Psychiatrie in Bad Hersfeld

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Dr. Falko Seegel
Psychiatrie in Bad Hersfeld
Geschichte, Arbeitsweise
und Vernetzung
1988 - 2008
Berichte Reportagen Interviews Adressen
Psychiatrie in Bad Hersfeld
Geschichte · Aufgaben · Vernetzung
1988 - 2008
mit freundlicher Unterstützung der Sparkasse Bad Hersfeld-Rotenburg
Dr. Falko Seegel
Präambel
Psychiatrie in Bad Hersfeld - Geschichte und Entwicklung
1988 - 2008
Das Buch, das Herr Dr. Seegel hier vorlegt, vereinigt als lebendige Reportage alle möglichen Themen
aus unserer neuen Klinik und ihrem Umfeld, und es spannt den Bogen über zwei Jahrzehnte Psychiatrie
in Bad Hersfeld.
Als der Unterzeichner sich vor Jahrzehnten in seinem Ursprungsland nicht zwischen Paläontologie,
Kulturanthropologie und Psychiatrie entscheiden konnte, war für die Berufswahl letztlich die Tatsache
entscheidend, dass er dort de facto nur von seiner Arbeit als Arzt leben konnte. Dass er aber jemals in
einem anderen Land, zumal einem, von dessen Sprache er zunächst kein einziges Wort beherrschte, eine
ganze Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mitkonzipieren, verwirklichen und leiten würde, hätte er
sich nicht mal in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Durch die Umstände gezwungen, verließ
1. Auflage September 2008
er sein Land, gelangte nach Deutschland, nach weiteren 14 Jahren nach Bad Hersfeld, und hier leitet
er nun im 20. Jahr die besagte Klinik zusammen mit engagierten Mitarbeitern aller Berufsgruppen.
ISBN 978-3-00-025541-0
20 Jahre sind nun seit der Eröffnung der Psychiatrie am 01.09.1988 vergangen, ein Anlass, den wir
auch mit diesem Buch feiern möchten. Es gibt uns Gelegenheit, an die Anfänge zu erinnern und auch
die weitere Entwicklung zu diskutieren. Wir sind stolz auf das Erreichte, und wir freuen uns auf kritische
Redaktion, Interviews und Texte
Anmerkungen, Stellungnahmen und Positionen, denn nur so schreitet die Entwicklung voran. In diesem
Dr. Falko Seegel
Buch haben wir all diejenigen eingeladen, ihren Beitrag zu der gemeinsamen Arbeit beizusteuern, die
uns seit vielen Jahren verbunden sind. Für ihre Mithilfe bedanken wir uns ganz besonders.
Idee und Konzept
Dr. Friedhelm Röder, Christian Wink, Dr. Falko Seegel
Interviews und Text
Dr. med. C. García · Konstanze García · Dr. med. Friedhelm Röder · Anja Mahrhold · Annika Pressler
Constanze Hodes · Julia Gieb · Christian Schwarz · Susanne Knochenhauer · Karin Weiser · Julia Hieronymus
Ulrike Göbel · Thomas Braun · Ann-Katrin Kittel · Julia Saam · Thomas Rumpf · Oliver Lange
Dr. C. Garcia, Chefarzt, April 2008
Fotos
Dr. Falko Seegel · E-Mail: [email protected]
Grafische Gestaltung, Illustationen und Druck: WSD · Christian Wink · 91241 Kirchensittenbach
Telefon 0 91 51 / 86 29 77 · Fax 0 91 51 / 86 29 79 · Internet: www.wsd-wink.de
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten. Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm, Internet oder ein
anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, auf elektronische Systeme
gespeichert, verarbeitet oder vervielfältigt werden.
Hilfe, wenn die Psyche erkrankt
Mit dem Neubau der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie verfügen wir im Landkreis HersfeldRotenburg heute über ein umfangreiches Behandlungsangebot für Menschen, die psychisch erkrankt
sind. Um dieses psychotherapeutische und psychiatrische Zentrum herum hat sich im Laufe der Zeit
ein weitverzweigtes Netz ergänzender Einrichtungen und Dienste angesiedelt, die zusätzliche Unterstützung anbieten.
Für den Laien ist dieses psychiatrische Versorgungsnetz sehr schwer zu durchschauen, und oft prägen
aus der Vergangenheit mitgeschleppte Vorurteile und antiquierte Ansichten immer noch das Bild der
Psychiatrie.
Dieses Buch gibt einen guten Einblick in die moderne psychiatrische Arbeit und stellt erstmals alle in
der psychiatrischen Versorgung im Landkreis tätigen Einrichtungen gemeinsam vor. Patienten erzählen ihre Geschichten und Mitarbeiter schildern ihre alltägliche Arbeit, berichten von den Folgen von
Erkrankungen und beschreiben Heilungsprozesse.
Die Leser erhalten einen anregenden und fachlich soliden Einblick in ein Thema, das der breiten
Öffentlichkeit immer noch ein wenig fremd ist.
Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung: Möge es zur Diskussion und zum Nachfragen anregen!
Dr. Karl-Ernst Schmidt
Landrat des Landkreises Hersfeld-Rotenburg
Vorwort
Wir haben dieses Buch geschrieben, um auf mehr als 20 Jahre Psychiatrie in Bad Hersfeld zurückzublicken,
Begeisterung und ihrem Fleiß haben sie erheblich zum Gelingen des Projektes beigetragen. Sie haben
um die Erlebnisse und Erfahrungen noch einmal mit einem gewissen Abstand zu betrachten und um uns
Interviews geführt, verschriftet, überarbeitet und immer wieder korrigiert. Sie waren für uns ein wichtiger
selbst Rechenschaft über einen Zeitraum zu geben, den wir maßgeblich mit ausgestaltet haben.
Prüfstein, denn wenn es uns gelungen ist, ihnen unsere Arbeit verständlich zu machen, ist sie hoffentlich
auch für andere nachvollziehbar. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Thomas Braun, Julia
Zu Beginn eines solchen Vorhabens erscheint alles ganz einfach: Die Geschichte, so denkt man, ist in den
Göbel, Constanze Hodes, Ann-Katrin Kittel, Oliver Lange, Annika Pressler und Benjamin Tauber bedanken.
