2. Die Historische Entwicklung Bosnien

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2. Die Historische Entwicklung Bosnien-Herzegowinas und des
Libanons
Im Zentrum dieser Arbeit stehen zwei Länder, die nur auf eine kurze staatliche Tradition
zurückgreifen können. Der Libanon entstand nach dem 2. Weltkrieg als unabhängiger
Staat, während Bosnien-Herzegowina erst mit dem Kriegsausbruch im April 1992
international anerkannt wurden. Trotzdem basieren beide auf historischen Provinzen. Es
handelt sich also nicht um künstliche Konstruktionen des 20. Jahrhunderts, sondern um
gewachsene Einheiten. Da es jedoch den Umfang der Arbeit sprengen würde, die
Geschichte des Libanon und Bosniens vor dem 19. Jahrhundert darzustellen und zu
vergleichen, setzt dieses Kapitel in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Zu diesem
Zeitpunkt bildeten sich die Besonderheiten des Libanons und Bosniens hervor, zudem
leitete der Beginn der Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert ein neues Kapitel in der
Entwicklung des Osmanischen Reiches und der Habsburger Monarchie ein.
Da die Geschichte Bosnien-Herzegowinas enger als der Libanon mit den Entwicklungen
in der umliegenden Region (insbesondere Kroatien und Serbien, später Jugoslawien)
verknüpft ist, fällt die Darstellung für Bosnien umfangreicher aus.
2.1. Die Gemeinsame Geschichte im Rahmen des Osmanischen Reiches
2.1.1. Das Osmanische Reich im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts
Unter Sultan Mehmet II. kam Bosnien 1463 und die Herzegowina zwei Jahre später
unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches. Etwas mehr als fünfzig Jahre später,
1516, eroberte das Osmanische Reich den Libanon von den Mameluken.1 In dieser Zeit
der raschen Expansion des jungen Osmanischen Reiches beginnen 400 Jahre türkische
Herrschaft über Bosnien und den Libanon. Diese lange Zeit hat beide Staaten stark
geprägt, so daß sich Elemente der osmanischen Herrschaft in den verschiedensten
Bereichen des Libanon und auch Bosniens wiederfinden.
Die Struktur des Osmanischen Reiches
Das Osmanischen Reich wurde durch drei Traditionen geprägt:
- ein traditionelles muslimisches Staatswesen,
- byzantinische Elemente und
- die türkische Herkunft der Dynastie der Osmanen.
Die islamische Ausrichtung des Reiches bedeutet eine strikte Trennung zwischen
Muslimen und Nicht-Muslimen. Trotz gelegentlicher Gleichbehandlung besaßen die
Angehörigen anderer Religionen nie die gleichen Rechte wie Muslime. Die osmanische
Gesellschaft gliederte sich entlang vertikaler und horizontaler Achsen. Die vertikale
Achse trennte die Muslime und die anderen Konfessionen von einander. Die horizontale
Achse entspricht den sozialen Abstufungen.
Diese Gesellschaftspyramide war streng hierarchisch in verschiedene Gruppen
aufgeteilt. An der Spitze stand der Sultan mit unbeschränkten Machtbefügnissen. Erst ab
1909 wurden die Kompetenzen des Sultans im Rahmen einer konstitutionellen
1
Hierzu siehe Peter Sugar, Southeastern Europe under Ottoman Rule, 1354-1804 (=A History of East
Central Europe V, Seattle/London 1977) 65 f.; Jean-Louis Bacqué-Grammont, L'apogée de l'Empire
ottoman: les événements (1512-1606), in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris
1989) 143-145.
5
Monarchie eingeschränkt. Zwei streng getrennte Gruppen gliedern die Hierarchie. Die
erste Gruppe stand im Dienst des Staates, Peter Sugar bezeichnet sie als „professional
Ottomans“. Sie waren entweder Beamte der Hohen Pforte (Mülkiye), Schriftgelehrte mit
ähnlichen Aufgaben wie Beamte (Kalemiye), Angehörige des Militärs (Seyfiye) oder
Geistliche (Ilimiye). Jede dieser Gruppen besaß ihre eigene Hierarchie. Sie besaßen
jedoch keine Rechte gegenüber dem Sultan. Traditionell konnten sie jedoch die
Herrschaft beeinflussen und zu manchen Zeiten sogar den Sultan absetzen. Ihre zentrale
Aufgabe war die Verwaltung des Reiches. Angehören konnten diesen „professionellen
Osmanen“alle anerkannte Konfessionen. Sie sprachen als einzige Gruppe auch die
Verwaltungssprache Osmanlica.
Die zweite Gruppe war die restliche Bevölkerung (Raya), die sowohl Muslime, wie
auch die Bevölkerung mit anderer Religionszugehörigkeit, umfaßte. Die Gläubigen
monotheistischen Religionen (Judentum und Christentum) standen unter dem Schutz
des Islam und wurden als Zimmi bezeichnet. Obwohl die Abstufungen in der
gesellschaftlichen Hierarchie in erster Linie durch soziale und funktionale Unterschiede
der jeweiligen Gruppen geprägt wurden, spielte die Konfession immer eine Rolle. So
spezialisierten sich oftmals einzelne Konfessionen auf bestimmte Berufe. Insgesamt
besaßen die Zimmi stets weniger Rechte als die muslimische Bevölkerung und
unterstanden anderen Gesetzen. So mußten nur Muslime in der Armee dienen. Die
Zimmi mußten hingegen einen Kopfsteuer bezahlen.2 Bis ins 16. Jahrhundert bestand
der Knabenzins (Devşirme), der jedes 5. nicht-muslimische Kind zur Armee
verpflichtete.3
Das Millet-System
Im Zentrum der gesellschaftlichen Gliederung der Zimmi standen religiöse
Selbstverwaltungseinheiten, die Millets. Die Millets gliederten sich nach Konfessionen.
Am Anfang des Osmanischen Reiches bestand auch ein muslimisches Millet, in der
späteren Entwicklung bezog sich jedoch der Begriff Millet ausschließlich auf die NichtMuslime. Die drei ursprünglichen Millets waren das orthodoxe, das armenische
(armenisch-orthodox) und das jüdische Millet, im Lauf der Zeit kamen weitere Millets
hinzu, die im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend nach nationalen und weniger
religiösen Kriterien eingerichtet wurden.4
Das Millet gliederte die osmanische Gesellschaftspyramide vertikal. Die jeweiligen
Millets besaßen ihre eigene Hierarchie und Verwaltung. Mit Hilfe der Millets sicherte
das Osmanische Reich die Kontrolle über die nicht-muslimische Bevölkerung. Zugleich
stellten die Millets ein Rechtssystem dar, das das Leben der nicht-muslimischen
Untertanen des Reiches regelt. Nicht-Muslime hatten, im Gegensatz zu Muslimen, auch
die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft „horizontal“ zu bewegen, da sie zum Islam
übertreten können. In der Frühphase der Millets waren die religiösen Grenzen noch
fließend, so konvertierten große Teile der christlichen Bevölkerung auf dem Balkan zum
Islam. Jedoch im 18. und 19. Jahrhunderts erstarrten die Millets, unter anderem bestärkt
durch ein Heiratsverbot zwischen Christen und Muslimen. Zwischen den Millets gab es
auch kaum gemischte Ehen, da die Einheiten, trotz ihres Nebeneinanders oftmals
parallel lebten und kaum persönliche Kontakte besaßen.
2
Sugar, Southeastern Europe under Ottoman Rule, 31-44, 271-273
3
Ebd., 55 f..
4
Ebd., 44 f.
6
Dem Osmanischen Reich war das Konzept der Nation fremd. Obwohl es Übertritte zum
Islam gab, hat das Osmanische Reich nicht versucht, die Bevölkerung zu assimilieren
oder eine „osmanische Identität“ zu propagieren. Das politische System des Reiches zog
Nutzen aus dem Fortbestand anderer Religionen, da die Steuerzahlungen der NichtMuslime nicht unerheblich zur Finanzierung der Hohe Pforte beitrug. Da jedoch kein
einheitliches osmanisches Staatsvolk entstand, wurde die osmanische Herrschaft
zunehmend im frühen 19. Jahrhundert als Besatzung empfunden und die jeweiligen
Millets bildeten geschlossene sub-Gesellschaften. Schließlich setzten sich die religiösen
Führer zunehmend auch für die säkularen Belange ihrer Bevölkerungsgruppe ein. Die
Millets sicherten den Fortbestand von verschiedenen christlichen Gruppen und Juden
und erhielten somit den „Flickenteppich“ verschiedener, teils kleiner, Konfession im
Osmanischen Reich.
Die Millets hatten als religiöse Strukturen keine territorialen Grenzen, sondern umfaßten
eine Religion auf dem gesamten Gebiet des osmanischen Reiches. Nur selten, wie bei
den Maroniten im Libanon, war die Religionsgemeinschaft auf einen kleinen Raum
konzentriert. Die Zentren der Millets war meist in Istanbul.
Obwohl sich die Millets durch ihre Konfession definierten, besaßen sie umfangreiche
säkulare Aufgaben. Sie besaßen ein eigenes Zivilrecht und durften eigene Schulsysteme
aufbauen.5 In manchen Gebieten führte dies zu einem verhältnismäßig modernen
Schulsystemen, während in anderen Teilen des Reiches, so in Bosnien, die Ausbildung
rückständig blieb. Erst die österreichisch-ungarische Verwaltung führte in Bosnien zu
dem Aufbau eines modernen Schulsystems (vgl. Kapitel 2.2.1.). Im Libanon hingegen
ermöglichte diese Autonomie den Aufbau eines eigenständigen und verhältnismäßige
modernen Schulsystems durch die europäischen Großmächte und die Vereinigten
Staaten. Schon bald besaßen die christlichen Millets des Libanon ein besseres
Ausbildungssystem als die muslimische Bevölkerung. Dieser Vorsprung blieb bis heute
weitgehend erhalten. Das Millet-System hat bis heute beide Länder beeinflußt. So
besteht im Libanon nach wie vor ein unterschiedliches Zivilrecht für alle Konfessionen.
In Bosnien hat das Millet-System hingegen die Bildung von Nationalitäten nach
religiösen Kriterien begünstigt.6
Die Tanzimat Reformen
Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Führung des Osmanischen Reiches klar, daß nur
eine Reform den weiteren Abstieg des Reiches verhindern konnte. Insbesondere die
beiden Sultane Selim III. (1789-1807) und Mahmud II. (1808-1839) reformierte das
Militär, die Landwirtschaft und das Wirtschaftssystem. Durch die Reformen wurde die
Verwaltung modernisiert und die Kompetenzen der islamischen Gerichtshöfe auf Ehe-,
Erb- und Scheidungsrecht begrenzt. Im Rahmen der Reformen wurden erstmals
Ministerien geschaffen. Insgesamt sollte die Verwaltung nach europäischem Vorbild
umgestaltet werden. Die alte Elite wurde zunehmend durch besonders ausgebildete
Bürokraten ersetzt. Die Tanzimat Reformen sollten die Zentralverwaltung der Hohen
5
Ebd., 273 f.
6
Zu den Auswirkung des Millet-Systems auf die Entwicklung von Nationalbewegungen im
osmanischen Teil Südosteuropas s. Hugh Seton-Watson, Nation and States. An Enquiry into the
Origin of Nations and the Politics of Nationalism (London 1977) 143-146. Für das gesamte
Osmanische Reich s. Georges Corm, L'europe et l'orient. De la balkanisation à la libanisation:
Histoire d'une modernité inaccomplie (Paris 1991) 28-36, 44-59.
7
Pforte stärken, ein einheitliches und modernes Steuersystem einzuführen und das
islamische Recht durch europäische Gesetze zu ersetzen.7
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhundert entstand unter der nicht-muslimischen Bevölkerung
ein wirtschaftlich erfolgreicher Mittelstand. Dieser stellte das Millet-System in Frage, in
dem Geistliche die politische und rechtliche Vorherrschaft genossen. Mit einem
Reform-Dekret wurden die Millets 1856 weitgehend säkularisiert. Der Sultan ersuchte
die Millets um eigene Reformvorschläge und regelte die Einkommen der Geistlichkeit.
Die Millets erhielten eine neue Verfassung und den jeweiligen Führern wurde eine
gewählte Ratsversammlung zur Seite gestellt. In diesen Versammlungen wurden
erstmals der nicht-religiösen Elite des Millets eine Repräsentation zugesichert. Dies
führte zu dem Widerstand der jeweiligen Patriarchen, Rabbiner und anderer religiöser
Führer, die zu Recht einen Machtverlust befürchteten.8
Im Rahmen der Reformen wurde Versuche von der osmanischen Verwaltung
unternommen, die Nicht-Muslime mit den Muslimen gleichzustellen. Dies hätte die
Einführung der Wehrpflicht für Nicht-Muslime und die Abschaffung der Kopfsteuer
bedeutet. Zudem hätten Nicht-Muslime ohne Einschränkungen in allen Bereichen der
Verwaltung arbeiten dürfen. Diese Reformansätze stießen jedoch auf Widerstand von
allen Seiten. Die religiösen Führer der Millets widersetzten sich der Säkularisierung und
der Entmachtung ihrer Position. Auch die Mehrheit der nicht-muslimischen
Bevölkerung zog die Zahlung der Kopfsteuer einer Wehrpflicht vor. Die Millets waren
in dem Widerspruch gefangen, einerseits eine Sonderrolle zu beanspruchen und sie mit
europäischer Hilfe durchzusetzen und andererseits eine Gleichberechtigung zu
verlangen. Die Reformpläne wurden aufgegeben.9
Die Millets hatten zwei unterschiedliche Auswirkungen auf das Osmanische Reich:
Einerseits wirkten zentrifugal und zugleich hielten sie das Reich zusammen. Die
Nationalbewegungen, die aus und zugleich auch gegen die Millets auf dem Balkan, aber
auch ansatzweise in der arabischen Welt, entstanden, trugen zum Zerfall des Reiches
bei. Weiterhin bildeten Millets Allianzen mit europäischen Großmächten, die hierdurch
die Macht der Hohen Pforte aushöhlten. So genossen viele Christen im osmanischen
Reich Exterritorialität durch die von der Schutzmacht verliehene Staatsbürgerschaft.
Allein in Istanbul lebten 1886 130.000 (15,3 %) Ausländer, von denen ein Großteil
gebürtige Osmanen mit ausländischem Rechtsstatus waren. Neben Einfluß verlor das
Osmanische Reich hierdurch auch Steuern.10
Zugleich hielten jedoch die Millets das Reich zusammen. Die Netzwerke weit
verstreuter Millets, für die das Osmanische Reich einen gemeinsamen Rahmen schuf,
waren oftmals an einem Fortbestehen des Landes interessiert. Insbesondere die in unter
den religiösen Minderheiten stark vertretenen Händler und Geschäftsleute, trugen zur
Einheit des osmanischen Reiches bei.
Die Reformen gingen mit einem zunehmenden europäischen Einfluß auf das
Osmanische Reich einher, doch erst deren partielles Scheitern ermöglichte es den
7
Stanford J. Shaw, Ezel Kural Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II:
Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808-1975
(Cambridge/London/New York/Melbourne 1977), 55, 71, 105.
8
Ebd., 123-125.
9
Ebd., 127 f.
10
François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire
Ottoman (Paris 1989) 540 f., 554.
8
europäischen Großmächten ihren Einflußbereicht auszudehnen: Ende 1875 kam es zum
osmanischen Staatsbankrott. Im folgenden Jahr gelangte die Finanzverwaltung unter
weitgehende europäische Kontrolle (Dette Publique Ottomane).11 In Folge dieser Krise,
die durch Aufstände in der Herzegowina verstärkt wurde, mußte der Sultan Murad V.
(1876) abtreten. Sein Nachfolger Abdulhamit II. (1876-1909) war nicht nur mit der
Finanzkrise, sondern auch mit serbischen und montenegrinischen Gebietsansprüchen
auf Bosnian und Mazedonien konfrontiert. Zudem droht ein Krieg mit Rußland um
Bulgarien. Diese Krise der Hohen Pforte ebnete den Weg zum Verlust BosnienHerzegowinas 1878.
Unter dem neuen Sultan erreichten die Reformen des Osmanischen Reiches ihren
Höhepunkt. Bereits im ersten Jahr seiner Herrschaft wurde eine Verfassung
verabschiedete und die ersten Parlamentswahlen durchgeführt. Der Sultans verlor
dadurch jedoch kaum an Macht. Er konnte die Verfassung in Krisensituationen
aufheben und den Ausnahmezustand ausrufen. Der Sultan mußte sich nicht für sein
Handeln rechtfertigen und konnte weiterhin Gesetze per Dekret verabschieden. Somit
wurde das Osmanische Reich trotz Verfassung nicht in eine konstitutionelle Monarchie
umgewandelt.
In der Verfassung wurden alle Bürger des Reiches unabhängig von ihrer Religion
gleichgestellt. Somit beendete die Verfassung die formale Benachteiligung von NichtMuslimen. Der Islam blieb jedoch Staatsreligion und der Sultan war nach wie vor Kalif
und somit das Oberhaupt des Islam. Die Millets blieben auch erhalten, ihnen wurde
lediglich eine interne Säkularisierung vorgeschrieben.12
Der russisch-türkische Krieg 1877 zeigte die militärische Schwäche des Osmanischen
Reiches. Die russische Armee konnte trotz schwerer Verlust bis in die unmittelbare
Nähe von Istanbul ziehen. Erst dort kam es zu einem Waffenstillstand zwischen der
Hohen Pforte und Rußland. Der russische Plan zur Errichtung eines großbulgarischen
Staates schien sich im ersten Friedensvertrag von San Stefano 1878 zu erfüllen. Den
anderen europäischen Großmächte gelang es jedoch diesen Plan im Rahmen eines
eigens einberufenen Kongresses in Berlin zu vereiteln. Bulgarien erhielt ein deutlich
kleineres Territorium und unterstand formal weiterhin dem Osmanischen Reich.
Gleichzeitig verlor das Osmanische Reich den Einfluß über weite Teile Südosteuropas:
Bosnien-Herzegowina und das Sandžak Novi Pazar (südlich von Bosnien, zwischen
Montenegro und Serbien) kamen unter die Verwaltung Österreich-Ungarns (vgl. Kapitel
2.2.1.), Serbien, Montenegro und Rumänien erhielten ihre formale Unabhängigkeit.
Ostrumelien erhielt innere Autonomie und schloß sich nur 7 Jahre später Bulgarien an.
Die europäische Territorien unter osmanischer Herrschaft reduzierten sich
dementsprechend auf Thrakien, Mazedonien und die albanischen Provinzen. Bald
darauf verlor das Reich ein Teil Armeniens an Rußland, Tunesien an Frankreich,
Ägypten und Zypern an Großbritannien. Die Niederlage im russisch-türkischen Krieg
hatte auch Folgen für die Reformen. So löste der Sultan das Parlament auf, da es die
Kriegsführung in Folge der Niederlage kritisiert hatte. Der Sultan führte die Reformen
11
Zum Staatsbankrott s. Josef Matuz, Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte
(Darmstadt 1985) 244-248.
12
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 166-178; Matuz, Das
Osmanische Reich, 232-238.
9
jedoch fort und baute die Verwaltung nun vollständig nach europäischem Vorbild um
und ersetzt die alten Institutionen durch Ministerien.13
Die Jungtürken
Die Tanzimat Reformen bildeten die Vorläufer für die Jungtürken-Bewegung, die mit
Ende des 19. Jahrhunderts entstand. Die Jungtürken entstammten meist dem Militär.
1889 gründeten Studenten Militärakademie ein Geheimkomitee mit dem Namen
„Einheit oder Fortschritt“, der offizielle Name der Jungtürken. Zentrum der Jungtürken
war Saloniki und die osmanischen Gebiete auf dem Balkan. Sie setzten sich für eine
türkische Identität ein und versucht das Osmanische Reich in einen zentralistischen
Staat zu verwandeln. Ihnen gingen die Tanzimat-Reformen nicht weit genug. Deshalb
standen sie in Opposition zum Sultan. Die Ziele der Jungtürken stießen bei den übrigen
Religionsgruppen auf Widerstand.14 Die Bedeutung dieses Widerstandes wird deutlich,
wenn man sich den Anteil der nicht-türkischen Bevölkerung vergegenwärtigt. 1884
lebten nur 9,8 Millionen Einwohner des Osmanischen Reiches in Anatolien. 4,8 Million
waren auf dem Balkan Zuhause, in den arabischen Provinzen lebten weitere 4,4
Millionen Einwohner. Die Bevölkerung des Reiches bestand zwischen 1881 und 1893
aus ca. 73 % Muslimen und 23 % Christen.15 Zu Anfang arbeiteten sie mit den Christen
gegen die absolutistische Herrschaft Abdulhamit II. zusammen, die Christen konnten
jedoch der zentralistischen Linie der Jungtürken nicht folgen. Der Versuch eine
einheitliche türkisch-osmanische Identität zu schaffen stieß nicht nur bei den Christen
auf Widerstand. Viele Araber lehnten diesen Versuch der Assimilierung ab.16
1908 kam es zu der Revolution der Jungtürken, die Stanford Shaw als eines der
merkwürdigsten Ereignisse der Geschichte bezeichnet. Die Jungtürken strebten zwar
eine Machtübernahme durch eine Revolution an, die 1908 stattfindende Revolution war
jedoch nicht geplant sondern eher ein spontaner Aufstand. Grund für die Revolution war
die schlechte wirtschaftliche Lage, insbesondere im europäischen Teil des Osmanischen
Reiches. Während die europäischen Großmächte eine Stärkung des Osmanischen
Reiches durch die Machtübernahme der Jungtürken ab 1908 vermuteten, bewirkte die
Revolution das Gegenteil. Diese Sorge der Großmächte führte unter anderem zur
Annexion Bosniens 1908, da Österreich-Ungarn einen erneuten Anspruch des
Osmanischen Reiches auf die Provinz befürchtete. Die türkische Orientierung der
Jungtürken stärkte jedoch in der arabischen Welt die Abkehr vom Osmanischen Reich,
hin zu panislamischen oder panarabischen Bewegungen. Den bosnischen Muslime
wurde hingegen deutlich, daß eine Protektion durch die Hohe Pforte ausgeschlossen
13
Ebd., 182-195, 212 f.; Georges Castellan, Histoire des Balkans. XIVe-XXe siècle (Paris 1991) 315321.
14
Der Name stammt von einem Maroniten, Hali Ganim, der im französischen Exil ein Zeitung namens
„La Jeune Turquie“ publizierte. Matuz, Das Osmanische Reich, 249-251.
15
Da die Volkszählungen und anderen Erfassungen der Bevölkerung sehr ungenau waren und stets
nach Religionszugehörigkeit, nicht nach Nation, klassifiziert wurden, läßt sich nur schwer
bestimmen, wieviele Einwohner des Osmanischen Reches keine Türken waren. s. Donald Quataert,
The Age of Reforms, 1812-1914, in: Hadil Inalcik, Donald Quataert (Hg.) An Economic and Social
History of the Ottomon Empire, 1300-1914 (Cambridge 1994) 779-782.
16
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 255.
10
blieb.17 Die Entwicklung des Libanon, insbesondere während des 1. Weltkrieges, wurde
direkt von den Jungtüren betroffen.
Die Jungtürken setzten mit ihrer Machtübernahme die Verfassung von 1876 wieder in
Kraft. Sultan Abdulhamit nützte die Annexion Bosniens durch Österreich-Ungarn als
Vorwand um einen Versuch zu unternehmen die Jungtürken zu entmachten. Die
militärische Stärke der Jungtürken führte jedoch zur Absetzung des Sultan. Sein Bruder
Mehmet V. (1909-1918) wurde sein Nachfolger. Obwohl „Einheit oder Fortschritt“
zwar die Machtbefugnisse des Sultans beschneiden konnte, gelang es nicht, den Staat
grundlegend zu reformieren. Die Aufstände in Albanien 1910-1911 und der erste
Balkankrieg 1912 schwächte die Macht der Jungtürken und des Osmanischen Reiches
weiter.18
2.1.2 Die Geschichte Bosniens im Osmanischen Reich
In den ca. 400 Jahren osmanischer Herrschaft bildeten sich die bis in die Gegenwart
sichtbaren Eigenarten Bosniens hervor. Bosnien war, wie auch der restliche Balkan, eine
stark landwirtschaftlich geprägte Gegend, der durch die osmanische Herrschaft eine
urbane Struktur aufgelegt wurde. Eine Neuerung bildet die klare Hierarchie, die allen
ihren Platz zuweist und auch den untersten Schichten Schutz gewährt. Darin besteht ein
Fortschritt zur teils willkürlichen Herrschaft der mittelalterlichen Reiche Südosteuropas.
Allerdings stellt das Osmanische Reich auf dem Balkan nicht eine völlig neue
Herrschaftsform dar, da es in vielen Bereichen auf byzantinistische Traditionen
zurückgreift.19
Bei dem Niedergang der osmanischen Herrschaft in Bosnien seit dem 18. Jahrhundert
spielten zwei Faktoren eine Rolle. Erstens identifizierte sich die christliche Bevölkerung
identifizierte immer weniger mit dem Reich. In der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts
entstehen die ersten Nationalbewegung in Südosteuropa, die sich gegen die Hohe Pforte
richteten. Für Bosnien ist hierbei der serbische Nationalismus von Bedeutung. Die
bosnische Bevölkerung wurde jedoch erst spät von der kroatischen und serbischen
Nationalbewegung erfaßt. Weiterhin riefen die Reformversuchen im 19. Jahrhundert
zunehmend den Widerstand muslimischer Großgrundbesitzern hervor. Schließlich
beeinflußte das zunehmende Interesse der europäischen Großmächte an Gebieten der
Hohen Pforte die Entwicklung des Staates nachteilig.20
Reformversuche
Die Tanzimat Reformen hatten in Bosnien besondere Auswirkungen. Im Zentrum der
Reformen stand die Abschaffung der Janitscharen, des Elitekorps des Osmanischen
Reiches. Dieses Heer entsprach nicht mehr der modernen Kriegsführung und hatte sich
zu einem korrupten Apparat außerhalb der direkten Kontrolle der Hohen Pforte
entwickelt. Viele Janitscharen gehörten den bosnischen Großgrundbesitzern (Begs) an.
Die Abschaffung der Janitscharen 1826 führte zu einer Revolte der Janitscharen in
Istanbul, die nur aufgrund der guten Vorbereitung des Sultans niedergeschlagen werden
17
Ebd., 266 f., 273-277; François Georgeon, Le dernier sursaut (1878-1908) in: Robert Mantran (Hg.)
Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 569-576.
18
Matuz, Das Osmanische Reich, 251-256.
19
Hierzu s. Nicoară Beldiceanu, L'organisation de l'Empire ottoman (XIVe-XVe siècles) in: Robert
Mantran (Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 117-138.
20
Francine Friedman, The Bosnian Muslims. Denial of a Nation (Boulder, Col. 1996) 32 f.
11
konnte.21 Der Widerstand der bosnischen Janitscharen konnte erst durch eine
Strafexpedition 1827 gebrochen werden.22
In Bosnien standen die muslimischen Begs an der Spitze der lokalen Hierarchie. Sie
besaßen die Ländereien (Chiftliks) auf denen christliche Leibeigene (Kmeten) arbeiteten
(zur Struktur der Landwirtschaft vgl. Kapitel 2.2.1.). Als Reaktion auf die Entfremdung
von der Zentralverwaltung stellten die Begs zunehmend Privatarmeen auf, die nicht nur
gegen die Kmeten sondern auch gegen die Hohe Pforte eingesetzt wurden. So kam es
zwischen 1820 und 1840 zu insgesamt vier Aufständen der bosnischen Begs. Auch viele
christliche Geistliche lehnten die Reformen ab, da sie um ihre privilegierten Positionen
innerhalb des orthodoxen Millets fürchteten.23
Die osmanischen Reformen konnten erst sehr spät in Bosnien umgesetzt werden. Erst
dem Gouverneur Ömer Lüfti Paşa (1860-61, ein ehemaliger österreichischer Offizier aus
Kroatien) gelang es, die feudalen Strukturen zu überwinden und die Reformen
umzusetzen. Unter ihm wurde auch die Hauptstadt von Travnik nach Sarajevo verlegt.
Sein Nachfolger Topal Osman Paşa (1861-1869) führte eine Verwaltungsreform durch
und schuf einen Rat aus den Vertretern der größten Konfessionen Bosniens. Er richtete
säkulare Schulen ein und verbesserte die Infrastruktur.24
Frühe *ationalbewegungen
Die kroatischen Franziskaner in Bosnien spielten eine große Rolle bei der Erziehung
und wurden zu einem der frühen Träger der kroatischen Nationalbewegung in Bosnien.
Unter der Serben Bosniens nahm die serbisch-orthodoxe Kirche eine ähnliche Rolle ein.
So gab es um 1860 380 katholische und über 400 orthodoxe Priester in Bosnien. Das
Schulwesen der Christen, ein Schlüssel zur nationalen Entwicklung, lag ebenfalls unter
der Kontrolle der beiden Kirchen. So unterstanden der katholischen Kirche um 1860 27
Grundschulen und Gymnasien in den größeren Städten, während die orthodoxe Kirche
zehn Jahre später zwischen 28 und 57 Grundschulen in Bosnien betrieb.25
Die Muslime Bosniens waren von zwei gegensätzlichen Identitäten geprägt: Einerseits
teilten sie den Glauben mit der osmanischen Staatsreligion, andererseits vereinte sie die
slawische Herkunft mit Kroaten und Serben. So wurden die Muslime selbst in Istanbul
als Bošnjaci (Bosniaken) oder als Potur (islamisierte lokale Bevölkerung) bezeichnet.
Lediglich die christliche Bevölkerung Bosniens und gelegentlich auch die Muslime
selber bezeichneten sich als Turci, um von der christlichen Bevölkerung unterschieden
zu werden. Während Serben und Kroaten im 19. Jahrhundert in Bosnien bereits eine
rudimentäre nationale Identifikation entwickelten, gab es unter der muslimischen
Bevölkerung noch kaum eine ethnischer oder nationale Identität.26
Das Ende osmanischer Herrschaft
21
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 19-21.
22
Noel Malcolm, Bosnia: A Short History (London 1994) 120 f.
23
Friedman, The Bosnian Muslims, 34-37.
24
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 149 f. Zur administrativen
Gliederung Bosniens im Osmanischen Reich s. Andereas Birke, Die Provinzen des Osmanischen
Reiches (=Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients Reihe B 13, Wiesbaden 1976) 44-47.
25
Malcolm, Bosnia, 126.
26
Friedman, The Bosnian Muslims, 43, 46; Smail Balić, Das Unbekannte Bosnien. Europas Brücke
zur islamischen Welt (=Kölner Veröffentlichung zur Religionsgeschichte 23, Köln/Weimar/Wien
1992) 4, 36-38.
12
Das Ende osmanischer Herrschaft über Bosnien-Herzegowina läßt sich auf interne und
externe Faktoren zurückführen. So entstand durch die zaghafte Ausbreitung der
Marktwirtschaft im 18. Jahrhundert eine neue soziale Schicht unter der nichtmuslimischen Bevölkerung, die die Bauern zu Revolten gegen die Hohe Pforte anführte.
Die Reformversuche des Osmanischen Reiches bestärkten lediglich diese rudimentären
Nationalbewegungen. Der Bau einer orthodoxen Kirche in Sarajevo wurde ein
Kristallisationspunkt des Konflikts zwischen Muslimen und Christen. So herrschte
Streit darüber, ob der Kirchturm höher als die Minarette der Begova Moschee sein
dürften und über die Glocken der Kirche, die in den meisten osmanischen Städten
verboten waren. Der osmanische Gouverneur mußte oft in Auseinandersetzungen wie
dieser schlichten.27 Nach einer schlechten Ernte 1874 kam es in der Herzegowina zu
einem Aufstand der Bauern gegen die Steuereintreiber. Auch wenn die Mehrheit der
rebellierenden Bauern Christen waren, stand die wirtschaftliche Not und nicht religiösen
Forderungen im Zentrum des Aufstandes. Der Aufstand breitete sich schnell in andere
Teile Bosniens aus.
Auf der anderen Seite spielten externe Faktoren eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
So gelangten Waffenlieferungen durch Montenegro, Serbian und Ungarn an die
Aufständischen.28 Bosnien stellte wegen seiner militärischen Instabilität im Hinterland
der dalmatinischen Küste für Österreich-Ungarn eine Gefahr dar. So weißt Donia darauf
hin, daß es bereits seit 1856 österreichische Pläne gab, Bosnien zu annektieren. Die
Vereinigung Deutschlands 1870 verschloß der k.u.k Monarchie eine weitere Expansion
gen Westen, so daß der Balkan als einziges Gebiet zur weiteren Ausbreitung verblieb.29
Zugleich richtete der autonome serbische Staat sein Interesse auf Gebiete mit serbischer
Bevölkerung. So formulierte der serbische Innenminister Ilija Grašanin 1844 das
Expansionsprojekt „*ačertanije“ (Plan, Entwurf). In diesem beschrieb er unter anderem
einen Plan zur Mobilisierung der serbischen Bevölkerung und zur Vereinnahmung
Bosniens. Im Juli 1877 versuchten Serbien und Montenegro diesen Plan umzusetzen.
Der Angriff schlug jedoch weitgehend fehl und Serbien konnte nur durch russische
Intervention von einer osmanischen Besetzung bewahrt werden.30 Der direkte Auslöser
für das Ende der osmanischen Herrschaft über Bosnien war der Krieg zwischen Rußland
und der Türkei und der folgende Vertrag von San Stefano (vgl. Kapitel 2.2.1).
2.1.3. Die Geschichte des Libanon im Osmanischen Reich
Im Zentrum der historischen Entwicklung des Libanon steht der Mont Liban. Mont
Liban oder der kleine Libanon entsprach einer Bergkette, die entlang des Mittelmeeres
liegt. Dieses Kerngebiet des Libanon beginnt hinter Tripoli im Norden und zieht sich
entlang der Küste bis Sidon. In diesem Gebiet dominierten zwei Konfessionen:
Maroniten und Drusen (vgl. Tabelle 1). Beide Religion umfaßten nur wenige Mitglieder
und siedelten sich in der Bergregion des Mont Liban an, um Verfolgungen zu entgehen.
Die maronitische Kirche geht auf den Mönch Maron zurück, der die Maroniten am
Orontes gründete. Um der schnellen Ausbreitung des Islam zu entgehen, flohen die
Maroniten im 7. Jahrhundert von Nordsyrien in das Libanongebirge. Durch die
27
Malcolm, Bosnia, 131.
28
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 158 f.
29
Robert J. Donia, Islam under the Double Eagle: The Muslims of Bosnia and Hercegovina, 18781914 (New York 1981) 8 f.
30
Malcolm, Bosnia, 127, 133.
13
Kreuzzüge kamen sie in Kontakt mit Europa. Dies führte im 11. Jahrhundert zu einer
Unierung mit der katholischen Kirche und zu engen Beziehungen mit Frankreich.31
Die Religion der Drusen entstand 1015 durch Muhammed ibn Ismail Daraze als
Abspaltung der Ismailiten, ein Zweig des schiitischen Islam. Die Selbstbezeichnung ist
Muwahhidun (Unitaristen). In einigen Glaubenselementen geht die Religion jedoch auf
vorislamische Sekten im Mittelmeerraum zurück. Kurz nach der Gründung wurde ein
weiterer Übertritt zur Religion untersagt. Seitdem kann niemand mehr der Religion
beitreten. Die Drusen trennen sich auf religiöser Ebene in eine Gruppe der Elite ('uqqal),
die als einzige in den Glauben völlig eingeweiht sind und jene Gläubigen (juhhal), die
nur teilweise über das Drusentum unterrichtet sind. Von den anderen islamischen
Glaubensrichtungen wurden die Drusen lange Zeit als Ketzer behandelt. Heute werden
sie von diesen nicht als Muslime anerkannt. Grund dafür ist die Ablehnung der „fünf
Säulen“ des Islam32 durch die Drusen. Im Drusentum finden auch christliche Propheten,
sowie griechische Philosophen, wie Plato, Anerkennung.33 Die anderen Konfessionen,
sowie Sunniten, Schiiten und christliche Gruppen, spielten erst in der späteren
Entwicklung des Libanon eine größere Rolle.
Die osmanische Herrschaft beließ den Libanon weitgehende Autonomie. Der lokale
Herrscher war ein Emir, dessen bekanntester, Fakhraddine II., am Anfang des 17.
Jahrhundert über ein Gebiet in den Grenzen des heutigen Libanon regierte. Ab 1778 war
der Emir stets ein Maronit. Die Autonomie führte zu einer religiösen Toleranz, die im
Nahen Osten unbekannt war.34
Die osmanische Herrschaft über das Gebiet des heutigen Libanon war von Brüchen und
Intermezzos durch andere Machthaber geprägt. Während eine kleine griechische Flotte
1826 erfolglos versuchte Beirut einzunehmen, gelang es dem Sohn des ägyptischen
Herrschers Muhammad Ali zwischen 1831 und 1839 den Libanon zum dominieren. Die
Kontrolle über Syrien, Libanon und Palästina wurde vom Sultan anerkannt. Aufstände
und die Opposition der europäischen Großmächte, abgesehen von Frankreich bereiteten
jedoch der ägyptischen Herrschaft über den Libanon ein Ende.35 Die kurze ägyptische
Herrschaft brachte dem Libanon einen Modernisierungsschub: Kleidervorschriften für
Christen und Juden wurden aufgehoben, konsultative Räte wurden eingerichtet und in
Damaskus und Aleppo eröffnete Großbritannien ein Konsulat.36 Erstmals wurden die
Christen Muslimen weitgehend gleichgestellt. So wurden die Steuern angeglichen und
Christen in die Armee eingezogen. Diese soziale und politische Aufwertung brachte
Konvertierungen zum maronitischen Christentum mit sich. Die Christen verbündeten
sich trotzdem mit den Drusen gegen die ägyptische Fremdherrschaft. Nur dank
31
Helga Anschütz, Paul Harb, Christen im Vorderen Orient, Kirchen, Ursprünge, Verbreitung. Eine
Dokumentation (=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 10, Hamburg 1985) 6165.
32
Fasten während Ramadan, Pilgerfahrt nach Mekka, fünf Gebete pro Tag, Almosen,
Glaubensbekenntnis.
33
Zum Glauben der Drusen s. Cyril Glassé, The Concise Encyclopedia of Islam (San Francisco 1989)
103 f.; Najla M. Abu-Izzedine, The Druzes (Leiden 1984).
34
Charles Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 1800-1914, in: Albert Hourani,
The Lebanese on the World: A Century of Emigration (London 1992) 15 f.
35
Robert Mantran, Les débuts de la Question d'Orient (1777-1839) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire
de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 447 f.
36
Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 14, 18.
14
europäischer Unterstützung konnten sich die Aufständischen durchsetzen und der Mont
Liban wurde erneut zu einem autonomen Teil des osmanischen Reiches.37
Zwischen 1840 und 1867 war der Libanon zwischen drei osmanischen Vilayets
(Provinzen) aufgeteilt. So gehörte der Norden zum Vilayet Tripoli, die Bekaa-Ebene
stand unter der Administration von Damaskus und der Süden wurde von Sidon aus
verwaltet. In der Realität entzog sich ein Großteil des heutigen Libanon den Vilayets
und wurde lokal verwaltet.38
Unruhen im Mont Liban
Im Mont Liban kam es in dieser Zeit zu mehreren Kämpfen (1841, 1845, 1860)
zwischen Drusen und Christen. Gründe für die Auseinandersetzungen war das
Bevölkerungswachstum der Christen, verbunden mit einem Prestigezuwachs, einer
zunehmenden Einmischung und Instrumentalisierung der Bevölkerungsgruppen durch
Großbritannien und Frankreich und die direkte Verwaltung und Zentralisierung durch
Sultan Mahmud II.. Malcolm Kerr weist darauf hin, daß bis in die vierziger Jahre des
19. Jahrhunderts die Auseinandersetzungen im Libanon feudaler39 Natur waren und
durch die Großfamilien geprägt wurden, während in den folgenden Jahren religiöse und
konfessionelle Spannungen zunahmen. Diese Konflikten besaßen jedoch oftmals
ökonomische Ursachen. So führten Spannungen zwischen den überwiegend christlichen
Großgrundbesitzern und den meist drusischen Bauern zu etlichen Aufständen. 40
1833
1860
Mont Liban
Mont Liban
Grand Liban
Maroniten
130.000
60,5 %
172.500
63,9 %
208.108
42,7 %
Orthodoxe
10.000
4,7 %
27.100
10,0 %
33.475
6,9 %
Katholiken
3.000
1,4 %
20.400
7,6 %
68.040
13,4 %
Drusen
65.000
30,2 %
28.560
10,6 %
44.160
9,1 %
Sunniten
2.500
1,2 %
7.795
2,9 %
76.565
15,7 %
Schiiten
3.000
1,4 %
13.200
4,9 %
55.100
11,3 %
Gesamt
215.000
269.980
Tabelle 1: Bevölkerungschätzungen des Mont Liban und des Grand Liban
487.600
41
Die Beziehungen zwischen Maroniten und Drusen galten bis etwa 1840 als friedlich.
Beide Konfessionen besaßen eine gemeinsame Politik gegenüber der Hohen Pforte.
Unter der Verwaltung vom letzten Shihabib (Verwalter des Mont Liban) Bashir III.
kommt es zu ersten Kämpfen zwischen Christen und Drusen, infolgedessen fliehen
etliche Maroniten nach Beirut, wo sie von den osmanischen Truppen, die die Ruhe
wiederherstellen sollten, angegriffen und ausgeraubt wurden. Ein Protestnote
37
Malcolm Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 1840-1860 (Beirut 1959) 2.
38
Zur administrativen Gliederung des Libanon im Osmanischen Reich s. Birke, Die Provinzen des
Osmanischischen Reiches, 242-251.
39
Nur manche historische Kategorien europäischer Prägung lassen sich auch auf den Nahen Osten
übertragen, so gab es nur im Libanon eine soziale Stuktur im 19. Jahrhundert, die sich als feudal
beschreiben ließe. hierzu siehe Kerr, Lebanon in the last years of feudalism.
40
Ebd., 3.
41
Die Schätzung 1860 stammt von der französischen Armee, Youssef Courbage, Philippe Fargues, La
Situation Démographique au Liban. Analyse des Données (Beirut 1974) 11.
15
Frankreich, Großbritanniens und Rußlands an den Paşa beschuldigte die osmanische
Verwaltung der Komplizenschaft mit den Drusen. Der Konflikt war jedoch sehr viel
harmloser als spätere Auseinandersetzungen und forderte nur etwa 300 Opfer, meist
Drusen. Als Folge der Auseinandersetzung wurde der Libanon direkter osmanischer
Kontrolle unterstellt und erstmals wurde ein Nichtaraber42 Gouverneur des Gebiets. Der
Libanon wurde daraufhin in zwei Gebiete aufgeteilt. Der Norden fiel der Verwaltung
eines christlichen Untergouverneurs zu, während der Süden von einem Drusen verwaltet
wurde, die Grenze bildete die Straße von Beirut nach Damaskus. Im Norden lebten etwa
74.000 Maroniten, 25.000 griechisch-katholische Einwohner, 23.000 Orthodoxe und
10.150 Drusen, während im Süden 25.450 Drusen, 17.350 Maroniten, 5.200 Orthodoxe
und 15.590 unierte Christen lebten.
