Von Milizen zu politischen Parteien? Die Entwicklung von Gewaltgruppen zu politischen Akteuren im Libanon der Bürgerkriegs- und Nachkriegszeit Eine gesellschaftsgeschichtliche Analyse von politischen Parteien und politischer Kultur im Libanon: Progressive Sozialistische Partei (PSP), kata’ib und Hisbollah im Vergleich Die Regierungsform der libanesischen Republik ist eine parlamentarische Demokratie mit einem Vielparteiensystem. Das politische System hat konkordanzdemokratische Züge und ist vor allem geprägt vom politischen Konfessionalismus. Die Regierungsämter, Parlamentssitze und öffentliche Ämter werden nach einem konfessionellen Schlüssel besetzt, der auf einem Zensus von 1932 beruht. Dementsprechend rekrutieren die zahlreichen politischen Parteien im Libanon ihre Anhängerschaft in den meisten Fällen größtenteils aus jeweils einer Religionsgruppe. Neben der konfessionellen Zugehörigkeit spielen jedoch auch Clanloyalitäten und komplexe Patronage- und Klientelismusstrukturen (zu’ama’-System) eine große Rolle, die Zugehörigkeit und Unterstützung eines za’ims und seiner Partei ist ein wichtiger Faktor im Hinblick auf den Zugang zu sozialen Leistungen und Ressourcen vor allem in den Bereichen Bildung, Gesundheit und Beruf. Dieses System von konkurrierenden Patron-Klient-Netzwerken findet ihren Ausdruck in einer stark politisierten Gesellschaft, in der hart um Wählerstimmen (und Klienten) gekämpft wird und hat im Laufe der jüngeren libanesischen Geschichte, insbesondere im Libanesischen Bürgerkrieg 1975-1990 durchaus tiefgreifende Wandlungen erfahren. Herauszuheben ist hierbei, dass die Parteien Milizen unterhielten (und zum Teil immer noch unterhalten) und als Gewaltakteure am Kriegsgeschehen partizipierten. Auch wenn den libanesischen Parteien oft abgesprochen wird, „wirkliche“ Parteien zu sein (zumindest nach westlichem Verständnis), so sind auch sie Organisationen, welche die Interessen einer bestimmten Gruppe - in diesem Fall die eines za’im und seines Klientel - vertreten und gebildet wurden, um Macht und Ressourcen innerhalb des Systems zu erlangen. Viele dieser Parteien vertreten auch eine bestimmte politische Ideologie, wenngleich im Libanon spezifische Aspekte der Parteikultur von größerer Relevanz hinsichtlich der Rekrutierung, Mobilisierung und Bindung von Mitgliedern und Wählern sind. Das Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, eben welche dieser Aspekte für die Entwicklung von politischen Parteien als Vertretungsorganisationen von Interessensgruppen vor dem Hintergrund der neuesten libanesischen Geschichte von Bedeutung sind und wie sie im gesellschaftlichen Kontext im Libanon funktionieren. Hierzu sollen exemplarisch drei möglichst unterschiedliche libanesische Parteien in einer gesellschaftsgeschichtlichen Analyse miteinander verglichen werden, wobei folglich nicht nur die politische, sondern auch die soziale, wirtschaftliche und vor allem die kulturelle Dimension der Parteigeschichte einbezogen werden soll. Die Untersuchungsobjekte sind die maronitische kata’ib, die drusische hizb al-taqadummi al-ishtiraki (PSP) und die schiitische hizb allah. Unter Einbeziehung verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Theorien und vor dem Hintergrund der libanesischen Geschichte wird der historische Entwicklungsprozess der politischen Parteien, ihre Ideologien und Identitätskonzeptionen, ihre Organisationsstrukturen, Prozesse der Rekrutierung und Mobilisierung von Mitgliedern, die Finanzierung der Parteien und ihre spezifische Parteikultur untersucht werden. Ein besonderer Fokus liegt auf eben jener Parteikultur, welche sich in der Konstruktion der kollektiven Identität der Partei und der individuellen Identifizierung des Parteigängers mit seiner Partei ausprägt. Durch den Vergleich der drei Parteien soll einerseits herausgefunden werden, welche Elemente sich über Parteigrenzen hinweg finden und auf spezifische Aspekte von politischen Parteien und politischer Kultur im Libanon verweisen (z. B. Märtyrerverehrung als Element der kollektiven Erinnerungskultur). Andererseits gilt es jedoch auch zu untersuchen in welchen Bereichen die Parteien voneinander divergieren und worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind (z. B. militaristische Elemente bei der Konstruktion der Gruppenidentität bei Parteien, die aus Milizen im Bürgerkrieg entstanden sind). Die Rückschlüsse hieraus geben ihrerseits weitere Informationen über das libanesische Parteiensystem und seine Verankerung in gesellschaftlichen Milieus und Strukturen. Die historische Perspektive der Untersuchung, fokussiert auf Bürgerkrieg und Nachkriegszeit, erlaubt es, die Reaktion der Parteien auf die sozialen und politischen Veränderungen in einem Entwicklungsprozess zu verorten, der sich auf den verschiedenen Ebenen der Analyse widerspiegeln lässt. Mara Albrecht