Köpfen, sie braucht eigentlich nur aufgeschrieben zu werden. Beginnt man aber die Worte zu Papier zu
Anja Marholdt hat während der zwei Jahre, in denen das Buch entstanden ist, neben ihrer täglichen Arbeit
bringen, dann entdeckt man - wie bei einem Erkundungsgang durch vermeintlich bekanntes Gelände
in der psychologischen Abteilung Interviewaufnahmen in Texte verwandelt, bearbeitet, gesammelt und
- doch noch so manches Verborgene, und man stößt auf Dinge, die man übersehen hat oder die bereits
redigiert; sie hat Termine vereinbart, Recherchen durchgeführt - und immer den Überblick behalten. Ulla
dem Vergessen anheim gefallen sind. Was sich im Alltag Schritt für Schritt, oft über Jahre hinweg, entwi-
Kremser hat den Texten ihren letzten Schliff verpasst, was mehr Arbeit war, als wir geahnt hatten.
ckelt hat, erscheint nun, dicht gedrängt, sozusagen im Zeitraffer, umso erstaunlicher, und es schwindelt
einem das eine oder andere Mal. Das, was wir heute vorfinden und was diejenigen, die jetzt eine Stelle in
Manches lässt sich in einer knappen Zusammenfassung übersichtlich darstellen, anderes wird nur an-
unserer Klinik antreten, für selbstverständlich und gegeben halten, ist das Ergebnis langer und oft zäher
schaulich, wenn man Arbeitsabläufe, Begebenheiten und Erlebnisse aus dem Blickwinkel der Beteiligten
Bemühungen.
betrachtet. So wechseln zusammenfassende Texte mit Interviews, in denen jede Einrichtung oder Abteilung vorgestellt wird. Wo es möglich ist, kommen auch Patienten zu Wort. Bereits mit dem eigentlichen
Ursprünglich wollten wir ganz bescheiden den Werdegang unserer Klinik nachzeichnen, dabei stellten wir
Kernbereich psychiatrischer Tätigkeit und den dazugehörigen Institutionen haben wir die ursprünglich
jedoch fest, dass die Klinik nur ein Teil eines großen Netzwerkes ist. Und so war es nur folgerichtig, die
geplante Seitenzahl deutlich überschritten.
anderen Bestandteile dieses Netzes, die komplementären Einrichtungen in der Stadt und im Kreis sowie
die Rehabilitationseinrichtungen jenseits der Kreisgrenzen ebenfalls vorzustellen.
Wir haben den niedergelassenen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, den niedergelassenen
Psychiatern, den Haus- und Fachärzten, den übrigen Stationen des Klinikums sowie den Einrichtungen
Wir haben Weggefährten befragt, Zeitzeugen der turbulenten Anfänge, Mitarbeiter und Kollegen, die auch
der Suchtrehabilitation und der Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle am Gesundheitsamt kein eigenes
heute noch mit uns zusammenarbeiten. Ehemalige Patienten und auch die, die sich heute noch in unserer
Kapitel gewidmet. Die Rentenberatungsstelle der deutschen Rentenversicherung, das Jugendamt und die
Obhut befinden, haben uns ihre Geschichten erzählt, haben darüber berichtet, was ihnen widerfahren
Pflegeüberleitung haben wir auch nicht aufgeführt. Mit all diesen Personen und Institutionen arbeiten
ist. Wir haben Mitarbeiter derjenigen Einrichtungen befragt, die in ständigem direkten Kontakt mit uns
wir aber im Alltag häufig zusammen, die Berührungspunkte sind vielfältig, und die Kooperation ist gut.
stehen, wie z. B. „die Brücke“, das „Herzberghaus“ und die Werkstatt „Lichtblick“; wir haben Betreuer
Es hätte aber bei weitem den Rahmen gesprengt, ihnen in der Darstellung den Raum zu gewähren, der
und Richter befragt, die Polizei, den Bürgermeister und viele mehr. So ist es uns hoffentlich gelungen, ein
ihrer Bedeutung angemessen ist. So hoffen wir für Ihr Verständnis bei unserer Auswahl.
lebendiges Buch zu schreiben, eine kleine Entdeckungsreise in die Vergangenheit und in die Gegenwart.
Ganz nebenbei entstand auch ein psychosozialer Führer für den Kreis Hersfeld-Rotenburg mit einem
Wenn es uns gelingt, beim Leser Neugierde zu wecken, wenn wir dazu anregen können, weiterzufragen,
Verzeichnis aller zentralen Einrichtungen einschließlich Adressen, Kontaktmöglichkeiten etc.
wäre das für uns ein schöner Erfolg.
Für ein solches Projekt braucht es Ideen, Neugierde, Ausdauer, Zuversicht, Unterstützung, Mut und
Humor. Ganz wichtig ist der regelmäßige Gedankenaustausch. Wir konnten während der letzten zwei
Jahre alle Praktikanten der psychologischen Abteilung zur Mitarbeit gewinnen. Mit ihrer Phantasie, ihrer
Dr. F. Seegel
Die thematische Gliederung ...
Die thematische Gliederung ...
Grussworte und Danksagungen.........................................3-7
Pflege in der Psychiatrie........................................................... 97
Geschichtliches - Rückblick
Epidemiologie der Schizophrenie.............................................. 99
Psychiatriegeschichte allgemein................................................ 12
Erholungskur einmal anders - Patientengeschichte................. 100
Psychiatrie und der ganze Mensch........................................... 15
Bewegungs- und Ergotherapie bei Depression........................ 103
Was ist Endogenität?............................................................... 17
Ergotherapie für Senioren...................................................... 106
Psychiatriegeschichte im Landkreis Hersfeld-Rotenburg............ 18
Urlaub von der Klinik............................................................. 106
Was hat sich in den letzten 20 Jahren geändert?...................... 24
Wer wird in der psychiatrischen Klinik behandelt?.................... 29
Was hat sich seit den 70er Jahren geändert?............................ 32
Personalentwicklung in der Psychiatrie..................................... 32
Der erste Patient - Das Leben beschreitet seltsame Wege......... 33
Heimatkunde und Psychiatrie................................................... 35
Interview mit einem Entscheidungsträger: Dr. Simon................ 49
Psychiatrie aus dem Nichts – die Anfänge 1988........................ 50
Erweiterung und Neubau 1998 - Sicht des Betriebsingenieurs...... 53
Planung einer Klinik – aus der Sicht der Mitarbeiter . ............... 56
Interview mit dem Architekten................................................. 58
Auswirkungen der Architektur auf das therapeutische Milieu .. 62
Ambulanz in der Psychiatrie
Vorwort................................................................................... 66
Verschiedene Blickwinkel......................................................... 67
Ein Tag in der Ambulanz.......................................................... 69
Einsatzorte und Therapiemethoden.......................................... 75
Flexible Behandlung und Rehabilitation.................................... 75
Die Koordination der Arbeit..................................................... 76
Im Käfig der Angst - Patientengeschichte................................. 78
Angehörige unter sich.............................................................. 81
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Gespräche sind Atemzüge der Seele........................................ 98
„Rooming-in“ in der Psychiatrie............................................. 107
Sprechen macht wirklich viel aus............................................ 108
Elektrokrampftherapie........................................................... 112
Klinische Sozialarbeit.............................................................. 114
Station 2 in der Psychiatrie
Vorwort................................................................................. 116
Stationsalltag......................................................................... 117
Qualifizierte Entgiftung.......................................................... 124