Somit war die Bevölkerung nach wie vor gemischt, wenn es auch zu einer gewissen
Konzentration auf beiden Seiten gekommen war. Im Süden bildeten jedoch alle
christlichen Gruppen zusammen eine Mehrheit gegenüber den Drusen. Die französische
Regierung protestierte gegen die Aufteilung und forderte eine gemeinsame Verwaltung.
Auch der osmanische Außenminister lehnte die Aufteilung ab. Er sah sie als
Provokation für einen Bürgerkrieg.43 Tatsächlich kam es 1845 zu ersten
Auseinandersetzungen, nachdem Christen 14 drusische Dörfer niedergebrannt hatten,
stießen sie mit osmanischen Einheiten zusammen.
Während die Drusen als Bevölkerungsgruppe relativ geschlossen blieb, fand unter der
maronitischen Bevölkerung aufgrund ihres wirtschaftlichen Aufschwungs eine soziale
Differenzierung statt. In Folge kam es zu sozialen Konflikten. So kam es 1858 zu eine
Bauernrevolte, in dessen Folge sich der Anführer Shahin zum Diktator über ein
Bauernland erklärte. Der Aufstand wurde von der Kirche unterstützt, die durch die
Großgrundbesitzer zuvor unterdrückt worden war.
Der Krieg 1860
Schließlich eskalierten die Spannungen zwischen Drusen und Christen zu den
Massakern von 1860. Die größten Kämpfe fanden im Süden statt, wo Maroniten und
Drusen am engsten nebeneinander wohnten, zuerst griff die osmanische Armee nicht
ein. Später ermordeten Armee-Einheiten jedoch Christen, die sich unter deren Schutz
gestellt hatten. Insgesamt starben etwa 12.000 Menschen, die Ausbreitung des Konflikts
nach Damaskus forderte dort weitere 10.000 Opfer unter der christlichen Bevölkerung.44
Die Eskalation der Kämpfe führte zu einem Beschluß der europäischen Großmächte
(Frankreich, Großbritannien, Preußen, Rußland und Österreich), mit Truppen zu
intervenieren. Bevor Frankreich als einziges der fünf Länder 7.000 Soldaten nach Beirut
schicken konnte, sorgte die osmanische Verwaltung unter Außenminister Fu‘ad für
Ruhe und bestrafte die osmanischen Beamten und Einheiten, die mit den Drusen
kollaboriert hatten oder inaktiv geblieben waren. Eine internationale Kommission sollte
die Schuldigen finden und eine Lösung für das Gebiet erarbeiten. Während Österreich
42
Ein Ungar mit dem Namen ‘Umar Pasha al-*amsawi (Der Österreicher).
43
Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 20.
44
Bis heute ist Hauptschuld an dem Konflikt zwischen Maroniten und Drusen umstritten, vgl. die
Position der Drusen in Najib Alamuddin, Turmoil. The Druzes, Lebanon and the Arab-Israeli
Conflict (London 1993) 128-134 und die Position der Maroniten in Jad Hatem, The critical role of
the Maronites, International Maronite Congress (Los Angeles, Ca. 23-26.6.1994)
http://www.primenet.com/ ~maronet/ga_papers/hatem.html.
16
und Preußen die osmanische Verteidigung der Drusen unterstützten, trat neben
Frankreich auch Rußland für die Christen ein.45
Die Autonomie des Libanon in Folge dieser Unruhen leitet eine neue Phase in der
Entwicklung des Gebiets ein. Der Mont Liban unterstand weiterhin dem Osmanischen
Reich, genoß jedoch eine Autonomie, die ihm eine unabhängige und relativ ruhige
Entwicklung bis zum 1. Weltkrieg ermöglichte (vgl. Kapitel 2.2.2.).
2.1.3 Zusammenfassung
Das 19. Jahrhundert war von Krisen und Reformversuchen des Osmanischen Reiches
geprägt. Bosnien und der Libanon bereiteten dem Reich größere Krisen. Sie führten
dazu, daß Bosnien am Ende des Jahrhunderts zwar noch unter osmanischer Souveränität
stand, jedoch de facto bereits Bestandteil Österreich-Ungarn war. Der Libanon blieb
zwar stärker im Einflußbereich des Osmanischen Reiches, wurde jedoch zum Zentrum
europäischen Einflusses im Nahen Osten.
Die erwähnten Krisen waren zum Teil interner Natur und wurden unter der Bevölkerung
des Libanon und Bosniens ausgetragen. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts kam es
zwischen den Drusen und Christen, insbesondere Maroniten, des Libanons zu
kriegerischen Auseinandersetzungen. In Bosnien bestanden im 19. Jahrhundert zwar
durchaus Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften, doch führten diese nicht
zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Ursachen für den Aufstand in der
Herzegowina 1874 war stärker als im Libanon wirtschaftlicher Natur.
Der Libanon war stärker ausländischem Einfluß ausgesetzt. Auch wenn es ein
Engagement für Bosnien auf serbischer und österreichischer Seite vor 1878 gab, war das
Ausmaß sehr viel geringer als der vergleichbare französische Einfluß im Libanon. Im
Libanon fand eine rege missionarische Aktivität statt (vgl. Kapitel 2.2.2.). Die
Missionen kontrollierten das Schul- und Gesundheitswesen. Weiterhin erfuhren die
Konfessionen des Libanon Unterstützung von den verschiedenen Großmächten.
Frankreich hatte bereits seit der frühen Neuzeit enge Beziehungen zu den katholischen
Christen in der Levante. 1648 gab Ludwig XIV. den Maroniten ein Schutzversprechen.
Dieser Anspruch wurde in einer „Kapitulation“ (Vertrag) zwischen dem Osmanischen
Reich und Frankreich von 1673 festgeschrieben. Dieser Schutz Frankreichs erstreckte
sich auf alle Katholiken in der Levante.46 Frankreich nahm Das Recht jedoch erst seit
dem 19. Jahrhundert, mit zunehmendem kolonialem Interesse, in vollem Umfang wahr.
Großbritannien setzte sich hingegen für die Drusen ein. Durch die unterschiedlichen
Engagements der europäischen Großmächte wurden die konfessionellen Differenzen
weiter zugespitzt.
Rußland erhob den Anspruch alle orthodoxen Christen des osmanischen Reiches zu
schützen. Nach einem verlorenen Krieg gegen Rußland stimmte das Osmanische Reich
1774 der Errichtung einer orthodoxen Kirche in Istanbul zu. Katharina II. interpretierte
dieses Zugeständnis als Anerkennung der russischen Schutzmacht über alle orthodoxen
Christen. Dieser Anspruch Rußland besaß jedoch kaum Einfluß auf die Orthodoxen im
45
Dies entsprach dem Schutzmachtsanspruch Rußlands über die orthodoxe Bevölkerung und
Frankreichs über die katholischen Christen des Osmanischen Reiches, vgl. Kapitel 2.1.3, Phillip K.
Hitti, Lebanon in History (London 1962) 433-440.
46
Gilles Veinstein, Les provinces balkaniques (1606-1774) in: Robert Mantran (Hg.) Histoire de
l'Empire Ottoman (Paris 1989) 319.
17
Libanon. Rußland versuchte mit diesem Recht die Expansion auf dem Balkan zu
legitimieren.47
Auf die Frage, weshalb sich außer Österreich-Ungarn keine andere europäische
Großmacht in gleicher Weise in Bosnien engagiert hat, gibt es eine naheliegende
Antwort: Im Gegensatz zum Libanon mit seiner Küste und dem Zugang zur restlichen
arabischen Welt besaß Bosnien nie eine derart wichtige strategische Lage. Das Fehlen
einer eigenen Küste (bis auf ca. 20 Kilometer bei Neum) und die geographische
Umklammerung durch Kroatien beziehungsweise Österreich-Ungarn, gab und gibt
Bosnien keine unter strategischen Gesichtspunkten wichtige Lage. Die gebirgige
Topographie des Landes erschwerte zudem den Transport auf dem Landweg. So führen
auch die wichtigsten Verkehrswege des Balkans an Bosnien vorbei.48
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß das Ende osmanischer Herrschaft in Bosnien
und die Autonomie für den Libanon durch das Zusammenwirken der erwähnten internen
und externen Faktoren bedingt wurde. Der Aufstand in der Herzegowina 1875 und die
Kämpfe zwischen Drusen und Maroniten erleichterten bzw. begründeten eine
Einmischung der europäischen Großmächte. In der Folgezeit kam es in beiden Gebieten
erstmals zu einer größeren Modernisierung auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene.
Weiterhin entstanden zwischen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem Ende des 1.
Weltkrieges erste politische Bewegungen und Parteien im Libanon und in Bosnien.
2.2. Bosnien unter der Verwaltung Österreich-Ungarn, der autonome Libanon
2.2.1. Bosnien-Herzegowina als Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie
Die Angliederung Bosniens an die österreichisch-ungarische Monarchie bildet eine
Zäsur in der Geschichte der Provinz. Einerseits vollzog sich hierdurch ein Wechsel von
der Herrschaft eines mittelalterlich geprägten Großreiches zu einem Vielvölkerstaat.
Während erstmals alle Kroaten in einem Staat lebten, wenn auch durch
Verwaltungsgrenzen getrennt, fand sich die muslimische Bevölkerung Bosniens
erstmals in einem nicht-muslimischen Staat wieder. Die serbischen Einwohner Bosniens
gelangten nicht, wie erhofft, zu Serbien, sondern zur Donaumonarchie. Damit entstand
ein Auslöser für die zunehmenden Spannungen zwischen Serbien und ÖsterreichUngarn.
Die Besetzung und Verwaltung Bosniens
Die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn war ein Ergebnis des
Berliner Kongresses von 1878 (vgl. Kapitel 2.1.1.). Ziel Österreich-Ungarns war es, den
russischen Einfluß auf dem Balkan zurückzudrängen und den Status-Quo mit dem
Osmanischen Reich zu erhalten. Somit dürfte die Verwaltung Bosniens in erster Linie
eine Versuch gewesen sein, zu verhindern, daß Serbien und dadurch Rußland die
Einflußsphäre nach Bosnien ausdehnt.49
Noch vor Abschluß des Berliner Kongresses wurde die bevorstehende Okkupation
Bosniens durch Österreich-Ungarn bekanntgegeben. Diese Ankündigung führte zur
Bewaffnung der muslimischen Bevölkerung und der Vorbereitung des Widerstandes.
47
Castellan, Histoire des Balkans, 201-203.
48
Karl Kaser, Südosteuropäische Geschichte und Geschichtswissenschaft (Wien/Köln 1990) 28-31.
49
Castellan, Histoire des Balkans, 347-350 und Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and
Modern Turkey, Bd. II, 187-191.
18
Ende Juli 1878 proklamierte der Kaiser den österreichisch-ungarischen Einmarsch und
unterstrich die Einwilligung des Sultan.50 Auch wenn die Zustimmung der Hohen Pforte
widerwillig erfolgte, ging der größte Widerstand von der lokalen Bevölkerung und nicht
vom Osmanischen Reich aus. Dementsprechend verlief die Besetzung, entgegen den
Erwartungen der neuen Herrscher Bosniens, nicht konfliktfrei. So mußte die Monarchie
ein Drittel ihrer mobilisierten Truppen in Bosnien einsetzen. Insgesamt standen 200.000
Soldaten Österreich-Ungarns 79.200 Aufständischen und 13.800 osmanischen Truppen
gegenüber. Erst nach drei monatigen Kämpfen konnte Österreich-Ungarn die
vollständige Kontrolle über Bosnien herstellen.51
In der Monarchie wurde der Anschluß Bosniens nicht nur begrüßt; so befürchteten
insbesondere Ungarn und die Deutsch-Österreicher der Monarchie einen Machtverlust
zugunsten der slawischen Bevölkerung. Weiterhin herrschte keine Einigkeit darüber, zu
welcher Reichshälfte Bosnien gehören solle. Für Bosnien wurde schließlich eine
Sonderregelung beschlossen, die eine Entscheidung zugunsten einer Reichshälfte
vermied. Bosnien wurde somit vom Gemeinsamen Finanzministerium verwaltet. Da der
Reichsrat eine finanzielle Unterstützung für den Aufbau Bosniens ablehnte, fehlten
Geldmittel für die Verwaltung und zugleich entzog sich die Verwaltung der Provinz
parlamentarischer Kontrolle. Donia zieht den Schluß, daß die Architekten der
österreichisch-ungarischen Bosnienpolitik Beamte und nicht Politiker waren. Da das
Budget, über das das k.u.k. Finanzministerium zu verwalten hatte, war verhältnismäßig
gering, so daß sich schon balb das Ministerium vorrangig mit der Verwaltung Bosniens
beschäftigte.52
Nach der Verwaltungsübernahme erkannte Österreich-Ungarn die religiöse
Oberherrschaft des Sultans über die Muslime an, gestattete weiterhin die Benützung der
osmanischen Währung und übernahm die wenigen osmanischen Verwaltungsbeamten.53
Der Einfluß des Osmanischen Reiches reduzierte sich jedoch drastisch in den Jahren der
österreichisch-ungarischen Verwaltung.
Auch die Verwaltungseinteilung blieb gleich, nur die Namen änderten sich. So wurden
aus den Sandžaks Kreise und Kazas, aus Kadiluks wurden Bezirke. Die Zahl der
Beamten und Soldaten erhöhte sich jedoch dramatisch mit der österreichischungarischen Machtübernahme. Während nur 120 osmanische Beamte Bosnien
verwalteten, erhöhte sich die Zahl auf 9.533 im Jahr 1908. Im November 1881, zur Zeit
von größeren Aufständen in der Herzegowina, standen zusätzlich 12.840 Soldaten in
Bosnien und 4000 in der Herzegowina.
Offiziell galt in Bosnien Militärrecht, die osmanischen Gesetze galten jedoch fort, bis
sie mit der Zeit durch neue österreichische Gesetze ersetzt wurden. Insbesondere die
Sharia wurde weiter angewandt, in der religiöse Belange der Muslime geregelt
50
Austrian Proclamation on the Entrance of Austro-Hungarian Troops into Bosnia and the
Herzegovina, 28.7.1878, in: Snežana Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents. From its
creation to its dissolution (Dordrecht/Boston/London 1994) 96-98
51
Martha M. Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in
Bosnien-Herzegowina (1878-1914) (Bern/Frankfurt/New York/Paris 1987) 25-28.
52
Da die Finanzminister, die Bosnien verwalteten, Politiker waren und auch ihre Handeln veranworten
mußten, ist die These Donia's zur fehlenden Demokratie nur teils glaubhaft, insbesondere nach 1908.
Donia, Islam under the Double Eagle, 11.
53
Siehe Convention between Austria-Hungary and Turkey Respecting the Occupation and
Administration by Austira-Hungary of the Provinces of Bosnia and Herzegowina, with Annex,
Constantinople, 21.4.1879, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 101-103.
19
wurden.54 Ziel der österreichischen Politik war jedoch die Einführung des Rechtsstaats
und einer geordneten Verwaltung.
Die zentrale Persönlichkeit der österreichisch-ungarischen Verwaltung war Kállay, der
k.u.k. Finanzminister von 1882 bis 1903. Als Autor einer Geschichte Serbiens
übernahm ein Experte Bosniens und der Region die Aufgabe der Verwaltung der
Provinz. Kállay hoffte, mit einer effizienten Administration wirtschaftlichen
Aufschwung und infolgedessen auch größere Unterstützung durch die lokale
Bevölkerung zu sichern. Zugleich förderte Kállay das Bosniakentum (Bošnjaštvo) unter
allen Einwohnern Bosniens, um irridentistischen Bestrebungen der Serben, aber auch
der kroatischen Bevölkerung entgegenzuwirken. Ziel der Politik war es, ein Loyalität
aller Nationen zu Bosnien zu schaffen und hierdurch Bosnien aus dem von
Nationalbewegungen geprägten Umfeld herauszuhalten. Kállay führte auch die
Bezeichnung Bosnaklar ein, um von dem bisherigen Begriff für die Muslime Bošnjaci
zu unterscheiden. Unter der kroatischen und serbischen Bevölkerung jedoch stießen
diese Maßnahmen auf wenig Erfolg. Teile der muslimischen Bevölkerung akzeptierten
das Konzept. Die Bemühungen waren möglicherweise kontraproduktiv, da sich
Moslems dem konservativen Islam zuwandten und sich durch diese Identitätsfindung
stärker von den anderen beiden Nationen abgrenzen konnten. Mit dem Konzept des
Bosniakentum war die Hoffnung verbunden, daß die Muslime zum Christentum
konvertieren. Dieser Glaube basierte auf der Annahme, daß die Muslime nur aus
Gründen materiellen Vorteils im 15. und 16. Jahrhundert zum Islam übergetreten seien.
Dementsprechend müßte eine Umkehrung der Vorzeichen eine Rückkonvertierung
bewirken. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht, unter österreichisch-ungarischer
Herrschaft kam es kaum zu Konvertierungen. Man kann davon ausgehen, daß die
Identität der drei Religionsgemeinschaften zu diesem Zeitpunkt bereits gefestigt war.
Auf Kállay‘s Tod 1903 folgte István Freiherr Burián von Rajecz, der zwischen 1903 und
1912 und gegen Ende des 1. Weltkrieges amtierte. Anders als Kállay bemühte er sich
nicht um die Etablierung des Bošnjaštvo, sondern gestattete Kroaten und Serben ein
stärkeres Besinnen auf die eigenen Nationszugehörigkeit. Als Ergebnis entstanden
Nationalparteien.55
Die Agrarfrage und die wirtschaftliche und soziale Modernisierung
Die Landwirtschaft bestimmte die wirtschaftliche Struktur Bosniens. Bosnien war 1878
ein bäuerliches Gebiet, 87 % der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. Die
Besitzverhältnisse führten zur sogenannten „Agrarfrage“, die das politische Geschehen
der österreichisch-ungarischen Verwaltung prägte. In der Blütezeit des Osmanischen
Reiches bekamen die Soldaten und Beamten des Sultans Militärlehen zugewiesen. Die
auf diesem Land ansässigen, in der Regel christlichen Bauern (Kmeten), hatten den
Lehensinhaber durch Abgaben zu unterhalten. Im 16. und 17 Jahrhundert wurde diese
54
Die Sharia ist die Gesetzesammlung nach dem Koran und der Überlieferung (Sunna) und lokalen
Tradition. Die Sharia Bosniens folgte der Rechtsschule Hanafi, die im Osmanischen Reich
angewandt wurde. hierzu s. John Alden William, Der Islam (Genf 1973) 115-119, 231-238.
Aufgrund der verschiedenen in Kraft befindlichen Gesetze kam es öfters zu größerer
Rechtsverwirrung, Malcolm, Bosnia, 138 f.
55
Zur Bošnjaštvo-Politik Kállays s. Smail Balić, Das Bosniakentum als nationales Bekenntnis, in:
Österreichische Osthefte, Nr. 2/91, Jhrg. 33, 157; Aydin Babuna, Die Elite und die nationale
Entwicklung der bosnischen Muslime. Mit besonderer Berücksichtigung der österreichischungarischen Periode (Dissertation Wien 1994) 181-202.
20
Lehen erblich. Die Güter (Ciftluk oder Agaluk) gehörten meist muslimischen
Großgrundbesitzern (Begs oder Agas). Die Mehrheit der Kmeten waren orthodox, es gab
jedoch auch katholische und muslimische Kmeten. Die Kmeten erhofften von der neuen
Verwaltung die Abschaffung des Kmetentums und die Verteilung des Landes. Erst nach
der Annexion widmet sich Österreich-Ungarn einer Reform der Landwirtschaft. Das
lange Zögern läßt sich durch fehlendes Geld für Entschädigungen der Begs und Agas
zurückführen. Weiterhin wollte die Monarchie nicht die muslimische Elite gegen sich
aufbringen.56 Die Agrarfrage nahm zunehmend einen nationalen Charakter an. Da die
Mehrheit der Begs Muslime und die Kmeten Großteils Serben waren, kam es zu
Spannungen zwischen beiden Nationen. Die Mehrheit der Muslime waren jedoch
Kleinbauern mit weniger als 50 Hektar Boden. (s. unten).
Während die Agrarfrage lange Zeit ungelöst blieb, kam es zu einer wirtschaftlichen und
sozialen Modernisierung des Landes in anderen Bereichen. In der osmanischen Zeit war
ein öffentliches Schulwesen fast inexistent. Die Unterrichtssprache war türkisch und
richtete sich fast ausschließlich an die muslimische Bevölkerung. Die Fortschritte unter
österreichisch-ungarischer Herrschaft waren groß. Im Vergleich zur restlichen
Monarchie und anderen Balkanstaaten blieb das Schulwesen jedoch sehr rückständig. In
Bosnien besuchten 1908 nur 15 Prozent der Kinder Alter eine Grundschule. Weiterhin
gab es nur 12 höhere Schulen und keine Universität. Aus politischen Gründen war es
Schülern verboten, eine Universität in slawischer Sprache zu besuchen. Die Zahl der
Studenten aus Bosnien blieb somit klein. Erst nach der Annexion erhöhte sich die Zahl
der Schulen, blieb jedoch weit hinter dem Durchschnitt der Monarchie und sogar
Serbiens zurück. Am höchsten war die Zahl der katholischen Kinder in den
Primärschulen. Doch auch unter den Katholiken stieg der Prozentsatz an Schulgängern
in der entsprechenden Altersgruppe in der gesamten Zeit der Herrschaft ÖsterreichUngarn nicht über 50 Prozent.
Das schlechte Ausbildungssystem hatte eine konstant hohe Analphabetenrate zur Folge.
So konnten 1910 87,8 Prozent der bosnischen Bevölkerung weder lesen noch schreiben
(Dalmatien: 62,7 %, Istrien 40,2 %). Der höchste Anteil lag bei den Muslimen mit über
90 Prozent.57
Der wirtschaftliche Aufbau des Landes, ein vorrangiges Ziel der Verwaltung ÖsterreichUngarns, wurde nur teilweise erreicht. Die dafür notwendige Verbesserung der
Infrastruktur scheiterte Großteils an dem Widerstand Ungarns. Weiterhin fehlte es an
Kapitel zum Aufbau von Industrien und Infrastruktur. Lediglich der Abbau von
Rohstoffen wurde in Bosnien recht erfolgreich betrieben. Am bedeutendsten war die
Holzindustrie. Da es in der Provinz große Holzvorräte und billige Arbeitskräfte gab,
konnte dieser Wirtschaftszweig eine zentrale Rolle in der bosnischen Wirtschaft
einnehmen. Die inneren Unruhen trugen nicht zu einem günstigen wirtschaftlichen
56
Kurt Wessely, Die Wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina, in: Adam Wandruszka,
Peter Urbanitsch (Hg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. I: Alois Brusatti (Hg.) Die
wirtschaftliche Entwicklung (Wien 1973) 562-565 und Ferdinand Hauptmann, Die Mohammedaner
in Bosnien-Herzegovina, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch, Die Habsburgermonarchie 18481918, Bd. IV: Die Konfessionen (Wien 1985) 677 f.
57
Hierbei ist nicht zu vergessen, daß in religiösen Schulen meist Arabisch Unterrichtssprache war, so
daß viele Kinder im Serbokroatischen Analphabeten waren, aber zumindest Arabisch lesen und
schreiben konnten. Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 699 und ČupićAmrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina,
314-319.
21
Klima bei und schreckten potentielle Investoren ab. Peter Sugar betont, daß der späte
Zeitpunkt der politischen und sozialen Reformen, erst nach der Annexion, einen
wirtschaftlichen Aufschwung verzögert hat. Peter Sugar kommt zum Schluß, daß
Bosnien zu größeren sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Lage gewesen
wäre, als dies in dieser Zeit der Fall war. Er führt dies auf mangelndes Engagement und
Fehler Österreich-Ungarns zurück. Zugleich gesteht er der österreichisch-ungarischen
Zeit Fortschritte zu.58
Die *ationen Bosniens und die österreichisch-ungarische Verwaltung
In Bosnien entwickelten sich die Voraussetzungen für die Ausbreitung von
Nationalbewegungen erst spät. So weist Mark Pinson darauf hin, daß 1866 die erste
Druckerei öffnete und es um 1875 noch keinen Buchladen in Sarajevo gab.59 Auch
waren die meisten Zeitungen aus den Nachbarländern, also nicht nur aus Serbien,
sondern auch aus Kroatien, Slawonien und Dalmatien verboten. Selbst das von Kállay
verfaßte Buch zur serbischen Geschichte war in Bosnien nicht zu erhalten. Diese
Verbote sind als Versuch zu werten, die Nationalbewegungen der Umländer von
Bosnien fernzuhalten.60
Lediglich die kroatische Bevölkerung hieß die österreichische Verwaltung willkommen,
auch wenn sich ihre Hoffnung, mit Kroatien vereint zu werden, nicht erfüllte. Die
politischen Aktivitäten der Kroaten in Bosnien wurden zu Anfang von
Franziskanermönchen dominiert. Zunächst deckt sich ihre Position mit der liberalen
Politik Strossmayers. Der Bischof von Djakovo, zu dessen Bistum bis 1878 auch
Bosnien gehörte, strebte einen Ausgleich mit der Orthodoxie und der serbischen
Bevölkerung innerhalb Österreich-Ungarns an. Er war ein Verfechter des
Jugoslawismus und gründete die Jugoslawische Akademie. Bereits kurze Zeit nach dem
Beginn österreichisch-ungarischer Verwaltung wandten sich die Franziskaner der Politik
der Partei des Rechts zu. Diese war weniger an einem Ausgleich mit der serbischen
Bevölkerung interessiert, als an einer Autonomie Kroatiens innerhalb ÖsterreichUngarns. Die Loyalität zu Österreich-Ungarn und der Versuch der Partei des Rechts
Bosnien an Kroatien anzunähern schreckte die anderen ethnischen Gruppen Bosniens
ab. Dies führte zu einem politischen Bündnis zwischen Serben und Muslimen in
Bosnien.1
Die Forderung kroatischer Politiker, Bosnien mit Kroatien zu vereinen, dominiert die
gesamte Zeit österreischisch-ungarischer Herrschaft. So baten kroatischer Politiker
1906 bei Travnik in einer Petition an Kaiser Franz Joseph Bosnien an Kroatien
anzuschließen. Nikola Mandić bildete 1907 die Hrvatska *arodna Zajednica (NationalKroatischer Verein, CNU), die sich bald zu einer Partei entwickelt. Neben ihr entstand
die Hrvatska katolička udruga (Kroatisch-Katholische Gesellschaft, CCA). Beide
strebten eine Union mit Kroatien an und erklärten die Muslime zu Kroaten islamischen
Glaubens.61
58
Peter Sugar, Industrialization of Bosnia-Hercegovina, 1878-1918 (Seattle 1963) 193-220.
59
Marc Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, in:
Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina. Their Development from the Middle Ages
to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993) 90.
60
Dušan T. Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina. History & Politics (Paris 1996) 66.
61
Friedman, The Bosnian Muslims, 61, 70-72.
22
Die Serben in Bosnien forderten in erster Linie das Recht, die Führung der serbischorthodoxen Kirche unabhängig vom Kaiser zu bestimmen, die Eröffnung von serbischen
Schulen und die Zulassung des kyrillischen Schrift. Der Versuch der Monarchie, die
serbisch-orthodoxen Kirchen Bosniens dem Patriachat von Karlowitz zuzuordnen, stieß
auf serbischen Widerstand. Somit blieb die serbisch-orthodoxe Kirche dem Patriachat in
Istanbul unterstellt.62 Gerade die katholische Ausrichtung der Habsburgermonarchie
wurde von der serbischen Bevölkerung mit Argwohn betrachtet. So fürchtete die
serbische Nationalbewegung zunehmende Missionstätigkeit der katholischen Kirche zu
Lasten der serbisch-orthodoxen Kirche. Der politischen Führung der bosnischen Serben
gelang es jedoch nicht, von den Moslems in diesen Forderung unterstützt zu werden.
Der Aufstand 1881-82 gegen die Einführung der Wehrpflicht in der Herzegowina wurde
zu einem Großteil von Serben angeführt. Die folgende Repression der Kirche und
Schulen konnte den serbischen Widerstand nur zeitweise brechen.63 1896 reiste eine
serbische Delegation nach Wien und beklagte sich in einer Petition an den Kaiser über
die Einschränkung der inneren Autonomie. Sowohl der k.u.k. Finanzminister Benjamin
Kállay, als auch der Patriarch in Konstantinopel lehnten eine Änderung der orthodoxen
Kirchenorganisation ab, weil sie darin eine Serbisierung befürchteten. In den folgenden
Jahren herrschte Konfrontation zwischen den Behörden und den Metropoliten auf der
einen sowie den gewählten Gemeindevorstehern auf der anderen Seite. 1901 legte die
serbische Opposition dem Kaiser ein Memorandum vor, in dem sie die Landesregierung
für die Zwietracht in der bosnischen Orthodoxie verantwortlich machte. Die
Landesregierung wies das zurück und alles blieb beim Alten. Erst unter dem
Finanzminister Stefan Burian von Rajecz kam es 1903 zu einer Einigung, und 1905
konnte ein neues Statut für die orthodoxen Gemeinden verkündet werden, dasden
Gemeinden aber nur wenig mehr Mitspracherecht einräumte. Die Autonomiebewegung
hat das nationale Bewußtsein unter den bosnischen Serben stark gefördert. Eine ähnlich
Bewegung gab es 1899-1907 auch bei den Muslimen.64
In der Zeit österreich-ungarischer Verwaltung konnten sich serbische Zeitungen und
Vereine gut entwickeln. So bestanden 1906 acht Zeitungen und Zeitschriften in
kyrillischer Schrift. Die größte Zeitung war Srpska Rječ mit einer Auflage von 3.000
Exemplaren.
Vor der Annexion 1908 entwickelten sich Vereine aller Nationen, aus denen nationale
Organisationen hervorgingen. So stieg die Zahl der serbischen Vereine von 43 1904 bis
1912 auf 337. Neben den nationalistischen Turnvereinen (u.a. Sokol), nahm Prosveta
eine zentrale Rolle unter diesen Vereinen ein. Sie verteilte Stipendien an serbische
Studenten und Schüler, veröffentlichte eine Zeitung und erhielt den Kontakt zu Serben
außerhalb Bosniens. Aus dieser regen Vereinsbildung heraus entstand im Jahr 1907 die
Serbisch-Nationale Organisation (Srpska narodna organizacija, SNO). Sie forderte
Autonomie für Bosnien, strebte jedoch langfristig einen Anschluß an Serbien an. Wie
die meisten kroatischen Parteien bezeichnete die SNO die Muslime als „konvertierte
62
Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in BosnienHerzegowina, 60.
63
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 68, 70 f.; Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die
österreichisch-ungarische Herrschaft in Bosnien-Herzegowina, 65.
64
Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in BosnienHerzegowina, 66-82; Dimitrije Djordjević, Die Serben, in: Adam Wandruszka, Peter Urbanitsch,
Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Bd. III, Teilbd. 1: Die Völker des Reiches (Wien 1980) 768771.
23
Serben“. Um nicht die Unterstützung der muslimischen Bevölkerung zu verlieren,
vermieden die serbischen Parteien und Vereine, eine Landwirtschaftsreform zu fordern.
Trotzdem mußten auch sie eine Verbesserung der Stellung der Bauern verlangen. Dies
stellte eine schwierige Gradwanderung für die Partei dar. Die politischen Strömungen in
der Herzegowina waren damals nationaler, als im restlichen Bosnien, so daß dort die
nationale Komponente im Forderungskatalog der serbischen Parteien einen
dominanteren Platz einnahm.
Anders als bei Kroaten und Serben in Bosnien fehlte den Muslimen eine regionale
religiös-kulturelle Autorität. Die Orientierung nach und Protektion von Istanbul ließ
eine derartige Struktur während der osmanischen Herrschaft nicht entstehen. Somit
ergab sich die Schwierigkeit für die Muslime, sich selber zu definieren. Die Muslime in
Bosnien, anders als im arabischen Teil des Osmanischen Reiches, waren mit der MilletStruktur zufrieden waren.
Auf Betreiben der muslimischen Bevölkerung trennte der Kaiser 1882 die islamische
Hierarchie von der osmanischen und führte den Reis-ul-Ulema als geistliches Oberhaupt
der bosnischen Muslime ein. Ihm stand ein vierköpfiges Gremium, die MedžlissiUlemas zur Seite, die den Religionsunterricht überwachten. Im folgenden Jahr wurde
die Landes-Vakuf-Kommission geschaffen, die die Vakufs verwaltete. Da die
Mitglieder der Kommission von der Regierung ernannt wurden, genossen sie nicht die
Akzeptanz der muslimischen Bevölkerung. Die Vakufs, islamisch-kulturelle Stiftungen
zum Erhalt von Moscheen, Brücken, Herbergen, Schulen und religiösen Einrichtungen,
blieben trotzdem von der österreichisch-ungarischen Verwaltung weitgehend unberührt.
Diese Stiftungen stellten jedoch einen bedeutsamen wirtschaftlichen Faktor dar. So
konnte ein Spender seine Erben zu den Verwaltern des Vakufs ernennen, die dann eine
fast steuerfreie Stiftung leiten konnten. 1878 befand sich ein Drittel des Landes in
Bosnien in dem Besitz von Vakufs, nach islamischen Recht konnten sie auch nicht in
Privatgrund zurück verwandelt werden.65
1870
1879
1910
Orthodoxe
534.000
37,2 %
496.485
43,0 %
825.418
43,5 %
Muslime
694.000
48,3 %
449.000
38,9 %
612.137
32,2 %
Katholiken
208.000
14,5 %
209.000
18,1 %
434.061
22,9 %
26.428
1,4 %
1.898.044
100 %
Andere
unbekannt
-
unbekannt
-
Gesamt
1.436.000
100 %
1.154.485
100 %
Tabelle 2: Ergebnis der Volkszählungen von 1870, 1879 und 1910
66
Die großen Unterschiede in den Forderungen und Zielen der muslimischen
Großgrundbesitzer und der Bauern machte eine einheitliche Politik noch lange Zeit
unmöglich. So forderte die muslimische Bewegung eine Reform des Landbesitzes. Die
muslimischen Großgrundbesitzer dämpften allerdings diese Bemühungen. Auch
formierte sich erst am Ende des 19. Jahrhunderts eine Schicht muslimischer
Intellektueller, die sich zu einer Trägerschicht der muslimischen Nation hätten
entwickeln können. Die Probleme der Identitätsfindung der Muslime zeigt sich auch an
65
Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 686-689.
66
Justin McCarthy, Ottoman Bosnia, 1800 to 1878, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of BosniaHerzegovina. Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia
(Cambridge, Ma 1993) 81; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.
24
den großen Emigrationsströmen in das Osmanische Reich. Es gibt verschiedene
Angaben über die Zahl der Auswanderer. Nach den offiziellen Zahlen ÖsterreichUngarns verließen zwischen 1883 und 1905 32.625 Muslime das Land, nur 4.042
kehrten zurück. Die Zahl schließt jedoch nicht jene ein, die zwischen 1878 und 1883
Bosnien verließen, sowie die illegalen Emigranten. Nach einigen Schätzungen waren es
ungefähr 100.000. (zur Zahl der Muslime in Bosnien s. Tabelle 2) Zur gleichen Zeit gab
es auch eine wirtschaftlich motivierte Emigration aller Nationen Bosniens und aus den
Nachbarregionen nach Übersee, insbesondere in die Vereinigten Staaten.67
In Mostar bildete sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine muslimische
Bewegung für kulturelle und religiöse Autonomie. Im August 1900 traf ein Komitee von
Muslimen aus ganz Bosnien zusammen, um einen Forderungskatalog an den Kaiser zu
richten. In erster Linie wurde der fehlende Schutz des islamischen Glaubens und
unzureichende religiöse und kulturelle Autonomie kritisiert. Insbesondere der Übertritt
von Muslimen zum Christentum führte immer wieder zu heftiger Kritik an der
Verwaltung Österreich-Ungarns. Dem islamischen Glauben zufolge ist eine
Konvertierung zu einer anderen Religion nicht zulässig. Ein Konvertierungsstatut von
1891 sollte diese Übertritte regeln, indem es Hürden für den Übertritt zum Christentum
errichtete. In der Praxis unterlief die katholische Kirche diese Regelung mit Billigung
der Monarchie. So führte die Kirche geheime Übertritte durch und versteckte
übergetreten Muslime.68
Die ersten Schritte einer muslimischen Bewegung fielen mit dem Erstarken der
kroatischen und serbischen Nationalbewegung in Bosnien zusammen. Der Großteil der
Moslems sah den anti-osmanischen und anti-muslimischen Kurs der serbischen
Nationalbewegung als Bedrohung und orientierte sich an dem kroatischen Gegenstück.
Einzelne Muslime identifizierten sich jedoch stärker mit der serbischen Nation. So
unterstützte der bedeutende muslimische Großgrundbesitzer Šerif Arnautović die
serbische Forderung nach einem Anschluß Bosniens an Serbien.69
Ähnlich wie bei Kroaten und Serben bildeten auch die Muslime in den ersten Jahren des
20. Jahrhunderts ihre ersten nationalen Vereine. Der bedeutendste war die Nationale
Muslimische Organisation (Muslimanska narodna organizacija, MNO). Die
Forderungen dieser Organisation blieben jedoch weniger klar formuliert, als jene der
serbischen oder kroatischen Nationalbewegungen. Die muslimische Identität war
geringer ausgeprägt und kein Nachbarstaat oder Gebiet stand als Vorbild und
Unterstützung bereit. Auch war die nationale muslimische Bevölkerung in Bosnien
stärker sozial gespalten als die anderen beiden Nationen.70
Die Annexion
Am 5. Oktober 1908 annektierte Österreich-Ungarn Bosnien-Herzegowina. Die
internationale Reaktion auf diesen Schritt fiel weitaus heftiger aus, als die tatsächlichen
Folgen für Bosnien. Durch die Annexion wurde lediglich der Status-Quo formalisiert,
67
Malcolm, Bosnia, 139 f.; Babuna, Die Elite und die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime,
36-40.
68
Tatsächlich traten zwischen 1879 und 1899 nur 32 Muslime zu einem anderen Glauben über, 29
traten von anderen Religionen zum Islam über. Die katholische Kirche hingegen verlor mehr als
doppelt so viele Gläubige (79) und konnte nur 36 Beitritte melden. s. Hauptmann, Die
Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 693 f.; Malcolm, Bosnia, 145 f.
69
Babuna, Die Elite und die nationale Entwicklung der bosnischen Muslime, 126-137
70
Zur Entstehungsgeschichte der Partei s. ebd. 238-250.
25
doch sowohl auf serbischer Seite, als auch von den Großmächten kam Kritik an dem
Schritt Österreich-Ungarns.71 Das Osmanische Reich beschloß ein Warenboykott
österreichisch-ungarischer Produkte. Die zwang Österreich-Ungarn zu einem
Entgegenkommen gegenüber der Hohen Pforte. Das Sandžak Novi Pazar, das 1878
zusammen mit Bosnien-Herzegowina unter österreichisch-ungarische Verwaltung
gefallen war, wurde dem Osmanischen Reich zurückgegeben. Weiterhin zahlte die
k.u.k. Monarchie der Hohen Pforte 50 Millionen Kronen als Entschädigung für BosnienHerzegowina.72
In Folge der Annexion entstanden die serbischen Gruppen, die später am Attentat auf
Kronprinz Franz Ferdinand beteiligt waren. Anstoß zu der Annexion gab die Besorgnis
über serbische Bemühungen, alle Serben in einem Reich zu vereinen. Insbesondere seit
dem Sturz der österreichfreundlichen Herrschaftsdynastie der Obrenović 1903 und der
Machtübernahme der Familie Karadjordjević verschlechterten sich die Beziehungen
zwischen beiden Staaten. Der erste Höhepunkt war der sogenannte Schweinekrieg 1906,
bei dem Österreich-Ungarn Strafzölle auf serbische Schweine, eines der wichtigsten
Exportprodukte des Landes, erhob. Daraus entwickelte sich eine wirtschaftliche
Auseinandersetzung, die schon bald nationalistische Züge trug.73
Der direkte Auslöser für die Annexion war die Machtübernahme der Jungtürken in
Istanbul, die eine selbstbewußtere und modernere Politik im Osmanischen Reich
verfolgten (vgl. Kapitel 2.1.1.). Die Regierung Österreich-Ungarns befürchtete erneute
Ansprüche auf Bosnien und stellte durch die Annexion die Jungtürken vor vollendete
Tatsachen. Tatsächlich konzentrierten sich die Jungtürken stärker als die Sultane zuvor
auf das Kerngebiet des Osmanischen Reiches. Ein Jahr später kam es zu einem
Abkommen zwischen beiden Reichen, in dem das Osmanische Reich die neuen
Realitäten anerkannte und Ausgleichszahlungen Österreich-Ungarns für die Annexion
vereinbarte.
Zugleich kam es innerhalb Bosniens zu einer Liberalisierung. 1910 wurde erstmals ein
Landtag (Sabor) für Bosnien gewählt. Seine Kompetenzen waren größer als diejenigen
der Landtage der österreichischen Kronländer. Die anderen Gebiete der Monarchie
konnten jedoch auch den Reichsrat bzw. den Reichstag wählen, während die Einwohner
Bosniens nur den Landtag wählten. Weiterhin konnten die beiden Reichsregierungen
und die gemeinsamen Ministerien ein Veto gegen Entscheidungen des bosnischen
Landtages einlegen. Die wichtigste Auflage des Landtages war die Verabschiedung des
Budgets und die Kontrolle der Ausgaben. Das allgemeine Wahlrecht galt noch nicht,
gewählt wurde nach dem Kurienwahlrecht, daß Großgrundbesitzer und die
Höchstbesteuerten überrepräsentierte.74
Im Sabor erhielten die Orthodoxen 37, die Moslems 29, die Katholiken 23 und die
Juden einen Sitz.75 Da die Sitze nach Konfession aufgegliedert waren, fand der
71
Für den Text der Annexionserklärung, sowie den Reaktionen Serbiens und des Osmanischen
Reiches s. Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 106-113.
72
Matuz, Das Osmanische Reich, 252.
73
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 75.
74
Dies stärkte die Repräsentation der Muslime und trug zur muslimischen Akzeptanz der Annexion
bei. s. Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in BosnienHerzegowina, 49-59.
