Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... Chiles Wahlen werden von der Wirtschaft abhängen ..................................................................................................... Experte Dr. Joseph S. Tulchin Region: Mittel- und Südamerika Der Kandidat der Konservativen, der ehemalige Präsident Sebastian Pinera, ist momentan der Favorit für die Präsidentschaftswahlen in Chile (Foto: dpa) Die zweite Jahreshälfte 2016 war für Chile eine Phase der Stagnation. Im Jahr 2017 jedoch könnte das konservative Establishment an die Macht zurückkehren, indem es von dem derzeit um sich greifenden Gefühl des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs profitiert. Doch falls es der Wirtschaft aufgrund einer Steigerung der Kupferpreise um 0,25 Dollar pro Pfund (oder mehr) besser gehen sollte, könnte Präsidentin Michelle Bachelet ihre Amtszeit doch noch gestärkt beenden, was dabei helfen würde, dass ihre „Neue Mehrheits“-Koalition (Nueva Mayoria) die Konservativen bei den Präsidentschaftswahlen im November besiegt. Präsidentin Bachelet, die seit 2014 amtiert, sind momentan die Hände gebunden, da sich ihre Zustimmungswerte im niedrigen 20-Prozent-Bereich bewegen. Obwohl ihre Amtszeit erst im März 2018 enden wird, hat sich die Aufmerksamkeit des Landes www.gisreportsonline.com SEITE 1 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... bereits auf die Wahlen von 2017 verlagert, und Bachelet ist zu einer Art „lahmer Ente“ geworden. Ihre noch ausstehenden „grundlegenden Reformen“ – im Bereich der Bildung, der Arbeit und an der Verfassung – hängen im Kongress fest und sind offenbar zum Scheitern verurteilt. Die „Neue Mehrheits“-Koalition der Präsidentin schnitt bei den Kommunalwahlen im Oktober 2016 schlecht ab und Dutzende Bürgermeister-Posten gingen ihr verloren. Die Wahlen waren ein Erfolg für die rechte „Chile-Vamos“-Koalition und für unabhängige Parteien, von denen sich mehrere von der „Neue Mehrheits“-Koalition abgespalten hatten. Die unabhängigen Parteien hielten sich ungewöhnlich gut, vor allem in Valparaiso, wo ein junger, unangefochtener Kandidat das Rennen um das Bürgermeisteramt gewann. Es scheint, dass sich Chiles sperriges Zwei-KoalitionenSystem überlebt haben könnte. Zweifellos haben sich beide Koalitionen sehr schwer damit getan, neue oder junge Anhänger anzuziehen. Vor dem Hintergrund der regionalen Verluste bildete Präsidentin Bachelet ihr Kabinett um und entließ ihre Arbeitsministerin, Ximena Rincon, die vor allem als wichtigste Kraft hinter den gescheiterten Arbeitsreformen bekannt ist. Nach den Kommunalwahlen kam es im November zu weiteren Entlassungen, betroffen waren die Minister für Energie, für Nationale Vermögenswerte und für Justiz. Die Veränderungen im Kabinett halten noch immer an, doch keine von ihnen hat der Regierung bisher frischen Wind eingehaucht, und es scheint unwahrscheinlich, dass Personalwechsel alleine dabei helfen können, dass Bachelet ihre verlorene Dynamik wiedererlangt. Wahrscheinliche Anwärter Da die Wahlen näher rücken, zeichnen sich innerhalb der beiden Koalitionen einige Hoffnungsträger auf das höchste Staatsamt ab. Der ehemalige Präsident Sebastian Pinera hat seine Absicht erklärt, für „Chile Vamos“ anzutreten, und die ersten Umfragen zeigen, dass er derzeit der stärkste Kandidat ist. Im linken Spektrum hat der Ex-Präsident Ricardo Lagos verkündet, dass er antreten werde, doch seiner Kandidatur begegnet man allgemein mit geringem Interesse. Ein Rennen zwischen zwei ehemaligen Präsidenten würde unterstreichen, wie rückständig die politische www.gisreportsonline.com SEITE 2 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... Führung des Landes geworden ist. Der frühere TV-Star und Senator Alejandro Guillier tauchte vor kurzem als überraschend aussichtsreicher Kandidat auf, in den Umfragen liegt er knapp hinter Pinera und weit vor Lagos und Jose Miguel Insulza, der sich als Kandidat der Sozialistischen Partei aufstellen ließ. Die andere große Partei in der „Neuen Mehrheits“-Koalition, die Christdemokraten, hat noch keinen eigenen Kandidaten ausgewählt, aber sie hat bereits