Psychotherapie....................................................................... 124
Station 2 - Behandlungsablauf............................................... 125
Gewalt und Aggressionen in der Psychiatrie........................... 130
Mit der Psychiatrie im Kreis unterwegs................................... 132
Eine letzte Chance - Patientengeschichte............................... 133
Bewegungs- und Ergotherapie auf Station 2.......................... 137
Tagesklinik in der Psychiatrie
Vorwort................................................................................. 142
Tagesklinik - die Behandlung.................................................. 143
Zurück ins Leben finden - Patientengeschichte....................... 149
Behandlungsverlauf Depression.............................................. 153
Neue Aufgaben..................................................................... 154
Sozialdienst - Krankheit und alles was dazu kommt.................. 81
Die Fallstricke der Sprache...................................................... 156
Der Spiegel der Seele - Patientengeschichte............................. 82
Kunsttherapie in der Psychotherapie...................................... 158
Psychologie - Wenn das Gedächtnis nachlässt.......................... 83
Bipolare Störungen.................................................................. 84
Gerontopsychiatrie - eine besondere Herausforderung
Seit ich wieder ein Ziel habe - Patientengeschichte................... 85
Vorwort................................................................................. 164
Blick in die Zukunft - Bevölkerungsentwicklung...................... 165
Station 1 in der Psychiatrie
Die Situation alter Menschen................................................. 166
Vorwort................................................................................... 90
Interview mit Bürgermeister Boehmer.................................... 169
Stationsalltag........................................................................... 91
Stiftung Hospital Bad Hersfeld................................................ 173
Station 1 - Behandlungsablauf................................................. 93
Seniorenberatung Waldhessen............................................... 178
Die thematische Gliederung ...
Die thematische Gliederung ...
Psychiatrie und Justiz
Flüchtlingsberatung der Diakonie........................................... 286
Vorwort................................................................................. 182
Selbsthilfegruppe „Horizont“................................................. 292
Im Gespräch mit der Polizei.................................................... 190
Ohne festen Wohnsitz
Thema Bewährungshilfe......................................................... 194
Vorwort................................................................................. 296
Betreuer................................................................................. 198
Bahnhofsmission Bad Hersfeld............................................... 297
Betreuungsstelle am Landratsamt........................................... 203
Kontakt- und Beratungsstelle für Wohnungslose.................... 299
Stimmen zum Thema Betreuung - Patientengeschichte.......... 209
Komplementär im engeren Sinne im direkten
Anschluss an den Klinikaufenthalt
Vorwort................................................................................. 210
Tagesstätte Bad Hersfeld........................................................ 211
Patientengeschichte............................................................... 213
Werkstatt „Lichtblick“........................................................... 214
Das ambulante „Betreute Wohnen“...................................... 218
Mein Leben im Elke-Kamm-Haus - Patientengeschichte.......... 220
Wohnheim „Elke-Kamm-Haus“............................................. 222
Integrationsfachdienst IFD...................................................... 225
Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle........................... 229
Was passiert nach der Klinik
Vorwort................................................................................. 234
Suchtberatung der Diakonie................................................... 236
Hephata - „Herzberghaus“.................................................... 239
Rehabilitation für psychisch kranke Menschen........................ 245
Landkreis - Rehabilitation und Schwerbehinderung................ 249
Agentur für Arbeit - Beratung für Rehabilitanden................... 253
Psychiatrische Entwicklung seit 1971...................................... 259
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Interview mit den Richtern..................................................... 183
Wohnraumhilfe Bad Hersfeld e. V........................................... 304
Adressen
Adressenverzeichnis............................................................... 310
Glossar
Fachbegriffe und Abkürzungen.............................................. 324
Ausblick
Was bringt die Zukunft?........................................................ 328
Klinik am Hainberg................................................................ 263
Historisches zur Klinik am Hainberg........................................ 267
Komplementäre Einrichtungen im weiteren Sinne
Vorwort................................................................................. 268
Pro Familia - Beratungsstelle Bad Hersfeld.............................. 269
Psychologische Beratungsstelle der Diakonie.......................... 275
Frauenhaus - Frauen helfen Frauen........................................ 278
Ich bin Saskia - Geschichte einer Betroffenen......................... 283
Ich bin Aishe - Geschichte einer Betroffenen.......................... 284
10
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Die dadurch genährte Hoffnung, eine ähnliche Ursache sehr wohl, dass man mit Mut und Entschlossenheit
für Erkrankungen wie Manie, Depression oder Schi- für das lebenswerte Leben der Schwachen in unserer
Psychiatriegeschichte allgemein
zophrenie zu finden, erfüllte sich jedoch nicht. Man Gesellschaft eintreten sollte. Vergessen wir nicht:
entdeckte aber - eher beiläufig -, dass ein bestimmtes Niemand ist vor einer psychischen Erkrankung gefeit,
Salz, Lithium, einen therapeutischen und vorbeugenden wir werden alle einmal alt und auf Hilfe angewiesen
Effekt hatte. Außerdem stellte man fest, dass bei Men- sein. Bis dahin können wir mit daran arbeiten, diese
Vor unserer Zeit
erfolgte, oder ob die Person aufgrund eines verän-
schen, die an einer Anfallskrankheit litten, kurz nach Welt in einen Ort der Rücksicht und Unterstützung
derten psychischen Zustandes ihr Handeln gar nicht
dem Anfall schizophrene oder depressive Symptome zu verwandeln.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir in der Psych- planen und somit die Konsequenzen nicht in der
aussetzten. Eine Erkenntnis, die man sich zunutze
iatrie von „Krankheiten“ sprechen. Menschen, deren notwendigen Art und Weise absehen konnte. Dies
machte: Man löste künstlich Anfälle aus, um schizo-
Verhalten aus der Rolle fiel, die seltsam reagierten war der Beginn der Unterscheidung zwischen Strafe
phrene oder depressive Symptome zum Verschwinden
bzw. deren Handlungen nicht nachvollziehbar waren und Therapie. Zum ersten Mal sprach man von „psy-
zu bringen. Dies gelang einmal auf chemischem Wege In der unmittelbaren Nachkriegszeit knüpfte man
und deren Gedankengänge fremd blieben, wurden in chischen Krankheiten“.