75
Da hiervon 20 Abgeordneten ernannt werden, kommt es in der Literatur oft zu widersprüchlichen
Angaben. Ohne die ernannten Abgeordneten ist Zusammensetzung wie folgt: Orthodoxe 31,
Muslime 24, Katholiken 16 und Juden 1 Sitz, s. Malcolm, Bosnia, 150 f.; Friedman, The Bosnian
26
Wahlkampf zwischen den Parteien der gleichen Religionszugehörigkeit statt. Alle Sitze
der Orthodoxen und der Moslems gingen jeweils an deren wichtigsten Parteien, die
SNO und die MNO. Die kroatischen Sitze teilten sich auf die CCA und die CNU.
Ein Jahr später entstand eine Koalition aus muslimischen und den kroatischen
Abgeordneten. Vor den Annexion war die Zusammenarbeit zwischen Serben und
Muslimen noch stärker gewesen. Die Agrarfrage, die im Landtag behandelt wurde,
führte jedoch zu einer Annäherung zwischen Kroaten und Muslimen.76
Die unter Kállay bereits begonnene Trennung der Muslime von dem Islam außerhalb
Bosniens und der Umma (der gesamten muslimischen Gemeinschaft) setzte sich nach
der Annexion fort. So erhielten die Muslime 1909 ein Autonomiestatut, was
muslimische Politiker seit Jahren gefordert hatten. Sie erhielten nun größere Rechte bei
der Wahl des Reis-ul-Ulema. Dieser wurde von dem Kaiser auf Empfehlung durch die
muslimische Gemeinde ernannt und vom Sultan in Istanbul bestätigt. Muslimische
Kinder wurden in den Statuten dazu verpflichtet vor der allgemeinen Schule den Makteb
(eine religiöse Schule) zu besuchen.77
Zugleich wandten sich die Muslime zunehmend von dem Osmanischen Reich ab. Nach
der Ansicht vieler Muslime hatte das Reich sie durch die Hinnahme der Annexion
verraten. Die Muslime bezeichneten sich nun seltener als Turčin (Türke) und mehr als
Muslimani (Muslime). Das Vakufsystem wurde in Folge der Annexion wieder stärker
muslimischen Forderungen angepaßt, was zu einer weiteren Annäherung zwischen
Muslimen und Österreich-Ungarn führte.78
Insbesondere unter der serbischen Bevölkerung verhärtete sich der Widerstand gegen
die Herrschaft der Habsburger. Unter anderen entstand die Mlada Bosna (Junges
Bosnien), eine anti-klerikale, nationalistische Organisation, die sich gegen die
Donaumonarchie wandte. Der Sieg Serbiens und Montenegros im ersten und zweiten
Balkankrieg (1912 und 1913) stärkte deren Position. Durch den Versuch der SNO und
anderer moderater serbischer Parteien, die muslimischen Großgrundbesitzer in ihre
Parteien einzuschließen, wurden die gemäßigten Kräfte diskreditiert. Dies führte zu
einer Radikalisierung des Parteienspektrums der bosnischen Serben. Obwohl bei diesen
neuen Gruppen, wie Mlada Bosna, nationale Ziele im Vordergrund standen, lag die
Ursache dieser Entwicklung Großteils in der Agrarfrage.79 Der Landtag hatte zwar 1911
die Kmetenablöse beschlossen, die Lösung wurde jedoch von serbischen Nationalisten
abgelehnt. Die Ablöse bedeutete keine Abschaffung der Kmetenverhältnisse und führte
zu einer finanziellen Belastung für die Kmeten. Somit wurde diese Lösung von
serbischen Nationalisten abgelehnt. Kriegsbedingt wurde 1915 die Kmetenablöse
unterbrochen.80
Der zunehmende Widerstand der serbischen Bevölkerung gegen die Herrschaft der
k.u.k. Monarchie über Bosnien und die Balkankriege führten zu Repressalien und zur
partiellen Rücknahme der bosnischen Autonomie. So wurde 1913 die zivile
Muslims, 75 f.; Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 18781918, 111.
76
Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in BosnienHerzegowina, 253-255, 281.
77
Hauptmann, Die Mohammedaner in Bosnien-Herzegovina, 698 f.
78
Friedman, The Bosnian Muslims, 72, 74 f.
79
Djordjević, Die Serben, 771 f.
80
Wessely, Die Wirtschaftliche Entwicklung von Bosnien-Herzegowina, 565 f.
27
Administration mit der Militärverwaltung vereint und dem Kriegsministerium
unterstellt. Der Ausnahmezustand betraf zwar die gesamte Bevölkerung, richtete sich
jedoch in erster Linie gegen die bosnischen Serben. Der neue Gouverneur, General
Ottokar von Potiorek, war damit nicht mehr dem k.u.k. Finanzministerium
verantwortlich. Im selben Jahr wurde die Zivilverwaltung beseitigt, die meisten
Kulturvereine verboten und Prozesse gegen Serben und andere Gegner der Herrschaft
durchgeführt. Der Landtag konnte dennoch Ende 1913 erneut tagen81
In diesem angespannten Klima zwischen Serben und der Monarchie kam es zum Besuch
des Kronzprinzen Franz Ferdinand in Sarajevo. Der Tag des Besuches fiel mit dem St.
Veithstag zusammen, der aufgrund der legendären Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo
Polje) 1389 den Beginn der osmanischen Herrschaft über Serbien symbolisiert, der
bedeutendste Gedenktag Serbiens war. Somit war der Zeitpunkt des Besuchs denkbar
schlecht gelegt, bzw. eine bewußte Provokation der Serben. Nur durch eine Reihe von
Fehlern und Zufällen gelang es den schlecht vorbereiteten Attentätern den Kronprinz an
diesem Tag zu ermorden. In allgemein bekannter Weise führten die folgenden
Ereignisse binnen einen Monats zum 1. Weltkrieg.82
Nach wie vor ist der genaue Einfluß der serbischen Regierung auf die Attentäter unklar.
Fest steht jedoch, daß sie vom Chef des militärischen Geheimdienstes, Dragutin
Dimitrijević Apis Unterstützung erhielten. Apis war zugleich auch Anführer der
großserbischen Geheimorganisation „Schwarze Hand“ und größter Widersacher des
serbischen Ministerpresidenten Pašić.83
Der 1. Weltkrieg
Zwar begann der 1. Weltkrieg auf dem Balkan, doch die Region blieb nur ein
Nebenschauplatz. Die Kriegsereignisse bilden jedoch die Grundlage für das Entstehen
Jugoslawiens. Auf dem Gebiet Bosniens kam es kaum zu Kampfhandlungen, abgesehen
von einigen kleineren Auseinandersetzungen in Ostbosnien. Trotzdem war der Krieg
auch im restlichen Bosnien spürbar. Manche Kriegsfolgen betrafen die gesamte
Bevölkerung, andere Maßnahmen richteten sich nur gegen eine Volksgruppe.
Wie andere Einwohner der Monarchie wurden Bosnier als Soldaten Österreichs
rekrutiert. Weiterhin wurde Getreide für den Krieg konfisziert. Die gesamte Herrschaft
der Monarchie verschärfte sich mit Kriegsausbruch. In erster Linie litten jedoch die
bosnischen Serben unter dem Krieg, da sie als Bedrohung der Integrität der Monarchie
galten. Erstmals unterdrückte Österreich-Ungarn gezielt eine Nation Bosniens. So wurde
1915 die Benützung des kyrillischen Alphabets verboten und die meisten serbischen
Vereine aufgelöst. Während des Krieges wurden etwa 5.000 serbische Familien aus
Bosnien nach Serbien vertrieben. Zwischen 3.300 und 5.500 bosnische Serben wurden
in Lagern, zumeist in Arad, interniert, 700 bis 2.200 von ihnen starben dort.84 Insgesamt
250 Serben wurden wegen Spionage und ähnlichen Vergehen durch Militärgerichte zum
Tode verurteilt und hingerichtet.85
81
Čupić-Amrein, Die Opposition gegen die österreichisch-ungarische Herrschaft in BosnienHerzegowina, 333-335, 343; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 83 f.
82
Malcolm, Bosnia, 154 f.
83
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 84.
84
Malcolm, Bosnia, 158.
85
Die meisten wurden jedoch später durch Kaiser Karl I. begnadigt.
28
Die Reaktion der Serben war sehr unterschiedlich. Manche meldeten sich freiwillig, um
im Krieg gegen Serbien ihre Loyalität zu beweisen, während andere nach Serbien
flohen, um dort gegen die k.u.k. Monarchie zu kämpfen. Sie stellten auch den größten
Anteil an russischen Freiwilligeneinheiten an der Ostfront. So umfaßt die 1. serbische
Division 1916 15.000 Deserteure und ehemalige Kriegsgefangene.86
Zu Beginn des Krieges wandten sich zwar manche Muslime Serbien zu, doch die
Mehrheit kämpfte für Österreich-Ungarn. Sie lehnten mehrheitlich die Annexion 1908
nicht mehr ab und begrüßten die Liberalisierungen, die auf die Annexion folgten (u.a.
Wahl zum Sabor). Weiterhin kämpfte man durch das Bündnis der Donaumonarchie mit
dem Osmanischen Reich indirekt auch für die Hohe Pforte. Die anti-muslimische
Haltung in Serbien tat ein Übriges.87
Noch 1918 unterstützten die bosnischen Kroaten eine neue staatliche Lösung innerhalb
der Monarchie mit den Südslawen als dritter Säule des Staates. Auch Teile der
bosnischen Serben unterstützten diese Lösung, da sie gegen Kriegsende explizit in diese
Pläne einbegriffen wurden. Die Bosnischen Muslime waren gespalten, einige
unterstützten sowohl eine derartige Lösung, als auch eine bosnische Autonomie
innerhalb der ungarischen Reichshälfte. So trafen die muslimischen Politiker Šerif
Arnautović und Safvetbeg Bašagić 1917 den Kaiser, um die letztere Lösung zu
erreichen. Der Grund für eine von Kroatien getrennte Lösung lag wohl in der
Befürchtung der muslimischen Politiker, in einem mit Kroatien vereinigten Bosnien die
Interessen ihrer Bevölkerung nicht durchsetzen zu können. Zugleich bemühte sich auch
der Landeschef Bosniens Baron Sarkotić um eine Lösung innerhalb der Monarchie. Mit
dem langsamen Zerfall der Monarchie verloren diese Konzepte zunehmend an
Unterstützung. Im August 1918 versammelte der Slowene Korošec südslawische
Politiker aus der Donaumonarchie. Sie gründeten einen Nationalrat, um die Bildung
Jugoslawiens voranzutreiben.
Während einige Muslime noch an einer Anbindung an Ungarn festhielten, trat Mehmed
Spaho hervor, der später als Führer der Jugoslawischen Muslimischen Organisation
(JMO) eine bedeutende Rolle in Jugoslawien spielen sollte. Er kritisierte die repressive
Politik der Monarchie im Krieg und strebte einen jugoslawischen Staat an. Spaho
meinte, daß der Krieg die ethnischen Gruppen Bosniens einander näher gebracht habe.
Am 29. Oktober 1918 stimmte das kroatische Parlament gegen die Herrschaft der
Habsburger. Am 1. November trat der Landeschef Sarkotić zurück, nur zwei Tage später
entstand die erste nationale Regierung Bosniens. Dieser rasche Niedergang der
Monarchie in Bosnien sorgte insbesondere unter den Serben für Jubel, was sowohl auf
Kroaten wie auch Muslime ernüchternd wirkte.88 Mit dem Zerfall der staatlichen
Autoritäten erklärten etliche serbische Bürgermeister einseitig den Anschluß an Serbien.
Noch vor der offiziellen Staatsgründung, am 3. November 1918, kam es in Bosnien zu
Bauernaufständen, die insbesondere gegen die muslimischen Großgrundbesitzer
gerichtet waren, woraufhin die serbischen Truppen zur Beruhigung der Lage ins Land
gerufen wurden. Nur drei Tage später zogen sie unter Jubel der Bevölkerung in Sarajevo
ein. Die Aufstände verdeutlichten die nationalistische Interpretation wirtschaftlicher
Bruchlinien. Neben diesen wirtschaftlichen Ursachen wurden die Muslime auch eng mit
86
Djordjević, Die Serben, 772 f.; Robert J. Donia, John V.A. Fine, jr., Bosnia and Hercegovina: A
Tradition betrayed (London 1994) 118 f.
87
Friedman, The Bosnian Muslims, 78.
88
Malcolm, Bosnia, 160-162.
29
vormaligen osmanischen Besatzern identifiziert. Viele Serben erinnerten sich auch an
die Förderung der Muslime in der Donaumonarchie durch den k.u.k Finanzminister
Kállay. Obwohl die serbischen Truppen die gewalttätigen Übergriffe auf die
muslimische Bevölkerung beendeten, blieb das Klima gespannt und schon bald
ersetzten Serben Muslime in führenden Positionen das Landes. In Folge kam es 1918 zu
einer größeren Emigrationswelle von Muslimen in die Türkei. 89
Das Entstehen von *ationalbewegungen in Bosnien
Im Laufe der 50 Jahre österreichische Herrschaft in Bosnien bildete sich erstmals eine
muslimische Identität heraus. Robert Donia nennt vier Argumente, mit denen diese
Identitätsfindung begründet wird und untersucht sie auf ihre Glaubwürdigkeit:
1. Psychologische Entfremdung vom Osmanischen Reich. Die Entfremdung vom
Osmanischen Reich sieht er als zutreffende Begründung. So wird in keiner Petition von
Muslimen eine Wiederherstellung des Zustandes von vor der Besetzung durch
Österreich-Ungarn gefordert.
2. Opportunismus. Dieses Motiv hält Donia für wenig überzeugend. Die muslimische
Bevölkerung war zwar sehr fragmentiert und die Interessen der Eliten deckten sich
kaum mit jenen der Bauern. Dies ermöglichte eine Instrumentalisierung der
muslimischen Bevölkerung durch die Eliten, stellte jedoch keinen Unterschied zur
kroatischen und serbischen Nationalbewegung jener Jahre dar.
3. Religiöser Fanatismus. Für Donia scheidet Fundamentalismus als Faktor der
Identitätsfindung aus. Die individuellen Interessen der Eliten sind nachzuvollziehen und
stehen nur selten im Zusammenhang mit der Religion. Der Islam diente bereits damals
nicht nur als Religion, sondern als kulturelle Identifikation, die über Glauben
hinausging.
4. Sozio-ökonomische Interessen der Eliten. Innerhalb der muslimischen Bevölkerung
haben in erster Linie die Eliten von der Identitätsfindung profitiert. Dementsprechend
unterstützt das Parteiprogramm der MNO die Monarchie und stellte sich gegen eine
Bodenreform. Die Eliten außerhalb von Sarajevo hatten jedoch weniger Einfluß und
man kann die Eliten nicht als einheitliche Gruppe sehen.
Die muslimische Identität entstand also in der Habsburger Zeit durch eine Entfremdung
vom Osmanischen Reich. Die muslimische Elite versuchte durch diese Identitätsfindung
ihre privilegiere Stellung zu sichern.90 Zwei Argumente ließen sich hinzufügen. Erstens
fand die muslimische Identitätsfindung als einzige die aktive Unterstützung der
Verwaltung. Zweitens zwang die nicht-muslimische Herrschaft die Muslime Bosniens
zu einer Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion für die eigenen Identität.
Die Herausbildung muslimischer Identität unter der Herrschaft der Habsburger teilt
Mark Pinson in drei Stufen. Zuerst artikulierten sich die Muslime durch traditionelle
Formen, wie Teilnahme an religiösen und kulturellen Veranstaltungen. In der zweiten
Phase kam es zu Aufständen gegen und Petitionen an die christlichen Machthaber.
Zuletzt artikulierte sich die muslimische Bevölkerung durch bereits eindeutig
westeuropäische Institutionen, so wie die Gründung einer Partei und der Teilnahme an
Wahlen.91 Diese Entwicklung der Artikulation muslimischer Interessen geht einher mit
89
Ivo Banac, The National Question in Yugoslavia. Origins, History, Politics (Ithaca, N.Y. 1992)
360, 367 f.
90
Donia, Islam under the Double Eagle, 182-194.
91
Pinson, The Muslims of Bosnia-Herzegovina Under Austro-Hungarian Rule 1878-1918, 97.
30
einer von Robert Donia beobachteten größeren Interkommunikation der Bevölkerung.
Zu Beginn österreichischer Herrschaft war die Mobilisierung der muslimischen Eliten
lokal begrenzt und betraf meist nur bestimmte Maßnahmen. Erst seit dem Aufbau einer
Partei gelang es ihnen das gesamte Gebiet Bosniens zu erreichen und langfristige Ziele
anzustreben.92
Die Entwicklung der Nationalbewegung verlief auf der serbischen und kroatischen Seite
zwar ähnlich, vollzog sich jedoch bereits früher und in erster Linie außerhalb Bosniens
in ihren jeweiligen Kernländern. Die Serben und Kroaten Bosniens folgten meist mit
Verzögerung der Entwicklung in Kroatien bzw. Serbien. Die serbische Forderung nach
der Autonomie von Schulen und der Kirche kann jedoch als erste moderne politische
Bewegung in Bosnien gewertet werden. Da es innerhalb der kroatischen Bevölkerung
kaum einen Mittelstand gab, blieb die kroatische Nationalbewegung in Bosniens lange
Zeit sehr schwach. Ihr fehlte die soziale Infrastruktur, wie sie der serbischen
Bevölkerung zu Verfügung stand. Als sich die Nationalbewegung zu formieren begann,
bildeten sich zwei, oft konkurrierende Träger. Auf der einen Seite standen die klerikale
und nationalistisch-konservative Bewegung, die von kirchlichen Würdenträgern, so zum
Beispiel Erzbischof Josip Stadler, getragen wurden. Vom Mittelstand hingegen ging ein
liberaleres und säkulares Programm aus.93
Die Bilanz der österreichisch-ungarischen Verwaltung Bosniens ist gespalten. Einerseits
waren die Fortschritte im Vergleich zum Osmanischen Reich enorm. Andererseits
wurden Reformen nur zögerlich angegangen. Auch der Versuch die Entwicklung des
Nationalismus in Bosnien aufzuhalten ist gescheitert. Für die nationale Entwicklung
stellt die Herrschaft Österreich-Ungarns eine bedeutsame Phase dar. Während vor 1878
das zentrale Identifikationsmerkmal die Religion war, ersetzte die Nation das Millet.
Zugleich hat das Millet-System das Entstehen von Nationalbewegungen parallel zu
religiösem Bekenntnis begünstigt.
2.2.2. Die Autonomie des Libanon
Ähnlich wie in Bosnien begann mit der Autonomie des Libanon in der 2. Hälfte des 19.
Jahrhunderts eine Phase der Modernisierung des Landes. Der neue Status des Libanon
war jedoch zwischen den Großmächten umstritten. Während Frankreich eine Rückkehr
zu dem Zustand vor der ägyptischen Herrschaft forderte, wandten sich die Hohe Pforte
und Großbritannien gegen eine Autonomie unter einem maronitischem Gouverneur
(bzw. Emir). Als Kompromiß wurde im Juni 1861 schließlich ein règlement organique
verabschiedet, das bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges in Kraft blieb.
Das Autonomiestatut
Der Gouverneur war der Hohen Pforte gegenüber verantwortlich und mußte die Steuern
einziehen, für die innere Sicherheit sorgen und durfte Richter ernennen. Ein Rat aus
zwölf gewählten Religionsvertretern sollte ihm dabei zur Seite stehen. Dieser Rat
bestand ab 1864 aus jeweils drei Maroniten und Drusen, zwei Orthodoxen und einem
griechisch-katholischen Mitglied, sowie einem „Muslimen“ (Sunniten) und einem
anderen Christen (Art. 2). Der Mont Liban erhielt danach als Mutasarrifiyah die
Autonomie zurück. Das Mutasarrifiyah wurde verkleinert. Die Autonomie erstreckte
sich jedoch nur auf Kleinlibanon im Gebirge und die Küste zwischen Sidon und Tripoli,
92
Donia, Islam under the Double Eagle, 181.
93
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 101, 103 f.
31
ohne Beirut und die beiden erstgenannten Städte (Art.3). Der Gouverneur mußte ein
nicht-libanesischer Christ sein und durfte nicht aus dem Kernbereich des Osmanischen
Reichs stammen. Er wurde vom Osmanischen Reich ausgewählt, mußte jedoch von den
fünf europäischen Vertragsstaaten akzeptiert werden. Die sieben Distrikte des
Mutasarrifiyah wurden von einem Subgouverneur der stärksten Religion geleitet. So gab
es drei maronitische und jeweils einen sunnitischen, drusischen, griechisch-orthodoxen
und griechisch-katholischen Subgouverneur. Im Mont Liban wurden keine osmanischen
Truppen stationiert, es gab auch keinen Militärdienst.94 Ab 1867 kam Italien als sechste
Garantiemacht hinzu. Kurz vor Verabschiedung des réglement zogen die französischen
Truppen ab.
In der Nationalität der Gouverneur des Libanons seit 1860 kommt der multinationale
Charakter des osmanischen Reiches zum Ausdruck. Der erste Gouverneur war ein
Armenier. Ihm folgten ein Araber aus Aleppo, ein italienischer Adeliger, ein Pole und
schließlich wieder ein Armenier.
Die Zivilgesetzgebung blieb, wie im gesamten Osmanischen Reich zwischen den
Konfessionen getrennt (Art. 8), alle Konfessionen wurden jedoch gleichgestellt (Art.5),
ein Vorteil im Vergleich zur Regelung im restlichen osmanischen Reich.
Die Steuern wurden zur lokalen Verwaltung verwandt, nur ein Überschuß mußte an
Istanbul abgeliefert werden (Art. 15). Die zentrale Reform der Autonomie war die
Abschaffung des Feudalismus (Art. 5)95 im Libanon. Da dieser den Anlaß für die
Auseinandersetzungen zwischen Maroniten und Drusen 1840 und 1886 darstellte,
nahmen die Spannungen im Mont Liban ab. Die nächsten Konflikte fanden erst wieder
nach 1914 statt. Die Auseinandersetzungen im autonomen Libanon beschränkten sich
auf kleinere Proteste mancher Maroniten, die sich über die fremde Herkunft der
Gouverneure beschwerten und dessen Vollmachten kritisieren. Bei Protesten der Drusen
standen die hohen Steuern im Mittelpunkt.96 Der erste Gouverneur hat mit folgender
Illustration die Bemühungen um ein Ende der konfessionellen Auseinandersetzungen
zum Ausdruck gebracht:
„A doctor fell sick, and called in a fellow physician and said to him, “We
are three, you, I, and the disease. If you will help me, we will conquer the
disease. If you help the disease you will conquer me“. So we in Lebanon are
three; you, the people, I, the ruler, and the traditional animosity of races in
Lebanon. Help me and we shall conquer it. Help it, and you will ruin me and
yourselves together.“97
In Mont Liban waren Christen in deutlicher Mehrheit. In den Gebieten, mit
Ausnahme von Beirut, die später Teil des libanesischen Staaten wurden, stellte die
muslimische Bevölkerung hingegen die Mehrheit und blieb somit von der Autonomie
ausgenommen (s. Tabelle 3). Dies bedeutete, daß die Autonomie de facto eine
Privilegierung der Christen in der Region bedeutete.
94
Zur rechtlichen Lage des autonomen Libanon s. Edmond Rabbath, La Formation du Liban Politique
et Constitutionnel. Essai de synthèse (Beirut 1986) 226-239.
95
Der Text der Autonomieregelung des Libanon (Réglement et Protocole relatifs à la réorganisation
du Mont-Liban vom 9.6.1861 und Protocole et Règlement modifié relatifs au Liban vom 6.9.1864)
ist abgedruckt bei Bruno Bilek, Der Libanon. Die historische Entwicklung zur Staatlichkeit
(Diplomarbeit Wien 1987) 221-224.
96
Kerr, Lebanon in the last years of feudalism, 26.
97
Hitti, Lebanon in History, 445.
32
Institutionelle und wirtschaftliche Modernisierung
In dieser Zeit kam es auch zu den erwähnten gesamtosmanischen Reformen, die sich im
Libanon auswirkten. So wurden die Gerichte weitgehend säkularisiert. 1863 stellte eine
französische Firma die Straße zwischen Beirut und Damaskus fertig. Sie bildete das
Rückgrat der libanesischen Infrastruktur. Trotz des beschränkten Zugangs zum Meer
prosperierte der Libanon in den Jahren der Autonomie. 1863 wurde in Beirut der
modernste Hafen zwischen Port Said und Izmir eröffnet. Zwei Jahre später wurde 1895
neben der Straße auch eine Eisenbahn zwischen Damaskus und Beirut fertiggestellt.
Durch Handel entwickelte sich Beirut von einem Küstendorf zu einer bedeutenden
Hafenstadt, zwischen 1860 und 1914 wuchs Beirut von 60.000 auf 150.000 Einwohner
an.98 Die Entwicklung der Städte und des Landes insgesamt dürfte durch das Fehlen
jeglicher Nomaden, im Gegensatz zur restlichen arabischen Welt, erleichtert worden
sein. Von der Modernisierung profitierten fast ausschließlich Christen. Der neuen
Oberschicht (Bankiers, Händler, Seidenproduzenten und Schiffsmakler) gehörten nur
wenige Muslime an.99
Trotz der Urbanisierung blieben die traditionellen Gesellschaftsstrukturen bestehen.
Hitti nennt drei Merkmale der sozialen Struktur des Libanons:
- die Loyalität zur Großfamilie,
- die Treue zur Religion der Eltern und
- die enge Verwurzelung mit dem Boden.
Durch den wachsenden ausländischen Einfluß geriet diese traditionelle
Gesellschaftsstruktur zunehmend in Konflikt mit der Modernisierung. In Verbindung
mit einer hohen Geburtenrate löste dies Ende des 19. Jahrhunderts die erste große
Emigrationswelle aus. Die erste Emigrationswelle führte nach Ägypten, wo die
englische Kolonialherrschaft und den Bau des Suez-Kanals zu einem wirtschafltichen
Aufschwung führte. Später wanderten die Libanesen zunehmend nach Übersee aus.
Allein zwischen 1900 und 1914 verließen schätzungsweise 100.000 Libanesen, ein
Viertel der Gesamtbevölkerung, das Land. Während die Emigranten in erster Linie
Christen waren, kam es bei den Drusen zu Bevölkerungsverschiebungen innerhalb des
Landes. Die muslimischen Bevölkerung blieb hingegen am stärksten an ihren
Wohnorten verwurzelt.
Die Emigration führte einerseits zu einem „brain-drain“, andererseits trugen die
Rücküberweisungen der Emmigranten erheblich zum Wohlstand des Libanon bei. In
den Jahren 1951 und 1952 gelangten so 18 bzw. 22 Millionen Dollar ins Land. Hinzu
kommen Investitionen in die Wirtschaft durch Auslandslibanesen. Rückkehrer brachten
auch westliche Konzepte wie Nationalismus und Demokratie zurück in den Libanon.100
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand ein Schulwesen, das in erster Linie
von europäischen und amerikanischen Missionaren aufgebaut wurde. So eröffnete 1846
ein jesuitisches Seminar in Ghazir, 1875 zog es nach Beirut um und entwickelte sich zur
französischsprachigen Universität des Libanons Saint-Joseph.101
Die amerikanische Regierung intervenierte im 19. Jahrhundert nicht in die Politik des
Osmanischen Reichs. Zugleich gab es schon früh eine amerikanische Mission, die 1866
98
Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 24, 28.
99
Hierzu s. die Vergleiche der konfessionellen Eliten in Labaki, Confessional Communities, 544 f.
100
Hitti, Lebanon in History, 471-476.
101
Es steht heute noch im christlichen Ost-Beirut nahe der ehemals "grünen Linie".
33
das Syrian Protestant College gründete. Diese entwickelte sich zur American University
in Beyrouth (AUB), die nach wie vor besteht. Die Universität wurde bald zur
wichtigsten amerikanischen Bildungsstätte außerhalb der Vereinigten Staaten. Von
dieser Universität profitierten in erster Linie Christen. So waren zwischen 1871 und
1882 nur 7,6 % der Absolventen des Syrian Protestant College Muslime, meist Drusen.
Unter ihnen befand sich kein einziger Schiite und nur ein Sunnit. Am größten war der
Anteil der Maroniten (29,4 %) unter den Absolventen.102
Insbesondere die Ausbildung von Mädchen wurde in den religiösen Schulen gefördert,
da sie von der traditionellen osmanischen Ausblidung meist ausgeschlossen blieben. Ein
Bericht des amerikanischen Konsulats 1869 stellt fest, daß vor 1860 nur 4 Mädchenund 15 Jungenschulen in Beirut bestanden. Neun Jahre später gab der bereits 23 Schulen
für Mädchen und 29 für Jungen, somit gingen 6 % der beiruter Bevölkerung in der
Schule.103 Im Jahr 1914 gab es bereits 6.000 Mädchen in 30 Schulen im Mont Liban.
Nach der Schätzung von Philip Hitti sollen zu dieser Zeit in Syrien, Libanon und
Palästina 500 französische Schulen für 50.000 Jungen und Mädchen bestanden haben.
Gleichzeitig wurden Großbritannien und Preußen bzw. das Deutsche Reich im Libanon
aktiv. Die Missionstätigkeit preußischer Orden förderte den Aufbau des
Gesundheitssystems (z.B. das Johanniter Krankenhaus). Da die meisten Einrichtungen
von Missionaren gegründet wurden, profitierten in erster Linie libanesische Christen
von diesen Schulen und Krankenhäusern. Später erlangten zunehmend Drusen und
andere Muslime Zugang.104
Konfession
Mont Liban (1906)
Beirut (1889)
Maroniten
117.148
61,2 %
Orthodoxe
25.579
13,3 %
Katholiken
(griechischkatholisch)
18.689
9,7 %
Christen
162.478
84,2 %
Sunniten
3.788
1,9 %
Schiiten
5.524
2,8 %
Drusen
19.293
10,0 %
Muslime
28.605
Insgesamt
191.122
libanesische Gebiete
(ohne Mont Liban)
70.300
65, 4 %
117.332
34,88 %
14,7 %
33.600
31,2 %
200.814
63,12 %
100 %
107.400
100 %
318.146
100 %
Tabelle 3: Bevölkerungsverteilung nach Konfessionen für den Mont Liban, Beirut und die Gebiete
105
außerhalb des Mont Liban, die später Teil des Libanon werden.
In der Autonomiephase des Mont Liban kam es auch außerhalb des Bildungssystem zu
einem Modernisierungsschub. Ähnlich wie in Bosnien entstanden nationale Vereine.
102
Obwohl weniger als tausend Protestanten in der gesamten Region lebten, stellten sie immerhin 5,9%
der Absolventen an der Syrian Protestant College, Labaki, Confessional Communities, 543.
103
Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 29.
104
Hitti, Lebanon in History, 445-451.
105
Da andere Christen, Muslime, Juden und Ausländer hier nicht berücksichtigt werden, ergibt die
Summe der genannten Konfessionen nicht immer 100 %. Boutros Labaki, Confessional
Communities, Social Stratification and Wars in Lebanon, in: Social Compass, Nr. 4/1988, Jhrg.
XXXV, 542.
34
Am bedeutendsten war der Syrische Bildungsverein, der ab 1868 sowohl Drusen, als
auch Christen und andere Muslime als Mitglieder hatte. Das arabische Zeitungswesen
nahm seinen Ausgang im Libanon. So entstand 1858 Hadiqat al-Akhbar (Der Garten der
Nachrichten) in Beirut. Zeitungen entwickelten sich aufgrund des relativ liberalen
Klimas im Libanon sehr gut, sogab es 1892 bereits 14 Zeitungen und Zeitschriften.
Lediglich Kairo konnte sich neben Beirut als bedeutender Verlagsort etablieren. Da sich
die britische Verwaltung gegenüber der Presse liberaler verhielt als das Osmanische
Reich, übertraf Kairo am Ende des 19. Jahrhunderts bereits Beirut als Verlagsort. Beirut
blieb jedoch im arabischen Raum einflußreich.106
Neben Freistellung vom Militärdienst im Osmanischen Reich genoß die Bevölkerung
des Autonomiegebietes weitere Vorteile. Im Mont Liban mußten die Einwohner keinen
Zehnten auf landwirtschaftliche Erzeugnisse bezahlen. Somit lag die durchschnittliche
Einkommensbesteuerung mit 7,4 % um ein Viertel unterhalb der Steuerlast in den
angrenzenden Regionen des Osmanischen Reiches. Die Autonomie des Mont Liban
vergrößerte somit den sozialen und wirtschaftlichen Abstand zum Umland. Da im Mont
Liban überwiegend Christen lebten, während die angrenzenden Regionen mehrheitlich
von Muslimen bevölkert waren, bevorteilte diese unterschiedliche Entwicklung die
christliche Bevölkerung, mit Auswirkungen bis in die Gegenwart.107
Konkurrierende *ationalbewegungen
Alle diese Elemente einer Modernisierung ließen sowohl im Autonomiegebiet, wie auch
in Beirut, einen Mittelstand entstehen. Dieser bestand aus wohlhabenden Bauern,
Händlern, Vertretern ausländischer Handelsgesellschaften, Angestellten der öffentlichen
Einrichtungen (Häfen, Straßen und Banken), Kleinindustriellen, Lehrern und
Redakteuren.108 In diesem modernen Mittelstand entwickelten sich drei politische
Konzepte als Alternativen zum Osmanischen Reich.
Die erste war der Pan-Arabismus bzw. der arabische Nationalismus. Diese
Nationalbewegung strebte den Zusammenschluß aller Araber in einem Staat an. Araber
definierten sich hierbei sowohl ethnisch, wie auch durch die Sprache. Diese Bewegung
lehnte eine Eigenständigkeit des Libanon ab. Da die Mehrheit der Araber dem
islamischen Glauben anhingen, während Muslime im Libanon damals noch eine
Minderheit waren, wurde der arabische Nationalismus überwiegend von Muslimen
propagiert und stieß in dieser Phase nur auf begrenzte christliche Unterstützung, im
Gegensatz zur 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als wichtige Auslöser des Pan-Arabismus
können sowohl der „Turkismus“ bzw. „Osmanismus“ der Jungtürken als auch der
aufkeimende Zionismus gesehen werden.109
Ähnlich Ziele verfolgt der „Pan-Islamismus“, der im ausgehenden 19. Jahrhundert
seinen Anfang nimmt. Grund hierfür ist der langsame Abstieg des Osmanischen Reiches
und die Tanzimat-Reformen, die Christen, Juden und Muslim gleichstellten. Die
Reformen widersprachen dem Anspruch des Osmanischen Reiches, ein islamischer
Staat zu sein. Der Sultan war zugleich Kalif und somit Oberhaupt der sunnitischen
106
Ebd., 461, 464 f.
107
Labaki, Confessional Communities, 540 f.
108
Issawi, The Historical Background of Lebanese Emigration, 29.
Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, 1798-1939 (London-Oxford-New York, 1970),
260-323.
109
35
Muslime. Der Pan-Islamismus lehnt die Nation grundsätzlich ab, da sie die islamische
Einheit spaltet. So war die Kernaussage von Jamal-al-Din al-Afghani, dem Wegbereiter
des Pan-Islamismus, „Keine Nationalität (Wataniyah) im Islam.“
Als dritte politische Richtung entwickelte sich der libanesische Nationalismus. Er wurde
in erster Linie von den Christen, aber auch von den Drusen vertreten. Er hatte im
Mutasarrifiyah viele Anhänger. In den anderen Gebieten, die keine so starke historische
Bindung an den autonomen Libanon hatten, blieb der libanesische Nationalismus ohne
Rückhalt.110
Der 1. Weltkrieg
Obwohl der Libanon kein Kriegsschauplatz war, litt die Region stark unter den
Kriegsfolgen. Mit dem Beginn des 1. Weltkrieges endete die Autonomie des Libanon.
Aus Angst vor pro-französischer Agitation marschierten osmanische Truppen ein. Ein
Jahr später wurde der Rat aufgelöst und 'Ali Munif, erst der zweite Türke in der
Geschichte des Libanon, übernahm die Verwaltung des Gebietes. Der repressiven
Herrschaft fielen nicht nur Christen, sondern auch Muslime zum Opfer. Zugleich führte
der Krieg zu Hungersnöten im Libanon. Der Mittelstand verarmte, während viele
Bauern und städtische Unterschichten verhungerten. Es kam zu Epidemien und in der
zweiten Kriegshälfte strömten armenische und assyrische Flüchtlinge aus Anatolien
nach Beirut und in das Umland. Insgesamt starben nach Schätzungen 100.000
Menschen, ein Viertel der Bevölkerung. In Folge verfielen viele Gebäude und Dörfer.111
Trotz dieser katastrophalen Zustände kam es nicht zu nennenswerten Aufständen
während des Krieges. Erst im Oktober 1918 mit einer französischen Invasion des
Libanon und dem Einzug arabischer und britischer Truppen in Syrien kam das letzte
Kapitel osmanischer Herrschaft über den Libanon zu seinem Ende.
Anders als in Bosnien litten alle Einwohner gleichermaßen unter den Kriegsfolgen, da
Drusen (mit Großbritannien) und Christen (mit Frankreich) gleichermaßen der
Kollaboration mit dem Gegner verdächtigt wurden. Nach Ende des Krieges bestand
keine Nostalgie, auch nicht unter den Muslimen, für das Osmanischen Reich. Die neuen
Optionen entsprachen vielmehr den drei führenden nationalen bzw. konfessionellen
Konzepten:
1. Ein großarabisches Reich,
2. ein unabhängiger Libanon oder
3. ein islamisches Reich.
Die folgende französische Mandatsherrschaft entsprach am ehesten den Forderungen der
meisten Maroniten nach einem selbständigen Land Libanon.
110
Hitti, Lebanon in History, 477-480.
111
Ebd., 483-486.
36
2.2.3. Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches
Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reichs bei
Kriegsende änderte sich das Umfeld Bosniens und des Libanon. Bosnien hatte 400 Jahre
zum Osmanischen Reich und 40 Jahre zu Österreich-Ungarn gehört, auch der Libanon
stand 400 Jahre, mit kurzen Unterbrechungen, unter osmanischer Herrschaft. Das
Osmanische Reich zerfiel etwas früher als Österreich-Ungarn bereits im Sommer 1918.
Zwischen Juni und Oktober 1918 konnten die Alliierten große militärische Erfolge
verzeichnen und reduzierten das Gebiet unter Kontrolle der Hohen Pforte dramatisch.
Dies führte zu einem Rückzug der verbleibenden osmanischen Armeen auf das Gebiet
Anatoliens um zumindest den Kern des Reiches zu halten. Der Zusammenbruch war
jedoch so vollständig, daß das Reich am 31. Oktober 1918 eine bedingungslose
Kapitulation eingestehen mußte. Die Folge war die Besetzung Istanbuls und des
Bosporus. Istanbul wurde gemeinsam von Frankreich, Großbritannien und Italien
verwaltet, während Griechenland große Teil der anatolischen Küste besetzte.112
Bereits während des Krieges hatten Großbritannien und Frankreich in der arabischen
Welt eine doppelte Strategie verfolgt. Auf der einen Seite versuchten sie die arabische
Bevölkerung mit dem Versprechen (insbesondere durch die Korrespondenz des
britischen Hochkommissars in Ägypten McMahon mit dem Sharif von Mekka Husayn)
eines unabhängigen arabischen Reiches gegen das Osmanische Reich zur Rebellion zu
bringen. Andererseits vereinbarten sie untereinander im Sykes-Picot Pakt vom Mai 1916
eine Aufteilung der arabischen Gebiete in koloniale Einflußsphären. Schließlich
versprach Großbritannien in der Balfour Deklaration 1917 die Errichtung eine
nationalen „Heimstätte“ (homeland) für Juden in Palästina. Der Sharif von Mekka
leitete als Hüter der heiligen Stätten des Islam (Mekka und Medina) eine Legitimation
als gesamtarabischer Herrscher ab. Auf dieser Basis entstanden bereits bald nach
Kriegsende Konflikte zwischen der arabischen Bevölkerung und den Mandatsmächten
Frankreich und Großbritannien.113
Bei der im Januar 1919 beginnenden Friedenskonferenz in Paris sollte die zukünftige
Gestalt der ehemaligen Gebiete des Osmanischen Reiches beschlossen werden. Der
Vertrag von San Remo teilte die arabischen Teile des Reiches zwischen Frankreich und
Großbritannien auf. Der Friedensvertrag zu Anatolien wurde erst im August 1920 in
Sèvres abgeschlossen, besaß jedoch keinen praktischen Wert mehr. Türkische Politiker
und Soldaten unter Führung von Mustafa Kemal (später Atatürk) lehnten den Vertrag ab
und begannen eine Krieg zur Rückeroberung ganz Anatoliens. Von Bedeutung für die
Muslime außerhalb Anatolien war das Schicksal des Kalifats. Der letzte osmanische
Herrscher, Abdülmecid II. (1922-1924) war nicht mehr Sultan, hielt jedoch den Titel des
Kalif inne und war somit formal Oberhaupt aller Muslime. Erst am 3.3.1924 schaffte die
Türkei das Kalifat ab und beendete somit eine Einrichtung, die seit dem Tod
Mohammed bestand.114
Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns schien lange Zeit nicht so wahrscheinlich wie
das Ende des Osmanischen Reiches. Während das Osmanische Reich bereits in den
Jahrhunderten vor dem 1. Weltkrieg zahlreiche Gebiete verloren hatte, dehnte sich der
112
Shaw, Shaw, History of the Ottoman Empire and Modern Turkey, Bd. II, 327-330.
113
Albert Hourani, A History of the Arab Peoples (New York 1991) 318 f.
114
Hierzu s. Paul Dumont, François Georgeon, La mort d'un empire (1908-1923), in: Robert Mantran
(Hg.) Histoire de l'Empire Ottoman (Paris 1989) 633-647; Josef Matuz, Das Osmanische Reich,
271-278.
37
Einfluß Österreich-Ungarns in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auf dem Balkan aus.
Noch 1917 unterstützten die meisten politischen Führer der Nationen in ÖsterreichUngarn ein Fortbestand einer, wenn auch reformierten, Monarchie. Gleichzeitig gelang
es einigen nationalen Politikern (z.B. Beneš, Trumbić), für ihre Pläne zur Loslösung
ihrer Nationen von Österreich-Ungarn die Unterstützung der Entente zu sichern.
Militärische Niederlagen, so an der Front in Italien, beschleunigten den Zerfall des
Staates. Ende Oktober 1918 war die Monarchie bereits de facto in viele kleinere Staaten
zerfallen. Mit dem Waffenstillstand am 3. November 1918 und der Friedenskonferenz
1919/20 in St. Germain (für Österreich) und Trianon (für Ungarn) wurde dieser Zerfall
bestätigt. Neben den Neugründungen Jugoslawien und Tschechoslowakei erhielt
Rumänien Siebenbürgen. Südtirol fiel an Italien und Galizien wurde Teil des
wiederentstandenen Polen.