ihre Ablehnung von Senator Guiller kundgetan. Guillier ist offiziell Mitglied der Radikalen Partei, einer kleinen Partei innerhalb der „Neuen Mehrheits“-Koalition, aber er hat seinen Ruf als Unabhängiger behauptet. In den kommenden Monaten werden die Parteien in den beiden großen Koalitionen komplexe Verhandlungen führen, um ihre Kandidaten auszuwählen. Beide Koalitionen brauchen dringend frisches Blut in ihren Reihen, um sich ihre Legitimität vor einer zunehmend desillusionierten Öffentlichkeit zu bewahren. Der Kampf zwischen Lagos, Insulza und Guillier ist ein Kampf um die Seele der Mehrheit der Wähler und zugleich um die Unterstützung derer, die am Ende der Diktatur geboren worden sind. Seit der Rückkehr zur Demokratie im Jahr 1989 hatten jene, die das Land regierten, eine Marktwirtschaft mit menschlichem Antlitz favorisiert, abgerundet durch ein verlässliches System mit einer fairen Rechtsprechung und klaren Spielregeln. Die Mitte-Links-Koalition, die „Koalition der Parteien für die Demokratie“ (die gewöhnlich einfach als „Concertacion“ bezeichnet wird), war für ihren politischen Pragmatismus bekannt und betonte den freien Markt als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Als Pinera im Jahre 2010 nach der ersten Amtszeit von Bachelet die Präsidentschaft übernahm, sorgte er dafür, dass man diesem breiten Konsens weiterhin folgte, wobei er den freien Markt noch stärker betonte. Nach ihrem erneuten Amtsantritt im Jahr 2014 drohte Bachelet damit, diese Balance zu stören. Sie bestand darauf, dass das Land stabil genug sei, um größere Reformen der Grundfesten auszuhalten, die General Augusto Pinochet gelegt hatte und die seitdem weitgehend unverändert geblieben waren – was Chile weltweit zu einem der Länder gemacht hat, wo die größte Ungleichheit herrscht. Doch die durchaus www.gisreportsonline.com SEITE 3 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... gutgemeinten Reformen Bachelets und ihrer eigenen Koalition, der „Neuen Mehrheit“, die sie als eine breitere Alternative zur „Concertacion“ gegründet hatte, um ihre Reformen durch den Kongress zu bekommen, erwecken mittlerweile den Anschein, dass sie überfordert war. Jetzt haben Lagos und Insulza ihre Kampagnenmaschinerien angeworfen, weil sie glauben, dass sie diesen breiten Konsens zurückerobern können. Die Öffentlichkeit ist nicht davon überzeugt, dass sie die richtigen Kandidaten sind, vor allem wegen des Eindrucks, dass die beiden die Vergangenheit repräsentieren. Guillier dagegen behauptet, die Zukunft zu vertreten, obwohl er noch keine Plattform präsentieren konnte, um zu umreißen, wie diese Zukunft aussehen würde. Die vielen Wähler der neuen Generation bleiben an der Seitenlinie. Solange sich Mitte-Links nicht für einen Kandidaten entscheiden kann, hat Pinera das Glück, sich als Mittelweg für den breiten Konsens präsentieren zu können. Der Kampf um die Kandidatur der „Neuen Mehrheit“ dürfte im zweiten Quartal ausgetragen werden, nachdem die Chilenen aus ihrem Sommerurlaub zurückgekehrt sind. Die überwiegende Mehrheit der Chilenen mag die Kombination aus demokratischer Regierungsführung und einem komfortablen Sicherheitsnetz. Der Erfolg, den Chile seit der Rückkehr zur Demokratie vorzuweisen hat, ermöglichte es dem Land, in die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen zu werden. Allerdings kann Chile nicht mit den europäischen Mitgliedern der Organisation mithalten. Ein kurzer Blick auf den Prozentsatz des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der durch Steuern zustande kommt und mit dessen Hilfe der Staat eigentlich Programme durchführen sollte, verdeutlicht das zugrundeliegende Problem, dem jede chilenische Regierung gegenübersteht. Der Durchschnittswert der OECD-Mitglieder beträgt hierbei nämlich 34 Prozent, wobei Dänemark mit 47 Prozent den Spitzenplatz einnimmt. Chile liegt bei 21 Prozent. Nur Mexiko hat mit 18 Prozent einen noch niedrigeren Steueranteil aufzuweisen. Dieses Problem wurde beiseite geschoben oder schlichtweg ignoriert, solange der Preis von Kupfer bei über 4 Dollar pro Pfund lag. www.gisreportsonline.com SEITE 4 