalt und Methode grundsätzlich unterscheidet. Ob es eine Erste Philosophie gibt, ob die Philosophie einen theoretischen Diskurs eigener Art bildet, ist freilich umstritten. Ich skizziere einige Positionen, die das verneinen. (A) Die Philosophie unterscheidet sich von den Einzelwissenschaften nicht durch genuin philosophische Inhalte oder eine genuin philosophische Methode, sondern im günstigen Fall dadurch, daß sie in bahnbrechender Vorläufigkeit Wissenschaften den Weg bereitet, auf dem diese sich dann von ihr entfernen. Man denke etwa daran, daß für Aristoteles und die lange philosophische Tradition, die sich auf ihn berief, die Physik zur Philosophie gehörte – sie war die zweite Philosophie, die Metaphysik die erste – und die Psychologie zur Physik. Doch seit Beginn der Neuzeit konnte die Physik dank mathematischer Ausdrucksmittel und experimenteller Methode sich mehr und mehr aus der begrifflichen Verflechtung mit der Philosophie lösen, und die Psychologie folgte ihr irgendwann nach, ebenfalls dank der experimentellen Methode und dem Bemühen um mathematische Theorieformulierung. So scheint die Philosophie stets zu entlassen, was in ihr heranreift, bis sie am Ende womöglich mit leeren Händen dasteht. Ihr Triumph wäre es insofern, sich überflüssig zu machen zugunsten strenger Wissenschaft. Oder wenn man nicht daran glauben mag, daß die wissenschaftliche Theoriebildung je einen Abschluß erreichen kann, so ist die Philosophie vielleicht schlicht die Fortsetzung eines seit Platon andauernden Gesprächs, dessen Teilnehmer und Themen wechseln und das stets für Überraschungen gut bleibt und neue Forschungsprogramme gebiert. (B) Die Philosophie entläßt nicht ewig Wissenschaften aus sich, sondern entwickelt sich selbst zu einer Wissenschaft, indem sie bestimmte Fragestellungen für sich zurückbehält und sie nach allgemein wissenschaftlicher Methode behandelt. Dies ist in etwa die Position des amerikanischen Philosophen W.V. Quine, der die methodische Einreihung der Philosophie unter die (Natur-)Wissenschaften empfahl und die Aufgabe der Philoso- 18 Einleitung phie als naturalisierter Erkenntnistheorie darin sah, eine unter den vielfältigen Beziehungen zwischen unseren sensorischen Reizungen und unserer wissenschaftlichen Gesamttheorie der Welt, nämlich die Stützung der Theorie durch Belege, zu ergründen, und zwar ohne neurologische, linguistische, genetische, historische oder sonstige äußere Anleihen, mit wenig mehr als den Mitteln bloßer logischer Analyse.1 So verstanden wäre die Philosophie zwar als Erkenntnistheorie ein respektabler theoretischer Diskurs, dies aber um den Preis ihrer Integration in den gewöhnlichen theoretischen Diskurs (zu dem auch die Mathematik und die Logik gehören). Es gibt – dies besagt Quines philosophischer Naturalismus – keine Erste, prinzipiell ausgezeichnete, keine apriorische Philosophie. (C) Die Philosophie ist weder unreife Wissenschaft noch als eine reife Wissenschaft naturalisierbar, sondern vielmehr gar kein theoretischer Diskurs; und dies ist der Grund, warum es eine Erste Philosophie nicht geben kann. Zwar mögen in der Philosophie Argumente und Begriffsklärungen eine wichtige Rolle spielen, und bisweilen mag es so aussehen, als würden genuin philosophische Thesen aufgestellt und begründet. Doch das philosophische Denken ist auf etwas ganz anderes aus als auf Lehrsätze, etwa, wenn wir dem späten Wittgenstein folgen, auf