(Cardiazol–Krampf, gehört der Vergangenheit an) oder zunächst an die Anstaltspsychiatrie der Weimarer
früheren Zeiten mit anderen Augen betrachtet. In der
auf elektrischem Wege (Elektrokrampf-Therapie, EKT). Republik an. Mit der Einführung der ersten Neuro-
Antike glaubte man, dass das Verhältnis bestimmter
Das 19. Jahrhundert
Insbesondere die EKT stieß auf große Ablehnung, da leptika (antipsychotisch wirksamen Medikamenten,
Körpersäfte zueinander aus dem Gleichgewicht ge-
die frühen Bilder und Filme Menschen zeigten, die, mit wie z. B. „Megaphen“*, „Melleril“*) in den 50er
raten war. Man glaubte auch, diese Menschen seien Im 19. Jahrhundert emanzipierte sich die Medizin
Gurten festgebunden, unter Krämpfen zuckten und Jahren – einem Meilenstein in der Behandlung psy-
verhext, hätten sich in einem früheren Leben etwas von dem Ruf der Scharlatanerie, und das Wissen um
sich wanden. Heute erfolgt die EKT unter Vollnarkose chischer Erkrankungen - eröffnete sich das breite
zuschulden kommen lassen, seien besessen. Oder aber Krankheiten erlebte einen ungeheuren Aufschwung.
in Verbindung mit Medikamenten, die die Muskeln Feld der medikamentösen Therapie. Leider waren
sie seien Heilige, durch die die Gottheit Kontakt zu Hier war die Entdeckung der Infektionskrankheiten
entspannen. Die Wirkung erfolgt also nur dort, wo die unbestreitbaren Erfolge nur allzu oft mit unan-
den Menschen aufnehme. Je nach Ausprägung des ein wichtiger Meilenstein: Der Ergründung der Ursa-
man sie auch beabsichtigt.
Verhaltens und Dauer der Beeinträchtigung hat man che folgte nicht nur die entsprechende Behandlung,
diese Menschen entweder verehrt und im Dorf und in sondern man konnte nun auch bestimmten Krank-
genehmen Nebenwirkungen (Bewegungsstörungen,
Gewichtszunahme) verbunden. Dies hat sich erst in
Der Schatten des Nationalsozialismus
den letzten Jahren mit der Einführung einer neuen
der Familie mitversorgt, oder sie wurden eingesperrt heiten vorbeugen. Außerdem kam der Erforschung
Wirkstoffgruppe, der trizyklischen Neuroleptika, ent-
oder ausgewiesen. Auch „Behandlungen“ fanden und Klassifizierung psychischer Erkrankungen eine
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es also einerseits scheidend geändert. Mittlerweile steht uns eine große
statt, der „böse Geist“ sollte ausgetrieben werden. größere Bedeutung zu. Die wesentlichen, heute noch
große Fortschritte in der Wissenschaft, andererseits Bandbreite von Neuroleptika und Antidepressiva zur
Durch bestimmte Zeremonien sollte die Gottheit gültigen Einteilungen und Begriffe erfolgten Ende des
aber auch noch größere Rückfälle in eine nicht für Verfügung, sodass sich für beinahe jeden Menschen
besänftigt werden. Oft brachte man die Betroffenen 19. Jahrhunderts. Während man bei der Behandlung
möglich gehaltene Barbarei. Unter der Nazidiktatur ein passendes Mittel finden lässt.
auch in sogenannte Asyle oder Arbeitshäuser, weil körperlicher Erkrankungen große Fortschritte machte
waren psychisch Kranke in den Augen der Rassen-
man glaubte, dass regelmäßige Tätigkeit die Seele (u.a. erkannte man die Wichtigkeit der Hygiene bei
fanatiker gleichbedeutend mit „unwertem Leben“, Dies ist aber nur die eine Seite der Entwicklung. In
wieder mobilisiere und kräftige. In jedem Fall stan- Operationen), blieben die Behandlungsmethoden bei
und entsprechend wurden sie auch behandelt. Noch der Mitte des 20. Jahrhunderts veränderten sich ganz
den die Betroffenen immer bis zu einem gewissen seelischen Erkrankungen zunächst noch sehr begrenzt.
heute vorhandene Krankenakten aus dieser Zeit ge- allmählich auch die Behandlungsmethoden psychischer
Grad außerhalb der Gesellschaft. Man machte sich Es wurden Provinzialheilanstalten gegründet, die einer
ben einen beredten Eindruck von der Behandlung, Erkrankungen. Denn die „Anstaltspsychiatrie“ hatte
über sie lustig, begaffte sie, und zuweilen wurden großen Zahl von Patienten Schutz boten. Hier ist der
wenn im Jahr 1942 die Todesursache eines Patienten für chronisch Kranke einen sehr unangenehmen
Arzt Griesinger zu nennen, der 1845 das erste Lehrbuch
etwa auf Tuberkulose lautete. Die Ernährung wurde Nebeneffekt: Sie blieben häufig viele Jahre in einer
der Psychiatrie in deutscher Sprache vorlegte.
absichtlich knapp gehalten, viele Patienten starben solchen Klinik, da es am Wohnort keine geeignete
sie auch gequält.
Das 18. Jahrhundert
In der Zeit der Aufklärung begann man, diese psy-
12
Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis 1975
an Infektionskrankheiten, manche wurden in Lagern Unterstützung gab. So wurden sie zu Langzeitpa-
Der Beginn des 20. Jahrhunderts bis
zum 2. Weltkrieg
umgebracht. Wenn wir heute über die modernste und tienten, verloren die Fähigkeit zur selbstständigen
menschlichste Psychiatrie verfügen, die wir je hatten, Lebensführung und waren schließlich auf die Anstalt
chischen Ausnahmezustände wissenschaftlich zu
dürfen wir nie vergessen, wie dünn sich die Haut der als Lebensmittelpunkt angewiesen. In den 50er Jahren
erforschen. Eine der wichtigsten Neuerungen, die Nachdem man den Erreger der Syphilis, der bei vielen
Zivilisation über die Abgründe spannt. Wir dürfen das entstand - zunächst in England - eine Gegenbewe-
auch heute noch gilt, war die juristische Einstufung. Menschen zur sogenannten „geistigen Umnachtung“
Erreichte nicht als selbstverständlich hinnehmen, wir gung zur herkömmlichen Anstaltspsychiatrie. Man
Es wurden ein Arzt und ein Richter hinzugezogen, um führte, entdeckt hatte, boten sich ungeahnte Behand-
müssen es in jeder Generation neu bekräftigen und bemühte sich, psychisch Kranke nach Möglich-
darüber zu urteilen, ob ein solches Verhalten, wenn lungsmöglichkeiten. Mit einem Schlag gelang es, die
erarbeiten. Das heißt nicht, dass man ständig über keit dort zu behandeln, wo sie verwurzelt waren,
es strafrechtlich relevant war, in vollem Bewusstsein Ursache für eine schlimme Erkrankung zu beseitigen.