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... Bruchlinien Alle Präsidentschaftskandidaten werden mit Problemen konfrontiert werden, die in den vergangenen Monaten in den Vordergrund gerückt sind. Die Rentenreform sorgt nach wie vor für Spannungen und gelegentliche Gewaltausbrüche, wobei sich der Zorn des Volkes vor allem gegen private Fondsmanager, die sogenannten AFP, richtet, die überproportional von dem System profitieren. Chiles privates Rentensystem stammt aus der Zeit von General Pinochet und viele halten es durchaus für ein erfolgreiches Privatisierungsmodell. Aber vielen Rentnern blieben nur Auszahlungen unter dem Mindestlohn (ca. 300 Dollar pro Monat) und das System muss darum kämpfen, in Chiles große informelle Wirtschaft vorzudringen. Präsidentin Michelle Bachelet, die bei der nächsten Wahl nicht mehr antreten darf, brachte das politische Gleichgewicht mit ihren Reformvorschlägen durcheinander – diese hängen nun im Kongress fest (Foto: dpa) Die sechs derzeitigen AFP verwalten momentan etwa 170 Milliarden US-Dollar, diese sind das Produkt der obligatorischen Arbeitnehmerbeteiligung von 10 Prozent. Ein Vorschlag, der derzeit im Kongress debattiert wird, sieht die Installierung eines staatlichen AFP vor, der mit den privaten Fondsmanagern konkurrieren soll. Ein www.gisreportsonline.com SEITE 5 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... anderer Vorschlag beinhaltet eine überschaubare Arbeitgeberbeteiligung. Obwohl einige Demonstranten eine umfassende Revision gefordert haben, einschließlich einer Rückkehr zu steuerfinanzierten Renten, hat Präsidentin Bachelet diese Idee verworfen und bemerkt, dass sie angesichts der Überalterung von Chiles Bevölkerung unerschwinglich wäre. Höchstwahrscheinlich werden wir sehen, dass die Administration des nächsten Präsidenten das System weiter anpassen wird, anstatt es komplett zu überholen, indem sie auf umfassendere, bedarfsorientiertere Rentensysteme zurückgreift, die durch Beiträge von Arbeitgebern und dem Staat mitfinanziert werden. Die Einwanderung hat sich auch in Chile als umstrittenes Thema herausgestellt, zweifelsohne zum Teil auch wegen ihrer Bedeutung in der amerikanischen und europäischen Politik. Die Versuchung, durch populistische und Trump-ähnliche Appelle an fremdenfeindliche Instinkte zu punkten, wird für die chilenischen Kandidaten groß sein, und Pinera hat bereits darauf hingewiesen, dass er die „Einfuhr von kriminellen Immigranten“ verhindern würde. Obwohl Immigranten nur knapp 2 Prozent der chilenischen Bevölkerung ausmachen (in den USA sind es etwa 13 Prozent), verändert sich das Gesicht der chilenischen Einwanderung. Traditionell sind der Großteil der chilenischen Einwanderer Peruaner, Argentinier und Bolivianer gewesen, die in der Regel als Mestizen oder indigene Völker auszumachen waren. Heute gesellen sich zu diesen Gruppen noch Haitianer, Dominikaner und Kolumbianer afro-amerikanischer Abstammung. Verschiebungen in der Demografie der Einwanderung haben Ängste über deren Integrität bei der nationalen Identität und der Sicherheit hervorgerufen. Das Tempo des Wirtschaftswachstums dürfte wohl bestimmen, ob dieses Thema in der öffentlichen Debatte wichtig wird. Gelegenheit in China Chile wächst weiterhin träge, obgleich die kommenden zwei Jahre eine Verbesserung bringen sollten, da sich die globale Nachfrage nach Rohstoffen erholt. Das Land ist nach wie vor von Rohstoff-Ausfuhren und von Exporten mit geringem www.gisreportsonline.com SEITE 6 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... Mehrwert abhängig. Die Einnahmen der Regierung reagieren noch immer sehr empfindlich auf Schwankungen bei den globalen Rohstoffpreisen, insbesondere bei Kupfer. Es herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass Chile sich von seiner Abhängigkeit von Rohstoffexporten verabschieden muss. Dies erfordert jedoch teure Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Dies wäre keine kurzfristige Lösung und würde Mittel erfordern, die zurzeit nicht verfügbar sind. Viele betrachten hier Investitionen aus China als Lösung – und die Chinesen haben durchaus ihr Interesse