Im Fall des Osmanischen Reiches herrscht weitgehende Einigkeit über die Gründe des
Zerfalls. Die völlige militärische Niederlage, verbunden mit dem langfristigen
Staatszerfall machten einen Fortbestand des Reiches unmöglich. Die Gründe für das
Ende Österreich-Ungarns sind nach wie vor umstritten. Einige Historiker führen den
Zerfall auf den Einfluß nationaler Organisationen im Exil auf den amerikanischen
Präsidenten Wilson und dessen Verbündete zurück.115 Andere Autoren sehen in der
Struktur Österreich-Ungarns die Ursachen: Ähnlich wie das Osmanische Reich sei die
Donaumonarchie unfähig gewesen sich zu reformieren und den Vorstellungen der
Bevölkerung anzupassen. Der zweite Ansatz vernachlässigt jedoch die
Reformvorschläge von Karl Renner und anderer gemäßigter Politiker. Nachdem
Österreich-Ungarn jedoch den 1. Weltkrieg mit der Kriegserklärung an Serbien begann,
beschleunigte sie den Zerfall, anstatt die nationale Irredenta durch Serbien zu
beenden.116
2.2.4 Zusammenfassung
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts sahen sich Österreich-Ungarn und das Osmanische
Reich zunehmend durch das Entstehen von Nationalbewegungen bedroht. Diese
Konzepte entwickelten sich vorrangig im europäischen Herrschaftsbereich beider
Staaten, während Nationalismus in der arabischen Welt nur marginale Bedeutung besaß.
Da die Nationalbewegungen die Errichtung von Staaten anstrebten, die eine Nation
zusammenfassen, waren sie langfristig nicht mit dem Fortbestand multinationaler
Reiche vereinbar. Nationalstaaten im französischen Sinne, die eine Nation auf einem
bestehenden Territorium aufbauen, waren jedoch in Südosteuropa kaum mit der
Bevölkerungsverteilung vereinbar. Das Ergebnis waren Nationalbewegungen, die um
ein Territorium konkurrierten. Im Fall von Bosnien war dies der serbische und der
kroatische Nationalismus, später auch der muslimische bzw. bosniakische
Nationalismus.117 In den arabischen Regionen des osmanischen Reiches konnte sich nur
115
So argumentiert Fejtö, daß die Monarchie von der Entente erhalten werden sollte und nur der
Einfluß von Beneš und Masaryk das Ende der Monarchie herbeigeführt hat, s. François Fejtö,
Requiem für die Monarchie. Die Zerschlagung Österreich-Ungarns (Wien 1991).
116
Zum Ende Österreich-Ungarns und einer sehr ausgewogenen Argumentation über die Ursachen s.
Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, 1526 bis 1918 (=Forschungen zur Geschichte
des Donauraums 4, Wien/Köln/Weimar 1993) 445-465; A.J.P. Taylor, The Habsburg Monarchy,
1809-1918 (London 1990) 250-282.
117
Hierzu s. Harald Heppner, Modernisierung der Politik als Strukturproblem in Südosteuropa, in:
Österreichische Ostheft, Nr. 3/95, Jhrg. 37, 717-735.
38
im Libanon eine, wenn auch weniger ausgeprägte, konfessionelle Identität entwickeln.
Diese Identitätsfindung beschränkte sich jedoch auf die Maroniten des
Autonomiegebietes.
Die Autonomie des Libanon und die österreichisch-ungarische Herrschaft über Bosnien
brachten den ersten Modernisierungsschub in beiden Ländern. Zuvor dominierte in
beiden die Landwirtschaft und die soziale Struktur war weitgehend feudal geprägt. Ein
Schulsystem und größere Städte bestanden kaum. Die Loslösung vom Osmanischen
Reich bedeutete eine moderne Infrastruktur und das Entstehen von Zeitungen und ersten
politischen Parteien.
Mit der Besetzung Bosnien-Herzegowina stand erstmals eine größere kompakte
muslimische Bevölkerung unter der Herrschaft Österreich-Ungarns. Im Osmanischen
Reich waren große christliche Bevölkerungsgruppen zwar keine Seltenheit, mit der
formalen Autonomie des Mont Liban verband sich jedoch erstmals eine territoriale
Selbstverwaltung mit einer dominanten nicht-muslimische Bevölkerungsgruppe, den
Maroniten. Zuvor bestand die Autonomie nicht-muslimischer Religionen nur im
Rahmen der Millets, die mit dem modernen Konzept der Personalautonomie
vergleichbar sind und nicht territorial begrenzt waren.
Bosnien und der Libanon stellten somit für Österreich-Ungarn und das Osmanische
Reich gleichermaßen eine Neuheit dar. Beide Länder erhielten territoriale Autonomie.
Im Fall von Bosnien begründete sich diese Eigenständigkeit aus der Uneinigkeit beider
Reichshälften über die Herrschaft, sowie aus den Bemühungen Bosnien von den
benachbarten Nationalbewegungen abzugrenzen. Der serbische Nationalismus stellte die
größte Bedrohung für den Status-Quo dar, während der kroatische Nationalismus lange
Zeit lediglich eine engere Anbindung Bosniens an Kroatien innerhalb der Monarchie
forderte. Im Libanon wurde die Autonomie dem Osmanischen Reich weitgehend von
den europäischen Großmächten verordnet. Für die christliche Bevölkerung Libanon
ermöglichte diese Selbstverwaltung eine Annäherung an Frankreich und Europa und
entzog das Gebiet de facto jeglicher Kontrolle des Osmanischen Reiches. Erst der
Weltkrieg führte zu einer - katastrophalen - Wiedereingliederung in das Reich. In
Bosnien bedeutete die Eigenständigkeit des Landes keineswegs einen geringen Einfluß
der Monarchie. Im Gegenteil, die direkte Verwaltung stärkte die Herrschaft und
ermöglichte eine stärkere Einbindung der muslimische Bevölkerung an ÖsterreichUngarn.
Während das Millet-System im Osmanischen Reich nur auf die nicht-muslimischen
Konfessionen bezogen war, weitete sich dieses de facto unter der österreichischungarischen Verwaltung und der libanesischen Autonomie auch auf die Muslime aus.
Insbesondere die Autonomiestatute des Mont Liban und die erfolgreichen serbische und
muslimische Autonomiebewegungen bewirkten eine große Eigenständigkeit aller
Religionsgruppen in beiden Ländern. Diese religionsbezogene Selbstständigkeit
beschränkte sich jedoch nicht nur auf religiöse Belange, sondern erstreckte sich auf die
Ausbildung, sowie andere soziale und wirtschaftliche Bereiche. Diese Trennung der
Religionen bzw. Nationen in eigenständige und oftmals weitgehend von einander
unabhängige Gruppen festigte die jeweilige Identität und verhinderte auch das Entstehen
einer bosnischen bzw. libanesischen Identität.
Obwohl Österreich-Ungarn versuchte, Bosnien von serbischen und kroatischen
Nationalismus abzuschirmen, drangen diese neuen nationalen Ideen auch nach Bosnien
ein. In Bosnien entstanden klare Trennungslinien zwischen den Nationen. Die
39
Parteienlandschaft
und
die
Aufgliederung
der
Landtagssitze
nach
Religionszugehörigkeit sind ein Ausdruck dieser Entwicklung.
Im Libanon setzte sich der osmanische Konfessionalismus auch ohne Wahlen in der
Verwaltung und insbesondere im Rat fort. Die bereits zuvor bestehende
Eigenständigkeit des Libanon wurde durch die Autonomie rechtlich abgesichert. In
dieser Phase festigte sich zudem die maronitische Vorherrschaft im Land. Neben dieser
Konfession waren nur Drusen in größerer Zahl und ausreichender Konzentration im
autonomen Libanon vertreten, um sich mit dem entstehenden Land zu identifizieren.
Sunniten und Orthodoxe fühlten sich noch mehr mit ihren Glaubensbrüdern im
restlichen Osmanischen Reich verbunden, während die Schiiten, kaum im autonomen
Libanon vertreten, erst nach dem 2. Weltkrieg ihre eigene Identität stärker bewußt
wurden.
Die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts hat im Libanon nationale und konfessionelle
Identitäten entstehen lassen, die sich in der gespalteten politischen Landschaft beider
Länder niederschlägt.
In Bosnien und im Libanon herrschte unter den Bevölkerungsgruppen keineswegs
Einigkeit über den Zerfall des Reiches oder über die zukünftige Staatsform. Theoretisch
standen in Bosnien und dem Libanon drei Positionen einander gegenüber:
1. Die Bildung eines eigenen Staates
Während im Libanon die Christen und insbesondere die Maroniten einen eigenen Staat
anstrebten, gab es in Bosnien keine nennenswerten Bestrebungen für einen
unabhängigen Staat, wie etwa in Kroatien.
2. Verbleib bei der bestehenden Staatsform
Die Kroaten unterstützten am stärksten von allen Nationen Bosniens den Fortbestand
der Monarchie. Weiterhin wurde die Herrschaft Österreich-Ungarns auch von der
muslimischen Bevölkerung unterstützt. Weder im Mont Liban, noch in den anderen
Gebieten der Region, die Teil des Mandatsgebietes „Grand Liban“ werden, gab es
großen Rückhalt für das Osmanische Reich. Am stärksten dürfte die Unterstützung
durch die Sunniten gewesen sein, die ihre Interessen am besten im Reich gesichert
sahen.
3. den Anschluß an einen neuen Staat.
Die Bevölkerung der Mont Liban und Beiruts strebte jedoch neben der Schaffung eines
libanesischen Staates entweder Großsyrien oder ein panarabisches Reich an. Als
Alternative Staatsformen boten sich für Bosnien im wesentlichen Großserbien oder
Jugoslawien an. Während Großserbien naturgemäß nur für die serbische Bevölkerung
attraktiv war, erhielt die jugoslawische Bewegung im Krieg insbesondere von Kroaten
regen Zulauf.
Nach dem 1. Weltkrieg konnten die Einwohner Bosniens und des Libanon jedoch nicht
die neue Staatsform selbst bestimmen. Im Libanon begann die französische
Mandatsherrschaft, die einen vergrößerten Libanon schuf. Der neue Staat wurde zwar
von den meisten Maroniten begrüßt, die Mehrheit der anderen Konfessionen lehnten
hingegen den Libanon unter französischer Verwaltung ab. In Bosnien wurde das
Entstehen Jugoslawiens am stärksten von der serbischen Bevölkerung willkommen
geheißen. Sowohl Kroaten, wie auch Muslime standen dem neuen Staat jedoch
skeptisch gegenüber oder lehnten ihn später sogar offen ab.
40
2.3. Die Geschichte Bosniens und des Libanon in der Zwischenkriegszeit und im 2.
Weltkrieg
2.3.1. Bosnien-Herzegowina als Teil des 1. Jugoslawien und des „Unabhängigen
Staates Kroatien“
Zwischen Auflösung der Monarchie und Konsolidierung Jugoslawiens
Am 1. Dezember 1918 rief Prinzregent Alexander in Belgrad das Königreich der
Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) aus.118 Ein wesentlicher Beitrag zur Entstehung
des Staates leisteten pro-jugoslawische Politiker im Exil, die bei der Entente auf dieses
Ziel hingearbeitet hatten. Die Rolle des serbischen Ministerpräsidenten Pašić und seiner
Exil-Regierung ist hierbei nicht eindeutig. In erster Linie wollte Serbien einen
großserbischen Staat mit allen Gebieten, in denen Serben lebten.
In Serbien fühlte man sich aufgrund der Erfahrung als unabhängiger Staat und der
Kriegsopfer Serbiens den anderen Nationen überlegen. Serbien wollte im neuen Staat
dominieren. Weiterhin strebten die serbischen Politiker einen zentralistischen Staat an,
während Slowenen, Bosnier und Kroaten im allgemeinen eine Föderation bevorzugten.
Erst die schweren Niederlagen zwischen 1915-17 zwangen Pašić und seine Regierung
zur Akzeptanz der jugoslawischen Staatsauffassung. Die unterschiedlichen
Staatsauffassungen lassen sich bereits vor dem Weltkrieg in Schulbüchern nachweisen.
In Bosnien und Kroatien stellten die Schulbücher die anderen südslawischen Völker dar
und propagierten zumindest teilweise Jugoslawismus, während die serbischen
Schulbücher nicht auf die kroatische Nation eingingen und sämtliche kroatischen
Länder und Bosnien als Teile eines zu errichtenden Großserbiens darstellten.119
In den ersten Monaten nach der Schaffung des Staates gelang es beiden Seiten (wobei
die Slowenen eine ähnliche Position wie die Kroaten hatten) nicht, eine Lösung für die
zukünftige Gestalt des Staates zu finden. Ohne die Vorarbeit des kroatisch-dominierten
Jugoslawischen Komitees wären andere staatliche Lösungen wahrscheinlicher gewesen.
Man kann also Jugoslawien nicht als einen von außen aufgezwungenen Staat
bezeichnen, doch genauso wenig bestand ein breiter Konsens für eine jugoslawische
Ideologie. Obwohl der neue jugoslawische Staat ohne Zweifel in erster Linie aus sich
selbst heraus entstand, wäre er ohne den Sieg der Entente und der fehlenden Bereitschaft
Österreich-Ungarns zu einem getrennten Friedensvertrag mit der Entente Anfang 1918
kaum denkbar gewesen.120
Die Gründung Jugoslawiens wurde in der kroatischen Bevölkerung mit Skepsis
aufgenommen, von der serbischen und auch die muslimischen Bevölkerung dagegen
weitgehend begrüßt. Während die serbische Bevölkerung auf eine mit dem neuen Staat
verbundene Landreform hoffte, versuchte die politische Führung der Muslime eine
derartige Neuregelung zu verhindern, da sie, wie erwähnt, die bei weitem größten
Landbesitzer in Bosnien stellten.121
118
Im folgenden Text wird das Königreich der Serben, Kroatien und Slowenen zur Vereinfachung als
Jugoslawien bezeichnet, auch wenn der Staat erst nach 1929 offiziell diesen Namen trägt.
119
Hierfür s. Charles Jelavich, South Slav nationalisms - textbooks and Yugoslav Union before 1914
(Columbus, Oh. 1990) 138-243.
120
Ivo J. Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, in: Peter F. Sugar, Ivo J. Lederer (Hg.) Nationalism
in Eastern Europe (Seattle/London 1969), 428-430; Mirjana Gross, Wie denkt man kroatische
Geschichte? in: Österreichische Osthefte, Nr. 1/93, Jhrg. 35, 89.
Zur Bodenreform vgl. Arnold Suppan, Jugoslawien und Österreich (Wien-München, 1996).
121
41
Die Serben stellten den höchsten Anteil an der bosnischen Bevölkerung in der
Zwischenkriegszeit. Die Bevölkerungsverteilung blieb im 1. Jugoslawien weitgehend
stabil, da es keine größeren Emigrationsströme gab (s. Tabelle 4).
1921
1931
Orthodoxe
829.920
43,9 %
1.028.139
44,2 %
Muslime
588.204
31,1 %
718.079
30,9 %
Katholiken
444.308
23,5 %
547.949
23,6 %
Andere
28.638
1,5 %
29.388
1,3 %
Gesamt
1.890.440
100 %
2.323.555
100 %
Tabelle 4: Ergebnisse der Volkszählungen 1921 und 1931
122
Die Parteien Bosniens
Bereits in dieser Anfangsphase Jugoslawiens entstand die JMO, die Jugoslawische
Muslimische Organisation, die sich schon bald zur einzigen nennenswerten Partei der
Muslime in Bosnien entwickelte. Sie wurde Anfang 1919 in Banja Luka gegründet. Der
erste Präsident Ibrahim Maglajlić verschrieb sich noch ganz einem zentralistischen
Jugoslawien. Schon bald übernahm der bereits erwähnte Mehmed Spaho die Führung.
Im Gegensatz zu Maglajlić verlangte er eine Autonomielösung für Bosnien. Anderes als
die kroatischen Bauernpartei wollte die JMO jedoch Jugoslawien als einheitlichen Staat
erhalten. Dementsprechend befand sie sich meist in einer Koalition mit den serbischen
Parteien. Zugleich bemühte sich die Partei um eine Vermittlung zwischen Kroaten und
Serben.
Die führenden Politiker der JMO stammten aus der urbanen Mittelschicht, sie mußten
jedoch eine äußerst heterogene Gruppe vertreten, wie auch die anderen neuen Parteien
Jugoslawiens, die meist nach ethnischen Kriterien entstanden. Die JMO sah sich nicht
als nationale Partei, obwohl sie nur Muslime vertrat. Grund hierfür war, daß sich die
muslimische Bevölkerung vor dem zweite Weltkrieg entweder als Serben, Kroaten oder
Jugoslawen identifizierten. Eine muslimische Nation, wie sie in Bosnien unter Tito
entstand, gab es damals noch nicht. Ivo Banac gibt hierfür sehr klare Beispiele: Von den
24 Abgeordneten der JMO 1920 bezeichneten sich 15 als Kroaten, 2 als Serben, 5 gaben
keine Nation an und nur einer sah sich als Bosnier. Auch Mehmed Spaho erklärte sich in
seiner Jugend als Serbe, später verweigerte er eine Festlegung und bezeichnete sich
Jugoslawe. Sein Bruder, der zwischen 1938 und 1942 auch Reis ul-ulema war, sah sich
selber als Kroate, während sich der dritte Bruder als Serbe registrieren ließ.123
Der wichtigste kroatische Politiker Bosniens, Josip Sunarić, folgte der Linie der
kroatischen Bauernpartei von Stjepan Radić. Im Kern der Partei und der politischen
Arbeit von Radić stand die Durchsetzung von größerer Autonomie für Kroatien. Irvine
Gill teilt die Entwicklung der Bauernpartei bis zur Ausrufung der Königsdiktatur in drei
Phasen. In der ersten Phase bis 1925 wies sie die neue politische Ordnung zurück, in der
zweiten Phase 1925-26 bildete sie den Koalitionspartner der Radikalen Partei, während
122
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.
123
Banac, The National Question in Yugoslavia, 371, 375; Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina,
122-125; Malcolm, Bosnia, 163.
42
sie in der 3. Phase erneut eine Oppositionspartei wurde, die jedoch den Staat
grundsätzlich akzeptierte.124
Die Bauernpartei des kroatischen Volkes, die von Anton und Stjepan Radić 1903
gegründet worden war, strebte ursprünglich eine Donauföderation an. Vor und während
des Krieges trat die Bauernpartei für einen kroatischen Staat innerhalb ÖsterreichUngarns ein (möglichst als dritter Teil des Staates). Dieses Ziel wurden durch das Ende
der Monarchie 1918 unmöglich. Radić stand einer Union mit Serbien und Montenegro
skeptisch gegenüber und erkannte die Monarchie nicht für Kroatien an. Vor der ersten
Wahl 1920 spielte die Partei von Radić noch keine große Rolle. Erst nach den ersten
Wahlen unter allgemeinem Wahlrecht in Kroatien und Bosnien wurde die Gefolgschaft
der Partei unter den Bauern deutlich.125
Die kroatische Parteien versuchten die muslimische Bevölkerung anzusprechen und
strebten eine Einbeziehung Bosniens in ein autonomes Kroatien an. Bis zum Ende des 1.
Jugoslawiens gelang es den kroatischen Parteien nicht, Muslime in größerem Umfang
zu integrieren.
Die serbische Parteien bemühten sich kaum um die Muslime, die aufgrund der Kriege
mit dem Osmanischen Reich und der Mythologisierung der Schlacht auf dem Kosovo
Polje 1389 als potentielle Feinde gesehen wurden. Da die Serben in Jugoslawien die
größte einzelne Nation bildeten, waren sie weniger als die Kroaten gezwungen andere
Nationen einzubinden. Die serbischen Einwohner Bosniens unterstützten neben der
Radikalen Partei und der Demokratischen Partei die Serbische Bauernpartei, die sich für
eine Landreform und die Belange der Bauern einsetzte.126
Von den ersten Wahlen bis zur Krise der Demokratie
Am 20. November 1920 fanden die ersten relativ freien Wahlen zur
Verfassungsversammlung statt. Neben der JMO traten noch andere muslimische
Parteien zur Wahl in Bosnien an, diese erhielten jedoch weniger als 2 Prozent aller
Stimmen und gingen bald in der JMO auf oder versanken in der politischen
Bedeutungslosigkeit. Die JMO erhielt 6,9 Prozent in Gesamtjugoslawien, was 33,5
Prozent der Stimmen in Bosnien entspricht. Somit wählte fast die gesamte muslimische
Bevölkerung die Jugoslawische Muslimische Organisation. In etlichen Gemeinden
erhielt die JMO mehr Stimmen, als sich Einwohner als Muslime deklariert hatten.127
Bei der serbischen Bevölkerung waren mehrere Parteien erfolgreich: So erhielten die
Demokratische Partei (DS), die Radikale Partei (NRS) und die Bauernpartei die meisten
Stimmen der serbischen Bevölkerung. Die in Kroatien starke „Kroatische Bauernpartei“
trat bei den ersten Wahlen noch nicht in Bosnien an. Die eher lockere Gruppierung des
Nationalen Klubs und die „Kroatische Volkspartei“ (HPS) lagen 1920 in der Gunst der
kroatischen Bosnier vorn. Lediglich die Kommunistische Partei (KPJ), die nur wenige
Jahre später verboten wurde, konnte als multinationale Partei einen nennenswerten
Stimmenanteil in Bosnien erzielen. Wobei die KP genauso wie anderen zumindest
124
Jill A. Irvine, The Croat Question (Boulder, Col. 1993) 40.
125
Banac, The National Question in Yugoslavia, 226-229.
126
Ebd., 189-192, 372 f.
127
Muslime als religiöses und nicht nationales Bekenntnis, Ebd., 389, 370.
43
teilweise multinationale Parteien (Sozialdemokraten
muslimische Kandidaten für Bosnien aufstellten.128
DS
NRS
Nationalklub
KPJ
Serbisch
Serbisch
Kroatisch
Jugoslawisch
5,59 %
17,96 %
11,6 %
5,46 %
und
129
Bauernpartei)
kaum
JMO
Bauernpartei
Kroatisch
Muslimisch
Serbisch
6,28 %
33,5 %
16,65 %
SLS/HSP
Tabelle 5: Ergebnis der Wahlen am 28.11.1920 in Bosnien in Prozent130
Wie deutlich die Parteienwahl und die nationale Zugehörigkeit zusammenhängen, läßt
sich in Tabelle 6 erkennen. Hier werden die jeweiligen Parteien nach ihrer nationalen
Orientierung zusammengefaßt und mit der Volkszählung von 1921 verglichen. Dabei
fällt die große Übereinstimmung zwischen Wahlverhalten und nationaler Identität auf.
Bevölkerungszählung 1921
Wahlergebnis 1920
Muslimisch
31.1 %
33.5 %
Serbisch (bzw. orthodox)
43.7 %
40.2 %
Kroatisch (bzw. katholisch)
21.3 %
17. 88 %
-
5.46 %
Jugoslawisch
Tabelle 6: Vergleich der Wahlergebnisse 1920 mit der Volkszählung (nach Religionszugehörigkeit)
131
1921
Im folgenden Jahr wurde die zentralistische Vidovdan Verfassung in Belgrad auf
Vorschlag von Premierminister Pašić verabschiedet. Alle Abgeordnete der JMO
stimmten für diese neue Verfassung und gewannen als Gegenleistung die territoriale
Integrität Bosniens. Das Land blieb nicht als einheitliche Provinz erhalten, da
Jugoslawien in kleinere Bezirke (Oblast) aufgeteilt wurde. Die 6 Bezirke Bosniens
stimmten jedoch mit den Grenzen des Landes unter österreichisch-ungarischer
Verwaltung überein. Die Verabschiedung der neuen Verfassung wurde durch die
Mehrheit der kroatischen Abgeordneten unter der Führung der kroatischen Bauernpartei
boykottiert, so daß der Verfassung von Anfang an die nötige Legitimität fehlte. Nur die
Stimmen der JMO ermöglichten die Verabscheidung der Vidovan Verfassung. Auch
später tat sich die JMO als wichtiger Partner in serbisch-zentralistischen Regierungen
hervor.
Der muslimischen Partei gelang es auch eine Abschwächung der Landreform zu
erwirken. Das Dekret des Königs Alexander vom 25. Februar 1919 bedurfte 12 Jahre,
bis es umgesetzt wurde. Es sah die Abschaffung der Kmetentums, die Aufteilung von
Großgrundbesitz und die Entschädigung der vormaligen Eigentümer vor. Insgesamt
erhielten 150.000 Bauern Land, während die alten Eigentümer mit Geld und
Staatsanleihen entschädigt wurden. Die durchschnittliche Größe der neuen Felder war
128
Ebd., 370-371, 389. Bei den Sozialdemokraten und der Bauernpartei waren weniger als 2 %
Muslime, bei der KPJ immerhin fast 12 %.
129
SLS steht für die Slowenische Volkspartei, die in Jugoslawien mit der HSP zusammen kandidierte.
In Bosnien kann man das Ergebnis jedoch als Stimmen für die kroatische HSP werten, zur HSP, s.
Ebd., 349-351.
130
Ebd., 389.
131
Ebd., 389; Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 97.
44
jedoch so klein, daß es zu keiner grundlegenden Verbesserung der Lage für Kleinbauern
kam und auch die Produktivität nicht wesentlich erhöht werden konnte.
Die fehlende Bereitschaft der regierenden serbischen Parteien und der Verwaltung, der
kroatischen Bevölkerung durch Kompromisse entgegenzukommen, leitete den Beginn
der großen Differenzen zwischen Kroaten und Serben ein. Dieser Konflikt verhinderte
eine demokratische Entwicklung und führte 1929 zur Königsdiktatur. Im Juni 1928 kam
es zu einer besonders hitzigen Sitzung im Parlament, bei der ein Abgeordneter der
Radikalen Partei Stejpan Radić erschoß, woraufhin die Regierung aufgelöst wurde. Ein
neues national „neutrales“ Kabinett unter dem Slowenen Korošec sollte die
Unterstützung der Bauernpartei sicherstellen. Dieser politische Lösungsversuch schlug
jedoch fehl. Sie boykottierte nach dem Zwischenfall das Parlament. Da somit das
Parlament beschlußunfähig wurde, nützte König Alexander die Gelegenheit, um im
Januar 1929 die Königsdiktatur auszurufen. Das Parlament wurde aufgelöst und
politischen Parteien wurden verboten. Mit dem Tod Radić's endete die erste
demokratische Phase Jugoslawiens.132
Die Zeit nach dem 1. Weltkrieg hat neben einer neuen politischen Landschaft in
Bosnien auch eine soziale Liberalisierung mit sich gebracht. Insbesondere unter den
Muslimen kam es zu einer Modernisierung. So führte der religiöse Führer der Muslime,
Reis ul-ulema Caušević, nachdem er bei einem Besuch der Türkei durch die Reformen
Atatürks inspiriert wurde, eine Öffnung der muslimischen Gesellschaft ein. Frauen
durften arbeiten und ihre Verschleierung wurde abgeschafft. Männer sollten nach
türkischem Vorbild den Fez durch einen Hut ersetzen.133
Die Königsdiktatur
Der Versuch König Alexanders, Jugoslawien, nunmehr der offizielle Name des Landes,
durch die Diktatur größere Stabilität zu verleihen, gelang nur in begrenzt. Die
allgemeinen politischen Aktivitäten wurden zwar vorerst eingedämmt, doch die
Spannungen zwischen Kroaten und Serben innerhalb von Jugoslawien konnte er nicht
lösen. Er teilte das Land in 9 Banschaften (Banovine) ein. Vier dieser Banovine
verliefen durch Bosnien: Drina, Zeta, Primorska und Vrbas. Drina umfaßte
Nordostbosnien mit dem Verwaltungszentrum Sarajevo, Zeta die Herzegowina und
Südostbosnien mit Cetinje (Montenegro) als Zentrum. In der Banovina Primorska lag
das bosnische Hinterland der kroatische Küste mit Split als Sitz der Administration. Zu
Vrbas gehörte Nordwestbosnien, mit Banja Luka als Verwaltungszentrum. Diese
Maßnahmen bewirkten, daß die Muslime in keinem Verwaltungsbezirk die Mehrheit
besaßen. Diese Gebiete wurden von einem Ban verwaltet, der vom König eingesetzt
wurde.134 Doch nicht nur auf der Ebene der Banovine hatte die Königsdiktatur
Auswirkungen. Viele muslimische Bürgermeister wurden durch Serben ersetzt, die
direkt vom König ernannt wurden. Trotz dieser Verwaltungsreform, stand die JMO der
Königsdiktatur nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. Sie stellte sich allerdings
gegen die Aufteilung des Landes in Banovine. Nur ein Jahr später ordnete König
Alexander per Dekret an, daß alle Muslime Jugoslawiens einen gemeinsamen Reis ululema erhalten sollen. Sein Sitz war Belgrad, was den zentralistischen Anspruch
132
Holm Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 1918-1980 (Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1982) 5072.
133
Malcolm, Bosnia, 167.
134
Law altering the appellation and administrative divisions of the Kingdom of the Serbs, Croats and
Slovenes, Belgrade 2.10.1929, in: Trifunovska (Hg.) Yugoslavia through Documents, 195 f.
45
untermauerte. Daraufhin trat der bosnische Ulema Caušević zurück. Er wurde durch den
proserbischen ersten Präsidenten der JMO Malajlić ersetzt.135
In der zweiten Hälfte der Dreißiger Jahre kam es zu einer vorsichtigen
Redemokratisierung. Nach einer neuen Verfassung von 1931 entstand 1932 eine
„neutrale“ Regierungspartei, die weitgehend der vormaligen Radikalen Partei entsprach
und weiterhin die bosnische und kroatischen Kräfte ausschloß. Nach der Ermordung von
König Alexander im Jahre 1934 durch einen mazedonischen Attentäter, der im Auftrag
der kroatischen Ustaša-Bewegung agierte, kam es zu einer Entspannung der politischen
Lage in Jugoslawien unter der Regentschaft von Prinz Paul. Ein Jahr später fanden
Wahlen statt, die zwar manipuliert wurden, jedoch gewisse Freiheiten zuließen. In Folge
wurde die JMO erneut an der Regierung beteiligt.136
Der Kroatisch-Serbische Ausgleich
Ende der Dreißiger Jahre kam es zu einer Annäherung von Kroaten und Serben. Daraus
ging die Regierung Cvetković-Maček hervor. Maček vertrat als Nachfolger Radić's in
der Bauernpartei die kroatischen Interessen. Im Rahmen dieser Annäherung entstand
1939 der Ausgleich (Sporazum), der Kroatien als einheitliches Banovina herstellte.
Dieses Banovina umfaßte nicht nur die Sava-Banovina (Kroatien und Slawonien),
sondern auch Primorska. Damit fielen große Teile des historischen Bosniens an das
kroatische Banovina. So kam Nordbosnien um Brčko und die Herzegowina, sowie
Südbosnien an Kroatien.137 Die beiden verbleibenden Banovine mit bosnischen
Gebieten gelangten infolge des Sporazums verstärkt unter serbische Kontrolle.
Mit dem Sporazum muß die Bauernpartei aber auch erstmals Regierungsverantwortung
in umfangreichem Ausmaß übernehmen. Ab August 1939, weniger als eine Woche vor
Beginn des 2. Weltkrieges, erhielt Kroatien die Oberhoheit über Handel, Landwirtschaft,
Industrie, Forstwirtschaft, Bauwesen, Bergbau, Soziale Fragen, Gesundheit, Justiz,
Sporterziehung und innere Verwaltung. Zwei Jahre später, kurz vor Kriegsausbruch in
Jugoslawien, erhält es auch die Kontrolle über die Gendarmerie. Im Lauf der Jahre hatte
die Bauernpartei viele Oppositionsinstitutionen aufgebaut, die nun legalisiert und der
Banovina angegliedert wurden. Am wichtigsten war hierbei der paramilitärische
Verband der Partei. Dieser Erfolg der Bauernpartei führte zu Problemen, da sie ihre
wichtigstes Programmziel erreicht hatte und nun innerparteiliche Differenzen über das
weitere Vorgehen sichtbar wurden.138
Im Juni des selben Jahres starb Mehmed Spaho, der trotz seiner mehrmaligen
Regierungsbeteiligung eine Aufteilung Bosniens auf Kosten der Muslime nicht
verhindern konnte. Sein Nachfolger Džafer Kulenović forderte, der Linie von Spaho
folgend, eine eigene bosnische Banovina.139
In dieser Zeit wurde die Kommunistische Partei und die Ustaše aktiv. Die Ustaše
nahmen bis kurz vor dem zweiten Weltkrieg eine marginale Rolle in der politischen
135
Malcolm, Bosnia, 170 f.
136
Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 77-83.
137
Interessant ist hierbei, daß sich ein Großteil der bosnischen Gebiete des Banovina
Primorska/Kroatien mit den Anprüchen der kroatischen Bosnier und ihrer Republik Herceg-Bosna
1993-94 deckt.
138
Rudolf Kiszling, Die Kroaten. Der Schicksalsweg eines Südslawenvolkes (Graz/Köln 1956) 160162.
139
Malcolm, Bosnia, 172 f.
46
Landschaft Kroatiens ein. Der Anführer Ante Pavelić war vorher Führer der Partei des
kroatischen Rechts und lehnte Jugoslawien vollkommen ab. Er ging 1929 ins
italienische Exil und organisierte von dort aus Militärlager. 1932 gründete er offiziell
die Ustaše - Kroatische Revolutionäre Organisation. Nach seiner Vorstellung sollte
Kroatien neben den Gebieten der Banovina auch ganz Bosnien-Herzegowina umfassen
und politische Rechte nur Kroaten gewähren. Gleichzeitig mit der Ermordung von
König Alexander organisierte er 1934 einen erfolglosen Aufstand in seiner
Heimatregion Lika. Die Kampfverbände der Bauernpartei wurden von den Ustaše
infiltriert und konnte deshalb nicht gegen sie eingesetzt werden. Obwohl 1940 etliche
Ustaše-Führer verhaftet wurden, konnte die Organisation weiter in Kroatien agieren.
Auch die serbischen Oppositionsparteien versuchten nun, das Sporazum zu zerstören
und forderten eine Neuverhandlung. Sie beanspruchten ganz Bosnien-Herzegowina für
Serbien.140
Am 25. März 1941 schloß die jugoslawische Regierung einen Bündnisvertrag mit
Deutschland, der auf deutschen Druck hin zustande kam. Nur zwei Tage später kam es
zu einem Putsch durch General Dušan Simović. Dieser Machtwechsel wurde von den
meisten politischen Kräften begrüßt und die meisten Minister blieben im Amt.141 So trat
die kroatische Bauernpartei der neuen Regierung bei und auch die Muslime Bosniens
unterstützen einen Kurswechsel gegenüber Deutschland. Doch mit der Bombardierung
Belgrads durch die deutsche Luftwaffe am 6. April 1941 und der folgenden Invasion
endete diese Regierung und das erste Jugoslawien. Der königliche Generalstab floh
zuerst nach Pale und Sarajevo und dann über Montenegro nach London.142
Trotz des Bestehens Jugoslawien unternahm niemand in der Zwischenkriegszeit den
ernsthaften Versuch ein jugoslawisches Nationalgefühl aufzubauen. Obwohl dies den
Erfolg des Staates stark behinderte, gab es vor dem zweiten Weltkrieg zumindest nie
eine wirkliche Gefahr, daß Jugoslawien zerbricht. Ivo Lederer führt dies darauf zurück,
daß Jugoslawien von revanchistischen Staaten umgeben war,143 die teilweise aggressiv
territoriale Ansprüche stellten. Dieses Umfeld brachte sogar die Bauernpartei dazu, trotz
ihrer ursprünglichen Ablehnung des Staates, diesen nicht mit allen Mitteln (oder mit
Hilfe äußerer Unterstützung, z.B. des faschistischen Italiens) zu bekämpfen.144
Es ist jedenfalls den politischen Eliten in der Zwischenkriegszeit nicht gelungen, einen
Staat aufzubauen, der von einem allgemeinen Konsens getragen wurde. Die fehlende
Kompromißbereitschaft hatte schon während des Bestehens von Jugoslawien die
Extreme gestärkt und die interne Stabilität zerstört. Hierin liegt auch die Erklärung für
die schwache Verteidigung der jugoslawischen Armee 1941 und den nachfolgenden
blutigen Bürgerkrieg.145
Bosnien-Herzegowina im 2. Weltkrieg
Ähnlich wie auch andere Kriege und Bürgerkriege in multinationalen Staaten finden
sich im Rahmen der Einbeziehung Jugoslawiens in den 2. Weltkrieg mehrere parallele
140
Irvine, The Croat Question, 47-53.
141
Babara Jelavich, History of the Balkan, Bd. 2: Twentieth Century (Cambridge 1983) 236.
142
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 133-135.
143
Er nennt Italien, Ungarn, Bulgarien und das italienisch dominierte Albanien. Man könnte in
mancherlei Hinsicht auch Österreich hinzufügen.
144
Lederer, Nationalism and the Yugoslavs, 432 f.
145
Irvine, The Croat Question, 54-56.
47
Konflikte. So unterscheidet Noel Malcolm fünf sich überlagerende Kriege in der Zeit
zwischen 1941 und 1945. Der erste Krieg wurde von Deutschland und Italien gegen
Jugoslawien geführt. Auf einer zweiten Ebene kämpften die Achsenmächte gegen die
Alliierten. Im dritten Krieg standen Italien und Deutschland den Widerstandsgruppen in
Jugoslawien gegenüber. Malcolm unterscheidet zwei weitere Bürgerkriege: Der Kampf
der Ustaše gegen die serbische Bevölkerung und schließlich die Auseinandersetzungen
zwischen den Partisanen und den Četnici.146 Dieser Liste ließ sich noch der Krieg
zwischen den Partisanen und den Ustaše hinzufügen.
Noch vor Ende des Angriffskrieges Deutschlands gegen Jugoslawien wurde am 10.
April der „Unabhängige Staat Kroatien“ (NDH) ausgerufen. Zu ihm gehörte ganz
Bosnien-Herzegowina und Srem bis an den Zusammenfluß von Sava und Donau bei
Belgrad. Einige dalmatinische Küstenstreifen fielen nicht an Kroatien, sondern an
Italien. Dieser Staat war jedoch nicht unabhängig, wie es der Name versucht zu
suggerieren, sondern stand unter deutschem und italienischem Einfluß. Er war in zwei
Okkupationszonen geteilt. Die Gebiete entlang des Mittelmeers und das Hinterland
kamen unter italienische Militärverwaltung, während der Rest von der deutschen Armee
besetzt wurde. In zwölf Provinzen finden sich Teile Bosniens, wobei in sieben das
Zentrum dieser Provinzen in Bosnien selber liegt, während sich in den anderen fünf das
Zentrum außerhalb Bosniens befand.147
Die Ustaša Regierung, die eingesetzt wurde, besaß kaum eine breite Unterstützung in
Kroatien oder Bosnien. Sie agierte zuvor in erster Linie aus dem Ausland. Nach
Angaben von Noel Malcolm hatte sie nur 12.000 Mitglieder in Kroatien. Die scheinbare
Verwirklichung der weitverbreiteten Forderung nach einem unabhängigen kroatischen
Staat, das in der Zwischenkriegszeit unter anderem von der kroatischen Bauernpartei
gefordert wurde, brachte der Ustaša-Partei eine gewisse Unterstützung zu Beginn des
NDH. Die kroatische Bauernpartei lehnte jedoch eine Zusammenarbeit mit den
Achsenmächten ab, so daß Maček auch das Angebot den NDH zu führen abschlug.148
Das Regime ging außerordentlich gewalttätig gegen die Zivilbevölkerung vor. Neben
der Judenverfolgung, konzentrierten sich die Progrome auf die 1,9 Millionen Serben,
fast ein Drittel der insgesamt 6,3 Millionen Einwohner. Hierbei kam es neben
Vertreibungen und erzwungenen Konvertierungen auch zum Massenmord. So war es
das Ziel von Ante Pavelić, dem Poglavnik (Führer) des NDH, ein Drittel aller Serben zu
vertrieben, ein Drittel zu ermordet und ein Drittel zum Katholizismus zu
konvertieren.149 Während der Erzbischof von Zagreb Stepinac die erzwungenen
Übertritte ablehnte, stieß die Vorgehensweise des Regimes auf die Unterstützung vom
Erzbischof Šarić von Sarajevo. Insbesondere die Franziskaner beteiligten sich aktiv an
der Politik der Ustaše. Viele von ihnen wurden in Italien in der Nähe des Hauptquartiers
der Ustaše ausgebildet und noch vor dem Krieg rekrutiert. Kritische Geistliche und
Intellektuelle lehnten die Zusammenarbeit ab und gerieten nach dem Krieg oft in
146
Malcolm, Bosnia, 174.
147
Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and
Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,
Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)
141.
148
Zur Struktur des „Unabhängigen Kroatien“ s. Holm Sundhaussen, Der Ustascha-Staat: Anatomie
eines Herrschaftssystems, in: Österreichische Osthefte, Nr. 2/95, Jhrg. 37, 497-533.
149
Malcolm, Bosnia, 174 f.
48
Konflikt mit der kommunistischen Partei (vgl. Kapitel 3.4.1).150 Insgesamt wurden über
200.000 Serben konvertiert und 100.000 Serben ermordet. Symbol dieser Verfolgungen
wurde das Lager Jasenovac in Westslawonien, in dem die meisten Serben im Krieg
ermordet wurden.151
Der Terror ging so weit, daß sich bereits im Juli 1941 deutsche Armeeangehörige über
die Brutalität beschwerten. Die Ustaše bemühten sich um die Unterstützung der
Muslime. Der JMO-Vorsitzende Džafer Kulenović wurde im November 1941 zum
kroatischen Vizepräsident. Auch zeigte sich Pavelić bei dem 1. Jahrestag der Ausrufung
des „unabhängigen Kroatiens“ mit einem Fez und bezeichnete die Muslime als die
„Reinsten aller Kroaten“.152 Die Ustaše räumten jedoch den Muslimen trotz derartiger
Deklarationen keine wirklichen Rechte ein. Die Rechte der Muslime verbesserten sich
im Vergleich zum Vorkriegsjugoslawien kaum. Dagegen wurde der Druck auf die
muslimische Bevölkerung durch die Četnici153 größer. Da das kroatische Regime keine
Sicherheit herstellen konnte, unterstützten die Muslime zunehmend die Partisanen. Die
Übergriffe der Četnici und die fehlende Repräsentation von Muslime in der
jugoslawischen Exilregierung verhinderten eine Kooperation zwischen muslimischen
Politikern und der serbischen Exilregierung. Es gab dementsprechend kaum Muslime,
die sich serbischen Freischärlern anschlossen. Unter der muslimischen Bevölkerung
bestanden Bemühungen, über den NDH-Staat hinweg mit den deutschen
Besatzungstruppen ein Bündnis zu schließen. Dies mißlang und führte lediglich 1943 zu
einer SS-Einheit (Handžar) aus bosnischen Muslimen. Der deutsch-freundliche
Großmufti von Jerusalem ermutigte die bosnischen Muslime, sich im Kampf gegen die
Kolonialmächte den Deutschen anzuschließen.154
Neben kleineren, lokal begrenzten Aufständen gegen das Regime bauten zwei Gruppen
ein weites Widerstandsnetz gegen das Ustaša-Regime auf: Die Četnici und die
Partisanen der kommunistischen Partei. Zu Beginn des Krieges war der Erfolg der
großserbisch-orientierten Četnici noch größer, unter anderem auch aufgrund ihrer
internationalen Anerkennung. Sie wurden von einem serbischen Offizier der
jugoslawischen Armee angeführt. Draža Mihailović erhielt die Rückendeckung der
königlichen Regierung im Exil, die ihn zum General und 1942 schließlich zum
Kriegsminister ernannte. Die Exilregierung sicherte den Četnici die Unterstützung durch
die Alliierten. Diese relativ dezentrale Widerstandsgruppe setzte sich ursprünglich für
eine Wiederherstellung des Vorkriegsjugoslawiens zum Ziel. Auch wenn dies offiziell
angestrebt wurde, stand die Schaffung Großserbiens im Zentrum der Bemühungen der
Četnici. Es sollte neben Serbien auch Montenegro, Bosnien, Slawonien, Dalmatien, und
150
Fred Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples (Cambridge 1985) 179-181.