den Nationalsozialismus sprechen muss, das heißt aber sodass ein Höchstmaß an Selbstständigkeit gewahrt
13
14
bleiben konnte. Hierfür war ein breit gefächertes
Die Behandlung beschränkt sich heute also nicht mehr
therapeutisches Angebot notwendig, und so entstan-
allein auf die Gabe von Medikamenten, sondern sie
den die ersten Tageskliniken, ambulanten Dienste,
umfasst ein gut erprobtes und vielseitiges Therapie-
Wohnheime, Werkstätten, usw. Ganz allmählich
angebot. Die Patienten werden ausführlich über ihre
verbreitete sich dieses Gedankengut, nicht zuletzt im
Erkrankung informiert, sie erhalten Psychotherapie
Kontext der Geschehnisse vor und nach 1968. Dies ließ
nach Bedarf, ergänzt durch Ergotherapie und Sport,
sich jedoch nur durch einen gewissen politischen Druck
sie werden vom Sozialdienst betreut und erfahren
auf die Verantwortlichen realisieren. Am 03.10.1973
Unterstützung bei alltäglichen Anforderungen und
berichtete das „Gesundheitsmagazin Praxis“ aus
Bedürfnissen. Schon bei der Aufnahme wird eine
allen bekannten Wissenschaften: in der Biologie, die
dem Alltag einer deutschen psychiatrischen Anstalt.
therapeutische Strategie erarbeitet, die die Entlassung
Medizin muss immer zuerst praktisch helfen, erst Chemie und Physik beinhaltet, der psychologischen
Es wurden Schlafsäle mit über 30 Betten und einer
und Weiterbehandlung durch einen niedergelassenen
danach kommen die theoretische Reflexion und die Theorie und Praxis sowie sämtlichen Zweigen der
einzigen Toilette inmitten des Raumes, der besseren
Arzt, einen niedergelassenen Psychotherapeuten oder
wissenschaftliche Begründung. Die Psychiatrie blickt Sozialwissenschaften. Indem sie also alle möglichen
Überwachung wegen, gezeigt. Ärzte und Pfleger
eine Ambulanz beinhaltet. Bei möglichen Problemen
auf eine lange Erfahrung in der Diagnostik und Be- Perspektiven auf den Menschen berücksichtigt, ver-
„verwahrten“ die Patienten, von denen viele bereits
am Arbeitsplatz kann der Sozialdienst helfen; die Auf-
handlung psychischer Erkrankungen bis in die Anfänge sucht sie dem Menschen als leib-seelischer Einheit
über mehrere Jahre dort ausharrten. Die Kamera fuhr
nahme in die Tagesstätte, in das Wohnheim oder in
des 19ten Jahrhunderts zurück. Diese Erfahrung ist gerecht zu werden.
kommentarlos durch die Säle. Alles erinnerte an ein
die Werkstatt wird von der Klinik aus vorbereitet. So
die Grundlage für die heutige diagnostische Einord-
Straflager. Therapie existierte kaum, Bewegungsthera-
haben wir mittlerweile eine Situation, wo die soge-
nung der Störungen, die Therapie und das Vertrauen
pie, Psychotherapie, Ergotherapie waren unbekannt.
nannten „chronisch Kranken“ nicht mehr in Kliniken
in die Wirksamkeit der angewandten Maßnahmen.
Psychologen waren nicht anzutreffen. Die meist aus
verwahrt werden, sondern möglichst selbstständig in
In diesem Sinn unterscheidet sich die Psychiatrie in
der Kaiserzeit stammenden Anlagen waren in der Regel
der Gemeinde wohnen können, wobei sie von den
nichts von den anderen medizinischen Fachgebieten. Das, was wir „psychisch“ nennen, also z.B. die Per-
überbelegt, und so berichtete ein Pfleger, dass die Enge
Mitarbeitern des „betreuten Wohnens“, von einem
Die psychiatrische Praxis gliedert sich in die folgenden sönlichkeit, das Verhalten oder auch die „psychischen
häufig zu Aggressionen führte, die man dann mangels
ambulanten Pflegedienst, von Psychiatern und auch
drei Hauptteile:
Personal mit Medikamenten unterdrückte.
von Psychotherapeuten betreut und unterstützt wer-
(Ontogenese) und auch bei der Gattung Mensch
den. Behandlung findet nur dort statt, wo sie auch
1. die ätiologische Bemühung um die Bestimmung der (Phylogenese) aus dem Zusammenspiel von biolo-
Richtungsweisend für ein Umdenken im Umgang
nötig ist. Im Übrigen fördern wir die Selbstständigkeit
Ursachen seelischen Leidens und der Aufstellung von gischen Anlagen und sozialer Umgebung im Laufe des
mit psychisch Kranken war 1975 der Bericht der „Psy­
und Kompetenz der Patienten im Umgang mit einer
empirisch fundierten Klassifikationen seiner Ursachen Lebens. Das Neugeborene tritt zuerst in der Familie
chiatrie Enquete Kommission“, einer vom Deutschen
langwierigen Erkrankung. So lassen sich Klinikaufent-
und Formen (Psychopathologie);
Bundestag einberufenen Untersuchungskommission
halte verkürzen oder sogar vermeiden. Neben den
Mimesisprozess (Mimesis = Nachahmung, bezeichnet
zur Bestandsaufnahme der Zustände in deutschen
Aufgaben der Klinik kommt also dem sogenannten
2. die Methoden der Untersuchung oder Exploration das Vermögen, mittels einer körperlichen Geste eine
psychiatrischen Kliniken. Bis zur Umsetzung der darin
„komplementären Sektor“ eine große Bedeutung
und der nosologischen Zuordnung der Befunde oder Wirkung zu erzielen) nennen kann. Sie garantiert die
geforderten Standards vergingen aber beispielsweise
zu. Er bietet den Patienten, die eine dauerhafte
Diagnostik
im Kreis Hersfeld-Rotenburg noch nahezu 30 Jahre
Betreuung und Unterstützung benötigen, ein breit
welt. Die Kommunikation des Einzelwesens mit der
(siehe: „Psychiatriegeschichte im Landkreis Hersfeld-
gefächertes Angebot vor Ort: Tagesstätte, Wohnheim,
3. und die Therapie und die Prophylaxe psychischer Umwelt, d. h. auch mit seinen Mitmenschen, ist also
Rotenburg“). Heute erfolgt hier gerade mal „so viel
Wohnen im Verbund, betreutes Wohnen, Werkstatt,
Störungen.
institutionelle Therapie wie nötig“. Dafür stehen ein
Integrationsfachdienst, Beratungsstelle sowie diverse
stationärer Bereich, eine Tagesklinik und eine Ambulanz
Freizeitangebote.