bekundet. China bleibt Chiles größter und wichtigster Handelspartner und der chinesisch-chilenische Handel wächst weiter. Es ist jetzt über ein Jahrzehnt her, da China und Chile ein Freihandelsabkommen unterzeichnet haben. Seitdem hat sich der Handel zwischen den beiden Ländern vervierfacht, von 8 Milliarden Dollar im Jahr 2005 auf mehr als 32 Milliarden Dollar im Jahr 2016. US-Präsident Donald Trumps jüngster Rückzug aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) deutet darauf hin, dass China in den kommenden Jahren noch eine größere Rolle in der chilenischen Wirtschaft spielen dürfte. Im November absolvierte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping Staatsbesuche in Chile und Peru und er forderte dabei eine „neue Ära“ in den Beziehungen zwischen China und Lateinamerika. Peking versucht wahrscheinlich, von Trumps Desinteresse an der Förderung des freien Handels in der Region zu profitieren. Die chilenischen Regierungsvertreter scheinen hierfür empfänglich zu sein. Im Dezember hat der chilenische Landwirtschaftsminister Carlos Furche die Tatsache verkündet, dass mehr als die Hälfte der chilenischen Kirschenernte nach China exportiert wird, was eine halbe Milliarde Dollar an Einnahmen bedeutet. Er erklärte, dass „die Zukunft der chilenischen Lebensmittel-Exporte in China liegt“. Die Zunahme der Nahrungsmittelexporte nach China, vor allem von Obst und Fisch, könnte Chiles Abhängigkeit von den Kupfer-Ausfuhren verringern. Unterdessen konzentriert man sich immer stärker auf chinesische Investitionen in Chile, dazu gehören auch Erleichterungen für Chinesen, die sich an Ausschreibungen der Regierung beteiligen wollen. Der Lithium-Markt könnte sich als www.gisreportsonline.com SEITE 7 Montag, 13. Februar 2017 ...................................................................................................... besonders fruchtbarer Boden für chinesische Investitionen erweisen. Chile wird das „Saudi-Arabien des Lithiums“ genannt, denn es ist die Heimat der Hälfte der weltweit zugänglichen Lagerstätten für dieses Metall außerhalb Chinas – und dieser Markt soll sich bis 2025 verdreifachen. Chiles Botschafter in China, Jorge Heine, hat das Interesse bekundet, dass chinesische Unternehmen in chilenische Infrastruktur- und Energieprojekte investieren, vor allem in Sonnen- und Windenergieprojekten. Heine ist auf dem richtigen Weg, aber er muss Präsidentin Bachelet dazu bringen, diesen Vorstoß zu unterstützen und die Chinesen zu hofieren, wie es ihr peruanischer Amtskollege Pedro Pablo Kuczynski getan hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bachelet-Regierung daran arbeiten wird, Investitionsvorhaben mit China vor dem Ende ihrer Amtszeit abzumachen. Außenminister Heraldo Munoz hat bereits erklärt, dass sich Chile mehr und mehr China zuwenden wird, da sich die USA zieht aus der Region zurückziehen. Bachelet braucht eine schnelle Finanzspritze für die Wirtschaft, wenn sie ihre Reformen durch den Kongress bringen und wenn die Mitte-Links-Koalition ihre Angelegenheiten für die Präsidentschafts-Kampagne ordnen soll. Dies könnte die Ankündigung einer großen chinesischen Infrastruktur-Investition ermöglichen, und das gleiche gilt für eine Erhöhung der Kupfer-Preise – selbst für eine bescheidene Anhebung auf 2,80 Dollar/Pfund. Anfang Februar 2017 schwebte der Preis zwischen 2,65 und 2,70 Dollar, Tendenz steigend. Für den Augenblick scheint es höchstwahrscheinlich, dass das konservative Establishment 2017 wieder an die Macht kommt – nicht aufgrund seiner eigenen Ideen, sondern weil die Öffentlichkeit einfach neue Gesichter an der Macht sehen will. Ironischerweise haben die Konservativen mit dem ehemaligen Präsidenten Sebastian Pinera bisher nur ein altes Gesicht zu bieten. Wenn Senator Guillier die Nominierung der „Neuen Mehrheit“ gewinnt, werden ihn seine Jugend und seine Botschaft von Veränderung zum aussichtsreichsten Kandidaten für die Wahlen im Oktober machen. Wer auch immer an der Macht ist: Er oder sie muss auf hohe Rohstoffpreise und auf mehr chinesische Investitionen hoffen, um erfolgreich zu sein. www.gisreportsonline.com SEITE 8