151
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 141 f. Bis heute bestehen keine gesicherten Zahlen über die
serbischen Kriegsopfer. Serbische Historiker setzen die Zahl oftmals zu hoch bei über einer Million
an (z.B. Vladimir Dedijer, Jasenovac - das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan (Freiburg
1988)). Kroatische Historiker (z.B. Franjo Tudjman, Nationalism in Contemporary Europe (New
York 1981) 162-164) versuchen die Zahl nach unten zu korrigieren und schätzen weniger als
100.000 serbische Opfer des NDH.
152
Malcolm, Bosnia, 175 f.; Friedman, The Bosnian Muslims, 122.
153
Die Četnici beziehen ihren Namen von anti-osmanischen Einheiten in Serbien zur Zeit der
Herrschaft der Hohen Pforte. s. Castellan, Histoire des Balkans, 306 f.
154
Malcolm, Bosnia, 189.
49
sogar Teile Nordalbaniens umfassen, dessen nicht-serbische Bevölkerung, vergleichbar
mit der Politik der Ustaše, entweder ermordet oder vertrieben werden sollte.155
Die Četnici folgten einer anderen Taktik als die siegreichen Partisanen. Sie bekämpften
lediglich zu Anfang des Krieges, bis Ende 1941, offen die deutsche Besatzung. Im
weiteren Kriegsverlauf folgten sie der Linie der Exilregierung, die einen Beginn des
Widerstandes gleichzeitig mit der alliierten Invasion anstrebte. Zugleich versuchten sie
möglichst wenig in Konflikt mit den Besatzungsmächten zu kommen, um schwere
Repressalien der deutschen Besatzer gegen die serbische Zivilbevölkerung zu
verhindern und bereiteten stattdessen die erwartete Fronteröffnung durch die westlichen
Alliierten auf dem Balkan vor. Dies war eine Reaktion auf die deutsche Anweisung für
jeden durch den Widerstand getöteten Soldaten 100 Serben zu ermorden.
Insbesondere kroatische und muslimische Zivilisten wurden zu Opfern der Četnici. Die
Muslime wurden von den Četnici eng mit dem alten Feindbild der Türken identifiziert.
Diese Zurückhaltung gegenüber den Besatzern bewirkte jedoch, daß die
Hauptaktivitäten sich auf die Partisanen oder auf die Zivilbevölkerung konzentrierte.
Diese Linie brachte den Četnici die Kritik ein, durch ihre Politik den Besatzern sowohl
indirekt, wie auch direkt geholfen zu haben. Tatsächlich griffen die Četnici später die
Partisanen verstärkt an und machten die Zivilbevölkerung anderer Nationen zu den
Hauptopfern ihrer Übergriffe.156
Im Zentrum der zweiten Widerstandsgruppe stand die kommunistische Partei. Sie war in
der Zwischenkriegszeit sehr klein und wurde schon bald nach den ersten Wahlen 1920
verboten. 1940 hatte sie lediglich 6.000 Mitglieder in ganz Jugoslawien. In Bosnien
besaß die KP ein Jahr zuvor nur 170 Mitglieder. Zeitweilige Allianzen mit den Četnici
blieben von kurzer Dauer, da sich eine der beiden Gruppen besser mit dem
gemeinsamen Feind arrangieren konnte, als mit der anderen Widerstandsgruppe.
Während die Četnici in erster Linie in Serbien, Montenegro und in der Herzegowina
ihre Basis hatten, etablierten sich die kommunistischen Partisanen in Bosnien.
Der Parteivorsitzende (seit 1937) Josip Broz Tito wollte, im Gegensatz zu den Četnici,
nicht den Vorkriegszustand wiederherstellen oder eine Nation bevorteilen, sondern ein
sozialistisches Jugoslawien erschaffen.157 Bereits 1935 schlug die KP eine
Föderalisierung Jugoslawiens vor, während sie zuvor eine Zerschlagung des
„imperialistischen Gebilde“ Jugoslawien propagierte. Die Föderalisierung sollte mit
einer Zentralisierung auf der politischen Ebene einhergehen und konnte somit kaum
einen wirklich föderalen Staat hervorbringen, nach sowjetischem Vorbild. Die
Föderalisierung spiegelt sich auch im Motto der Partisanen wieder: Bratstvo i jedinstvo
(Brüderlichkeit und Einigkeit). Gerade dieses Konzept zog viele Nichtkommunisten an.
So gab es Religionsvertreter in den Einheiten der Partisanen, Nichtkommunisten hielten
Posten bei den Partisanen und innerhalb der provisorischen Regierung inne. Allerdings
sorgte die KP dafür, daß sie keine wirkliche Macht abzugeben hatte. So wurde im
Herbst 1942 in Bihać der antifaschistische Rat zur Volksbefreiung Jugoslawiens
(AVNOJ) gegründet, dem neben Kommunisten auch prominente Vertreter der
Vorkriegsparteien angehörten. In Jajce wurde ein Jahr später Tito zum Präsidenten des
155
Josef Manoschek, „Serbien ist judenfrei“ Militärische Besatzungspolitik und Judenvernichtung in
Serbien 1941/1942 (=Beiträge zur Militärgeschichte 38, München 1993) 114-121.
156
Donia, Fine, Bosnia and Hercegovina, 143 f.
157
In der Zwischenkriegszeit lehnte die KP auf Weisung Moskaus sogar zeitweise Jugoslawien
grundsätzlich ab und forderte eine staatliche Neuordnung des Balkans.
50
nationalen Befreiungskomitees (die Exekutive des AVNOJ) gewählt. Die Partisanen
machten somit der Exilregierung in London die Vertretung Jugoslawiens streitig.158
Am Beginn der Partisanenkämpfe im Juli 1941 bestand die Gruppe in erster Linie aus
Serben aus der Šumadija, doch schon bald wuchs die Zahl der Partisanen aus anderen
Nationen stark an. Im Mai 1942 wurde die erste eigene Einheit für die Muslime
geschaffen.159 Im selben Jahr kontrollierten die Partisanen bereits ein größeres Gebiet in
Nordwestbosnien. Während die italienischen Besatzung mit den Četnici teilweise
zusammenarbeitete, bekämpfte die deutsche Armee sowohl die Partisanen, als auch die
Četnici.160 Der Erfolg der Partisanen und der Druck der Alliierten führte im September
1944 zu einem Aufruf von König Peter, die Partisanen zu unterstützen. Bereits bei der
Konferenz 1943 in Teheran beschlossen die Alliierten nur noch mit den Partisanen zu
zusammenzuarbeiten, als deutlich wurde, daß die Četnici mit den Besatzern
kollaborierten.161 Zugleich brach die Herrschaft der Ustaše zusammen. Viele
Angehörige desertierten zu den Partisanen, auch der Waffenstillstand Italiens 1943
begünstigte die Partisanen.
Die Sympathien der bosnischen Kroaten, wie auch der Kroaten in Kroatien, waren
gespalten. Viele schlossen sich entweder den Ustaše oder den Partisanen an. Zu Beginn
des Krieges erfuhren die Ustaše noch Unterstützung, doch die Kombination der
Terrorherrschaft und des Erfolges der Partisanen führte zu einer stärkeren Gefolgschaft
der multinationalen Armee. Die Sympathien der serbischen Bevölkerung waren ähnlich
zwischen den Partisanen und den Četnici gespalten. Auch hier gewann die erste Gruppe
allmählich die Oberhand. Während jene Serben, die in Serbien selber oder im
Grenzgebiet wohnten, eher die Četnici unterstützten, waren die Partisanen in der
serbischen Bevölkerung in Zentral- und Westbosnien stärker verankert. Die Lage für die
bosnischen Muslime stellte sich weitaus schwieriger dar. Wie im vorhergehenden
Kapitel erwähnt, war in der Zwischenkriegszeit die Selbstidentifikation der Muslime
noch nicht gefestigt. Dies wirkte sich auch auf die jeweiligen Sympathien während des
Krieges aus. So vertrat der Bruder von Mehmet Spaho, dem Parteivorsitzenden der
JMO, eine prokroatischen Linie. Er war zugleich auch der Reis-ul-Ulema zwischen
1938 und 1942. Während des Krieges kämpften Muslime auf fast allen Seiten mit; am
wenigsten bei den Četnici, jedoch bei den Partisanen und in der Armee der Ustaše. Die
bosnischen Muslime erhalten in den Plänen der KP nicht den Status einer eigenen
Nation, Kardelj beschreibt die Muslime Bosniens 1936 als „besondere ethnische
Gruppe“. Das Versprechen der Partisanen Bosnien als Republik wiederherzustellen hat
zur muslimischen Unterstützung für ein sozialistisches Jugoslawien beigetragen.
Insgesamt litt die muslimische Bevölkerung proportional gesehen am meisten. So
starben während des 2. Weltkrieges 75.000 Muslime, beziehungsweise 8,1 Prozent
dieser Bevölkerungsgruppe.162
158
Sundhaussen, Geschichte Jugoslawiens, 130-136.
159
Friedman, The Bosnian Muslims, 128 f.
160
Einige Četnici-Einheiten wurden von den deutschen Besatzern legalisiert, indem sie sie formal dem
serbischen Marionettenregieme von General Nedić unterstellt, s. Manoschek, „Serbien ist judenfrei“,
116.
161
„The Yugoslav partisans, under the leadership of Marshall Tito, would be supported by the three
powers 'to the greatest possible extent.'“ The Tehran Conference, in: Frederick H. Hartmann (Hg.)
Basic Documents of International Relations (New York/Toronto/London 1951) 164.
162
Malcolm, Bosnia, 180 f.
51
Insgesamt setzten sich die Partisanen durch, da es ihnen gelang, gerade in Bosnien für
alle drei Nationen attraktiv zu sein und nicht, wie die anderen beiden Gruppen, die in
Bosnien aktiv wurden, einer repressiven nationalistischen Linie zu folgen.
Es war nicht überraschend, daß Bosnien im Zentrum des Widerstandes stand. Mit Hilfe
von Guerilla Taktik gelang es den Partisanen sieben deutsche Offensiven abzuwehren.
Während die Partisanen Ende 1944 bereits die größten Teile Bosnien-Herzegowinas
kontrollierten, gelang es ihnen erst am 6. April 1945 in Sarajevo einzuziehen, womit
ihre Herrschaft über Bosnien gesichert wurde. Obwohl der größte Teil Jugoslawien
durch die Partisanen befreit wurde, beteiligte sich die Rote Armee bei der Eroberung
Serbiens Ende 1944. Die letzten Einheiten Deutschlands und des Ustaše-Regimes
ergaben sich im Mai 1945, während einige kleine Četnici-Einheiten noch Jahre in
abgelegenen Gegenden Jugoslawien aushielten. Draža Mihailović wurde erst 1946
gefangengenommen und hingerichtet. Mit dem Sieg der Partisanen und der
kommunistischen Vorherrschaft über Jugoslawien begann Bosniens Geschichte als
Republik des 2. Jugoslawien, die mehr als doppelt so lange, 46 Jahre, andauern sollte.163
2.3.2. Libanon als französisches Mandatsgebiet
Bereits unter der osmanischen Herrschaft des Libanon war die französische Vormacht
im Land größer, als der Einfluß einer einzelnen Großmacht in Bosnien vor 1878. Die
Übernahme des Mandats für den Libanon und Syrien nach Ende des 1. Weltkrieges
instituionalisierte die französische Vorherrschaft über den Libanon. Zuvor waren die
Beziehungen Frankreichs zum Libanon in erster Linie mit den Maroniten verbunden.
Nun mußte Frankreich gegenüber den anderen Konfessionen eine politische Linie
definieren.
Die Konsolidierung der französischen Herrschaft
Anfang Oktober 1918 landeten französische Einheiten in Beirut. Im selben Monat zogen
die Einheiten von Faysal mit britischen Truppen in Damaskus ein. Damit endete die
osmanische Herrschaft Bereich der Levante. Zwei Jahre später, im April 1920, teilen
sich Frankreich und Großbritannien den Mashrik164 gemäß des Sykes-Picot Abkommens
auf. Irak und Palästina (mit Transjordanien) fielen unter britische Herrschaft, während
Libanon und Syrien von Frankreich verwaltet werden sollten. Lediglich die arabische
Halbinsel blieb nominell unabhängig. Im Vertrag von Sèvres, einem der „Pariser
Vorortverträge“, mußte die Türkei dieser Aufteilung zustimmen. Die französisch und
englisch besetzten Gebiete wurden zwei Jahre später offiziell in Mandate des
neugegründeten Völkerbundes umgewandelt. Gegen die französische Besatzung
formierte sich jedoch schon bald Widerstand von der Bevölkerung. Die syrischlibanesischen Aufständischen wurde bei einer Schlacht in Maysaloun, in der Nähe von
Damaskus, 1920 besiegt.165
Die Begründung für die Kolonialisierung des Libanons und der anderen ehemaligen
Gebiete des Osmanischen Reiches war der fehlendes Entwicklungsstand der Länder. Sie
sollten fremder Verwaltung unterstellt werden, bis sie sich selbst regieren können. Diese
Rechtfertigung findet sich in Artikel 22 der Satzung des Völkerbundes:
163
Siehe Jelavich, History of the Balkans, Bd. 2, 270-273
164
Die arabischen Gebiete in Asien ohne die arabische Halbinsel.
165
Hitti, Lebanon in History, 486 f.
52
„Certain communities formerly belonging to the Turkish Empire have
reached a stage of development where their existance as independent nation
can be provisionally recognized subject to the rendering of administrative
advice and assistance by a Mandatory until such time as they are able to
stand alone.“166
Die Formulierung bringt den Anspruch zum Ausdruck, nur im besten Interesse des
Landes die Verwaltung zu übernehmen. Zusätzlich wird von unabhängigen Nationen
gesprochen, die im Nahen Osten kaum zu diesem Zeitpunkt bestanden. So erhielt der
heutige Libanon seine jetzigen Grenzen erst 1920.
Die französische Kolonialpolitik war auf die Assimilation der lokalen Bevölkerung
bedacht und versuchte französische Kultur so zu verbreiten, daß zumindest Teile der
Kolonialvölker zu französischen Bürgern wurden. In der Kolonialpolitik Frankreichs
kommt somit weniger die französische Demokratie, als deren Zentralismus zum
Ausdruck. David Thomson beschreibt diese Politik folgendermaßen: „This policy had
the more limited aim of transforming a native élite into full French citizens, and at
taking this élite into partnership in administration.“167 Diese zentralistischen und
étatistischen Tendenzen wurden im Mandatsgebiet Libanon zwar nicht mehr so stark
wie in früheren Kolonien praktiziert, doch insbesondere auf die maronitische
Bevölkerung hatte diese Linie Einfluß. Diese Politik hatte den Nachteil für den Libanon
die maronitische Elite zu diskreditierten und der Bevölkerung eine einheitliche
politische Klasse vorzuenthalten. Zugleich führte dies dazu, daß ein großer
Bevölkerungsteil, die Maroniten, die französische Herrschaft nicht als Fremdherrschaft
empfand.
Der Status von Syrien und dem Libanon wurde am 24. Juli 1922 geregelt. Dieses
Dokument ist sehr knapp gefaßt und unausgewogen. So setzt sich ein unproportional
großer Teil des Textes mit archäologischen Bestimmungen (Art. 14) auseinander. Im
Statut verpflichtet sich Frankreich binnen drei Jahren eine Verfassung für die beiden
Mandatsgebiete zu verabschieden (Art.1). Nach dessen Inkrafttreten konzentrierten sich
die Kompetenzen der Mandatsmacht auf die außenpolitische Vertretung des Landes
(Art. 3) und die Anwesenheit von französischen Truppen zur Verteidigung des Landes
(Art.2). Weiterhin wurden die Menschenrechte und Grundfreiheiten (Art. 6 & 8), sowie
die Autonomie der Konfessionen (Art. 9 &10) mit dem Vertrag zugesichert. Neben dem
Arabischen wird Französisch als Amtssprache eingeführt (Art. 16).168 Die
Mandatsregelung erweckt den Eindruck, als sollte der Einfluß Frankreichs in die
internen Angelegenheit des Libanon (und Syrien) nach der Verabschiedung der
Verfassung minimal sein. Frankreich kontrollierte die Politik des Libanon jedoch bis zu
dessen Unabhängigkeit nach dem 2. Weltkrieg.
In den ersten Jahren der französischen Mandatszeit wurden neue Gesetze eingeführt, die
Währung an den französischen Franken gebunden und eine neue Verwaltung aufgebaut.
Auch wurde eine provisorische Verfassung verabschiedet, die die neuen Grenzen des
166
Convenant of the League of Nations, Article 22.3, in: Hartmann (Hg.) Basic Documents of
International Relations, 59.
167
David Thomson, Democracy in France since 1870 (New York/London 1964) 167.
168
Der Text der Mandatsregelung findet sich in Stephen Hemesley Longrigg, Syria and Lebanon under
French Mandate (London/New York/Toronto 1958) 376-380.
53
„Etat du Grand Liban“169 festlegte. In seiner Fläche ist dieser libanesische Staat doppelt
so groß wie das autonome Gebiet „Mont Liban“ der osmanischen Zeit.
Bevölkerungszahl vergrößerte sich um 50 Prozent. Die Küstenstädte kamen hinzu
(Beirut, Tripoli, Sidon und Tyrus), sowie einige Gebiete im Hinterland (Baalbek, Bekaa,
Hasbaïya, Rachaïya und Marj'uyun). Im Jahr 1913 lebten im Mont Liban 414.800
Einwohner, von ihnen waren 329.482 Christen (242.308 Maroniten). Zehn Jahre später
hatte das neue Libanon 628.863 Einwohner (150.000 in Beirut, 30.000 in Tripoli und
13.000 in Sidon) (vgl. Tabelle 7).170 Obwohl die Maroniten in diesem neuen Staat
dominierten, hießen nicht alle Maroniten diese Vergrößerung des Libanons
willkommen, da sie um ihre Vormachtstellung im neuen Staat fürchteten. Der Status der
Mandatsherrschaft berücksichtigte nicht den Widerstand von breiten Teilen der
Bevölkerung gegen die französische Herrschaft und gegen den neuen Staat an sich.
Im Rahmen des 14 Punkte Programmes (u.a. Selbstbestimmungsrecht der Völker) des
amerikanischen Präsidenten beauftrage Woodrow Wilson die King-Crane Kommission
die Unterstützung der Bevölkerung an den verschiedenen möglichen staatlichen
Lösungen zu bestimmen. Frankreich und Großbritannien versuchten vergeblich die
Arbeit der Kommission zu behindern. Der Bericht über Palästina, Syrien, Libanon,
sowie Mesopotamien (bzw. Irak) analysierte die Probleme der neuen Lage aus der Sicht
der lokalen Eliten (ca. 2.000 Personen wurden befragt). Im Zentrum dieses Berichts
stand Syrien.171 Die elfköpfige Kommission, bestehend aus amerikanischen Politikern,
Delegierten der Friedenskonferenzen und Historikern kam zum Schluß, daß Großsyrien
am meisten Unterstützung findet. Die historische Autonomie des Libanon könnte, so der
King-Crane Bericht, auch in einem gemeinsamen Staat mit Syriens gewahrt bleiben.
Die Kommission befragte die Eliten auch nach ihrer bevorzugten Mandatsmacht. Über
60 % von ihnen sprachen sich, kaum überraschend im Hinblick auf die Autoren, für eine
amerikanische Mandatsherrschaft aus. Gleichviele lehnten eine französische Herrschaft
strikt ab. Englische und französische Politiker protestierten naturgemäß gegen diese
Schlußfolgerungen. Das zentrale Gegenargument war die potentielle Bedrohung des
Islam für die Christen des Libanon und die Juden Palästinas. Somit erhoben die beiden
Mandatsmächte den Anspruch Palästina und den Libanon getrennt von Syrien zu
verwalten.
Die Positionen der Bevölkerung unterschieden sich jedoch nach Konfessionen. Drusen
und Muslime forderten meist ein gesamtarabisches Reich, wie es von Großbritannien
versprochen worden war. Neben vielen Muslimen wünschten sich viele Orthodoxe und
die winzige protestantische Religionsgemeinschaft einen Zusammenschluß mit Syrien.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich die schiitische Gemeinschaft noch kaum artikuliert und
folgte meist den politischen Führer der sunnitischen Muslime.172
169
Der Name steht in keinem Verhältnis zur geringen Größe des Landes mit etwas mehr als 600.000
Einwohnern und ca. 10.000 km2 Gesamtfläche (vergleichbar mit Oberösterreich).
170
Hitti, Lebanon in History, 488-490.
171
Syrien hier nicht im Sinne des Staates Syrien, sondern der geographischen Region, die auch den
Libanon und Palästina umfaßt.
172
Da die Schiiten sowohl in Großsyrien, wie auch in einem arabischen Reich, eine kleinere Minderheit
als im Libanon darstellen würden, kann man davon ausgehen, daß ihre Unterstützung für den
Libanon größer als unter den Sunniten war. Michael Kuderna, Libanon, in: Udo Steinbach, Robert
Rüdiger (Hg.) Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Geschichte und
Kultur, Bd. 2: Länderanalysen (Opladen 1988) 239; Michael Kuderna, Christliche Gruppen im
Libanon: Kampf um Ideologie und Herrschaft in einer unfertigen Nation (Wiesbaden 1983) 24.
54
Die Präferenzen wurden jedoch nicht nur durch die Konfessionszugehörigkeit, sondern
durch die Region geprägt. So fanden sich die meisten Befürworter eines unabhängigen
Libanon im Mont Liban, welches traditionell große Autonomie besaß. Im Bekaa und im
Südlibanon war die Identifikation mit dem Libanon jedoch historisch kaum verankert.173
Der Bericht sah bereits viele zukünftige Probleme voraus. So urteilte die Kommission,
daß sich Syrien ohne den Libanon in einer geographisch schwierigen Lage befindet, die
beide Ländern für einen französischen Einfluß anfällig machen. Zudem befürchtete sie
Schwierigkeiten für das Gleichgewicht zwischen Christen und Muslimen in einem
selbständigen Libanon.174
Selbst ein hoher französischer Kolonialbeamter, Robert de Caix, warnte vor einem
Großlibanon. Nach seiner Meinung würde Beirut das Gleichgewicht zwischen Stadt und
Land stören und sich zu einer überproportional großen Hauptstadt entwickeln. Tripoli
sah er wiederum als Zentrum der Gegner des Libanons, so daß der Anschluß der Stadt
einen zukünftigen Unruheherd darstellte. Er sollte mit beiden Vermutungen recht haben,
wenn auch erst 40 Jahre später.175
Die Republik Libanon
Am 23. Mai 1926 wurde der Libanon zu einer Republik erklärt. Zugleich wurde die
neue Verfassung verabschiedet. Sie führte die parlamentarische Demokratie als
Regierungssystem ein. Die Verfassung wurde von einem repräsentativen Rat auf
Anweisung des ersten zivilen Hochkommissars für den Libanon, Henri de Jouvenel,
ausgearbeitet. Sie sah einen vom Parlament gewählten Präsidenten, ein Kabinett mit
Ministerpräsident und ein Parlament mit zwei Kammern (Abgeordnetenkammer und
Senat) vor. Der Senat, dessen Mitglieder vom französischen Hochkommissar ernannt
wurden, bestand nur 17 Monate.176
Der wichtigste Autor der Verfassung, Michel Chiha, ein maronitischer Geschäftsmann,
war darum bemüht, den politischen Wettbewerb von der interkonfessionellen auf die
intrakonfessionelle Ebene zu verlegen. Trotzdem lebten in einem Wahlkreis stets
mehrere Konfessionen, so daß der jeweilige Wahlgewinner auch auf die Interessen der
anderen Konfessionen eingehen mußte. Durch dieses Gleichgewicht hoffte man die
Spannungen zwischen den Konfessionen zu mindern. Das Verhältnis der
Ämterverteilung zwischen Christen und Muslimen lag bis zu den Reformen 1989 bei
6:5, sowohl im Parlament, wie auch in der Verwaltung (zur Funktionsweise der
Institutionen s. Kapitel 3.1.2.).177
Trotz mehrfacher Änderungen und zeitweiliger Suspendierung ist die Verfassung nach
wie vor in Kraft. Die umfassenden Verfassungsänderungen nach Ende des
Bürgerkrieges können jedoch als Totalrevision gelten, so daß seit 1989/90 im Libanon
die „2. Republik“ besteht.
Der spätere Präsident Emile Eddé reformierte als Premierminister 1929/1930 den Staat.
Durch diese Reform erhielt der Libanon fünf Provinzen (muhafadha): Nordlibanon,
Mont Liban, Südlibanon, Bekaa und Beirut. Diese Provinzen besaßen keine Autonomie
173
Theodor Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, in: Friedensanalysen 8 (Frankfurt 1978) 67.
174
Corm, L'europe et l'orient, 131-138, 146-149.
175
Itamar Rabinovich, The War for Lebanon, 1970-1983 (Ithaca, N.Y./London 1984) 21.
176
Adnan Ansawi, Libanon, Vereinigte Arabische Republik, Irak (=Die Staatsverfassungen der Welt 2,
Frankfurt/Berlin 1960) 21.
177
David C. Gordon, The Republic of Lebanon, Nation in Jeopardy (Boulder, Col 1983) 20.
55
und unterstanden der Zentralregierung. Diese Gliederung besteht bis heute. Eddé schloß
weiterhin 100 öffentliche Schulen. In einem Land mit einem schwachen öffentlichen
Schulwesen und großen Bildungsdifferenzen zwischen Konfessionen war die
Schließung ein schwerer Rückschlag. In erster Linie wurde die muslimische
Bevölkerung hierdurch benachteiligt, da die christlichen Kinder meist Missionsschulen
besuchten. Diese und weitere Reformen in der französischen Mandatszeit begründeten
die Tradition geringer staatlicher Intervention in das in das Sozialsystem, sowie das
Bildungs und das Gesundheitswesen.
Im Mai 1932 wurde erstmals die Verfassung durch den französischen Hochkommissar
außer Kraft gesetzt und das Parlament aufgelöst. Die konfessionell dominierte Politik
lähmte das System, das durch die Weltwirtschaftskrise bereits in eine Krise geraten war.
Der ernannte Präsident Charles Debbas (1926-1933) blieb im Amt und verabschiedete
Gesetze per Dekret mit der Zustimmung des Kommissars. In der zweijährigen Periode
ohne Verfassung entwickelten sich zwei politische Strömungen im Libanon. Die eine
forderte eine Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Herrschaft. Diese Gruppe stand
in Opposition zu Präsident Debbas ab, da er die Suspendierung der Verfassung
akzeptiert hatte. Zugleich strebte die Gruppe ein Ende der Mandatsherrschaft an.
Hingegen befürwortete ein Großteil der maronitischen Bevölkerung die direkte
französische Herrschaft. Während das Parlament aufgelöst war, wurden wirtschaftliche
Reformen verabschiedet, die die Befürworter der Herrschaft durch Präsident und
Hochkommissar bestätigte. Zugleich stärkte die Ausschaltung des Parlament die
Maroniten, die ihre Interessen besser durch Frankreich und den Präsidenten vertreten
sahen, als in einem Parlament, wo ein Kompromiß mit den anderen Konfession nötig
war.178 Diese Reaktion zeigte, daß die französische Herrschaft von vielen Maroniten
weniger als „fremd“ gesehen wurde, als die Teilung der Macht mit den anderen
Konfessionen im eigenen Land. Hierin liegt eine der grundlegenden Probleme für einen
unabhängigen Libanon.
In den frühen Jahren der Republik etablierte sich, noch unter französischer
Oberherrschaft, ein Aufteilungsschlüssel zwischen den Religionsgruppen, der später im
Pact national Bekräftigung erfuhr. Demzufolge ist der Präsident stets ein maronitischer
Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit, der Parlamentspräsident ein Schiite und der
Verteidigungsminister ein Druse.179 Im Vergleich zu den Bevölkerungszahlen (Tabelle
7) wurden somit nur etwas drei Viertel der Bevölkerung berücksichtigt. Doch selbst
dieser Repräsentationsgrad innerhalb der Elite dürfte zu hoch gegriffen sein: Zum einen
überschätzt die Volkszählung die Zahl der Maroniten, zum anderen verfügte der
Parlamentspräsident nur geringen politischen Einfluß. Praktisch wurden die wichtigsten
Machtpositionen (Präsident und Ministerpräsident) zwischen zwei Konfessionen, die
nur die Hälfte der Bevölkerung stellen, aufgeteilt.
Der Nachfolger von Debbas, Habib al-Sa'd (1934-1936), wurde noch vom französischen
Hochkommissar ernannt und gehörte der griechisch-orthodoxen Religionsgemeinschaft
an. Der nächste Präsident wurde bereits vom Parlament gewählt. In der Amtszeit des
ersten gewählten Präsidenten, Emile Eddé (1936-1941) zog sich die französische
Mandatsmacht auf „Beraterposten“ zurück. Allerdings reichte der faktische Einfluß weit
178
Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 202-205.
179
Nur in der Mandatszeit bekamen die Drusen den Posten des Verteidigungsministers zugesichert. Im
unabhängigen Libanon erhielten die Drusen in den meisten Kabinetten einen bedeutenden
Ministerposten.
56
über eine „Beratung“ hinaus. Das erklärt sich unter anderem daraus, daß die
französische Armee die einzige Militärmacht auf libanesischem Boden darstellte.180
Im November 1936 unterzeichneten Präsident Eddé und der Hochkommissar Damien de
Martel einen auf 25 Jahre begrenzten Freundschaftsvertrag zwischen dem Libanon und
Frankreich, der dem Mandatsgebiet Unabhängigkeit in allen Bereichen, mit der
Ausnahme der Außen- und Verteidigungspolitik, einräumt. Auch sollte der Libanon
dem Völkerbund beitreten können. Die französische Armee blieb im Libanon. Dieser
Vertrag wurde jedoch aufgrund des Widerstandes der französischen
Nationalversammlung nicht ratifiziert. Der Beginn des Weltkrieges schob eine Einigung
vorerst weiter auf.
Am 24. Januar 1937 wurde schließlich die Verfassung wieder in Kraft gesetzt. Trotzdem
kann von einer vollständigen Demokratisierung keine Rede sein. Nur zwei Drittel der
Abgeordneten wurden gewählt, das restliche Drittel wurde vom Präsidenten ernannt.
Die Wahlen im gleichen Jahr brachten größere Unruhen und eine Zersplitterung der
politischen Landschaft mit sich. Für die vierzig Sitze (von sechzig) bewarben sich fast
600 Kandidaten. Die Opposition kam zu einer ungewöhnlichen Einigung mit Präsident
Eddé. Ihr wurden 25 Sitze im Parlament „gestattet“. Die Möglichkeit, Wahlen durch ein
Abkommen zwischen Präsident und Opposition derart zu manipulieren bringt die
Mängel des Wahlrechts und des politischen Systems insgesamt zum Ausdruck.181
1922
1932
1943
Maroniten
199.182
32,7 %
226.378
28,8 %
318.201
30,4 %
griechischorthodox
81.409
13,4 %
76.522
9,8 %
106.658
10,2 %
griechischkatholisch
42.426
7,0 %
46.000
5,9 %
61.956
5,9 %
andere Christen
12.651
2,1 %
53.463
6,8%
64.603
6,2 %
Christen
335.668
55,1 %
402.363
51,2 %
551.418
52,7 %
Sunniten
124.786
20,5 %
175.925
22,4 %
222.594
21,3 %
Schiiten
104.947
17,2 %
154.208
19,6 %
200.698
19,2 %
Drusen
43.633
7,2 %
53.047
6,8 %
71.711
6,9 %
Muslime
273.366
44,9 %
383.180
48,8 %
495.003
47,3 %
Insgesamt
609.070
785.543
Tabelle 7: Die Bevölkerungszahlen in der französischen Mandatszeit
1.046.428
182
Eddé bemühte sich darum, den Libanon wieder zu verkleinern. Nach seinen
Vorstellungen sollte der Staat die Grenzen des alten Autonomiegebiets mit Beirut
umfassen. Er trat sogar mit dem Vertreter der jüdischen Verwaltung Palästinas, Chaim
Weizman, in Kontakt, um diesem den Südlibanon anzubieten. Nachdem diese Pläne am
180
Hitti, Lebanon in History, 490-492.
181
Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 252 f.
182
1943 fand lediglich eine Schätzung der Bevölkerung statt. Courbage, Fargues, La Situation
Démographique au Liban, 21.
57
französischen Widerstand scheiterten, bemühte sich die christliche Elite um eine
Vorherrschaft innerhalb der bestehenden Grenzen.183
Zur gleichen Zeit gab es in der politischen Elite Syriens Bemühungen, den Libanon an
Syrien anzuschließen. Insbesondere in Tripoli, wo es in der Zwischenkriegszeit öfter zu
Aufständen gegen die Zugehörigkeit zum Libanon gekommen war, stieß dies auf
fruchtbaren Boden. Der libanesische Präsident wurde dort 1937 mit Steinen empfangen.
Die Stadt erhielt daraufhin eine, wenn auch begrenzte, Autonomie.
Die Unabhängigkeit des Libanon erschien aus syrischer Sicht weniger selbstverständlich
als aus der Perspektive der politischen Elite des Libanon. Syrien wurde unter der
französischen Verwaltung in verschiedene Gebiete zerteilt. An der Küste Nordsyriens
entstand ein alawitischer Staat, im Süden schuf Frankreich den Jabal al-Duruz, ein
selbständiges Drusengebiet, im Nordosten bestand kurzzeitig die kurdisch-christlicharabische Provinz Jazira. Auch das Sandjak Alexandretta-Antiochia an der westlichen
Grenze zwischen der Türkei und Syrien entzog sich der Kontrolle Syriens. Syrien war
bemüht, alle diese Gebiete - einschließlich des Libanon - wieder in den Staat zu
integrieren.184
Der 2. Weltkrieg
Als Reaktion auf den Kriegsbeginn verhängte der französische Hochkommissar am 9.
September 1939 den Ausnahmezustand über den Libanon. Wiederum wurde die
Verfassung außer Kraft gesetzt, das Parlament aufgelöst und die Macht des Präsidenten
begrenzt. Kurzzeitig stand der Libanon unter Kontrolle von Vichy-Frankreich (19401941). Wie auch in anderen Kolonien stellte sich die Verwaltung zu Anfang des Krieges
auf die Seite der Vichy-Regierung, nicht zuletzt auch wegen einer latenten traditionellen
Antipathie gegenüber Großbritannien. Im Juni 1941 wurde der Libanon von englischen
Truppen mit freien französischen Verbänden erobert. In Folge dessen kam der Libanon,
ebenso wie Syrien, vorläufig unter britische Verwaltung.
Die freien französischen Verbände entsandten einen Generalvertreter in den Libanon,
der am 26. November 1941 mit britischem Einverständnis die Mandatsherrschaft
beendete. Großbritannien und die Vereinigten Staaten erkannten die Unabhängigkeit
sogleich an. Jedoch erst im September 1943 kehrte das Land mit einem neuen Parlament
zu seiner verfassungsmäßigen Ordnung zurück. Die Mehrheit der Abgeordneten waren
pro-arabisch oder nationalistisch ausgerichtet. Bishara al-Khuri, ein in Frankreich
ausgebildeter Anwalt, wurde Präsident und Riyad al-Sulh wurde Ministerpräsident.185
Beide vereinbarten in dieser Zeit den Nationalpakt, der den bereits erwähnten
Verteilungsschlüssel für die höchsten Staatsämter zwischen den Konfessionen festlegte.
Dieser erkannte zwar den arabischen Charakter des Libanon an, sprach dem Land aber
auch eine speziellen Status zu. Der Ministerpräsident beschrieb den Charakter
folgendermaßen: „Le Liban est une patrie au visage arabe, qui puise dans la culture
occidentale ce qui lui est bon et utile.“186
183
Rabinovich, The War for Lebanon, 22.
184
Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 207 f., 252.
185
Hitti, Lebanon in History, 492-495.
186
Zitiert nach: Programme de l'Independence (Déclaration ministeriélle de Riad Solh du 7-10-1943),
in: Harald Vocke, Der umstrittene Krieg im Libanon. Samisdats, Zeitungsberichte, Dokumente
(=Aktueller Informationsdienst Moderner Orient Sondernr. 6, Hamburg 1980) 246.
58
An sich stand der Nationalpakt im Widerspruch zur Verfassung, die in Artikel 7 und 12
einen gleichberechtigten Zugang zu allen Ämtern vorsah. Dieser Konflikt wurde jedoch
hingenommen, da der Nationalpakt nur als Provisorium galt. Er sollte später durch
freien Zugang für alle ersetzt werden. Dieser Kompromiß zwischen muslimischen und
christlichen Spitzenpolitikern wurde mündlich vereinbart, er findet lediglich in der Rede
des Ministerpräsidenten vom 7. Oktober 1943 seinen Ausdruck.187 Die Rede kann eher
als Absichtserklärung gesehen werden und weniger als konkrete Beschreibung des
Nationalpakts. Aufgrund der fehlenden schriftlichen Festlegung zeigten sih in
Krisenzeiten verschiedene Interpretationen des Nationalpaktes.188
Trotz der formalen Unabhängigkeit des Libanon kam es erneut zum Konflikt mit
Frankreich. Der Generalvertreter kontrollierte nach wie vor eine französische
Verwaltung, spezielle Truppen und die Administration in Bereichen „gemeinsamen
Interesses“ des Libanons und Syriens (Grenzkontrollen, Zölle, Tabakmonopol und
Firmenkonzession). Auch versuchte das Parlament alle Artikel, die sich auf den
Mandatsstatus bezogen, abzuschaffen. Dieser Konflikte führte schließlich Ende 1943
dazu, daß der französische Generalvertreter, Jean Helleu, die Verfassung außer Kraft
setzte, den Präsidenten und das Kabinett verhaftete und sie ins „Exil“ nach Rachaïya
schickte. Der Ausnahmezustand wurde wiederhergestellt und eine strenge Zensur
eingeführt. Internationaler Druck auf das freie Frankreich und Unruhen im Libanon
zwangen Frankreich zu einer Rücknahme des Eingriffs, so daß die Regierung nach nur
21 Tagen zurückkehren konnte. Ende 1944 endete die französische Verwaltung und die
Sonderrechte gingen an den Libanon über, die Truppen verließen erst am 31. Dezember
1946 das Land. Libanon war jedoch Gründungsmitglied der Vereinten Nationen, so daß
man von einer schrittweisen Unabhängigkeit ausgehen kann, die mit dem Abzug
fremder Truppen auf libanesischem Boden vollständig wurde.189
Durch die französische Mandatszeit vergrößerte sich die Vormacht der Christen und
insbesondere der Maroniten gegenüber den Muslimen im politischen System, in Bildung
und Wirtschaft. Die Bevorzugung der Maroniten wirkte jedoch nachteilig auf das
Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen aus. Im gleichen Sinne wirkte die
Dominanz der französischen Sprache in Schulen und Verwaltung vom Staat.190
Die französische Mandatszeit besaß jedoch nicht nur schlechte Seiten. An positiven
Entwicklungen sind der Aufbau der Infrastruktur, die Rationalisierung der
Besitzregistrierung und die Einführung einer modernen Verwaltung und Armee
hervorzuheben. Es gab auch mittelbare Vorteile für das Land. So vereinte der
Widerstand gegen die französische Besatzung gegen Ende der Mandatszeit die
Bevölkerung des Libanon über konfessionelle Grenzen hinweg. Zur Ablehnung der
Mandatsherrschaft trugen der Niedergang der Seidenindustrie, die militärischen
Maßnahmen gegen Aufstände in Damaskus 1925 und 1945 und der widerwillige Abzug
Frankreichs gegen Ende des 2. Weltkrieges bei, den David Gordon als „graceless and
even humiliating“ beschreibt.191 Gleichwohl beurteilten die meisten Maroniten die
französische Herrschaft insgesamt positiv, doch sie isolierten sich dadurch von den
anderen Konfessionen.
187
Für den gesamten Text s. Ebd.
188
Kuderna, Libanon, 239; Gordon, The Republic of Lebanon, 20 f.
189
Hitti, Lebanon in History, 495 f.
190
Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, 68.
191
Gordon, The Republic of Lebanon, 21 f.
59
Bereits 1957, noch vor dem 1. Bürgerkrieg, wurden die Bemühungen Frankreichs im
Libanon als Fehlschlag gesehen:„..the French effort, so eagerly undertaken, so
tenacioulsy pursued, was destined to an outcome which has been assessed by the world
as one of unhappy failure in the most conspicous sphere, that of state-building and
politics.“192 Die Konsequenz aus diesem Urteil ist nicht minder radikal: „The adoption
in 1920 of a unitary Syria (containing, no doubt, a mildly priviledged Mont Lebanon)
would have saved a whole multitude of later troubles, and if, at the time of writing
(1957), it may be felt that Lebanon was lucky in its freedom from Syrian foreign policies
of the mid-1950's, with their leaning to Russia, it may equally be believed that a Syria
strengthend by a more westward-looking Lebanon, with a stronger sense of political
(and commercial) realities, might well have been saved from courses thought by many
of her friends to be gravely dangerous to her.“193
2.3.3. Zusammenfassung
Während Bosnien nach Ende Österreich-Ungarns in Jugoslawien aufging und als
Verwaltungseinheit erst nach dem 2. Weltkrieg wiederentstand, erhielt der Libanon
seine Grenzen in der Zwischenkriegszeit. Die Entwicklung im Libanon blieb, abgesehen
von den ersten Jahren französischer Herrschaft weitgehend autonom von seinem
Umfeld. Bosnien hingegen wurde von Belgrad und mit dem Sporazum 1939 teilweise
auch von Zagreb aus regiert. Diese Machtzentren waren eng mit der Vorherrschaft der
jeweiligen Nation verknüpft. Die serbische Dominanz bis 1939/41 und die kroatische
Herrschaft ab 1941 verschärften die Beziehungen zwischen allen drei Nationen
Bosniens. Die muslimische Identität, die sich in diesen Jahren formierte, wurde von der
größeren serbisch-kroatischen Auseinandersetzung geprägt und kann als
Abwehrreaktion gegen den serbischen und kroatischen Nationalismus gesehen werden.