Die Psychiatrie und der ganze Mensch
Dr. Claudio García
von Problemen sie es zu tun haben. Die gesammelte
Erfahrung fließt also in die Fachbegriffe. Theoretisch
Psychiatrie – Fachgebiet der Medizin
sucht die Praxis der Psychiatrie ihre Begründung in
Biologisches, Soziales und Psychisches
Krankheiten“, entsteht beim einzelnen Menschen
in eine Wechselbeziehung mit der Umwelt, die man
notwendige Anpassung des Individuums an die Um-
primärer Natur. Der Mensch kann schon nachahmen,
also kommunizieren, bevor er weiß, was das ist und
Wie jeder spezialisierte Beruf hat die Psychiatrie im wie es geht. Der zwischenmenschliche, mimetische
zur Verfügung. Um dies alles zu verwirklichen, benö-
Laufe ihrer Geschichte ihre eigene Sprache entwi- Prozess - Kommunikation - ist demnach vor dem In-
tigte man, zusätzlich zu Ärzten und Pflegepersonal,
ckelt, um die Fülle der Phänomene zu erfassen und dividuum da. Psychische Störungen können auf allen
eine ganze Reihe weiterer Fachleute. Bereits in der
zu ordnen, um Zusammenhänge herzustellen und Ebenen der Individualität (psychisch, körperlich, sozial)
Weimarer Republik wurde die „Arbeitstherapie“ auf-
diese zu überprüfen. Die verwendeten Begriffe sind und im zwischenmenschlichen Bereich ihren Ausgang
gebaut, zunächst in Gütersloh. Sozialarbeiter wurden
die Werkzeuge des Denkens, sie sind Abkürzungen nehmen. Da man in der Psychiatrie die sozialbedingten
erstmals in die Behandlung mit einbezogen. Aber noch
z. B. für eine Gruppe von Symptomen oder Kran- Störungen implizit als psychisch reaktive Folgeer-
1973 bemängelte das „Gesundheitsmagazin Praxis“,
kengeschichten. Spricht man also beispielsweise von scheinungen auffasst und die Gesellschaft allgemein
dass Psychologen sowie Musik- und Bewegungsthe-
einer endogenen Depression, dann können sich die mehr oder weniger als eine Konstante betrachtet,
rapeuten dringend gebraucht würden…
„Eingeweihten“ sehr genau vorstellen, mit welcher Art ergeben sich für die Praxis als eigentliche Quellen
15
psychischer Störungen grob vereinfacht die Bereiche
Psychosen selbst erhält. Die Psychopharmaka waren
bietet aber aktuell in der Behandlung einen enormen
bis dahin aufgrund rein empirischer Erfahrung thera-
therapeutischen Vorteil, da es die Voraussetzungen
peutisch eingesetzt worden und hatten, trotz damals
für eine Rehabilitation in einem Maße schafft, die
Biologische Zustände können die Ursache in der Ent-
unbekannter Wirkweise, die Lage der psychiatrischen
früher nicht gegeben war. Es stellt einen wichtigen
stehung psychischer Störungen sein, sie können auch
Patienten wahrhaftig zum Positiven »revolutioniert«.
Schritt dar, und wir wissen gegenwärtig nicht, welche
Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts hat man
nur auslösend oder pathoplastisch auswirkend sein. Mit
Damit ist natürlich nicht gemeint, dass eine Schizo-
weiteren Schritte noch folgen werden.
dieser Überlegung Rechnung getragen. So wurde
Pathoplastik ist die Umformung oder Umgestaltung
phrenie ausschließlich auf die Störung der Neuro-
die Reihenfolge der organischen, schizophrenen,
sonst gut bekannter Störungsbilder durch Faktoren
transmitter reduziert wird. Dieses Erklärungsmodell
phasischen und reaktiven psychischen Störungen
gemeint, die außerhalb dieser Störung liegen. Wenn
definiert. In derselben Reihenfolge nimmt, ausge-
z. B. in der Pubertät eine endogene Psychose auftritt,
hend vom Organischen, die kausale Beteiligung des
ist das Erscheinungsbild ein anderes, als wenn ein äl-
Biologischen als auch die Irreversibilität der Störung
terer Mensch von dieser Krankheit befallen wird. Eine
ab, und das Gewicht des Psychoreaktiven, d. h. des
biologische Veränderung, wie das organische Psycho-
psychologisch Verstehbaren wächst. Diese Ordnung
syndrom, vermag sämtliche anderen psychiatrischen
wurde Schichtenregel der Psychopathologie genannt.
Störungen in ihrem Erscheinungsbild umzuprägen.
Wichtig ist dabei, dass eine Störung auf einer Schicht
Für das Verständnis der Entstehung psychischer
natürlich eine Beteiligung oder begleitende Mitwirkung
Störungen sind die Begriffe »Neuroplastizität« und
anderer Schichten zwangsläufig nach sich zieht. So
»Migrationsstörung« sehr wichtig. Neuroplastizität ist
Wir sprechen in der Psychiatrie oft von endogenen
Anpassungen ein Beispiel für Diskontinuität dar. Bei
wird zum Beispiel eine endogene, phasische Depression
in der Entwicklung des Nervensystems die Fähigkeit
Erkrankungen, wie z.B. der endogenen Depression.
physikalisch-chemisch herbeigeführter Umstellung
(Schicht des Phasischen) durch die Persönlichkeitsart
des Körpers, Verbindungen zwischen Nervenzellen
Hat man mögliche andere Ursachen, wie z. B. Hor-
sprechen wir von exogener Determination bzw. von
des Betroffenen (aus einer Schicht des Reaktiven) indi-
(synaptische Kontakte) aufzugeben und neue auszu-
monstörungen, Tumore etc. ausgeschlossen, zeigt sich
exogener Krankheit - wird sie psychologisch erwirkt,
viduell ausgestaltet. Die Person reagiert dann ebenso
bilden, um neue und komplexere Funktionen im Lauf
ein Geschehen, das - durch irgendein Ereignis in Gang
von Reaktion oder reaktiver Störung. Liegt die Funk-
individuell auf die eigene Krankheit (Erlebnisreaktion
der Entwicklung zu ermöglichen. Neuroplastizität be-
gesetzt - willentlich vom Betroffenen nicht beeinflusst
tionsstörung in sich selbst oder in ihrem organischen
aus derselben Schicht) wie auf das veränderte Verhal-
deutet auch, dass von Noxen angegriffene oder schon
werden kann und irgendwann zum Ende kommt.