die Linderung des intellektuellen Unbehagens, das sich einstellt, wenn wir uns in der unübersichtlichen »Grammatik« unserer Sprache verfangen. Diese drei Beispiele einer kritischen Haltung gegenüber dem Unternehmen Erste Philosophie mögen genügen, um zu illustrieren, daß es nicht selbstverständlich, sondern eine begründungsbedürftige These ist, wenn behauptet wird, daß es eine Erste Philosophie, d.h. eine prinzipiell ausgezeichnete Grundlagendisziplin der Philosophie gibt, kraft deren die Philosophie insgesamt einen theoretischen Diskurs eigener Art darstellt. Diese These soll im folgenden so begründet werden, daß aus dem Gang der Begründung zugleich schon eine bestimmte Erste Philosophie hervorgeht. Konkret besagt die Generalthese, daß die philosophischen Probleme allesamt mit dem Begriff der Wahrheit zusammenhängen und daß die Erste Philosophie als eine theoretische Reflexion auf den Begriff und das Faktum der Wahrheit beginnen muß.2 Das Faktum der Wahrheit gibt sich uns zu erkennen als ihr Vorkommen in Gestalt wahrer Sätze und Meinungen. Man kann auch sagen, daß wir selber das Faktum der Wahrheit sind, sofern wir Wahrheitsansprüche erheben in Urteilen, von denen, schon weil wir einander und gelegentlich uns selbst widersprechen, einige wahr sind. Unsere 1 2 W.V. Quine, Unterwegs zur Wahrheit, S. 1f. H.-P. Falk hat diese These in Wahrheit und Subjektivität begründet. Ich folge ihm in wesentlichen Punkten. § 1 Die Erste Philosophie als Lehre von der Wahrheit 19 Urteils- oder Aussagepraxis also, sofern sie mittels des Wahrheitsbegriffes charakterisierbar ist, bildet den Ansatzpunkt und das Ausgangsthema der Philosophie. In allen unseren Theorien erheben wir Wahrheitsansprüche, die Erste Philosophie aber ist diejenige Theorie, in der wir auf dieses Faktum reflektieren. In keiner anderen Theorie kommt der Wahrheitsbegriff wesentlich vor (nur in der mathematischen Logik ein aseptisches Imitat des Wahrheitsbegriffs); alle anderen Theorien – Mathematik, Physik, Chemie usw. – lassen, was sie für ihre Theoreme beanspruchen: Wahrheit, unthematisiert und implizit. Daß es wahr sei, daß die Kraft das Produkt von Masse und Beschleunigung ist, drückt die Newtonsche Mechanik dadurch aus, daß sie die Gleichung »F= ma« unter ihre Theoreme bzw. Axiome aufnimmt. Das Wort »wahr« braucht sie dazu nicht. Die Erste Philosophie allein macht, was sie auch für ihre Lehren beansprucht: Wahrheit, zu ihrem sie definierenden Thema; und die Philosophie insgesamt, in der ganzen Vielfalt ihrer Disziplinen, reicht gerade so weit wie der begriffliche Einfluß des Wahrheitsprädikates. Dafür jedenfalls möchte ich in der Folge argumentieren. Revolutionär ist diese These nicht, wie ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte zeigt. Aristoteles, welcher es war, der die Philosophie in eine erste und eine zweite einteilte und der unter der zweiten die Theorie der Natur in ihrer Prozessualität, also die Physik verstand, faßte die Erste Philosophie als die Theorie der Natur in ihrem schieren Sein, als die Lehre vom o£n h©ı o¢n, vom Seienden als Seiendem. Sein Redaktor Andronikus von Rhodos (oder ein Früherer, dem Andronikus sich anschloß) hat diese Reihenfolge in der äußeren Anordnung der Aristotelischen Schriften umgekehrt und die Schriften zur Ersten Philosophie nach den physikalischen Schriften – metà tà fusiká – plaziert. Daher heißt die Lehre vom Sein des Seienden auch Metaphysik, und nach ihrer Thematik wurde sie sehr viel später, im 16. Jahrhundert, Ontologie genannt. Als eine wissenschaftliche Betrachtung wird sie Ursachen- und Prinzipienforschung sein. Sie fragt nach dem Sein des Seienden – der Sachen und Tatsachen – folglich mit Blick auf den Grund dieses Seins. Insofern kann man die Frage, die Leibniz als die logisch erste unter allen Warum-Fragen auszeichnete, mit Heidegger die Grundfrage der Metaphysik nennen: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?