Der 2. Weltkrieg führte schließlich zum ersten bewaffneten Konflikt zwischen Serben
und Kroaten. Trotz nationaler Spannungen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen gab es
zuvor keine Kämpfe zwischen beiden Nationen.
Im Libanon dominierten die Maroniten mit französischer Unterstützung. Die Drusen,
die zuvor im autonomen Libanon großen Einfluß genossen hatten, wurden durch die
Gebietsvergrößerungen in eine Nebenrolle verdrängt. Die wichtigsten Partner im neuen
vergrößerten Libanon wurden die Sunniten, deren Unterstützung erst durch den
Nationalpakt gesichert werden konnte. Die französische Regierung war sich aufgrund
der Mandatsregelung des Völkerbundes bewußt, daß die Herrschaft über den Libanon
zeitlich begrenzt sein würde. Frankreich bemühte sich daher um die Etablierung eines
Staates, dessen enge Beziehungen zur ehemaligen Kolonialmacht über das Ende des
Mandats hinaus dauern sollten. Die enge, historisch fundierte, Bindung der Maroniten
sollte Frankreich helfen, die Kontrolle über den Staat aufrecht zu erhalten. Der
Nationalpakt erschwerte jedoch eine ausschließliche Anlehnung des Libanon an die
ehemalige Besatzungsmacht. Am Ende der französischen Herrschaft war im Libanon ein
konfessioneller Proporzstaat entstanden, dessen Wurzeln auf den autonomen Mont
Liban zurückgehen.
Der Libanon wurde von den Kämpfen des 2. Weltkriegs kaum betroffen, so daß die
Zwischenkriegszeit fast nahtlos in die Nachkriegsära überging. In Bosnien und
Jugoslawien hingegen ist das katastrophale Ergebnis der Zeit zwischen 1918 und 1945
192
Longrigg, Syria and Lebanon under French Mandate, 368.
193
Ebd., 367.
60
zu einer vermeintlichen Lehre geworden. Die kommunistische Vorherrschaft beruhte
nach dem Krieg Großteils auf dem unausgesprochenen Konsens, eine einseitige
nationale Dominanz zu verhindern.
Mit diesen sehr unterschiedlichen Erfahrungen begann somit die Nachkriegszeit des
wiederhergestellten Bosniens als Republik des 2. Jugoslawien und des unabhängigen
Libanon.
61
2.4. Bosnien-Herzegowina und Libanon nach dem 2. Weltkrieg
2.4.1. Bosnien im 2. Jugoslawien
Der Krieg in Jugoslawien endete mit der absoluten Herrschaft der kommunistischen
Partei, die ihre Macht teilweise mit Gewalt konsolidierte. Gegner des neuen Regimes
flohen nach Österreich, wo sie von der britischen Armee auf Druck Tito
zurückgeschickt wurden. Von den 18.000 Flüchtlingen wurden die meisten bei ihrer
Rückkehr ermordet. Insgesamt fielen bis zu 250.000 Jugoslawen der Gewalt in den
ersten Nachkriegsjahren zum Opfer. Der politischen und militärischen Macht der KP
konnte keine der Vorkriegsparteien ein gesamtjugoslawisches Konzept entgegensetzen,
das für alle Nationen Jugoslawiens attraktiv gewesen wäre. Die Partikularinteressen der
jeweiligen Nationalparteien machten es ihnen unmöglich, nach dem Krieg eine
Alternative zu den Partisanen zu formulieren. Die Exzesse der Ustaše und Četnici
trugen weiterhin dazu bei, extremen Nationalismus zumindest vorläufig zu
diskreditieren.
In den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft verfolgte die KP eine Linie in der
Nationalitätenpolitik, die jener der Sowjetunion entsprach. Die drei Grundprinzipien
sind Selbstbestimmung, territoriale Autonomie und Gleichberechtigung der Nationen.
Bei all diesen Rechten muß jedoch auch die kommunistische Ideologie berücksichtigt
werden. So würde die Selbstbestimmung des Proletariats einer Nation nie zu einer
Loslösung von einem sozialistischen Staat führen. Entsprechend ist die Wirkung des
Selbstbestimmungsrecht im Kontext kommunistischer Ideologie zu relativieren. In
einem System, das dem einzelnen Individuum das Selbstbestimmungsrecht verweigert,
ist es im übrigen kaum möglich eine wirkliche Selbstbestimmung einer Nation
einzuräumen.194
Nicht nur in Nationalitätenfragen folgte die Politik Titos bis zum Bruch mit der UdSSR
1948 Stalins Vorbild. So war die erste Verfassung von 1946 eine Kopie der
Sowjetverfassung von 1936. Im Rahmen dieser rigiden kommunistischen Politik wurden
insbesondere die Religionen unterdrückt. Die katholische Kirche war das Hauptopfer, da
sie mit der Ustaše-Herrschaft in Verbindung gebracht wurde. Auch der Islam kam
wegen der Struktur der Religion unter starken Druck, denn viel stärker als die anderen
Religionen stellte der Islam in Bosnien auch eine soziale und kulturelle Einrichtung dar.
Die serbisch-orthodoxe Kirche erlitt insgesamt weniger Nachteile als die anderen beiden
Religionen, wurde aber in den ersten Nachkriegsjahren auch zum Objekt von
Verfolgungen. (vgl. Kapitel 3.4.1.)195
Während dieser Zeit dominierte die serbische Bevölkerung in Bosnien. Infolgedessen
wurde auch die Frage nach einer eigenen muslimischen Nation in den Hintergrund
gedrängt und erst in den sechziger Jahren wieder aktuell. Ausdruck der Unterdrückung
des Islam waren die Prozesse gegen die „Jungen Muslime“ (Mladi Muslimani) zwischen
1946 und 1949.196 Die Gruppe entstanden 1939 mit dem Ziel den Islam in Bosnien zu
fördern. Ähnlich wie die gesamte muslimische Bevölkerung folgten sie während des
Krieges verschiedenen Konfliktparteien. Nach dem Krieg bekämpften sie den säkularen
194
Friedman, The Bosnian Muslims, 146-148.
195
Malcolm, Bosnia, 194 f.
196
Ivo Banac, Bosnian Muslims: From Religious Community to Socialist Nationhood and
Postcommunist Statehood, 1918-1992, in: Mark Pinson (Hg.) The Muslims of Bosnia-Herzegovina,
Their Development from the Middle Ages to the Dissolution of Yugoslavia (Cambridge, Ma 1993)
144 f.
62
Kurs der Partisanen. Einer der Führer der Mladi Muslimani wurde war der spätere
Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović. Er wurde bei den Prozessen zu
sechs Jahren Haft verurteilt.197
1946 wurde das islamische Sakralrecht verboten, vier Jahre später auch das Tragen vom
Schleier und der Besuch von Koranschulen untersagt. Das Verbot erstreckte sich auch
auf islamische Kulturorganisationen. Die Vakufs wurden entweder verstaatlicht oder
zumindest der Kontrolle der Religionsgemeinschaft entzogen. Im gleichen Jahr blieben
199 Moscheen in Bosnien unbenutzt.
Bei der Volkszählung 1948, der ersten nach dem Krieg, hatten die Muslime drei
Möglichkeiten sich zu deklarieren: Entweder als muslimische Serben, muslimische
Kroaten oder als Muslime mit „unbestimmter“ oder „nicht deklarierter“
Nationszugehörigkeit. Die Gelegenheit sich nicht Serben oder Kroaten zuordnen zu
müssen, wurde von vielen Muslimen genützt. So standen 778.000 „unbestimmte“
Muslime nur 72.000 serbischen und 25.000 kroatischen Muslimen gegenüber. Bei der
nächsten Zählung 1953 konnte sich die Bevölkerung Bosniens nicht mehr als Muslime
deklarieren. Stattdessen fand die Identifizierung als „Jugoslawe“ in die Volkszählung
Eingang. 891.800 Bosnier wählten diese Bezeichnung, wovon die überwiegende
Mehrheit dem islamischen Glauben anhing.
Mitte der fünfziger Jahre verbesserte sich die Stellung der Religionen in Jugoslawien.
So garantierte ein Gesetz von 1954 die Religionsfreiheit und unterstellte die Kirchen
und Moscheen staatlicher Kontrolle. Der Islam erfüllte eine politische Funktion bei der
jugoslawischen Außenpolitik im Rahmen der Blockfreienbewegung. So waren einige
Muslime führende Diplomaten in arabischen Staaten und Indonesien.198
Die Stärkung der Muslime
Am Anfang der sechziger Jahre bahnte sich ein Konflikt zwischen zwei Konzepten der
jugoslawischen Staatsführung an. Auf der einen Seite stand der Serbe Aleksander
Ranković, der sich für einen zentralistischen Staat und einen „integralen
Jugoslawismus“ stark machte. Dem stand Edvard Kardelj gegenüber, der die Wirtschaft
modernisieren und den Staat dezentralisieren wollte. Der Slowene Kardelj strebte eine
Politik an, die allen Nationen gleiche Rechte zuspricht. Weiterhin war er Architekt der
sozialistischen Selbstverwaltung (vgl. Kapitel 3.3.1.) und hoffte durch wirtschaftlichen
Fortschritt Nationalitätenkonflikte zu lösen.199 Beide Politiker gehörten seit dem 2.
Weltkrieg zum engen Kreis um Tito. Erst mit dem Ausschluß Aleksander Ranković's
aus dem Zentralkomitee der Partei 1966 konnte sich die liberale Linie durchsetzten.
Zugleich änderte sich die Lage für die einzelnen Nationen in Bosnien. Aleksander
Ranković hatte eine repressive Politik im Kosovo, aber auch in Bosnien verfolgt. Sie
richtete sich in erster Linie gegen die nicht-serbische Bevölkerung. Zugleich hoffte er
auf die Schaffung einer jugoslawischen Nation und glaubte in den Bosnischen
Muslimen einen Kern dieser zukünftigen Nation zu finden.200 Er vertrat zwar eine proserbischen Linie, lehnte jedoch großserbische Strömungen ab. Die Geheimpolizei, die
197
Friedman, The Bosnian Muslims, 150 f.
198
Malcolm, Bosnia, 195-198.
199
Siehe Carole Rogel, Edvard Kardelj's Nationality Theory and Yugoslav Socialism, in: Canadian
Review of Studies in Nationalism, Fall 1985, Nr. 2, Jhrg. XII, 343-357.
200
Sabrina P. Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 1962-1991 (Bloomington, Ind. 1992)
72.
63
unter seiner Kotrolle stand, ging radikal gegen Anhänger der Četnici und Draža
Mihailović's vor. Ranković verkörpert die zentralistische Linie des serbischen
Nationalismus, die sich in kommunistischen Zeiten gut ins System integrieren konnten.
Die großserbische Linie hingegen wurde selbst von Zentralisten nicht geduldet. Erst mit
der Herrschaft Milošević verbanden sich beide Linie des serbischen Nationalismus
wieder.201
Ab 1965/1966 setzte sich in Jugoslawien auf Betreiben Titos eine Föderalisierung
durch.202 Die Entwicklung ging einher mit einer Aufwertung der Muslime zur Nation.
Schon vier Jahre vorher konnten sich die Muslime bei der Volkszählung als „Muslime
im ethnischen Sinne“ deklarieren. Dies führte dazu, daß die zuvor hohe Zahl an
„Jugoslawen“ stark absank. Trotzdem kamen 87 Prozent jener 275.883 „Jugoslawen“
aus Bosnien-Herzegowina. Von diesen waren wiederum 84 Prozent Muslime. Somit
stellte gemäß der Volkszählung 1961 die muslimische Bevölkerung nach wie vor den
bei weitem größten Anteil der „Jugoslawen“.203
Auch führt die bosnische Verfassung von 1963 die Muslime neben Serben und Kroaten
auf. Dies impliziert eine Gleichstellung mit den anderen beiden Nationen.204 Während
zuvor die serbische Bevölkerung Bosniens in der Republik die KP und die staatlichen
Organe dominierte, wurden nach dieser Kursänderung Muslime in der Führung der
Republik gefördert. Auch stiegen Muslime vermehrt in der Politik Gesamtjugoslawiens
auf. So amtierte von 1971 bis zu seinem Tod 1977 der bosnische Muslim Džemal
Bijedić als Premierminister.205
Im bosnischen Zentralkomitees der KP setzte sich 1968 die Aufwertung der
muslimischen Bevölkerung zur Nation fort. Bereits 1965 war der Vorsitzende der
kommunistischen Partei Bosniens, der Serbe Djuro Pucar, zurückgetreten. In der
Sitzung wurde festgestellt, daß die Muslime sich als eigene Nation erwiesen haben.
Diese Feststellung wirkte sich auf die Volkszählung 1971 aus, in der sich die Muslime
erstmals als „Muslime im nationalen Sinn“ erklären konnten.206 Bei dieser
Volkszählung wählten 1,7 Millionen Einwohner in ganz Jugoslawien diese Kategorie,
womit die Muslime nach Serben und Kroaten die größte Nation in Jugoslawien waren.
Weiterhin dürften sich viele Muslime nach wie vor als Jugoslawen deklariert haben, so
daß die Gruppe der Muslime in Jugoslawien bzw. in Bosnien noch größer sein dürfte
(für die Bevölkerungszahlen Bosniens s. Tabelle 8).207
Die Aufwertung der muslimischen Bevölkerung ging jedoch nicht mit einer Aufwertung
des Islam als Religion einher. Die „Nationalisierung“ kann als eine der Religion
201
Für eine detaillierte Beschreibung des Sturz von Ranković's und dessen Politk s. Slobodan
Stankovic, Titos Erbe. Die Hypothek der alten Richtungskämpfe ideologischer und nationaler
Fraktionen (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde Südosteuropa 18, München 1981) 111-130.
202
Ivo Banac setzt den Wandel von Titos Politik zum Föderalismus auf 1962 an. s. Separating History
from Myth, Interview with Ivo Banac, in: Rabia Ali, Lawrence Lifschultz (Hg.) Why Bosnia? (Stony
Creek, Conn. 1993) 141.
203
Friedman, The Bosnian Muslims, 155.
204
Viktor Meier, Bosnien und seine Muslime als Sonderproblem des Vielvölkerstaates, in: Roland
Schönfeld (Hg.) Nationalitätenprobleme in Südosteuropa (=Untersuchungen zur Gegenwartskunde
Südosteuropas 25, München 1987) 130.
205
Banac, Bosnian Muslims, 144 f.
206
Malcolm, Bosnia, 199.
207
Friedman, The Bosnian Muslims, 160.
64
entgegengesetzte Bewegung gesehen werden. Dies erklärt sich durch die Träger der
muslimischen Nationalbewegung in den Nachkriegsjahren. Sie waren Mitglieder und
Funktionäre der kommunistischen Partei und deshalb meist nicht religiös, bis hin zur
Religionsfeindlichkeit.208 Auch die geringe Religiosität der bosnischen Muslime
während der Zwischenkriegszeit und davor gab den Funktionären der KP das Gefühl,
eine Nationswerdung der Muslime von einer Stärkung der Rolle des Islams trennen zu
können. Die bosnische Republikführung war dennoch Hauptgeldgeberin der islamischen
Gemeinde (IVZ), die sie so unter ihrer Kontrolle behalten wollte.209
Das Ergebnis ist ein Paradox, da man durch die Aufwertung eine Nation geschaffen hat,
die sich in erster Linie durch die Religion von den anderen Bevölkerungsgruppen in
Bosnien unterscheidet. Zugleich war man bemüht der Religion selbst keine größere
Rolle einzuräumen. Das Entstehen der muslimischen Nation in dieser Zeit erklärt sich in
erster Linie aus dem Unwillen der Muslime sich als Serben oder Kroaten zu definieren.
Die Alternative, sich als Jugoslawe zu erklären war nicht attraktiv, da diese Gruppe
sowohl Kroaten wie auch Serben umfaßt und somit den Unterschied zu den beiden
anderen Nationen nicht zum Ausdruck bringt. Zudem läßt sich kaum eine klare
„jugoslawische“ Identität feststellen, mit der sich die Muslime hätten identifizieren
können. Weiterhin stand der Islam, dessen Basis die Umma, die Gemeinschaft aller
Muslime ist, dem Nationalismus feindlich gegenüber, da er als Spalter der muslimischen
Einheit gesehen wird. Dieser Widerspruch zeigt sich später noch deutlicher mit dem
Aufkommen der nationalen Parteien Ende der achtziger Jahre. Die Religion und die
damit verbundene Kultur war bei den bosnischen Muslimen ein derart integraler Teil der
Identität, daß eine säkulare Definition der Muslime durch den Bund der Kommunisten
nicht möglich war. Wolfgang Höpken weist jedoch darauf hin, daß die Anerkennung
eine Lernfähigkeit der KP im Vergleich zum 1. Jugoslawien belegt.210
Muslime
Serben
Kroaten
Jugoslawen
Gesamt
1948
788.403
1.136.116
614.142
-
2.563.764
1953
-
1.264.372
654.229
891.800
2.847.459
1961
842.248
1.406.057
711.665
275.883
3.277.948
1971
1.482.430
1.393.148
772.491
43.796
3.746.111
1981
1.629.924
1.320.644
758.136
326.280
4.102.783
1991
1.905.829
1.369.258
755.892
239.845
4.364.574
Tabelle 8: Die Volkszählungen in Bosnien zwischen 1948 und 1991211
Francine Friedman sieht vier Gründen aus denen der Bund der Kommunisten die
Muslime förderte:
Erstens sollte hierdurch die nationale Argumentation (von Kroaten und Serben) von
regional- und wirtschaftspolitischen Themen getrennt werden, da die Partei in Bosnien
208
Malcolm, Bosnia, 200 f.
209
Friedman, The Bosnian Muslims, 162 f.
210
Wolfgang Höpken, Die jugoslawischen Kommunisten und die bosnischen Muslime, in: Andreas
Kappeler, Gerhard Simon, Georg Brunner (Hg.) Die Muslime in der Sowjetunion und in
Jugoslawien (=Nationalitäten- und Regionalprobleme in Osteuropa 3, Köln 1989) 195.
211
Die Kategorie "Muslime" war 1948 als Muslime mit unbestimmter Nationszugehörigkeit definiert.
Auch die Kategorie der "Jugoslawen" 1953 definierte sich als Jugoslawen unbestimmter
Nationszugehörigkeit. aus: Friedman, The Bosnian Muslims, 155.
65
eine Balance zwischen den verschiedenen Nationen finden mußte. Entsprechend stand
der BdK Bosniens nationalistischen Strömungen am ablehnendsten gegenüber.
Zweitens war die Förderung der muslimischen Nation eine Reaktion auf die
zunehmende Religiosität der Muslime sein. Der muslimische Nationalismus in Bosnien
sollte das Erstarken des Islam abwehren.
Drittens brachte die Förderung der Muslime in Bosnien Jugoslawien außenpolitisches
Kapital, insbesondere in der Bewegung der Blockfreien. Muslime dienten, wie erwähnt,
in Botschaften in der arabischen Welt. Besucher aus muslimischen Ländern wurden
nach Bosnien gebracht und trafen mit bosnischen Muslimen zusammen.
Viertens sollte die Anerkennung der Muslime die jeweiligen Ansprüche von Serben und
Kroaten auf Bosnien entkräften. Die Ansprüche beider Nationalbewegungen auf
Bosnien verstärkten die Spannungen. Eine Stärkung der Eigenständigkeit Bosniens
sollte eine Vereinnahmung durch Kroatien und Serbien entgegenwirken.212 Im
Vordergrund stand die Abwehr der serbischen und kroatischen Nationalismen und nicht
die Förderung der Muslime an sich. Dieses Motiv deckt sich mit der Förderung der
bosnischen Identität, des Bošnjaštvo, durch Kállay in der österreichisch-ungarischen
Zeit. (s. Kapitel 2.2.1.)
Der letzte Grund erscheint am glaubhaftesten. Das zweite Argument der zunehmenden
Religiösität der Muslime ist jedoch fragwürdig. Eine Stärkung des Glaubens in den
sechziger Jahren unter den Muslimen nicht nachweisbar. Nach der Aufwertung der
Muslime in Bosnien kam es zu einer weltweiten Renaissance des Islam. Durch die
verstärkte Rolle der bosnischen Muslime konnte dieser Aufschwung der Religion
leichter von den bosnischen Muslimen übernommen werden. Somit läßt sich ein
umgekehrter kausaler Zusammenhang zwischen Religiosität und Stärkung der Muslime
herstellen, als in Friedman beschreibt.213
Der „Kroatische Frühling“
Das Ende der politischen Karriere von Aleksander Ranković bedeutete einen Auftakt
zur Liberalisierung in ganz Jugoslawien. Diese ermöglichte ein verstärktes Auftreten
von Nationalismen, insbesondere in Kroatien. Der kroatische Nationalismus findet
seinen Ursprung bei Intellektuellen. Eine „Deklaration über die Benennung und Stellung
der kroatischen Sprache“ wurde im März 1967 von 19 Kulturorganisationen und auch
von dem bekannten kroatischen Schriftsteller Miroslav Krleža unterzeichnet. Sie
provozierte eine Debatte über die angebliche Unterdrückung der kroatischen Sprache
durch das Serbische. Eine Reaktion serbischer Intellektueller ließ nicht lange auf sich
warten. 45 serbische Schriftsteller gestanden der kroatischen Sprache die
Eigenständigkeit zu, forderten aber zugleich die Schaffung von serbischen Schulen in
Kroatien für die dortigen Serben. Sie sollten dementsprechend nur in kyrillisch
unterrichtet werden.
Zunächst folgte der Bund der Kommunisten und die Republiksführung Kroatiens unter
der Führung von Mika Tripalo und Savka Dabčević-Kučar einer liberale Position, ohne
den nationalen Forderungen der Intellektuellen nachzugeben. Die Deklaration wurde als
„übereilt“ bezeichnet, nicht jedoch abgelehnt.214 Erst später formierte sich eine
Verbindung zwischen dem BdK Kroatien und der kroatischen Kulturorganisation
212
Friedman, The Bosnian Muslims, 164-168.
213
Hierzu s. Meier, Bosnien und seine Muslime als Sonderproblem des Vielvölkerstaates, 131.
214
Stankovic, Titos Erbe, 154-159.
66
Matica Hrvatska. Zuerst forderte die kroatische Partei lediglich, Jugoslawien in eine
Konföderation zu verwandeln und die Partei zu föderalisieren. Diese Politik erfuhr noch
die Unterstützung Sloweniens und Mazedoniens. Die liberale Linie schwenkte bereits
1969 zu einer nationalistischen Politik über. Diese Zeit wird als der „Kroatische
Frühling“, in Anlehnung an den „Prager Frühling“ 1968, bezeichnet. Bei dieser
Bezeichnung werden die liberalen Motive der Bewegung überbewertet und die nationale
Komponente vernachlässigt. Die Kritik Kroatiens konzentrierte sich auf vier zentrale
Punkte: Erstens wurde die Dominanz serbischer Banken und Import-Export Firmen
(insbesondere Genex) in der kroatischen Tourismusindustrie und der daraus folgende
Profitabfluß nach Serbien kritisiert. Zweitens mißfiel der kroatischen Führung die
Immigration von Serben nach Kroatien. Drittens beschuldigten Kroatien Serbien, eine
Loslösung Dalmatiens von Kroatien zu betreiben. Schließlich sprach Kroatien den
Vorwurf aus, daß die kroatische Sprache „serbisiert“ würde.215
Die politische Führung folgte dem Druck der Bevölkerung und der Matica Hrvatska.
Letztere ist die bedeutendste kroatische Kulturorganisation. Die anderen Nationen
Jugoslawiens, außer den Muslimen, besaßen auch vergleichbare Einrichtungen.216 Zu
Beginn der siebziger Jahre revitalisierte die Matica Hrvatska nationale Symbole und
arbeitete eine eigene kroatische Grammatik aus. Weiterhin reduzierte das kroatische
Fernsehen die Ausstrahlung anderer jugoslawischer Sendungen.217
Muslime
Anteil in %
Kroaten
Serben
Bevölkerung
BdK
Bevölkerung
BdK
Bevölkerung
BdK
1971
39,6
28,3
20,6
11,1
37,2
55,2
1981
39,7
35,5
18,5
12,3
32,2
44
Tabelle 9: Vergleich zwischen dem Anteil der *ationen im Bund der Kommunisten und dem Anteil an der
218
Gesamtbevölkerung Bosniens
Der „Kroatische Frühling“ sprang mit Beginn der siebziger Jahre nach Bosnien über.
Zuerst expandierte die Matica Hrvatska nach Bosnien. Eine kroatische Zeitung
analysierte 1971 die nationale Zusammensetzung der bosnischen Verwaltung (Banken,
Medien, Verwaltung und BdK) und kam zu dem Ergebnis, daß die Kroaten
unterrepräsentiert sind. Diese Behauptung ist, wie aus Tabelle 9 ersichtlich, wahr, doch
auch die Muslime waren unterrepräsentiert. Diese Kritik sollte Forderungen nach einem
Anschluß an Kroatien unterstreichen. Nur so könnten die Rechte der kroatischen
Bevölkerung ausreichend gesichert werden. Durch diese expansionistische Rhetorik
weckte Kroatien Ängste in den anderen Republiken und ermöglichte eine geschlossene
Front gegen die kroatische Politik. Statt Bosniens Integrität zu verteidigen, erhoben
serbische Politiker daraufhin Gebietsforderungen an Ostbosnien.219 Anfang 1971
beschloß Tito schließlich, die Liberalisierung und Nationalisierung der Politik in
215
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 92-101.
216
Die serbische Kulturorganisation hieß Prosveta.
217
Ebd., 108-121.
218
Vor der Volkszählung 1971 läßt sich die genaue Anzahl der Muslime nicht bestimmen, da sie sich
zwischen der Kategorie "Muslime und "Jugoslawen" aufteilte. Die prozentuelle Abnahme der
kroatischen und serbischen Bevölkerung zwischen 1971 und 1981 läßt sich durch das starke
Anwachsen der "Jugslawischen" Bevölkerung im gleichen Zeitraum erklären, Ebd., 125.
219
Ebd. 108-128.
67
Jugoslawien insgesamt und insbesondere in Kroatien, zu beenden. Im April 1971
verurteilten die Vertreter des BdK Bosnien-Herzegowinas die „zunehmend
nationalistisch-hegemonistischen Forderungen, daß Bosnien-Herzegowina Serbien bzw.
Kroatien angehören sollte, weil die Muslime Kroaten bzw. Serben sind.“220 Ende 1971
mußte die kroatische Führung schließlich zurücktreten und es folgte eine
Säuberungswelle, der nicht nur in Kroatien führende Liberale zum Opfer fielen. Die
Matica Hrvatska wurde vorübergehend geschlossen und etwa 10.000 Mitglieder des
Bundes der Kommunisten wurden ausgeschlossen.221 Das Ende des „Kroatischen
Frühling“ verlief relativ friedlich. Trotzdem bestand die Gefahr einer gewaltsamen
Konfrontation. Im Dezember 1971 kam es in Kroatien zu Studentenprotesten und
Streiks gegen die Säuberungswelle. Diese Proteste hätten möglicherweise größer und
erfolgreicher gewesen sein können, hätten sie einige Wochen später, in den
Weihnachtsferien stattgefunden. Dann wären viele Gastarbeiter für die Ferien in
Kroatien gewesen. Viele von ihnen unterstützten die Forderungen des „Kroatischen
Frühlings“ und hätten sich wahrscheinlich an den beteiligt. Matica Hrvatska hatte in den
vorangehenden Jahren über 30 Zweigstellen im Ausland, überwiegend in Deutschland,
eröffnet. Hierdurch wurden Emigrantenorganisationen und Gastarbeiter in den neuen
kroatischen Nationalismus eingebunden.222
Nicht nur in Kroatien war das Ende des „Kroatischen Frühlings“ von Parteiausschlüssen
begleitet, auch in Bosnien kam es zu Säuberungen. Sie richteten sich gegen
„Unitaristen“ und Anhänger einer Teilung Bosniens zwischen Kroatien und Serbien.
1974 rechtfertigte der BdK die Parteiausschlüsse mit einer Bedrohung für die Muslime
und die Integrität der Republik. Muslime blieben dementsprechend von den
Säuberungen weitgehend verschont.223
Der „Kroatische Frühling“ beschleunigte die Identitätsbildung der bosnischen Muslime.
Die Gebietsansprüche gegenüber Bosnien verdeutlichten den Muslimen den kroatischen
(und auch serbischen) Druck auf die Republik. In Folge bauten die Muslime verstärkt
eigene nationale Einrichtungen auf. Zuvor konzentrierten sie ihre Aufmerksamkeit auf
die Stärkung der gesamten Republik Bosnien-Herzegowina.224
Die Föderalisierung Jugoslawiens
Trotz der Unterdrückung des „Kroatischen Frühlings“ wurden viele Forderungen später
durch Tito erfüllt. Mitte der siebziger Jahre wird die kommunistische Partei
föderalisiert; 1974 erhält Jugoslawien weiterhin eine neue Verfassung. Obwohl die
föderale Verfassung und einige zentrale Forderungen des „Kroatischen Frühling“
erfüllte, blieb diese Zeit durch eine große Illiberalität auf der personellen Ebene geprägt.
Viele Intellektuelle wurden aus der Partei ausgeschlossen oder ins innere Exil gedrängt.
Statt ihnen gelangten politische Opportunisten in hohe Ämter: „...Tito's cultural
revolution purged the League of Communists of all liberal and pragmatic reformers and
gave precedence in all professions to opportunists and poorly educated followers of the
220
Stankovic, Titos Erbe, 178.
221
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 129 f.
222
Singleton, A Short History of the Yugoslav Peoples, 258.
223
Stankovic, Titos Erbe, 197 f.
224
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 186.
68
official line.“225 Tito konnte bis zu seinem Tod im Mai 1980 als Schiedsrichter
zwischen den Republiken und Nationen wirken. Durch das Fehlen einer zentralen
Persönlichkeit nach ihm herrscht schon bald nach Tito's Tod Unklarheit über die Ziele
der Politik. Die Phase leitete des Ende Jugoslawiens ein.
2.4.2. Der unabhängige Libanon
Die Entwicklung des unabhängigen Libanon wurde von zwei Gegensätzen bestimmt.
Auf der einen Seite stand die arabische Identität des Landes und dessen muslimische
Bevölkerung und auf der anderen Seite lag die christliche Bevölkerung mit ihrer
Orientierung nach Westen, insbesondere hin zu Frankreich. Die Grundlinien der Politik
des Libanons beruhten dementsprechend auf drei Säulen: Der Erhaltung der
Souveränität,226 den guten Beziehungen mit anderen arabischen Ländern und enge
freundschaftliche und kulturelle Verbindungen mit dem Westen.227 Da sich in der
französischen Mandatszeit lokale Eliten etabliert hatten, deren Erfolg von dem
Fortbestand des Staates abhing, nahm die anti-libanesische Strömung in den ersten
Nachkriegsjahren ab. Erst mit der Machtübernahme Nassers in Ägypten bildete sich eine
neue panarabische Politikergeneration, die das Aufgehen des Libanons in einem
größeren, meist sozialistisch geprägtem, arabischen Staat propagierten.228
Das außenpolitische Umfeld
Die innere Entwicklung des Libanon ist stark von den Entwicklungen in Israel geprägt.
Seit der Unabhängigkeit des Libanon bestimmt der Israelkonflikt das Umfeld des
Staates. So stimmte der Libanon, wie die anderen arabischen Länder auch, 1948 gegen
den Teilungsplan für Palästina und schickte 5.000 Soldaten in den folgenden 1.
Arabisch-Israelischen Krieg. Das Engagement im Krieg war jedoch sehr viel geringer
als das der anderen arabischen Nachbarländer Israels. Die Waffenstillstandslinie von
1949 legt die Grenze zwischen dem Libanon und Israel fest. Der Konflikt mit Israel
bestimmte auch die Beziehungen zu den Großmächten. So verschlechterten sich die
Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Libanon. Philip Hitti beschreibt
sehr prägnant die Bestürzung der arabischen Welt über die zunehmende amerkianische
Unterstützung Israels: „In all these lands [arabische Länder], where the mental picture of
an American had been that of an idealistic, altruistic Christian gentleman in his best
Sunday clothes and manners, the feeling of disappointment took the form of a shock
from which the people have not yet [1962] recovered.“229
Libanon trat 1949 einem kollektiven Sicherheitsbündnis bei, das aus Ägypten, Syrien,
Saudi-Arabien und Jemen bestand. Die Niederlage im Krieg gegen Israel und die
Staatsstreiche gegen die Monarchen in Ägypten und Syrien nur wenige Jahre später
machten dieses Bündnis obsolet.
225
Vojin Dimitrijević, The 1974 Constitution as a Factor in the Collapse of Yugoslavia or as a Sign of
Decaying Totalitarianism (= EUI Working Papers RSC 94/9, Florenz 1994) 10 f.,33.
226
Während die Soveränität im westlichen Staatsbegriff fast automatisch Teil einer jeden Politk ist,
bestehen aufgrund des Islam und der arabischen Bevölkerung in vielen Ländern stets Bestrebungen
gegen den Staat und für eine größere Einheit (Panarabismus und Panislamismus).
227
Hitti, Lebanon in History, 497 f.
228
Rabinovich, The War for Lebanon, 25.
229
Hitti, Lebanon in History, 499.
69
Die Beziehungen zu Syrien blieben lange Zeit gespannt. Während des französischen
Mandats wurden einige Bereiche der Wirtschaftspolitik gemeinsam verwaltet.230 In
dieser Zeit wollte Syrien hohe Zölle einführen, der Libanon hingegen vertrat eine freie
Handelspolitik. Dadurch gerieten beide Staaten in Konflikt. Infolgedessen lehnte Syrien
nach Ende der französischen Mandatsherrschaft die Fortsetzung der gemeinsame
Verwaltung ab und schloß in den fünfziger und sechziger Jahren oftmals die Grenze
oder verhängte ein Wirtschaftsembargo.231 Lange Zeit wurde von Syrien die
Unabhängigkeit des Libanons zwar offiziell, jedoch nicht de facto anerkannt, wie es sich
im Verlauf des libanesischen Bürgerkrieges öfters zeigte. Bis in die Gegenwart
unterhalten der Libanon und Syrien keine diplomatischen Beziehungen, somit gibt keine
Botschaften in dem jeweils anderen Land.232
Die Konsolidierung des Staates
Bishara al-Khuri, der noch unter französischer Herrschaft sein Amt als Präsident antrat,
wurde 1948 für weitere 6 Jahre gewählt. Doch schon bald stieß sein von Korruption,
Willkür und Privilegienwirtschaft geprägter Regierungsstil auf Kritik. Nachdem die
Parti Populaire Syrien (PPS) seinen Hauptverbündeten, Ministerpräsident Riad as-Solh,
im Sommer 1951 ermordet hatte, kam es zu einer politischen Krise, von der sich alKhuri nicht mehr erholte. Zwei Jahre vor dem Auslaufen der Amtszeit, am 18.
September 1952 mußte er schließlich zurücktreten.233 Obwohl diese Machtübergabe
nicht spannungsfrei ablief, kam es zu keinen Auseinandersetzungen. Auf Al-Khuri
folgte der pro-westliche Camille Chamoun als Präsident. Dieser friedliche
Regierungswechsel stellte damals in der arabischen Welt eine Neuheit dar, die auch
heute noch Seltenheitswert hat.
Der neue Präsident erwies sich jedoch nicht als viel erfolgreicher als sein Vorgänger.
Reformen der Verwaltung und des Wahlrechts wurden aufgeschoben. Auch kam er mit
dem zunehmenden arabischen Nationalismus in Konflikt, der insbesondere seit der
Machtübernahme Gamal Abdel Nasser 1953 in Ägypten stärker wurde.234
Das Parlament führte 1952 das passive und aktive Frauenwahlrecht ein235 und versuchte
erfolglos, den konfessionellen Schlüssel des Wahlrechts abzuschaffen. Genaue Zahlen
über die konfessionelle Verteilung lagen bereits zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vor.
Die letzte Volkszählung fand 1932 statt. Aus politischen Gründen wurde bis heute keine
weitere durchgeführt. Insbesondere die Maroniten befürchteten einen Machtverlust,
wenn neue Zahlen bekannt würden, so daß nur noch unzuverlässige „Schätzungen“
stattfanden. Entsprechend ist auch die Gesamtzahl der Bevölkerung seit 1932 stets nur
eine Schätzung. Bereits die Zählung 1932 war von Frankreich manipuliert wurden, so
daß sie als Basis für spätere Schätzungen kaum zuverlässig ist (s. Tabelle 10).236 Die
konfessionelle Gliederung des Parlamentes wurde 1959 formal auf die Verwaltung
230
Zölle, Grenzkontrollen, Tabakmonopol und Firmenkonzession für Unternehmen, die in beiden
Ländern aktiv sind.
231
Hitti, Lebanon in History, 500.
232
Kuderna, Libanon, 235.
233
Helena Cobban, The making of modern Lebanon (London 1985) 83.
234
Hitti, Lebanon in History, 506-508
235
Zugleich mußten Frauen, im Unterschied zu Männern, die Elementarbildung abgeschlossen haben,
um wählen zu dürfen, s. Ansawi, Libanon, 21 f.
236
Kuderna, Libanon, 236.
70
übertragen. Bereits zuvor wurden Posten informell nach dem gleichen Prinzip verteilt,
wobei Maroniten und Sunniten bis zum Ausbruch des Bürgerkrieges bevorzugt blieben.
So waren 1955 40 Prozent der Beamten Maroniten, 27 Prozent Sunniten und nur 3,6
Prozent Schiiten.237
237
Gordon, The Republic of Lebanon, 83.
71
Christen
Muslime
Maroniten
423.000
30,0 %
Sunniten
286.000
20,3 %
griechischorthodox
149.000
10,6 %
Schiiten
250.000
17,7 %
griechischkatholisch
91.000
6,5 %
Drusen
88.000
6,2 %
238
122.000
8,7 %
Insgesamt
1.409.000
100 %
Andere
Tabelle 10: Die letzte offizielle Schätzung der Bevölkerung 1956
239
Das Wahlrecht (vgl. Kapitel 3.1.2.) verhinderte den Aufstieg von neuen Politikern.
Somit blieb das Parlament hinter der gesellschaftlichen Entwicklung zurück und schloß
neue politische Strömungen aus dem System aus. Diese entwickelten sich in Folge
außerhalb des politischen Establishment. Zu ihnen zählte die muslimische Bevölkerung,
die sich durch das System nur unzureichend repräsentiert sah, linke Gruppen, die sich
gegen das konfessionelle System wandten und ausländische Mächte, insbesondere die
Sowjetunion, Syrien und Ägypten, die sich aus verschiedenen Gründen am Libanon
interessierten.
Gegen Ende der fünfziger Jahre gewann diese außerparlamentarische Opposition an
Bedeutung. Die Bedrohung des Systems wurde erstmals beim Bürgerkrieg 1958
deutlich.240
Der 1. Bürgerkrieg 1958
Der größte Gegner Chamouns war Kamal Jumblat, der die Wahl Chamouns (gegen
Bishara al-Khuri) zwar zunächst unterstützte, sich dann jedoch gegen ihn wandte.
Chamoun versuchte Jumblat zu entmachten, da beide aus der gleichen Region (Chouf)
stammten und deshalb regionale Konkurrenten waren. So förderte er Drusen, der
anderen “Fraktion“ innerhalb der Konfession (vgl. Kapitel 3.4.2.) und regierte mit
Sunniten, die nicht der politischen Elite entstammten. Chamoun versucht seine
innenpolitischen Gegner durch Manipulationen der Wahl 1957 auszuschalten. So verlor
Jumblat und andere wichtige muslimische Politiker ihren Sitz im Parlament.241
Rabinovich bezeichnet den Erfolg dieser Manipulation als einen „Pyrrhussieg“, da die
Opposition nun außerparlamentarisch gegen Chamoun agierte. Die Spannungen spitzten
sich zu, als Chamoun trotz Kritik den prowestlichen Ministerpräsidenten al-Sulh im
Amt behielt und eine zweite Amtszeit anstrebte und somit die Grundsätze des
staatlichen Konsens in Frage stellte.242
Die Bedrohung verstärkte sich, als Syrien und Ägypten sich 1958 zur Vereinten
Arabischen Republik zusammenschlossen. Präsident Chamoun, nahm wohl auch als
Reaktion darauf, die von den USA im Rahmen der „Eisenhower-Doktrin“ angebotene
Unterstützung in der Höhe von 20 Millionen Dollar als einziges arabisches Land an. Die
238
Andere sind neben Juden auch kleinere christliche und muslimische Gruppen.
239
Marcel Pott, Renate Schimkoreit-Pott, Beirut. Zwischen Kreuz und Koran (Braunschweig 1985)
342.
240
Rabinovich, The War for Lebanon, 26 f.
241
Cobban, The making of modern Lebanon , 84 f.
242
Rabinovich, The War for Lebanon, 27 f.
72
„Eisenhower-Doktrin“ bot jedem Staat im Nahen Osten Hilfe an, der durch Aggression
des „internationalen Kommunismus“ bedroht wurde.243
Nach dem Mord an einem maronitischen Journalisten, der dem Präsidenten kritisch
gegenüberstand, brachen in Tripoli, Sidon und im Chouf-Gebirge Unruhen aus. Dieser
Aufstand ging von der nun außerparlamentarischen Opposition und auch von
ehemaligen Ministern und Abgeordneten aus, die sich durch den Klientelismus des
Präsidenten benachteiligt fühlten. Diese Allianz von traditioneller muslimischer Elite
mit neuen panarabischen Kräften stellte eine besonders große Bedrohung für den
Präsidenten dar. Durch den kurzen Bürgerkrieg starben 2.000 bis 4.000 Menschen. Das
öffentliche Leben im Libanon war gelähmt. Im Juli 1958 betrieb die Vereinte Arabische
Republik (Syrien und Ägypten) einen Putsch im Irak. Dieser führte zu einem
Hilfsgesuch von Chamoun an den amerikanischen Präsidenten Eisenhower, da er eine
gewaltsame Machtübernahme nun auch im Libanon befürchtete. Die Vereinigten
Staaten schickten daraufhin 10.000 Marines in den Libanon. Sie griffen jedoch nicht in
den Konflikt ein, als sie erkannten, wie wenig Rückhalt Chamoun besaß. So sah
Präsident Eisenhower die Sinnlosigkeit eines Eingriffs ein: „I felt we were backing up a
government with so little popular support that we probably should not be there.“244
Auch die libanesische Armee erklärte sich für neutral. Da der Präsident von keiner Seite
Unterstützung erhielt und zugleich seine reguläre Amtszeit auslief, blieb ihm nur der
Rücktritt. Dies entschärfte die Lage.