Substrakt, so sprechen wir von einer somatischen
ten der Umwelt wegen der Krankheit (auch Schicht
geschädigte Neuronen unter bestimmten Bedingungen
Bei genauer Betrachtung entdeckt man biologische
Störung. Ist diese nicht exogen, sondern anlagebe-
des Reaktiven).
ihre Funktion wiederherstellen oder regenerieren
Rhythmen, die nicht mehr koordiniert werden oder
dingt, handelt es sich um eine endogene Störung.
können. Wenn also dieser Prozess in einer frühen
sogar gegenläufig sind. Der Schlaf ist z. B. extrem ge-
Sensu stricto wird der Begriff auf phylogenetisch
Allein dieses Beispiel illustriert, wie komplex der Auf-
Entwicklungsphase eines Menschen zum Teil nicht
stört, der Antrieb ist insbesondere morgens schlecht,
erworbene Fehlsteuerungen des Gehirns bezogen,
bau einer Krankheit, in diesem Fall einer endogenen
ausreichende oder fehlerhafte Reparaturen ausführt,
manchmal ist er aber auch im Übermaß vorhanden
welche direkt und nicht über eine Organstörung die
Depression, sein kann. In der Psychiatrie kann man
könnte sich dies u. a. als ursächliches Moment in der
und es fehlt gleichzeitig die Konzentration, sodass
Psyche verändern. Abhängig von ihrer Tiefe werden
sich daher gar nicht einseitig biologisch oder sonst
Entstehung der Schizophrenien erweisen.
die betreffende Person ziellos getrieben und hilflos
sie zu funktionell-reversiblen Störungen (phasischen
auf der Station herumirrt. Wie ist dieser Begriff nun
Psychosen), die auf Neurotransmitter- und chronobio­
zu fassen?
logischen Störungen basieren oder zu neuronalen,
des Psychischen und die des Biologischen.
Die Schichtenregel
Entstehung psychischer Störungen
irgendwie einseitig einer Krankheit oder Störung nä-
16
Was ist Endogenität?
hern. Eine einseitige Betrachtung führt automatisch
Ähnliches gilt für die sogenannten Migrationsstö-
zur Überbewertung eines Aspektes gegenüber den
rungen: Darunter versteht man die normale, also
anderen. Vernachlässigt man das Biologische, kann es
physiologische Wanderung von Nervenverbänden
gefährliche Folgen für die Betroffenen haben, wenn
(Neuronenverbänden) während der embryonalen
eine mitunter schwerwiegende Krankheit übersehen
Entwicklung zu ihren endgültigen Tätigkeitsorten.
„Der Endogenitätsbegriff ist logisch und wissenschafts-
Biorhythmik in Gang gebracht werden. Sodann sind
wird. Vernachlässigt man umgekehrt die psychologische
Wenn diese Wanderungsbewegung gestört wäre,
theoretisch unentbehrlich, wie seine Verwendung in
sie autonom, wie ihre schichtentypische Gestalt und
Dimension, dann lässt man den Betroffenen mit seinen
könnte dies eventuell auch die Entstehung einiger
vielen Wissenschaften zeigt. Endogenität meint das
ihre Unerreichbarkeit für äußere Stimuli beweisen.
Sorgen, Nöten und berechtigten Anliegen allein.
psychiatrischer Krankheitsbilder erklären.
Gesamtgefüge phylogenetisch erworbener Basalrhyth-
Sie enden durch Erschöpfung des prädeterminierten
men und Reaktionsentwürfe des Nervensystems und
Fehlrhythmus“.
teils irreversiblen Veränderungen (Prozesspsycho-
Dazu Dr. García
sen) führen. Phasische Verläufe können von einem
hochemotionalen Auslöser durch Dysregulation der
Es kommt also in der Behandlung darauf an, die Schicht
Zum Schluss seien die Entdeckung der Neurotransmitter
des Endokriniums einschließlich ihrer biologischen
zu berücksichtigen, die bei der Entstehung primär ist,
und deren Rezeptoren genannt, mit denen man zum
Grundlagen und der Möglichkeit pathologischer
und dann die anderen Schichten entsprechend mit
Teil die Wirksamkeit der Psycho- und Neuropharmaka
Umschaltungen. Der Einzelne stellt in seiner zeit-
einzubeziehen.
erklären konnte und auch Hinweise auf die Genese der
lichen Identität ein Beispiel für Kontinuität, seine
17
Psychiatriegeschichte
gesundheitlichen Belange nicht an andere Instanzen
Nervenarzt tätig. Herr Dr. Berlit beschränkte sich auf
delegieren.
eine Privatpraxis, Herr Dr. Oberdahlhoff und Herr Dr.
Dahlmann, damals Chefärzte der Hainbergklinik,
Sie soll lediglich den integrativen Kern eines
waren konsiliarisch an der psychiatrischen Versor-
im Landkreis
psychiatrischen Versorgungsnetzes bilden, bei der
gung beteiligt. Am Gesundheitsamt versah Herr Prof.
die Klinik selbst das Zentrum der Behandlung der
Fünfgeld aus Marburg in Zusammenarbeit mit Frau
Hersfeld-Rotenburg
akut gefährdeten Patienten darstellt, während ein
Elke Kamm den sozialpsychiatrischen Dienst. Die
weites Netz von komplementären Einrichtungen
Arbeit der PSAG erhielt nachhaltige Unterstützung
(Beratungsstellen, Betreutes Wohnen, Wohnen im
vom damaligen Landrat, Herrn Norbert Kern, dem
Verbund, Wohnheim, Begegnungsstätte, Ergothe-
1. Kreisbeigeordneten, Herrn Dr. Günter Simon,
lag die Aufnahmepflicht für psychisch kranke Patienten
rapie, Integrationsdienst, Werkstatt mit beschützen
und dem Geschäftsführer des Kreiskrankenhauses,
dieses Kreises in Marburg, daneben fanden Patienten
Arbeitsplätzen für psychisch Kranke u. a.), niederge-
Herrn Sust.