«3 Bei Leibniz wird die Frage theologisch beantwortet: Es 3 Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade, Ziffer 7, S. 12: »[...] la première question qu’on a droit de faire, sera, pourquoi il y a plus tôt quelque chose que rien.« – Am Schluß seiner Freiburger Antrittsvorlesung »Was ist Metaphysik?« (1929) nennt Heidegger als »die Grundfrage der Metaphysik, die das Nichts selbst erzwingt«, eben diese Frage: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?« (Wegmarken, S. 122). In der Einleitung zu »Was ist Metaphysik?« von 20 Einleitung gibt Seiendes, weil eines davon, Gott, mit Notwendigkeit existiert und weil Gott alle nicht-notwendigen Wesen geschaffen hat. Auch in der Aristotelischen Lehre wird Gott, wenn auch nicht als Schöpfer, so doch als der unbewegte Beweger des Kosmos thematisiert. Die Metaphysik, die als Ontologie anhebt, entwickelt sich insofern – bei Leibniz wie bei Aristoteles – fort zu einer philosophischen Theologie. Soweit die klassische Erste Philosophie. Sie ist Metaphysik, und das heißt Ontologie und Theologie in einem. Hat sie eine Nähe zu der hier ins Auge gefaßten Lehre vom Begriff und vom Faktum der Wahrheit? Ja; denn indem ein Wahrheitsanspruch erhoben wird, wird immer ein Sein, nämlich ein bestimmtes Der-Fall-Sein beansprucht. Wenn der Satz »Schnee ist weiß« wahr ist, dann ist es der Fall (dann ist es so), daß Schnee weiß ist. Das Sein im Sinne des Der-Fall-Seins kann man, weil sich in ihm das Wahrsein einer Aussage spiegelt, das veritative Sein nennen. In diesem veritativen Sein hängen die klassische Ontologie und die Lehre vom Begriff und vom Faktum der Wahrheit zusammen. Leibniz, von dem soeben die Rede war, übt Solidarität mit der Ontologie nach ihrem Sturz aus Rang und Rolle der Ersten Philosophie. Denn Leibniz gehört bereits einem postontologischen Abschnitt der Geschichte der Ersten Philosophie an. Seine Vorgänger Descartes und Locke hatten darauf hingewirkt, der Ersten Philosophie einen neuen Ansatzpunkt und Inhalt zu verschaffen. Sie war nun nicht mehr Ontologie, sondern Erkenntniskritik und Bewußtseinsphilosophie. Lockes philosophisches Hauptwerk handelt vom menschlichen Verstand (An Essay concerning Human Understanding), und Descartes beginnt seine Meditationes de prima philosophia – seine Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, in denen die Existenz Gottes und die Verschiedenheit der menschlichen Seele vom Körper bewiesen werden – mit einer Meditation über das, »woran man zweifeln kann«. Darauf folgt eine Meditation »über die Natur des menschlichen Geistes; daß seine Erkenntnis ursprünglicher ist als die des Körpers«; und erst dann, in der dritten Meditation, unternimmt Descartes einen Gottesbeweis. Das Seiende in seinem Sein ist bei alledem in den Hintergrund getreten. Wenn also seit Descartes und Locke nicht mehr das Sein, sondern das Bewußtsein, nicht mehr das Seiende, sondern