Der kurze Bürgerkrieg zeigte Muslimen und Christen das fragile Gleichgewicht des
libanesischen Systems. Politik, die sich von dem Konsens zu weit entfernt, führte
unweigerlich zum Krieg. Diese Krise zeigte jedoch nicht nur die Zerbrechlichkeit
sondern auch die Fähigkeit zum Ausgleich. Die Jahre nach 1958 brachten ein Mäßigung
beider Seiten mit sich.245 Der Bürgerkrieg verdeutlichte drei Bruchlinien in der Politik.
Der vorrangige Konflikt bestand zwischen „Nasseristen“ und Vertretern eine prowestlichen Politik. Auf der zweiten Ebene fand eine Auseinandersetzung zwischen
Christen und Muslimen statt. Der dritte Gegensatz war zwischen einer alten Elite und
einer neuen, radikaleren Gruppe von Politikern. Alle drei Ebenen spielen beim
Ausbruch des Bürgerkrieges 1976 erneut die wichtigste Rolle.
Der Shihabismus
Der Armeechef Fu'uad Shihab (1958-1964) wurde der Nachfolger von Chamoun. Er
bemühte sich darum, die gut organisierte maronitische Kata'ib Partei einzubinden. Auch
mit der muslimischen Opposition pflegte er Kontakte, um die Gefahr eines neuen
Bürgerkrieges abzuwenden.246 Die Stärke der Präsidentschaft von Shihab lag, neben
seinem guten Ruf wegen seiner Unparteilichkeit im Bürgerkrieg 1958, in der
einflußreichen Stellung seiner Familie und dem Rückhalt in der Armee. Shihab konnte
sich somit als Retter des Landes präsentieren.
Shihab setzte den wirtschaftsliberalen Kurs fort, versuchte jedoch zugleich
benachteiligte Regionen fördern und die Sozialpolitik zu stärken. Doch auch Shihab
gelang es nicht, eine umfassende Reform durchzusetzen. Er konnte jedoch den
243
Stephen E. Ambrose, Rise to Globalism. American Foreign Policy since 1938 (New York 1988)
164.
244
Ebd., 165.
245
Rabinovich, The War for Lebanon, 29.
246
Gordon, The Republic of Lebanon, 26-28.
73
Staatsapparat stärken und manche großen Ungerechtigkeiten ausgleichen. Zugleich
baute er das Deuxième Bureau, die militärische Geheimpolizei, auf. Nach dem Ende
seiner Amtszeit wurde deutlich, daß die Stärkung des Staates nur vorübergehend war.
Der schwache Präsident Charles Hélou (1964-1970) stand unter dem Einfluß Shihab's,
der versuchte durch seinen Nachfolger weiter die Politik zu bestimmen. Da Hélou
jedoch eine klare Mehrheit im Parlament fehlte, wurden Reformen des politischen
Systems weiter aufgehalten. Seine Amtszeit wurde zudem von innen- und
außenpolitischen Krisen geprägt. So brach 1966 die Intra-Bank zusammen (vgl. Kapitel
3.3.2.) und im folgende Jahr folgte die katastrophale Niederlage der arabischen Länder
im Krieg gegen Israel. Obwohl der Libanon am Krieg nicht beteiligt war schwächte der
Sieg Israels die panarabischen Bewegungen und das Selbstvertrauen der arabischen
Welt. Für den Libanon bedeutete der Sechs-Tage-Krieg in erster Linie eine weitere
palästinensische Flüchtlingswelle.247
Die Palästinenser im Libanon
Seit dem 1. Arabisch-Israelischen Krieg 1948 lebten zwischen 75.000 und 200.000
Palästinenser im Libanon. Etwa 20 Prozent von ihnen (meist Christen) wurden in die
Gesellschaft integriert und erhielten teils auch die libanesische Staatsbürgerschaft. Viele
von ihnen waren Maroniten und andere Christen, die erst nach Ende des 1. Weltkrieges
vom Libanon nach Palästinas ausgewandert sind. Die Mehrheit der Palästinenser mußte
jedoch in Flüchtlingslagern bleiben. Die Lager sollten sicher stellen, daß die Flüchtlinge
möglichst bald nach Palästina zurückkehren. Die Palästinenser aus den Lagern wurden
nicht in die Gesellschaft integriert, um Druck auf Israel aufrecht erhalten. Weiterhin
befürchtete die christliche politische Elite bei der Integration der mehrheitlich
muslimischen Palästinenser die Vorherrschaft zu verlieren.248 Bis zum Ende der
sechziger Jahre wurden die Palästinenser im Libanon in erster Linie als
Flüchtlingsproblem betrachtet. Sie dominierte bereits zuvor die außerparlamentarische
Opposition. Da ihnen libanesische Verbündete fehlten wurde die palästinensische
Ablehnung des politischen Systems des Libanon kaum wahrgenommen.249
Ab 1965 verstärkten sich die Konflikte zwischen libanesischen Christen und
Palästinensern. Neben den neuen Flüchtlingen nach dem Sechs-Tage-Krieges 1967 gab
es zwei weitere Gründe: Die linken und überwiegend muslimischen Parteien unter
Führung des Drusen Jumblat bildeten mit der PLO eine oppositionelle Allianz. Die
politische Führung der Palästinenser, die PLO mußten schließlich 1970 ihre Basis
Jordanien verlassen.
Die meisten palästinensischen Flüchtlinge kamen entweder von der Westbank oder aus
Gaza, die in Folge des Krieges von 1967 Israel besetzt wurden. Je nach Schätzung
wuchs die Zahl der Palästinenser im Libanon auf 200.000 bis 300.000 an. 65 % von
ihnen lebten in Lagern. Somit blieben im Libanon fast 10 % der Bevölkerung
ausgegrenzt und verarmten.250
Die palästinesischen Flüchtlinge und Widerstandsgruppen führten dazu, daß der
Libanon in den Konflikt mit Israel hineingezogen wurde. Als Vergeltungsmaßnahme
247
Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 573-575.
248
Gordon, The Republic of Lebanon, 91; D. Th. Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon. Entstehung,
Verlauf, Hintergründe (München 1979) 94-96.
249
Rabinovich, The War for Lebanon, 40.
250
Schiller, Der Bürgerkrieg im Libanon, 96 f.
74
gegen eine palästinensische Aktion gegen Israel zerstörten israelische Einheiten im
Dezember 1968 alle Flugzeuge am Beiruter Flughafen. Israel brachte somit deutlich
zum Ausdruck, daß es den Libanon für die Aktivitäten von Palästinensern
verantwortlich hielt. Dieser Angriff führte zu einer ungewohnten einhelligen
Verurteilung aller Konfessionen Israels. Studenten protestierten gegen die Angriffe und
forderten die Einführung der Wehrpflicht im Land. Diese allgemeine Sympathie für die
Palästinenser hielt jedoch nicht lange an. Proteste und Ausschreitungen in Sidon von
Palästinensern und sunnitischen Libanesen gegen die Passivität der Regierung im
Angesicht der israelischen Bedrohung verdeutlichte der maronitischen Elite, daß ihre
Vormacht durch die Palästinenser bedroht werden könnte. Die Reaktion der meisten
maronitischen Parteien war jedoch nicht eine Stärkung des Staates, sondern die
Aufrüstung der Parteimilizen.251
Eine Konferenz in Kairo 1969 unter Vermittlung des ägyptischen Präsidenten Nasser
sollte die Beziehungen zwischen dem Libanon und der PLO regeln. Der Vertrag
untersagte Palästinensern Waffen außerhalb der Lager zu tragen und von libanesischen
Boden aus Israel zu bombardieren. Der Zugang nach Israel wurde auf bestimmte
Grenzgebiete beschränkt. Zugleich mußte der Libanon die militärische Präsenz der PLO
im Land anerkennen. Das Abkommen besiegelte einen Souveränitätsverlust der
libanesischen Regierung. Ein bedenkliches Licht warf der Ratifizierungsprozeß des
Abkommens auf die libanesische Demokratie: Dem Parlament lag der Vertrag nicht vor,
so daß es über einen unbekannten Text abstimmte. Trotz der Ablehnung der meisten
maronitischen Politikern, verabschiedete das libanesische Parlament das Abkommen.
Dies führte zu einer Verschärfung der konfessionellen Spannungen und trug reduzierte
die Legitimität des Abkommens. Trotzdem wurden die palästinensischen Gruppen
erstmals libanesischen Gesetzen unterworfen.252 Dieses Abkommen kann als Versuch
gewertet werden, Unvereinbares zu verbinden. Der Schutz der Autonomie der PLO und
die Sicherung libanesischer Souveränität schließen einander aus. Der Vertrag stellte
somit nur ein Provisorium dar, daß die grundlegenden Konflikte zwischen dem Staat
und der PLO nicht lösen konnte.
Während der Amtszeit von Shihab und Hélou erfolgte eine enge Anlehnung an Ägypten
(bzw. die Vereinigte Arabische Republik, VAR). So wurde der Botschafter der VAR im
Libanon oft als der neue “Hochkommissar“ des Landes bezeichnet. Trotzdem war die
Zeit von einer Stärkung staatlicher Strukturen geprägt.253 Die ägyptenfreundliche Politik
und Spannungen den Palästinensern führten zu einer oppositionellen Allianz der
maronitischen Parteien. Bei den Parlamentswahlen 1968 schlossen sich die Kata'ib, die
National-Liberale Partei und der Nationale Block gegen Shihab zusammen und
bestimmten die politische Richtung des Landes. Diese Koalition förderten die Wahl
Sulaiman Franjiyya (1970-1976) zum Präsidenten zwei Jahre später.254
2.4.3. Zusammenfassung
Die Entwicklung des Libanon und Bosniens nach dem 2. Weltkrieg ist von einer relativ
langen friedlichen Phase gekennzeichnet. In Bosnien war die Stabilität nach 1945 das
251
Rabbath, La Formation du Liban Politique et Constitutionnel, 576-579.
252
Gordon, The Republic of Lebanon, 93. Für den Text des Abkommen von Kairo und den 2. Vertrag
mit der PLO vom Mai 1973 (Melkart Abkommen) s. Votzke, Der umstrittene Krieg im Libanon,
229-238.
253
Cobban, The making of modern Lebanon, 93 f.
254
Rabinovich, The War for Lebanon, 31.
75
Ergebnis der kommunistischen Diktatur und der großen Leiden aller Nationen Bosniens
und Jugoslawiens. Der Libanon erlebte keine Katastrophe wie Bosnien. In der
Zwischenkriegszeit und im 2. Weltkrieg kam es im Libanon zwar zu Aufständen und
Unruhen, die jedoch in keinem Verhältnis zum Bürgerkrieg in Jugoslawien standen. Die
Stabilität des Libanon beruhte vor allem auf den im Nationalpakt gefunden Konsens und
der allgemein akzeptierten staatlichen Eigenständigkeit des Landes. Zugleich wurde das
Land seit der Unabhängigkeit Kriegen und internen Krisen der Nachbarstaaten
ausgeliefert, was die friedliche Entwicklung im Libanon noch erstaunlicher scheinen
läßt.
Die Stabilität nach dem 2. Weltkrieg beruhte im Libanon und in Jugoslawien allgemein,
insbesondere in Bosnien, auf einem fragilen Gleichgewicht. Der Nationalpakt im
Libanon sicherte einen Ausgleich zwischen Sunniten und Maroniten, die jeweils den
Anspruch erhoben alle Muslime bzw. Christen zu repräsentieren. Dieser Pakt
bevorzugte die Maroniten, die aufgrund französischer Unterstützung ihre Vorherrschaft
absichern konnten. Trotzdem stellte die garantierte Machtbeteiligung von Sunniten und
Schiiten ein Gleichgewicht her, das trotz fehlender Ausgewogenheit dreißig Jahre lang
funktionierte. Im 2. Jugoslawien schuf die kommunistische Partei ein ähnliches
Gleichgewicht zwischen den Serben und den anderen Nationen. Während die
Zwischenkriegszeit von einer serbischen Dominanz geprägt war, bemühte sich Tito und
die neue kommunistische Elite um einen Ausgleich zwischen den Nationen. Dies hatte
Einfluß auf die Strukturierung der Republiken und trug zur Schaffung Bosniens als
eigenständige Republik bei. Nachdem Bosnien weder in der Zwischenkriegszeit, noch
im faschistischen Kroatien bestand, war es nicht selbstverständlich, BosnienHerzegowina wiederherzustellen. Da der Krieg die größten Bruchlinien zwischen
Kroaten und Serben aufzeigte, bemühte sich die KP darum, durch Bosnien einen
„Puffer“ zwischen beiden Republiken zu schaffen. Zudem sollte die Eigenständigkeit
Bosniens Neid und territoriale Ansprüche von Serben und Kroaten gegeneinander
aufheben. Innerhalb Bosniens selber herrscht ein ähnliches Gleichgewicht vor. Trotz der
formalen Ausgewogenheit der drei Nationen ist jedoch in Erinnerung zu rufen, daß in
Bosnien und anderen Republiken die serbische Bevölkerung, insbesondere in den ersten
20 Jahren Jugoslawiens, überrepräsentiert waren.
Weder im Libanon, noch in Bosnien, besaß die Balance ein stabiles Fundament. In
Bosnien wurde dies durch das Verdrängen der Kriegsgeschichte und eine
kommunistische Diktatur erreicht, die die nationale Frage für lange Zeit für „gelöst“
hielt.255 Im Libanon war zwar eine freie Diskussion über den Nationalpakt möglich, eine
Neuverhandlung der Bedingungen dieses Gleichgewichts bedrohte jedoch, wie in
Jugoslawien auch, den Bestand des Staates.
Aus dem Versuch der Benachteiligten, das Gleichgewicht der Nationen bzw.
Konfessionen neu zu bestimmen, entstanden im Rahmen des „kroatischen Frühling“
1969-1971 und des 1. libanesischen Bürgerkrieges 1958 Staatskrisen, die nicht nur eine
Bedrohung für die Kooperation der einzelnen Gruppen darstellten, sondern den Staat
insgesamt gefährdeten.
Bei beiden Krisen verbanden sich integrierte Vertreter des jeweiligen Systems (die
kroatische KP in Jugoslawien und traditionelle muslimische Politiker im Libanon) mit
255
76
Der Partisanen-Mythos und die Darstellung des 2. Weltkrieges nahm zwar einen breiten Raum in
Jugoslawien seit 1945 ein, zu einer wirklich freien Diskussion über die Kriegsereignisse kam es
jedoch erst seit Mitte der achtziger Jahre - unter nationalistischem Vorzeichen.
radikaleren Politikern und Intellektuellen, die sich gegen das System richteten (Matica
Hrvatska und kroatische Nationalisten in Jugoslawien und Nasseristen im Libanon).
Diese Verbindung stellte eine besondere Bedrohung für die beiden Länder, dar, da die
Neuordnung des Landes auf zwei Ebenen vorangetrieben wurde: Innerhalb der
Institutionen des politischen Systems und durch Druck von nicht-staatlicher Seite
(Demonstrationen, Kulturinstitute und Medien).
Diese Krise zeigen in beiden Staaten die Bruchlinien auf, die sich später im blutigen
Krieg ausdrückten. Interessant ist eine Betrachtung der Akteure die zur Beendigung der
Krise in Libanon 1958 und in Jugoslawien/Bosnien 1971 beigetragen haben. In
Jugoslawien endete der „Kroatische Frühling“ mit einer Säuberungswelle in Partei und
Staat. Alle Akteure außerhalb des politischen Systems, wie Matica Hrvatska, wurden
unterdrückt. Die Änderungsvorschläge und Kritik des neuen kroatischen Nationalismus
wurden jedoch nicht leichtfertig ignoriert. Die Reformen von Staat und Partei Mitte der
siebziger Jahre berücksichtigen die moderaten Positionen des „Kroatischen Frühlings“.
Nicht berücksichtigt wurden jedoch die Rufe nach Demokratisierung und Öffnung des
politischen Systems. Im Libanon war die Oppositionsbewegung von 1958 personell
erfolgreicher. Der Präsident trat zurück und die folgende politische Entwicklung
integrierte einige Politiker der Opposition in das politische System. Im Gegensatz zu
Jugoslawien wurde der Staat weder reformiert, noch wurden die wesentlichen
Forderungen der Oppositionellen erfüllt.
Sowohl im Libanon, wie auch in Jugoslawien konnte die Konfrontation nur durch eine
Person oder Institution beigelegt werden, die nicht für eine der beiden Konfliktparteien
durch die Auseinandersetzung diskreditiert war. In Jugoslawien stand Tito über der
kroatischen Kritik, so daß seine Unterdrückung des „Kroatischen Frühlings“ nicht als
großserbische oder eine ähnliche Reaktion interpretiert wurde. Eine weitere Zuspitzung
konnte so vermieden werden. Im Libanon blieb nur die schwache Armee und ihr
Oberbefehlshaber an 1. Bürgerkrieg unbeteiligt. Sie waren somit die einzige für beide
Konfliktparteien akzeptable Institutionen.
Die im Libanon geprägte Formel von dem Bürgerkrieg ohne Sieger und Besiegte ließe
sich auch für den „Kroatischen Frühling“ anwenden. Dies gilt zwar nicht auf
personeller, wohl aber auf inhaltlicher Ebene. In beiden Ländern führte die
Konfrontation nicht zu der nötigen Grundsatzdiskussion über die erwünschte
Staatsform, so daß die Elite beider Länder eine weitere Auseinandersetzung um das
politisches System nur aufschoben. Als dieses Thema erneut in Jugoslawien/Bosnien
und im Libanon auf der Tagesordnung stand, fehlten in beiden Ländern die
ausgleichenden Elemente, die eine Konfrontation entschärfen konnten.
2.5. Die Zeit vor dem Bürgerkrieg
Die Zeit vor dem Bürgerkrieg läßt sich im Fall von Bosnien-Herzegowina und den
Libanon nicht klar von der Entwicklung beider Länder nach dem 2. Weltkrieg trennen.
Mit dem Tod Titos 1980 und der Kairoer Konferenz zwischen Libanon und der PLO
1969 beginnt in beiden Staaten jedoch eine Periode, in der die innerstaatlichen
Spannungen zunahmen und ein Bürgerkrieg immer wahrscheinlicher wurde. Diese
Periode steht in Kapitel 3 im Vorgrund, deshalb entfällt hier die Zusammenfassung.
2.5.1. Bosnien-Herzegowina
Mit dem Tod von Tito im Mai 1980 ging Jugoslawien der einzige „Schiedsrichter“
zwischen den Republiken und Nationen verloren. Im Lauf der achtziger Jahre kommt
der Gesamtstaat auf verschiedenen Ebenen zunehmend in eine Krise, die von den
77
Politikern nicht mehr bewältigt werden konnten. Das oberste Organ des Staats ist seit
1980 das Staatspräsidium mit einem jährlich wechselnden Präsidenten. Immer weniger
Autorität geht jedoch von den Organen des Bundes aus und die Republiken führen am
Ende des Jahrzehnts eine weitgehend eigenständige Politik (vgl. Kapitel 3.1.1.)
Die Politik der Republiken Anfang der achtziger Jahre gliedert sich an zwei Achsen. Die
erste Achse bestimmt, ob die Republiken eine Konföderation bzw. eine Beibehaltung
der föderalen Verfassung von 1974 anstreben oder eine Rezentralisierung verlangen. An
der zweiten Achse gliedern sich die Republiken nach ihrer politischen und
wirtschaftlichen Zielen. Die eine Gruppe strebte eine Liberalisierung des Systems an,
während eine zweite eine konservative Linie vertritt. Liberal Republiksparteien
forderten eine Reform des Wirtschaftssystems und politische Diskussionen. Diese Art
des Liberalismus ist jedoch nicht unbedingt mit Pluralismus und Demokratie
gleichzusetzen.
Liberal
Serbien
Vojvodina
Slowenien
Zentralistisch
Föderal
Bosnien-Herzegowina
Montenegro
Kroatien
Mazedonien
Kosovo
Konservativ
Graphik 1: Die Grundpositionen der Republiken und Provinzen Anfang der achtziger Jahre
256
Bosnien strebte eine zentralistisches System an, da die Führung erneute Ansprüche auf
bosnisches Gebiet von kroatischer oder serbischer Seite im Rahmen einer weiteren
Föderalisierung befürchtete.
Die Konföderalisierung in den siebziger Jahren hat zu einer neuen Politikergeneration in
Jugoslawien geführt. Nach dem Tod der ersten Generation (meist ehemalige Partisanen,
u.a. Kardelj 1979, Tito 1980, Ranković 1983) übernahmen Politiker die Macht in
Jugoslawien, die ihre Machtbasis in erster Linie in einer jeweiligen Republik besaßen.
Ohne Rückhalt in einer Republik ließ sich nach Titos Tod kaum noch Politik machen.
Nicht zuletzt das Scheitern von Ante Marković als letzter jugoslawischer
Premierminister ist hierfür ein Indiz. Während in den anderen Republiken somit eine
zunehmend national orientierte Politik ermöglicht wurde, mußten in Bosnien
multinationale Koalitionen gebildet werden.257
Die Rolle der Muslime in den achtziger Jahren
Der in sechziger und siebziger Jahren begonnene Prozeß der muslimischen
Identitätsbildung setzte sich im Jahrzehnt nach Titos Tod fort. In Bosnien etablierte sich
ein informelles Rekrutierungssystem der Elite nach einem nationalen Schlüssel.
Hierdurch verringerte sich das serbische Übergewicht in der Verwaltung und Partei;
1985 waren die Muslime in der Partei proportional zur Bevölkerung vertreten. Lediglich
256
Ramet, Nationalism and federalism in Yugoslavia, 217.
257
Friedman, The Bosnian Muslims, 188.
78
in der Spitzenpositionen der Republik und des Bundes blieben Muslime
unterrepräsentiert. Weiterhin blieben Kroaten und Muslime in der Polizei und Armee
zugunsten der Serben unterrepräsentiert (vgl. Kapitel 3.1.1.).
Neben dem muslimischen Nationalismus kommt verstärkt ein politisierter Islam zu
Vorschein. Die politische Elite wehrte sich gegen die religiöse Wiedergeburt des Islam
als politisches Konzept. Im Zentrum der staatlichen Bekämpfung eines politischen Islam
sind die Prozesse 1983 zu sehen.258 Zur gleichen Zeit fanden Gerichtsverfahren gegen
serbische und kroatische Nationalisten in und außerhalb Bosniens statt. Franjo Tudjman
wurde wegen seiner nationalistischen Äußerungen zwei Jahre zuvor verurteilt.
Diese Welle der Verurteilungen spiegelt den Versuch der politischen Elite wieder, die
Liberalisierung nach dem Tod Titos unter Kontrolle zu bringen. Weiterhin zeigte sich
das nationale Gleichgewicht auch in den Prozessen. Wenn ein muslimischer
„Nationalist“ verurteilt wurde, muß auch ein serbischer Nationalist bestraft werden.
Der serbische *ationalismus
Im Sinne des „Gleichgewichts“ zwischen den Nationen kam es 1984 zu einem Prozeß
gegen einen serbischen Nationalisten. Der bosnische Serbe, Vojislav Šešelj, der damals
an der Universität Sarajevo als Lektor tätig war, wurde beschuldigt gegen „die
verfassungsmäßige Ordnung verstoßen und feindliche Propaganda“ verbreitet zu haben.
Šešelj lehnte in einem Artikel, den er für die Parteizeitung Kommunist geschrieben
hatte, die bisherige Nationalitätenpolitik ab und schlug eine Aufteilung Bosniens
zwischen Serbien und Kroatien vor. Er wurde zu acht Jahren Haft verurteilt. Das harte
Urteil wurde durch Druck von Amnesty International und die internationale
Aufmerksamkeit in Folge der Olympischen Spiele in Sarajevo reduziert, so daß er im
März 1986 freigelassen wurde. Später stieg Šešelj zum Vorsitz der Radikalen Partei
Serbiens auf und gründete die Četnici neu, die während des Krieges in Bosnien und
Kroatien im Krieg einen Teil der grausamsten Kriegsverbrechen begingen. Zudem
wurde seine Partei Koalitionspartner der Sozialistischen Partei Serbiens, so daß Šešelj
1997 zum Vize-Premierminister Serbiens aufstieg.259
Ende der achtziger Jahre lockerte sich die strenge anti-nationale Politik in Bosnien.
Nachdem der serbische Nationalismus de facto zur offiziellen Politik der
Nachbarrepublik Serbien wurde (vgl. Kapitel 3.6.1), gestaltete es sich für Bosnien
schwierig, den serbischen Nationalismus in Bosnien aufzuhalten. In Bosnien diente die
relativ hohe Geburtenrate der Muslime als Motiv, um Angst vor einer islamischen
Repbulik zu schüren. So ging die Geburtenrate bei allen drei Nationen zwischen 1981
und 1990 stark zurück, die Rate der Muslime blieb jedoch die Höchste. Die serbische
Rate fiel von 7,7 auf 3,8 pro Tausend und die kroatische von 8,9 auf 7. Die muslimische
Geburtenrate lag 1981 bei 14,8, während sie 1990 immer noch bei 11,3 lag. Neben der
niedrigeren Geburtenrate wanderten auch mehr Kroaten und Serben in die jeweilige
Republik ab.260 Aus diesen Zahlen leiteten serbische Nationalisten eine islamische
258
Die Islamisten sind keine Nationalisten. Da sich ihre Vorstellung in Bosnien jedoch nur auf eine
Nation in Bosnien beruft, sind sie mit Nationalisten zu vergleichen. s. Kapitel 6.4.1. Islam.
259
Slobodan Inić, Vojislav Šešelj: A Demon Comes of Age, in Sonja Biserko, Seška Stanojlović
(Hrsg.), Radicalisation of the Serbian Society. Collection of Documents (Belgrad 1997) 170-179.
260
Bataković, The Serbs of Bosnia & Herzegovina, 124. Diese Tendenz läßt sich auch in den anderen
Republiken Jugoslawiens feststellen. Die Migration in die jeweilige national Republik stand im
Zusammenhang mit der zunehmenden Wahrnehmung nationaler Interessen der Republiken und
Provinzen.
79
Bedrohung durch eine absolute Mehrheit Muslime in Bosnien ab. Die Nutzung der
Geburtenrate bei den Muslimen als Mobilisierungsinstrument der Serben kommt bei
einem Interview mit dem Vorstizenden der SDS, Radovan Karadžić, zum Ausdruck: „If
they [die Muslime] did not want to live in Yugoslavia in which the Serbs totaled 40
percent, why should we live in a Bosnia where [the Muslims] total 44 percent? In a
while, they will be 50 percent and a Muslim state will emerge.“261 Diese Ängste wurden
zunehmend von dem BdKS, später Sozialistischen Partei Serbiens, unter Sloban
Milošević mobilisiert. Verbunden hiermit war die Angst der serbischen Bevölkerung
vor einer kroatisch-muslimschen Koalition. Dieses Mißtrauen führte zu Aktivitäten der
serbischen Geheimpolizei in Bosnien - ohne Wissen der Republiksführung - die 1989
bekannt wurden.262 In diesem Klima entstand die Serbische Demokratische Partei
(SDS), die gezielt diese Ängste ansprach und einen Großteil der serbischen Stimmen bei
der ersten Wahl 1990 auf sich vereinen konnte (vgl. Kapitel 3.2.1.).
Muslime
Serben
Kroaten
Jugoslawen
andere
1981
39,5
32,0
18,4
5,3
3,0
1991
43,7
31,4
17,3
4,0
3,7
Tabelle 11: Ergebnisse der Volkszählung für Bosnien 1981 und 1991
263
Krise und Ende des Bundes der Kommunisten
Ein großer Skandal schwächte in den späten achtziger Jahren die Kommunistische
Partei Bosniens. Führende Politiker Bosniens ließen sich Anfang der achtziger Jahre
ihre Sommerhäuser in Neum, dem einzigen bosnisch-herzegowinischen Dorf an der
Adria, bauen. Die Preise für die Grundstücke lagen weit unter dem Marktwert und das
Baumaterial für die Luxusvillen stammte oftmals von einem Hotelbau. Neum war noch
in den siebziger Jahren ein kleines Dorf, dem mit dem Hotel- und Villenbau eine
Infrastruktur errichtet wurde, die sogar an der touristischen Adriaküste eine Seltenheit
darstellte. Die Modernisierung wurde aus Bundesmitteln zur Förderung
unterentwickelter Gebiete finanziert. Zum Bau der Villen erteilten Banken an die
Funktionäre günstige Kredite, so daß die aufgrund der hohen Inflationsrate bald hinfällig
waren.
Im Februar 1988 versuchte die serbische Illustrierte Svet darüber zu berichten. Die
bereits ausgelieferte Nummer wurde jedoch wieder eingezogen. Bereits wenige Tage
später wurde der Skandal in der kroatischen Zeitschrift Danas veröffentlicht. Die Folge
war eine Säuberungswelle in der bosnischen Partei und Verwaltung. Neben anderen
Politikern mußte auch Mato Andrić, der Präsident der Republik, sein Amt niederlegen.
Der Rücktritt des jugoslawischen Premierministers Branko Mikulić war neben
wirtschaftlichen Problemen auch das Ergebnis des Bauskandals von Neum. Insgesamt
hatten 76 von 130 Mitgliedern des bosnischen ZK Villen in Neum.264 Die Folgen dieses
Skandals waren zweierlei: Erstens wurde die Partei und die Verwaltung geschwächt.
Zweitens führte er zu einer Diskreditierung des Bundes der Kommunisten in Bosnien. In
261
Zitiert nach: Radovan Karadžić, Karadzic: 'I am a nationalist', in: Transition, 30.6.1995, Nr.11, Jhrg.
1, 54.
262
Friedman, The Bosnian Muslims, 192.
263
Herbert Büschenfeld, Ergebnisse der Volkszählung 1991 in Jugoslawien, in: Osteuropa, Dezember
1992, Jhrg. 42, 1100.
264
Thomas Brey, Die Logik des
(Freiburg/Basel/Wien 1993) S. 55 f.
80
Wahnsinns.
Jugoslawien
-
von
Tätern
und
Opfern
einer armen Republik, in der große Wohnungsnot bestand, stieß ein derartiger
Mißbrauch auf wenig Verständnis. Der Vorwurf der reicheren Republiken, daß die von
ihnen aufgebrachten Förderungen für unterentwickelte Gebiete verschwendet werden,
erhielt durch den Bauskandal auftrieb. Im Skandal um Neum ist nicht zuletzt ein Grund
zu sehen, warum die kommunistische Partei bei den Wahlen 1990, nur zwei Jahre
später, das schlechteste Ergebnis in allen Republiken erlangte.
Noch im März 1989 erklärte das Staatspräsidium, daß die Gründung von Parteien
verfassungswidrig sei. Mit dem Verfall der Kommunistischen Partei nach dem
abgebrochenen Parteikongreß im Januar 1990 war die Pluralisierung der politischen
Landschaft nicht mehr aufzuhalten (vgl. Kapitel 3.2.1). Das Parlament Jugoslawien
beschloß deshalb Anfang 1990 die Einführung eines Mehrparteiensystems. Statt der
geplanten Bundeswahlen im April 1990 kam es lediglich zu Wahlen in allen
Republiken. Die Absage der Bundeswahl ist Ausdruck der unterschiedlichen Interessen
über die Zukunft des Staates und des dominanten Eiflusses der Republiken.265
Zuerst versuchte der Bund der Kommunisten in Bosnien eine Parteienlandschaft nach
nationalen Kriterien zu verhindern und untersagte die Bildung von nationale Parteien.
Der Verfassungsgerichtshof hob jedoch vor den Wahlen das Verbot auf und ermöglichte
somit das Entstehen der drei nationalen Parteien (SDA, SDA, HDZ).266
Am 18. November und 2. Dezember 1990 fanden die ersten freien Wahlen in BosnienHerzegowina seit Ende der zwanziger Jahre statt. Sowohl die Wahl für die beiden
Parlamentskammern, wie auch für das Präsidium (vgl. Kapitel 3.1.1.) konnten die drei
nationalen Parteien überlegen gewinnen (vgl. Kapitel 3.2.1.). So stimmten 86,5 % aller
Muslime für die SDA, 84,6 % aller Serben für die SDS und 84 % der Kroaten für die
HDZ.267
Partei
Bürgerkammer
in %
Sitze
Gemeindekammer
Sitze
SDA
31,5
41
45
SDS
26,1
34
38
HDZ
16,0
20
24
SKBiH-SDP
12,3
18
1
SRSJ-BiH
8,9
12
1
MBO
1,1
2
-
andere Parteien
3,9
3
1
insgesamt
100
130
110
Tabelle 12: Ergebnis der Wahlen in Bosnien-Herzegowina
268
265
Jens Reuter, Jugoslawien: Zerfall des Bundesstaates. Systemwechsel und nationale
Homogeniesierung in den Teilrepuliken, in: Magareta Mommsen (Hg.) Nationalismus in Osteuropa.
Gefahrvolle Wege in die Demokratie (München 1992) 131.
266
Lenard J. Cohen, Broken Bonds: The Disintegration of Yugoslavia (Boulder, Col. 1993) 143.
267
Robert M. Hayden, Constitutional Nationalism and the Logic of the Wars in Yugoslavia, in:
Problems of Post-Communism, September/October 1996, Nr. 5, Jhrg. 43, 31 f.
268
John B. Allcock, Yugoslavia, in: Bogdan Szajkowski (Hg.) New Political Parties of Eastern Europe
and the Soviet Union (Harlow 1991) 312.
81
Bei einem Vergleich des Wahlergebnisses mit der Volkszählung fällt der enge
Zusammenhang zwischen den Ergebnissen auf, so daß etliche Kommentatoren die
Wahlen als aufwendige Volkszählung bezeichneten (vgl. 1. Wahlen im Jugoslawien der
Zwischenkriegszeit, Kapitel 2.3.1.). Der größte Unterschied findet sich zwischen
„Jugoslawen“ in der Volkszählung und pro-jugoslawischen Parteien. Bei dem besseren
Abschneiden der pro-jugoslawischen Parteien muß bedacht werden, daß die beiden
Parteien der Kategorie, der Bund der Kommunisten und der Bund der Reformkräfte,
neben der pro-jugoslawischen Orientierung ein wirtschaftliches und ideologisches
Programm angeboten haben. Zugleich waren sie auch die einzigen größeren gesamtbosnischen Parteien. Diese Punkte erklären die sehr viel höheren Wahlergebnisse der
beiden Parteien als die Zahl der „Jugoslawen“ in Bosnien. Die stärkste Korrelation bei
den nationalen Parteien findet sich bei der HDZ. Unter den Muslimen gab es wiederum
die verhältnismäßig niedrigste Unterstützung für die beiden nationalen Parteien (SDA,
MBO).
Unter den Abgeordneten (vgl. Tabelle 13) fällt auf, daß die Zahl der „Jugoslawen“
genauso niedrig wie bei der Volkszählung lag. Ansonsten waren Serben und Kroaten im
Parlament leicht überrepräsentiert.
Das überragende Wahlergebnis für die nationalen Parteien war nicht das Ergebnis der
nationalistischen Politik der Nachbarrepubliken Kroatien und Serbien, sondern auch ein
sogenanntes „prisonners dilemma“. Aus Angst das die Angehörigen der anderen
Nationen ihre nationale Parteien wählen, die deren Interessen stärker wahrnehmen,
haben viele Bosnier für die jeweils eigene nationale Partei gestimmt.
Muslime
Wahlen
Serben
Kroaten
Jugoslawen bzw. andere
32,6
26,1
16,0
21,2
Abgeordnete
41,25
35,41
20,41
2,93
Volkszählung
43,7
31,4
17,3
4,0
Tabelle 13: Das Wahlergebnis 1990, die *ationszugehörigkeit der Abgeordneten und die Volkszählung
269
1991 im Vergleich
Die drei Parteien hatten bereits vor den Wahlen beschlossen, im Falle eines Wahlsieges
eine Koalition einzugehen. Die Zusammenarbeit beruhte auf einem Proporzsystem
zwischen den Parteien und demzufolge auch zwischen den drei Nationen Bosniens. Der
Vorsitzende der SDA, Alija Izetbegović, wurde Vorsitzender des Staatspräsidiums. Ein
Kroate, Jure Pelivan, wurde Premierminister und ein Serbe, Momčilo Krajišnik,
übernahm das Amt des Parlamentspräsidenten. Diese Regelung ähnelt dem Nationalpakt
im Libanon, wobei auffällt, daß die zweitgrößte Nation, die Serben, nur ein
unbedeutendes Amt zugeteilt bekamen. Dies könnte auf zwei Ursachen zurückgehen.
Erstens war die Zusammenarbeit zwischen der HDZ und der SDA enger als mit der
SDS. So könnten sich beide Parteien gegenüber der serbischen Partei durchgesetzt
haben. Zweitens läßt sich vermuten, daß die SDS bereits zu diesem Zeitpunkt kein
einheitliches Bosnien mehr anstrebte und sich deshalb nicht für ein hohes Amt in der
Republik einsetzte. Insgesamt wurden die wichtigsten Posten von Muslimen
kontrolliert. So gehörten der Innen- und Außenminister der SDA an. Weiterhin erhielt
der Krisenstab (Krisni stab), der dem muslimischen270 Präsidiumsmitglied Ejup Ganić
unterstand, weitgehende Vollmachten. Aufgrund seiner Rückendeckung unter
269
Für die Nationszugehörigkeit der Abgeordneten: Allcock, Yugoslavia, 313.
270
Der Muslime und Mitglied der SDA Ganić wurde als "Jugoslawe" ins Präsidium gewählt.
82
muslimischen Bevölkerung konnte der auf ein Jahr (seine Amtszeit wurde 1991 um ein
Jahr verlängert) gewählte Vorsitzende des Staatspräsidiums, Alija Izetbegović, seine
Machtposition bedeutend stärken.271
*ation
Präsidiumsmitglied
Partei
%
Muslime
Fikret Abdić
SDA
44
Alija Izetbegović
SDA
37
Serben
Nikola Koljević
SDS
25
Bilijana Plavšić
SDS
24
Stjepan Kljuić
HDZ
21
Franjo Boras
HDZ
19
Ejup Ganić
SDA
Kroaten
Yugoslawen
Tabelle 14: Wahlergebnis des Präsidiums der 2. Runde, 2.12.1990
272
Bemühungen um ein neues Jugoslawien
Kroatien und Slowenien betrieben nach den Wahlen 1990 immer offener eine Loslösung
von Jugoslawien, während Serbien und Montenegro eine Rezentralisierung anstrebten.
Bosnien-Herzegowina und Mazedonien bemühten sich hingegen um eine ausgleichende
Position. Sie schlugen die Umwandlung Jugoslawiens in eine „Gemeinschaft der
jugoslawischen Republiken“ vor. Diese Konföderation sollte nur noch die
Wirtschaftspolitik, die Außenpolitik und die Verteidigung bestimmen. In dem Entwurf
wird explizit auf die EG als Vorbild hingewiesen. Zugleich sollte sich dieses neue
Jugoslawien auch der EG annähern (z.B. Anbindung an den ECU). Die
Entscheidungsstrukturen folgen den Verfahren der EG. So sollen die meisten
Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden. Nur Kernfragen
(Verteidigung, völkerrechtliche Verträge) hätten Einstimmigkeit benötigt.273 Dieser Plan
scheiterte jedoch am Widerstand Serbien und seiner Verbündeten. Durch die
zunehmend eigenständige Politik der drei nationalen Parteien in Bosnien konnte bereits
Anfang 1991 von einer einheitlichen bosnischen Position keine Rede mehr sein.274 Mit
Kriegsbeginn in Slowenien und Kroatien Ende Juni 1991 wurde deutlich, daß
Jugoslawien, auch in geänderter Form nicht fortbestehen konnte.
271
Hier ist zu bedenken, daß der Einfluß auf die Zentralregierung zwar größer wurde, die Kontrolle auf
große Teile der Republik jedoch schwanden. Paul Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, in: Sabrian
Petra Ramet, Ljubiša S. Adamovich (Hg.) Beyond Yugoslavia. Politics, Economic and Culture in a
Shattered Community (Boulder, Col/San Francisco/Oxford 1995) 158 f. und Sahil Zvizdić, Na
poznatom kolosijeku [Auf bekanntem Gleis], in: Vjesnik, panorama subotam, 5.1.1991, 4 f. zitiert
nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A272-A276.
272
Allcock, Yugoslavia, 312.
273
Alija Izetbegović, Kompromis kao uspjeh [Kompromiß als Erfolg], in: Borba, 18.1.1991, zitiert
nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A276 f.; Die Plattform des Präsidiumsvorsitzenden der SR
Bosnien Hercegovina und des Präsidium der Republik Mazedonien über die zukünftige
jugoslawische Gemeinschaft, in: Internationale Politik, 20. Juni 1991, Nr. 989, Jhrg. 42, 22-24. In
der gleichen Ausgabe finden sich die entsprechenden Stellungnahmen der jugoslawischen
Regierung, Sloweniens, Serbiens und Kroatiens.
274
Tri stava iz Bosne o novoj Jugoslaviji [Drei Standpunkte aus Bosnien über ein neues Jugoslawien]
in: Politika, 10.1.1991, zitiert nach: Osteuropa, Mai 1991, Jhrg. 41, A280.
83
Der Krieg in Kroatien und der drohende Krieg in Bosnien
Die Krise in Bosnien wurde mit dem Beginn der kroatisch-serbischen
Auseinandersetzungen in Kroatien deutlich. Dort begann die SDS nach den Wahlen mit
einer Loslösung der Gebiete unter ihrer Kontrolle. Polizei und Armeewaffenlager wurde
geplündert und erste Milizen entstanden. Sie befanden sie teils unter der Kontrolle der
serbischen Bürgermeister, teils agieren sie autonom. Bereits Ende 1990 entstanden
„Autonome Gebiete“, die sich der kroatischen Verwaltung entzogen. Durch fragwürdige
Referenden wurde diese abgesichert. Das genaue Territorium dieser Gebiete wurde noch
nicht festgelegt, sondern lediglich durch die „ethnisch und historischen vom serbischen
Volk bewohnten Gebiete Kroatiens“ definiert.