Vor dem Zweiten Weltkrieg sah die psychiatrische Ver- auch in den Universitätskliniken Gießen, Würzburg
lassenen Psychiatern und Psychotherapeuten sowie
sorgung im Kreis folgendermaßen aus: Zuständig für und Göttingen sowie in den Krankenhäusern Haina
dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises die
die Behandlung psychisch Kranker waren die Anstalten und Merxhausen Aufnahme. Jedoch war die Behand-
Behandlung und Betreuung der übrigen Patienten
Merxhausen, Marburg, Haina und Hephata; Namen, lung zu dem Zeitpunkt dort oft „miserabel“, wie das
übernimmt. Die Aktivitäten sollen über ein flexibles
Der traurige Anlass, der die Gründung der PSAG
die in vielen Teilen der Bevölkerung auch heute noch „Gesundheitsmagazin Praxis“ in einem Beitrag vom
Konferenz-System koordiniert werden.
beschleunigte, war der Selbstmord eines Lehrers,
Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts
einen eher negativen Beigeschmack haben, da sie als Oktober 1973 feststellte, und des Weiteren bedeutete
der im Begriff stand, zur Behandlung in die Klinik
Kürzel für gesellschaftliche Ausgrenzung stehen und die große Entfernung zur Heimat während des oft lan-
Die psychiatrische Klinik soll wiederum eine sich
Hephata eingewiesen zu werden. Man war sich einig,
mit Begriffen wie „Ruhigstellen“ und „Wegsperren“ gen Aufenthaltes für die Patienten eine zunehmende
selbst stets aktualisierende Fachlichkeit in der Span-
dass nun endlich auch im Kreis ausreichende Behand-
in Verbindung gebracht werden. Mit der Machter- Entfremdung und somit eine zusätzliche Belastung. Als
nung zwischen dem täglichen Umgang mit den an-
lungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen müssten.
greifung der Nationalsozialisten brachen dann für die mit dem Bericht der Enquete-Kommission einerseits
deren medizinischen Disziplinen des Krankenhauses
Am 11.12.1982 berichtete die HZ von einer Tagung
schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft dunkle ein eklatanter Mangel beschrieben und andererseits
einerseits und den sozialen Institutionen des komple-
der DGSP und der HSEG, in deren Verlauf man sich
Zeiten an. Da sie weder als Kanonenfutter noch als auch eine neue Richtung gewiesen wurde, die die
mentären Umfelds andererseits pflegen.
an den hessischen Sozialminister wandte, um 80
Arbeitskräfte taugten, behandelte man sie wie Abfall, Vorteile einer „gemeindenahen Psychiatrie“ in den
ernährte sie nur unzureichend, ließ sie verhungern Mittelpunkt stellte, begann unmerklich, aber letztlich
stationäre und 20 teilstationäre Behandlungsplätze
Die Lage im Kreis Hersfeld-Rotenburg
oder pferchte sie in speziell dafür ausgestatteten unaufhaltsam die Entwicklung hin zu kleinen psychi-
in Hersfeld zu fordern, die am Kreiskrankenhaus
oder auch am St.-Elisabeth-Krankenhaus angesiedelt
Einrichtungen zusammen und brachte sie um. Noch atrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern
Bereits aus dem Jahr 1972 datieren Überlegungen für
heute erinnern in Hadamar Ausstellungen an diese und zu den komplementären Diensten wie Werk-
eine Neuordnung der psychiatrischen Versorgung, die
schreckliche Zeit.
stätten, Tagesstätten und Wohnheimen, also weg
neben der Errichtung einer psychiatrischen Abteilung
von den Großkliniken. Es ging um die Verwirklichung
in Fulda auch die Einrichtung einer solchen in Bad
des Grundprinzips der Gleichstellung von psychisch
Hersfeld vorsah. Hier spielten noch Überlegungen
Aber erst am 28.06.1985 vermeldete wiederum die
und körperlich Kranken. Daraus ergeben sich gleich
eine Rolle, die sich an den alten Kreisgrenzen Hers-
HZ, dass am Kreiskrankenhaus unter vorläufiger Trä-
Die Vorschläge der „Psychiatrie Enquete Kommission“ mehrere zwingende Forderungen:
feld–Rotenburg orientierten. Angeregt von der HSEG
gerschaft des LWV eine psychiatrische Abteilung als
zur Weiterentwicklung der Psychiatrie, sind heute so
(Hessische Gesellschaft für soziale Psychiatrie), Mitar-
Außenstelle des PKH Marburg eingerichtet werden
Eine moderne klinische Psychiatrie soll, vergleichbar
beitern der 1977 gegründeten Klinik am Hainberg in
solle. Gegenüber den ursprünglichen Planungen hatte
für den Ausbau der Behandlungsstätten und komple- mit den Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie,
Bad Hersfeld (Herrn Dipl.-Psych. Dr. Rainer Doubrawa,
man sich für eine Zwischenlösung mit einer Institut-
mentären Dienste, der in den folgenden 30 Jahren in HNO-Medizin u. a., in ein Allgemeinkrankenhaus
Herrn Dipl.-Psych. Dr. Dietmar Juli, Frau Dipl.-Soz.
sambulanz, 15 tagesklinischen Behandlungsplätzen
Deutschland erfolgte und im Kreis Hersfeld-Rotenburg integriert sein und nicht ausgegliedert „im Grünen“
Päd. Hiltrud Herzog-Juli), Mitgliedern der politischen
und 24 stationären Betten entschieden, wie der 1.
im Jahr 2004, also etwa 30 Jahre nach dem Bericht der liegen.
Parteien wie Herrn Dr. Teising von den Grünen,
Kreisbeigeordnete Alfred Holzhauer bekannt gab.
Kommission, zum Abschluss kam. Doch bis dahin war
dem Arbeitsamt, vertreten durch Herrn Dipl.- Psych.
Der Kreis sollte dem LWV im Schwesternwohnheim 2
Sie soll der kommunalen Zuständigkeit unterlie-
Scheerer sowie Vertretern des LWV, insbesondere
Stockwerke zur Verfügung stellen, an dessen Ausbau
wäre nicht ohne ein beträchtliches Engagement aller gen, d. h., die Kommune soll sich, wie bei anderen
Herrn Hübner, wurde 1980 die PSAG (Psychosoziale
sich das Land Hessen mit 1,7 Millionen DM beteiligen
Beteiligten möglich gewesen. Bis zur Inbetriebnahme medizinischen Disziplinen auch, für ihre psychisch
Arbeitsgemeinschaft) gegründet. Zu dieser Zeit war
wollte. Bei der bevorstehenden 3. Fortschreibung
der psychiatrischen Klinik in Bad Hersfeld im Jahr 1988 kranken Mitbürger zuständig fühlen und deren
im Kreis einzig Herr Dr. Galle als niedergelassener
des Krankenhausbedarfsplanes des Landes Hessen
Die Entwicklung seit 1975
aktuell wie damals, und sie bildeten die Richtschnur
es ein weiter Weg, und das, was wir heute vorfinden,
18
Was muss noch passieren?
werden könnten.
Nägel mit Köpfen
19
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