unsere Vorstellungen (»Ideen«) vom Seienden im Mittelpunkt der philosophischen Aufmerksamkeit stehen, ist es dann nicht ein Rückfall hinter die bewußtseinstheoretische Wende der neuzeitlichen Philosophie, daß mit der Lehre von der Wahrheit hier eine Erste Philosophie in Aussicht genommen wird, die über 1949 wird die Grundfrage mit ausdrücklichem Verweis auf Leibniz wiederholt (ebd. S. 381). Vgl. auch ders., Einführung in die Metaphysik, besonders S. 53. § 1 Die Erste Philosophie als Lehre von der Wahrheit 21 den Begriff des veritativen Seins in die klassische Ontologie zurückweist? Nein; denn wir werden sehen, daß der Begriff und das Faktum der Wahrheit ebensosehr auf die Bewußtseins- und Erkenntnistheorie verweisen. Indem nämlich die objektive Wahrheit einer Aussage beansprucht wird, wird eine Differenz gedacht zwischen dem, was jeweils an sich der Fall ist, und dem, was im Bewußtsein als der Fall seiend vorgestellt wird. Man kann diese Differenz zwischen objektivem Der-Fall-Sein und subjektivem Anscheinen die Geltungsdifferenz nennen, weil sie sich unmittelbar daraus ergibt, daß objektive Geltungsansprüche erhoben werden. Sie markiert den Punkt, in dem die neuzeitliche Bewußtseins- und Erkenntnistheorie und die Lehre vom Begriff und vom Faktum der Wahrheit zusammenhängen. Man mag sich darüber streiten, wie viele und welche epochalen Wendungen die Philosophie in ihrer Geschichte genommen hat, welche Paradigmenwechsel (wenn davon in der Philosophie die Rede sein kann) in der Philosophiegeschichte vorgekommen sind. Von denen, die sie mit- bzw. nachvollzogen haben, wird oft die sprachphilosophische Wende zu Beginn des 20. Jahrhunderts – bei Frege, Russell, Wittgenstein und Carnap – als ein weiterer Paradigmenwechsel betrachtet. Wenn zu Recht, so stellt sich die Frage, ob eine Lehre vom Begriff und vom Faktum der Wahrheit auch dieser Wende Rechnung trägt; und hier liegt die Bejahung mehr denn je auf der Hand. Durch die sprachphilosophische oder sprachanalytische Wende wurde der Ansatzpunkt der Ersten Philosophie von unseren Vorstellungen (unseren mentalen Wahrheits- und Wissensansprüchen) auf unsere sprachlichen Äußerungen verschoben. Aber die Sprachphilosophie wetteifert als Erste Philosophie natürlich nicht mit der Sprachwissenschaft oder gar mit einer umfassenden Theorie des menschlichen Verhaltens. Sie thematisiert die sprachlichen Äußerungen ausschließlich als potentielle Wahrheitsträger bzw., da Ausdrücke unterhalb der Satzebene, einzelne Worte und Wortbestandteile, nicht wahr oder falsch und demnach keine potentiellen Wahrheitsträger sind, den Beitrag, den Ausdrücke verschiedener Kategorien zu der Wahrheit (oder Falschheit) derjenigen Sätze leisten, in denen sie vorkommen. Dieser Beitrag eines Ausdrucks zu den Wahrheitsbedingungen der Sätze, in denen er vorkommt, ist seine Bedeutung in dem philosophisch relevanten Sinn des Terminus. Die Sprachphilosophie in der Rolle der Ersten Philosophie ist demnach philosophische Semantik; und nur dadurch, daß sie sich mit der Lehre vom Begriff und vom Faktum der Wahrheit, untertrieben gesagt, berührt, kann sie sich, wie wir sehen werden, als philosophische Theorie von der Linguistik abgrenzen. Wenn es also überhaupt eine Erste Philosophie gibt, dann ist die Wahrheit sowohl der Sache nach als auch aus philosophiehistorischen Gründen ein hervorragender Kandidat für ihren ersten und ursprünglichen Gegenstand.