Im September 1991 folgt die SDS in Bosnien dem Vorbild ihrer Schwesterpartei in
Kroatien und ruft „Serbische Autonome Gebiete“ aus. Neben Bosanska Krajina
entzogen sich Romanija (östlich von Sarajevo) und Ostdalmatien bosnischer
Verwaltung und riefen die jugoslawische Volksarmee um „Unterstützung“ an. Damit
beginnt der Zerfall Bosniens bereits vor dessen Unabhängigkeit. Während des Krieges
in Kroatien kam es öfters zu Grenzübertretungen durch kroatische Einheiten. Zugleich
war Bosnien durch den Rückzug Jugoslawischen Volksarmee (JNA) aus Slowenien und
großen Teilen Kroatien bereits hoch militarisiert. Die JNA setzte ihre Truppen in den
neu ausgerufenen serbisch autonomen Gemeinden ein. Mitte 1991 wurden bereits offen
Übungen serbischer Milizen in Bosnien durchgeführt. Die JNA zog sich zugleich
weitgehend aus den Städten zurück und zerstörte zahlreiche Stützpunkte, um eine
Übernahme durch die kroatische Armee oder bosnische Polizei zu verhindern.275
Während die SDS auf lokaler Ebene bereits die Integrität Bosniens zerstörte, bestand die
Koalitionsregierung in Sarajevo fort. Nun zeigte sich jedoch eine deutlichere Allianz
von HDZ und SDA gegen die SDS. Letztere Partei lehnte eine Abstimmung über die
Souveränität der Republik ab. Der letzte Versuch im Juni 1991 einen Ausgleich im
Staatspräsidium zu finden wurde durch den Kriegsausbruch in Kroatien verhindert. Im
Oktober 1991 bemühten sich muslimische und kroatische Abgeordnete nicht mehr die
SDS umzustimmen und stimmten für die Souveränität der Republik. In diesem
Memorandum wird weiterhin festgelegt, daß Bosnien-Herzegowina nur in Jugoslawien
bleiben würde, wenn sowohl Kroatien, also auch Serbien diesem Staat weiterhin
angehören. Da dies zu diesem Zeitpunkt bereits unvorstellbar geworden war,
bekundeten die Abgeordneten somit de facto die Absicht, sich von Jugoslawien
loszulösen. Bei der gleichen Sitzung erklärte sich Bosnien für neutral im Krieg
zwischen Kroatien und der Jugoslawischen Bundesarmee. Diese Entscheidungen des
bosnischen Parlaments repräsentierten nur noch Kroaten und Muslime, da die Sitzung
bereits zuvor vom serbischen Parlamentspräsidenten abgebrochen wurde und alle
Abgeordneten der SDS die Abstimmung boykottierten. Die bosnischen Institutionen
sind somit bereits Ende 1991 zerfallen.276
Am 21. Dezember 1991 rief die SDS die „Republika Srpska i Bosna-Hercegovina“
(später nur noch Republika Srpska/Serbische Republik) aus. Anfang 1992 begannen die
ersten Verhandlungen um die zukünftige Gestaltung der Republik unter der
275
Laura Silver, Allan Little, The Death of Yugoslavia (London 1995) 98-112.
276
Jens Reuter, Die politische Entwicklung in Bosnien-Herzegowina, in: Südosteuropa, Nr. 1112/1992, Jhrg. 41, 672.
84
Schirmherrschaft der EG.277 Am 29. Februar und 1. März fand schließlich die
Volksabstimmung über die Unabhängigkeitserklärung Bosniens statt. Die SDS und die
Armee riefen zum Boykott des Referendums auf. Somit nahmen nur 64,31 % der
Wahlberechtigten an der Abstimmung teil. Von ihnen stimmten 99,4 % für die
Unabhängigkeit. Während der Abstimmung kam es bereits zu gelgentlichen
Schießereien und zwei Tage später wurde Bosanski Brod von serbischen Milizen
bombardiert - der ersten größere Waffeneinsatz in Bosnien. Am 27. März
verabschiedete die „Republika Srpska“ ihre eigene Verfassung, während die
jugoslawische Armee gegen die restlichen Gebiete vorging. Noch vor der Anerkennung
der Unabhängigkeit am 6. April 1991 durch die EG hatte der Krieg in Bosnien
begonnen.278
2.5.2. Libanon
Anfang der siebziger Jahre hatte sich im Libanon die soziale und wirtschaftliche Lage
seit der Unabhängigkeit grundlegend geändert. Die alte Elite und das politische System
kontrollierten jedoch unverändert den Staat und stand somit zunehmend in Konflikt mit
neuen politischen Strömungen. Die Wahl des Präsidenten Sulaiman Franjiyya 1970
beendete den Shihabismus. Stattdessen besaß er seine Machtbasis bei den maronitischen
Parteien (insbesondere bei der Kata'ib), die ihn 1970 wählten.279
Um die eigenen Position zu stärken entließ der neue Franjiyya Anhänger vom
ehemaligen Präsidenten Shihab. Diese Säuberungswelle betraf vorrangig die Armee, wo
Shihab die größte Unterstützung genoß. Die Entlassung Oberkommandierenden der
Armee führte zur Ablehnung des Präsidenten durch die Armee und schwächte den
Präsidenten Franjiyya. Zugleich erhöhte es dessen Abhängigkeit von maronitischen
Politikern und Milizen.280
Konflikte mit Palästinensern
In Jordanien kam es im September 1970 zu einem kurzen Krieg (bekannt als „schwarzer
September“) zwischen palästinensischen Milizen und der jordanischen Regierung. Nach
der Niederlage der PLO und anderer palästinensischer Gruppen mußten sie das Land
verlassen und eine neue Basis finden. Nur im Libanon konnte die PLO frei gegen Israel
agieren, da die Flüchtlinge in Ägypten und Syrien unter strenger staatlicher Kontrolle
standen. Ein Kleinkrieg gegen Israel scheiterte an den Grenzen dieser Staaten. Die
Liberalität und Offenheit des Libanon ermöglichte es den Palästinensern und anderen
Gruppen hingegen diesen Staat als Aktionsgebiet zu nützen. Damit wurde der Libanon
in die Auseinandersetzungen mit Israel hineingezogen. Die libanesische Regierung
bemühte sich die palästinensischen Angriffe auf Israel vom Libanon aus zu verhindern.
So wurden Kommandos der PLO oft verhaftet. Auch Jassir Arafat wurde kurzzeitig
277
Zwischen Anfang 1991 und Ende 1995 wurden eine Vielzahl von territorialen und institutionellen
Kompromissen bei derartigen Konferenzen diskutiert. Meist können sie als Ausdruck der
tatsächlichen Machtkonstellation in Bosnien gesehen werden. Im Rahmen dieser Arbeit können
diese Konferenzen nicht behandelt werden. Hierfür s. Marie-Janine Calic, Krieg und Frieden in
Bosnien-Herzegowina (Frankfurt 1996) 186-216.
278
Die beste Analyse der Entwicklung Bosniens zwischen den Wahlen und Kriegsausbruch findet sich
bei Shoup, The Bosnian Crisis in 1992, 155-187.
279
Rabinovich, The War for Lebanon, 40.
280
Nadine Picaudou, La déchirure libanaise (Brüssel 1992) 117 f.
85
festgehalten. Die Schwäche des Staates und der Armee (vgl. Kapitel 3.1.2.) verhinderte
jedoch eine offensive Politik des Libanon gegenüber der PLO.
Die PLO stellte seit 1969 nicht die einzige bewaffnete Einheit im Libanon dar. Fast alle
Parteien besaßen ihre eigenen Milizen, die unter Waffen standen. Diese Milizen waren
jedoch durch die zugehörigen Parteien in das politische System des Libanon integriert,
während die PLO außerhalb des Systems stand und aufgrund ihrer nicht-libanesischen
Ziele nicht konfliktfrei integriert werden konnte. Die ideologische Nähe zur Linken
führte dazu, daß die PLO die progressiven Parteien im Libanon stärkte. Diese
überschätzten in Folge oftmals ihre libanesische Gefolgschaft. Die allgemeine
Krisenstimmung und die Allianz zwischen linken Parteien und der PLO führte zu einem
Anwachsen der christlichen Milizen, die verstärkt mit dem Anspruch auftraten, die
christliche Bevölkerung zu schützen.281 Der große Spielraum für alle politischen
Strömungen im Libanon kann auf die Zersplitterung des Staates in große Zahl der
Konfessionen zurückgeführt werden. Diese Freiheit führte jedoch dazu, daß Parteien
und andere Gruppierungen staatliche Aufgaben übernahmen (Milizen, soziale Dienste
etc.). Hierdurch wurde der Staat „porös“ und die Liberalität des Landes drohte in
Anarchie überzugehen.282
Das außenpolitische Umfeld
Die arabischen Ölförderländer, allen voran Saudi-Arabien, konnten in den Jahrzehnten
nach dem 2. Weltkrieg ihren Einfluß steigern. Während sie zu Anfang Beirut als
Wirtschafts- und Handelszentrum nützen, bauten sie mit der Zeit eine eigene
Infrastruktur auf. Beirut blieb jedoch das wichtigste Handelszentrum der arabischen
Welt. Spätestens mit dem Ölembargo im Oktober 1973 wurde die Macht der
Ölförderländer deutlich. In der arabischen Welt nahm die neue Rolle Saudi-Arabien
einen islamischen Unterton an. Muslimsche Gegner des politischen Systems des
Libanon erhielten hierdurch Unterstützung.
Zugleich zeigte die USA nur geringes Interesse am Libanon. Die schmerzhafte
Erfahrung in Vietnam ließ in diesen Jahren wenig Appetit an einem Engagement in
anderen Ländern aufkommen. Spätestens nach der Invasion 1958 sah die USA das
politische System des Libanon als veraltet an und zeigt somit wenig Interesse am
Land.283
Die erwähnte Offenheit des Libanon brachte eine starke Aktivität anderer arabischer
Staaten im Land mit sich. Diese Aktivitäten trugen zum Ausbruch des Krieges 1975 bei
(vgl. Kapitel 3.6.2.). Da sich der Libanon durch den Nationalpakt bei innerarabischen
Spannungen neutral verhielt, diente das Land oftmals als Austragungsort dieser
Konflikte. Fast alle arabischen Staaten besaßen eine Zeitung im Libanon und einige
unterstützen eine Partei. Sowohl Parteien, wie auch Zeitungen dienten zu dieser
Konfliktaustragung. So wurde die PLO Großteils vom Irak und Libyen finanziert,
während Ägypten und Saudi-Arabien (später Israel) die Status-Quo orientierten Kräfte
unterstützten (vgl. Kapitel 3.2.2.; 3.5.2.).
Die Bedeutung der amerikanische Universität in Beirut steigerte den Einfluß anderer
arabischer Länder weiterhin So kam in Beirut zahlreiche Intellektuelle aus dem
arabischen Raum zusammen. Somit spielten Nichtlibanesen in der Universität und in
281
Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f., 41 f.
282
Gordon, The Republic of Lebanon, 29 f.
283
Rabinovich, The War for Lebanon, 35.
86
der Presse eine wichtige Rolle. Die Parteien und später die Milizen erhielt die
finanzielle und ideologische Hilfe anderer Länder. All diese Element trugen dazu bei,
daß im Libanon interne Bruchlinien oft externe Gründe hatten oder zumindest durch
äußere Faktoren verstärkt wurden.284
Zuspitzung der Krise
Die alte muslimische (meist sunnitische) Elite wurde Anfang der siebziger Jahre
zunehmend verdrängt. Die neue Generation war radikaler und lehnte die alten
Loyalitätsverhältnisse ab. Dies zeigte sich bei den Parlamentswahlen 1972. Dort gewann
unter anderem ein 26-jähriger Nasserist, Najjah Wakim, einen Parlamentssitz in Beirut
der zuvor von einem traditionellen Notablen gehalten wurde.
Syrien beeinflußte die Wahlen 1972 und macht somit seinen Anspruch deutlich. Durch
den Tod von Nasser 1970 spielte Ägypten nicht mehr eine führende Rolle in der
arabischen Welt. In Folge suchten libanesische Politiker zunehmend Rat und
Unterstützung in Damaskus. Keine Partei konnte mehr auf die Vermittlerrolle Syriens
verzichten. Das Regime von Assad war jedoch keineswegs neutral. Es übte vielmehr
über loyale libanesische Politiker Druck auf das System aus. Die wichtigsten
Verbündeten zu diesem Zeitpunkt waren der pro-syrische Flügel der Baath-Partei, ein
Großteil der schiitische Bevölkerung und einige Palästinensergruppen (vgl. Kapitel
3.6.2.).285
Die nächste große Krise nach 1958 entstand im April 1973. Ein israelisches Kommando
ermordete im Zentrum von Beirut einen palästinensischen Politiker. Da sich die Armee
weigerte einzugreifen, forderte der Ministerpräsident den Rücktritt des Stabschefs der
Armee. Nachdem der Präsident dem nicht entsprach, trat die Regierung von
Ministerpräsident Salam zurück. Der Rücktritt brachte den Bruch zwischen der
maronitischen und sunnitischen Elite zum Ausdruck. Während die Maroniten sich gegen
ein stärkeres Vorgehen gegen die israelischen Angriff wehrten, näherten sich
Palästinenser und sunnitische Politiker einander an.286
Als der Präsident Franjiyya einen Sunniten, Amin al-Hafiz, ohne Rückdeckung seiner
Konfessiongemeinschaft zum Nachfolger ernannte, protestierte der schiitische Iman und
der sunnitische Großmufti. Kurze Zeit später, im Mai 1973, versuchte Franjiyya die
Macht der PLO zu brechen, indem er palästinensische Flüchtlingslager bombardieren
ließ. Syrien schloß daraufhin die Grenze und eine syrisch-kontrollierte palästinensische
Miliz marschierte an der Grenze auf. Der Angriff schwächte die PLO jedoch keineswegs
und trug nur zu einer weiteren Anspannung der innenpolitischen Lage bei. Die Lage
konnte nur durch ein neues Abkommen mit der PLO und einen neunen
Ministerpräsidenten entschärft werden. Das Melkart Abkommen, das die Regierung mit
der PLO in Folge schloß, bestätigte den Vertrag von Kairo 1969. Der Konflikt um dem
Ministerpräsidenten konnte beigelegt werden, indem Hafiz, der noch nicht von
Parlament bestätigt worden war, seine Kandidatur zurückzog und Takieddin Sulh, ein
prominenter sunnitischer Politiker zum neuen Ministerpräsident ernannt wurde.287
Erstmals spielten die Palästinenser eine Rolle in der libanesischen Innenpolitik.
284
Hanf, Die drei Gesichter des Libanonkrieges, 89 f.
285
Rabinovich, The War for Lebanon, 36 f.
286
Picaudou, La déchirure libanaise, 119 f.
287
Ebd. 120 f.; Gordon, The Republic of Lebanon, 79.
87
Zugleich zeigte sich, daß die Macht des Präsidenten auf muslimischen Widerstand stieß,
die sich zunehmend auf die Seite der PLO stellten.
Der Kleinkrieg der PLO mit Israel an der Südgrenze brachte größere
Bevölkerungsbewegungen mit sich. Überwiegend Schiiten aus dem Süden, deren Leben
durch diese Auseinandersetzung mit Israel bedroht wurde, zogen nach Beirut. In Folge
entstand ein riesige Slums im Süden Beiruts. Diese Armenviertel befanden sich oft in
direkter Nachbarschaft mit den Flüchtlingslagern der Palästinenser. Die Lager und
Armenviertel standen in krassem Kontrast zum Reichtum Beiruts durch das Ölgeschäft
(vgl. Kapitel 3.3.2.). Das Aufeinandertreffen dieser großen Unterschiede zwischen
armen und reichen Libanesen erhöhte das Konfliktpotential. Diese sozialen Spannungen
kam im Programm des schiitischen Politikers und Geistlichen Sadr zum Ausdruck (vgl.
Kapitel 3.2.2.). Bei einer Versammlung 1974 in Baalbek vor 100.000 Schiiten ruft er zu
einen Aufstand der Armen auf.288
Diesen neuen Problemen war das politische System und viele Politiker nicht gewachsen.
Neue Politiker waren oftmals radikal und konnten keine überkonfessionelle Basis für
ihre politischen Ziele finden. Die alte Elite besaß noch genug Macht, um neue Politiker
von staatlichen Funktionen fernzuhalten. Junge Politiker wichen in Folge zunehmend
auf politische Aktivitäten außerhalb des Systems aus.289 Ähnlich wie in Bosnien
verlagerten sich die politischen Aktivitäten von den bestehenden Strukturen auf den
Aufbau von Parallelstrukturen, die den Staat gefährdeten. Dies bedeutete, daß die Macht
nicht mehr durch Wahlen, sondern durch Stärke der Bewaffnung und den
Mobilisierungsgrad bestimmt wurde.
1975
Christen insgesamt
1984
1.199.000
37,4 %
1.525.000
42,7 %
Maroniten
496.000
15,5 %
900.000
25,2 %
griechisch-orthodox
230.000
7,2 %
250.000
7%
griechisch-katholisch
213.000
6,6 %
150.000
4,2 %
2.008.000
62,6 %
2.050.000
57,3 %
Sunniten
690.000
21,5 %
750.000
21 %
Schiiten
970.000
30,2 %
1.100.000
30,8 %
Drusen
348.000
10,9 %
200.000
5,6 %
Muslime insgesamt
Insgesamt
3.207.000
Tabelle 15: Bevölkerungsschätzungen 1975 und 1984
3.575.000
290
288
Picaudou, La déchirure libanaise, 130 f.
289
Rabinovich, The War for Lebanon, 35, 40.
290
Picaudou, La déchirure libanaise, 267. Die Schätzung von 1975 beruht auf der französischen
Enzyklopädie "Universalis", jene für 1984 auf den Financial Times.
88
2.6 Der Krieg
Der Krieg in Bosnien-Herzegowina und im Libanon kann in dieser Arbeit nur kurz
erwähnt werden. Da sich die Arbeit auf die Entwicklung vor Kriegsausbruch
konzentriert, soll nur auf die Grundstruktur der Kriege hingewiesen werden. Auf weitere
Literatur zum Krieg wird verwiesen.291
2.6.1. Bosnien-Herzegowina
Der Krieg in Bosnien stellt keinen monolithischen Block dar. Vielmehr sind durch den
Ausbruch der Kämpfe Anfang 1992 verschiedene Konflikte entstanden, die teils parallel
und teils hintereinander ausgefochten wurden. Die unterschiedlichen Kriege werden sehr
verschieden kategorisiert.292 Wenn man bei der Einteilung von den Konfliktparteien
ausgeht, lassen sich vier Kriege definieren:
Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993, Mitte-Ende 1995,
Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995,
Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993- Anfang 1994,
Der innermuslimische Krieg, Die autonome Provinz Westbosnien, Ende 1993- Ende
1994.
291
Im Internet finden sich etliche Quellen zum Krieg in beiden Ländern. Von Interesse sind
insbesondere die Positionen der jeweiligen Konfliktparteien:
Für Bosnien-Herzegowina: Die Sicht der SDA und Zentralregierung (Aufsätze von
Wissenschaftlern,
Zeitungsartikel,
Dokumente):
„Bosnia
Homepage“
http://www.cco.caltech.edu/~bosnia, zur serbischen Sichtweise (inkl. SRNA, Tanjug und proserbische Aufsätze): „Serbian Unity Congress“ http://www.suc.org und für die Position von HercegBosna (Artikel, Literaturlisten): „Na Predak-Croatian Homepage“ http://www.hrnet.org/~napredak.
Die beste Archivsammlung findet sich bei: „Open Media Research Institute“ http://www.omri.cz/.
Ein sehr detaillierte Studie der Kriegsführung der bosnisch-serbischen Armee und der Vertreibungen
findet sich in: Final report of the Commission of Experts (S/1994/674) United Nations Security
Council,
27.5.1994,
http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/onu/experts/,
zu den
Menschenrechtsverletzungen s. Tadeusz Mazowiecki, Report on the situation of human rights in the
terriory of former Yugoslavia (E/CN.4/1992/S-1/9) United Nations Economic and Social Council,
28.8.1992., http://www.emse.fr/~maillot/html/perso/e/yugo/mazowiecki/e.cn.4-1992-s-1-9.html#tire.
Für den Libanon: Die Sicht der Maroniten (Zeitungsartikel, Kongressberichte): „Maronet“
http://www.primenet.com/~maronet, die Forces Libanaises (Programm, Geschichte des Krieges):
„Lebanese Forces Homepage“ http://www.lebanesef.com/, General Aoun (Reden, Programm):
„General Aoun Hompage“ http://hudson.idt.net/aoun/aoun.html und für die Sicht der Hizbollah
(Kontaktadressen, Programm): „Association for supporting the Islamic Resistance“
http://www.moqwama.org/home2.html. Die beste allgemeine Übersicht über Quellen vom Libanon
findet sich bei: „Almashriq“ http://www.hiof.no/almashriq/lebanon.
292
So gliedert Susan Woodward den Krieg in fünf Sub-Konflikte: 1. Der Krieg der bosnischen Serben
gegen die Loslösung Bosniens von Serbien/Montenegro, 2. Der Krieg der bosnischen Kroaten um
Westherzegowina, 3. Der Selbbehauptungskrieg der jugoslawischen Volksarmee, 4. Der Krieg der
bosnischen Regierung zur Eroberung serbisch und kroatisch besetzter Gebiete und 5. Krieg
zwischen der Land- und Stadtbevölkerung (starke gegen schwache nationale Identität), s. Susan L.
Woodward, Bosnia and Herzegowina, in: Leokadia Drobizheva, Rose Gottemoeller, Catherine
McAdrle Kelleher, Lee Walker (Hg.) Ethnic Conflict in the Post-Soviet World. Case Studies and
Analysis (Armonk, N.Y./London 1996) 25-28.
89
Der serbisch-kroatische Krieg, Anfang 1992- Anfang 1993
Bereits vor dem offenen Krieg in Bosnien begann ein Kleinkrieg zwischen bewaffneten
Einheiten der serbischen SDS und der kroatischen Armee zusammen mit bosnischen
Kroaten. Diese Auseinandersetzungen konzentrierten sich auf die Herzegowina und
Posavina (an der Grenze zu Slawonien). Sie begannen bereits als Schießereien mit dem
serbischen Krieg in Kroatien im Juli 1991. Obwohl in Mostar, der Hauptstadt der
Herzegowina, die Muslime den größten Bevölkerungsanteil stellten, wurde die Stadt
und die Region am Anfang des Krieges in erster Linie serbisch-kroatischen Kämpfen
ausgesetzt. Der Neretva Fluß teilt die Region. In der Westherzegowina dominierte die
kroatische Bevölkerung. In dieser Region waren auch die meisten kroatischen Truppen
konzentriert. In der Ostherzegowina hingegen war die SDS sehr stark und besaß durch
die jugoslawische Volksarmee, die sich Anfang 1992 in eine bosnisch-serbische Armee
verwandelte (vgl. Kapitel 3.1.1.) ausreichende militärische Unterstützung. Bereits im
März 1992 kam es zu Kämpfen zwischen Kroaten und Serben in Neretva Tal und in
Bosanski Brod in der Posavina. Im folgenden Monat begann die Belagerung von Mostar
durch JNA. Beide Gebiete besaßen eine große strategische Bedeutung. Die schmale
Posavina verbindet Serbien mit dem größten serbischen Siedlungsgebiet in Bosnien um
Banja Luka. Auch im weiteren Kriegsverlauf blieben diese beiden Gebiete im Zentrum
serbisch-kroatischer Kämpfe. Die Herzegowina war für die serbische Seite von
Bedeutung, weil es das Hinterland der kroatischen Küste bildete. Für die bosnischen
Kroaten war dies Region wiederum das wichtigste Siedlungsgebiet.
Zwischen 1993 und 1994 flauten die Kämpfe ab, da beide Seiten in erster Linie gegen
die muslimischen Einheiten kämpften. Erst im August 1995, als die kroatische Armee in
einem Angriff die serbische Krajina eroberte, kam es erneut zu größeren Gefechten
zwischen bosnisch-kroatischen und bosnisch-serbischen Einheiten. Diese Kämpfe
konzertierten sich jedoch auf das bosnische Grenzgebiet zur Krajina und führten zu
einem großen Erfolg der kroatischen Truppen.293
Der serbisch-muslimische Krieg, Anfang 1992- Ende 1995
Der zentrale Konflikt, der während des gesamten Krieges andauerte war der serbischmuslimische Krieg. Am 4. April 1992 beginnt der Krieg in vollen Umfang. Serbische
Milizen und die Armee legten ihre Angriff auf die größeren bosnischen Städte mit der
Zusage auf internationalen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas am 7. April
zusammen, um somit ein Rechtfertigung für die Attacken zu besitzen. Noch am 4. April
ordnete Alija Izetbegović die Generalmobilmachung der Territorialverteidigung an. Vier
Tage später verhängte Izetbegović den Ausnahmezustand: Das Parlament wurde
aufgelöst und eine bosnischen Armee wurde geschaffen. In Folge erobern serbischer
Einheiten von der serbischen Grenze aus weite Gebiete Bosniens. Zugleich beginnt die
Belagerung Sarajevos, die bis zum Ende des Krieges im Dezember 1995 die Stadt
weitgehend von der Außenwelt abschneidet. Den Eroberungen bosnischer Städte (u.a.
Bijeljina, Zvornik) folgt die sogenannte „ethnische Säuberung“, die Vertreibung und
Ermordung der muslimischen und kroatischen Bevölkerung. Im Lauf des Krieges gelang
es der serbischen Armee so etwa 70 % des bosnischen Territoriums zu erobern. Die
293
90
Zarko Puhovski, Der Krieg in Bosnien-Herzegowina und der serbisch-kroatische Konflikt, in:
Dialog. Beiträge zur Friedensforschung, Nr. 1-2/94, Jhrg. 26, 301-311; Misha Glenny, The Fall of
Yugoslavia (London 1993) 156-161, 167 f. Zur Annäherung zwischen Kroaten und Serben s.
Branislav Radivojša, Da li je na pomolu prekretnics [Ob ein Wendepunkt bevorsteht], in: Politika,
22.6.1993, zitiert nach: Osteuropa , November 1993, Jhrg. 43, A 644 f.
Aufrüstung der kroatischen und der muslimischen Armee führte erst 1994 und 1995 zu
erfolgreichen Gegenoffensiven. Unter dem Eindruck dieser Niederlagen und den
stärkeren Engagement der NATO und der Vereinigten Staaten kam es Ende 1995 zu
Verhandlungen in Dayton, die schließlich zu einem Friedensvertrag und der
Stationierung von NATO-Truppen in Bosnien führte.294
Der muslimisch-kroatische Krieg, Anfang 1993-Anfang 1994
Die Allianz zwischen Muslimen und Kroaten wurde mit dem Kriegsausbruch brüchig.
In der politischen Führung der bosnischen Kroaten setzten sich der radikalere Flügel um
Mate Boban aus der Herzegowina durch, der offen einen Anschluß an Kroatien forderte
(vgl. 3.1.1.,3.2.1.,3.6.1.). Ähnlich wie die serbische Armee versuchte die kroatische
Armee Bosniens (HVO) große Gebiete zu erobern. Es folgten Vertreibungen. Zugleich
nahmen innerhalb der SDA religiöser Politiker eine größere Rolle ein. Dies führte in der
ersten Jahreshälfte 1993 zu intensiven Kämpfen in Zentralbosnien und in Mostar.
Die USA übte Druck auf Kroatien aus, um die Allianz von Kroaten und Muslimen
wiederherzustellen. Anfang 1994 wurde Boban abgesetzt und im April 1994 eine
muslimisch-kroatische Föderation abgeschlossen. Die Auseinandersetzungen hörten
zwar nicht gänzlich auf, sie beschränkten sich jedoch auf lokale Gefechte.295
1991
1995 (geschätzt)
Tote und Vermisste
Im Exil außerhalb
Bosnien
Muslime
1.903.000
43 % 1.275.000
44 %
218.000
66 %
460.000
37 %
Serben
1.366.000
31 %
987.000
34 %
83.000
25 %
330.000
26 %
Kroaten
761.000
17 %
468.000
16 %
21.000
6%
290.000
23 %
Jugoslawen
243.000
6%
116.000
4%
5.000
2%
129.000
10 %
andere
104.000
2%
52.000
2%
2.000
1%
50.000
4%
Insgesamt
4.377.000
2.898.000
329.000
Tabelle 16: Geschätzte Zahl der Bevölkerungsveränderungen durch den Krieg
1.259.000
296
Der innermuslimische Krieg, Ende 1993- Ende 1994
In Westbosnien um die Stadt Bihać und Velika Kladuša befindet sich ein relativ
kompaktes Siedlungsgebiet bosnischer Muslime. Da sie von der kroatischen und
bosnischen Kraijna mit einer mehrheitlich serbischen Bevölkerung umgeben ist,
entwickelte sich der Krieg anders als im restlichen Land. Der Spitzenpolitiker der SDA,
Fikret Abdić, kontrollierte dieses Gebiet (zu Abdić s. Kapitel 3.2.1.,3.3.1.) unabhängig
von der Regierung in Sarajevo. Im September 1993 ruft er in dieser Region die
„Autonome Provinz Westbosnien“ aus und schließt einen Monat später einen
Separatfrieden mit den bosnischen Serben und Kroatien. Zwischen der bosnischen
294
Hierzu s. Richard Holbrooke, To End a War (New York 1998), Silver, Little, The Death of
Yugoslavia, 245-322; Malcolm, Bosnia, 234-251. Zu militärischen Aspekten des Bosnienkrieges s.
Anton Zabkar, The Drama in former Yugoslavia - The beginning of the end or the end of the
beginning? (=National Defence Academy Series Studies and Reports 3/95, Wien 1995) 1-10, 99119.
295
Hierzu s. Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 323-335, 354-359; Cohen, Broken Bonds, 275282, 302-305.
296
Murat Praso, Demographic Consequences of the 1992-95 War, in: Bosnia Report, July-October
1996, Nr. 16, 5.
91
Armee in Bihać und den Einheit Abdić's kommt es daraufhin zu heftigen Kämpfen, die
Ende 1994 mit einer Niederlage von Fikret Abdić enden. Die „Autonome Provinz
Westbosnien“ hatte nur etwas mehr als ein Jahr bestanden.297
2.6.2. Libanon
Der Krieg im Libanon zwischen 1975 und 1990 wird von verschiedenen Autoren in eine
Vielzahl von Phasen und Stufen der Intensität eingestuft. Einige Autoren (z.B.
Rabinovich) beschreiben die Konflikte zwischen 1977 und 1982 nur als Krisen und
nicht als Bürgerkrieg.298
Um den Krieg im Libanon kategorisieren, ohne zu vereinfachen, lohnt es sich zwei
Ebenen zu unterschieden. Auf der ersten Ebene lassen sich die Stufen des Krieges
einordnen, gemessen an ihrer Intensität und der geographischen Ausdehnung. Während
dieser einzelnen Phasen änderten sich die Konfliktparteien und ihre Gegner.
1. Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976,
2. Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982
3. Die Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984,
4. Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988,
5. Das Auseinanderbrechen des Landes, Ende 1988 bis Ende 1990.
Der Bürgerkrieg, Anfang 1975-Ende 1976
Der Krieg begann am 14. April 1975 als zwei Leibwächter von Pierre Gemayel, dem
Vorsitzenden der Kata'ib, erschossen werden. Als Vergeltung wurden Stunden später
Palästinenser in einem Bus erschossen. Der Krieg beginnt somit mit einem Kampf
zwischen maronitischen Milizen und Palästinensern, denen sich die linken Parteien
anschließen. Beirut steht im Zentrum der Kämpfe, bei denen die Stadt in einen Westteil
unter Kontrolle der PLO und den Ostteil unter maronitischer Vorherrschaft zerfällt. Die
Bevölkerung der anderen Konfliktparteien werden aus dem jeweiligen Einflußbereich
vertrieben. Während die Armee am Anfang passiv blieb, kam es im März zu einer
Spaltung der Armee. Muslimische Teile des Militärs gemeinsam mit linken Parteien und
palästinensischen Truppen griffen christliche Gebiete im Libanon Gebirge an und hatten
großen Erfolg gegen die maronitischen Milizen.
Dies führte zu einer syrischen Invasion des Landes zugunsten der Christen (vgl. Kapitel
3.6.2.). Nachdem die palästinensischen Truppen schwere Verluste erlitten hatten, trennt
die syrische Armee das Land in eine palästinensiche Enklave im Süden und eine
maronitische Zone im Gebiet des alten Mont Liban. Dazwischen und in den Städten
übernahm Syrien die Herrschaft. Arabische Friedenskonferenzen in Riad und Kairo
wandelten die syrischen Truppen in einer arabische „Friedensstreitmacht“ um, der sich
297
Hierzu s. Glenny, The Fall of Yugoslavia, 152-154; Silver, Little, The Death of Yugoslavia, 339,
387
298
Theodor Hanf gliedert den Krieg bis 1987 in 14 Konflikte. Theodor Hanf, Libanon-Konflikt, in: in:
Udo Steinbach, Robert Rüdiger (Hg.) Der Nahe und Mittlere Osten: Politik, Gesellschaft,
Wirtschaft, Geschichte und Kultur, Bd. 1: Grundlagen, Strukturen und Problemfelder (Opladen
1988) 668-677.
92
kleine Kontingente anderer arabischer Länder anschlossen. Der prosyrische Präsident
Sarkis wurde im Oktober 1976 gewählt.299
Kämpfe im Süden , Ende 1976- Anfang 1982
Südlich des Litani Flusses übernahmen die PLO und verbündete linke Parteien die
Kontrolle. Bei einer relativen ruhigen Entwicklung im Rest des Landes setzt sich hier
der Kleinkrieg zwischen Israel und der PLO fort. Im März 1978 marschieerte Israel
erstmals bis zum Litani Fluß im Libanon ein. Die Palästinenser konnten jedoch
rechtzeitig nach Norden fliehen, so daß diese Invasion erfolglos blieb. Nach dem
Rückzug wurde von der UNO die Friedenstruppe UNIFIL stationiert (vgl. Kapitel
3.6.2.).
Gleichzeitig verschärften sich die Spannungen zwischen der syrischen Besatzung und
den maronitischen Milizen. Die Maroniten erhofften eine Entwaffnung der PLO. Syrien
folgte dieser Forderung nicht. Schließlich versuchten im Winter 1980 maronitische
Einheiten die Stadt Zahlé am Rande des Bekaa-Tals zu besetzten. In Folge kam es zu
Kämpfen zwischen Syrern und maronitischen Milizen. Dieser Konflikt brachte einen
Annäherung zwischen Maroniten und Israel, was wiederum die syrisch-israelischen
Spannungen verstärkte.300
Die Israelische Invasion, Anfang 1982-Anfang 1984
Die israelische Invasion im Juni 1982 war offiziell die Reaktion auf ein Attentat auf den
israelischen Botschafter in London. Die Invasion bis nach Beirut und die anschließende
Belagerung der PLO in Westbeirut dauerte ein halbes Jahr und brachte fast alle
Bevölkerungsgruppen des Südlibanons gegen Israel auf. Jedoch lediglich die
Palästinenser und die verbündete Amal leisteten der Invasion offenen Widerstand. Nach
der Niederlage der PLO mußte sie den Libanon verlassen, während amerikanische,
französische und italienische Truppen in Beirut eintrafen, um den Rückzug der PLO und
anderer palästinensische Milizen zu organisieren.
Während der vorgehende Präsident Sarkis unter syrischer Vorherrschaft gewählt wurde,
wurde Bashir Gemayels, der Führer der Kata'ib (vgl. Kapitel 3.2.2.), unter israelischer
Präsenz zum Präsidenten gewählt. Nach seiner Ermordung durch ein Bombenattentat
kam es zu den Massakern maronitischer Milizen an palästinensischen Zivilisten in den
Lagern Shatila und Sabra. Diese Massaker verschärften die Spannungen und trugen zur
Unbeliebtheit Israels bei, da israelische Truppen die Lager für die Massaker abriegelten.
Präsident des Libanons wurde schließlich der Bruder von Bashir, Amin Gemayel (vgl.
Kapitel 3.6.2.). Der Widerstand gegen die israelische Okkupation führte zu einem
schrittweisen Rückzug Israels, der neue Kämpfe zwischen Drusen und Maroniten
herbeiführte. Die Anschläge der Hizbollah auf die amerikanischen und französischen
Truppen führten zu einem Rückzug der internationalen Truppen. Zugleich konnte Syrien
seinen Einfluß auf das Land erneuern, so daß Amin Gemayel den Vertrag mit Israel
aufkündigen mußte. Der Einmarsch der Amal-Miliz und der verbündeten Drusen unter
Waldi Jumblat in Beirut führten zu einem Ende des israelischen Einflusses auf den
299
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 668-670; Rabinovich, The War for Lebanon, 43-56; Picaudou, La
déchirure libanaise, 133-152; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 149-164; René Chamussy, Chronique
d'un guerre. Liban 1975-1977 (Paris 1978).
300
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 670-671; Rabinovich, The War for Lebanon, 108-120; Picaudou,
La déchirure libanaise, 153-175; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138..
93
Libanon nördlich des Litani-Flusses. Die Zentralregierung, die einen Wiederaufbau
begonnen hatte, wurde geschwächt und die durch Israel gestärkte libanesische Armee
zerfiel erneut.301
Konfliktparteien
Stärke der
Miliz
Front Libanaises/
Forces Libanaises
Kata'ib
Konfliktparteien
Stärke der
Miliz
*ationalbewegung
10.000-15.000
Progressive
Partei
Sozialistische
National-Liberale Partei
Sozial-Nationalistische
Syrische Partei
Die Wächter der Zedern
Libanesische KP
Zgharta Befreiungsarmee
irakische Baath Partei
Maronitische Mönchsorden
Al-Murabitun
Al-Tabzim
„Befreiter Libanon“
Insgesamt
Kommunistische Aktion
2.000-2.500
12.000-20.000
Insgesamt
andere libanesische Einheiten
externe Einheiten
syrische Baath Partei
Syrische Armee
Amal
UNIFIL
Reguläre libanesische Armee
5.000-20.000
5.000-7.000
22.000-30.000
4.000-6.000
Palästinensische Einheiten
Fath, PFLP, PDFLP, Saiq etc.
Israel
Tabelle 17: Die größten Milizen und Truppen im Libanon zwischen 1975 und 1980
12.000
20.000-25.000
302
Aufstieg der Schiiten, Anfang 1984-Ende 1988
Nachdem Syrien und die verbündeten Milizen wieder die Oberhand gewonnen hatten,
kam eine neue Regierung zustande. Ein Gleichgewicht zwischen den größten
Konfessionen schien wieder hergestellt zu sein. In Sidon kam es jedoch erneut zu
Kämpfen zwischen Palästinensern, gemeinsam mit islamistischen Sunniten, und
maronitischen Milizen. Die Amal versuchte einige christliche Dörfer vor dem
Vormarsch der sunnitischen Milizen zu schützen. Dies führte erstmals zu einen Krieg
zwischen Schiiten und Sunniten, die Drusen verhielten sich neutral. Im Oktober 1985
versuchte Syrien zu vermitteln, da sich nun syrische Verbündete gegenseitig
bekämpften. Die jeweiligen Führer konnten jedoch ihre eigenen Gruppen nicht mehr
kontrollieren, so daß die Kämpfe weiter gingen. Zugleich kam es zu einem innermaronitischen Krieg zwischen pro-syrischen und anti-syrischen Einheiten. Die Milizen
der Drusen blieben 1987 auch im schiitisch-palästinensischen Konflikt nicht mehr
neutral und griffen die Amal an. Die Amal sah sich gleichzeitig von der erstarkten
301
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 671-674; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 175-197;
Friedman 126-222; Pott, Schimkoreit-Pott, Beirut, 8-138, 169-216.
302
Lebanon under Arms, in: The Middle East, May 1978, Nr. 43, 34; Gordon, The Republic of
Lebanon, 105.
94
islamistischen Hizbollah bedroht, so daß im Südlibanon 1988 ein inner-schiitischer
Krieg ausgefochten wurde.303
Das Auseinanderbrechen des Landes, Ende 1988-Ende 1990
Die Amtszeit von Amin Gemayel endete im September 1988. Über seine Nachfolge
herrschte jedoch eine Pattsituation zwischen der syrischen Armee und den Forces
Libanaises. Syrien konnte eine Wahl verhindern, die FL konnte genug Stimmen im
Parlament kontrollieren, um die Wahl eines ihr unangenehmen Kandidaten zu
verhindern. Gemayel ernannt entgegen dem Nationalpakt den christlichen General Aoun
zum Übergangspremierminister, während sein Vorgänger, Salim al-Hoss, die Entlassung
nicht annahm und die Gegenregierung unter syrischer Vorherrschaft übernahm. Das
Land war erneut zweigeteilt: In der christlichen Enklave zwischen Beirut und Tripoli
herrschte Aoun, während Hoss und der syrischen Armee der Rest des Landes unterstand.
Um die Regierung zu finanzieren griff Aoun die Forces Libanaises an, die in der
christlichen Enklave Steuern einhoben und die Häfen kontrollierten. Sein Beschuß
Westbeiruts zerstörte die letzte Gelegenheit in der muslimischen Bevölkerung
Unterstützung zu finden. Zugleich stieß die Vormacht Syriens im Libanon zunehmend
auf Kritik der Arabischen Liga. Ein Lösung für den Libanon schien nötiger als je zuvor.
Um die Wahl eines Präsidenten zu ermöglichen wurde beschlossen, das Parlament
außerhalb des Landes einzuberufen. Ein Waffenstillstand ermöglichte dann
Verhandlungen in der saudi-arabischen Stadt Ta'if. Neben der Präsidentenwahlen sollte
das Parlament eine Reform des politischen Systems verabschieden und die zukünftigen
Beziehungen zu Syrien bestimmen. Die Reformen von Ta'if stellen ein politisches Ende
des Bürgerkrieges dar. Das militärische Ende folgte erst ein Jahr später.
Während Aoun auf einen syrischen Abzug bestand, vereinbarte das Parlament lediglich
eine Rückzug über zwei Jahre in das Bekaa-Tal. Das Parlament wählte Ende 1989 René
Moawad zum Präsidenten. Er starb drei Wochen später bei einem Anschlag. Elias Hrawi
wurde als Ersatz gewählt. Der Einfluß Aouns verringerte sich weiter, als er den Krieg
gegen die FL fortführte und zunehmend an Boden verlor. Im Oktober 1990 beendete die
libanesische und die syrische Armee die Herrschaft Aouns, der in die französische
Botschaft flüchtete. Dieser Sieg Syriens wurde durch den Einmarsch des Iraks in Kuwait
erleichtert. Erstens war der Libanon das Zugeständnis der USA an Syrien für dessen
Teilnahme an der Allianz gegen den Irak. Zweitens erhielt Aoun Unterstützung vom
Irak. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak ließ diese Hilfe für Aoun versiegen.304
303
Hierzu s. Hanf, Libanon-Konflikt, 674-676; Nadine Picaudou, La déchirure libanaise, 197-219;
Arnold Hottinger, 7mal Naher Osten (München-Zürich 1991) 138-147.
304
Hierzu s. Ronald D. McLaurin, Lebanon: Into or Out of Oblivion?, in: Current History, January
1992, Nr. 561, Jhrg. 91, 30 f.
95
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