Dr. Falko Seegel Psychiatrie in Bad Hersfeld Geschichte, Arbeitsweise und Vernetzung 1988 - 2008 Berichte Reportagen Interviews Adressen Psychiatrie in Bad Hersfeld Geschichte · Aufgaben · Vernetzung 1988 - 2008 mit freundlicher Unterstützung der Sparkasse Bad Hersfeld-Rotenburg Dr. Falko Seegel Präambel Psychiatrie in Bad Hersfeld - Geschichte und Entwicklung 1988 - 2008 Das Buch, das Herr Dr. Seegel hier vorlegt, vereinigt als lebendige Reportage alle möglichen Themen aus unserer neuen Klinik und ihrem Umfeld, und es spannt den Bogen über zwei Jahrzehnte Psychiatrie in Bad Hersfeld. Als der Unterzeichner sich vor Jahrzehnten in seinem Ursprungsland nicht zwischen Paläontologie, Kulturanthropologie und Psychiatrie entscheiden konnte, war für die Berufswahl letztlich die Tatsache entscheidend, dass er dort de facto nur von seiner Arbeit als Arzt leben konnte. Dass er aber jemals in einem anderen Land, zumal einem, von dessen Sprache er zunächst kein einziges Wort beherrschte, eine ganze Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie mitkonzipieren, verwirklichen und leiten würde, hätte er sich nicht mal in seinen kühnsten Träumen vorstellen können. Durch die Umstände gezwungen, verließ 1. Auflage September 2008 er sein Land, gelangte nach Deutschland, nach weiteren 14 Jahren nach Bad Hersfeld, und hier leitet er nun im 20. Jahr die besagte Klinik zusammen mit engagierten Mitarbeitern aller Berufsgruppen. ISBN 978-3-00-025541-0 20 Jahre sind nun seit der Eröffnung der Psychiatrie am 01.09.1988 vergangen, ein Anlass, den wir auch mit diesem Buch feiern möchten. Es gibt uns Gelegenheit, an die Anfänge zu erinnern und auch die weitere Entwicklung zu diskutieren. Wir sind stolz auf das Erreichte, und wir freuen uns auf kritische Redaktion, Interviews und Texte Anmerkungen, Stellungnahmen und Positionen, denn nur so schreitet die Entwicklung voran. In diesem Dr. Falko Seegel Buch haben wir all diejenigen eingeladen, ihren Beitrag zu der gemeinsamen Arbeit beizusteuern, die uns seit vielen Jahren verbunden sind. Für ihre Mithilfe bedanken wir uns ganz besonders. Idee und Konzept Dr. Friedhelm Röder, Christian Wink, Dr. Falko Seegel Interviews und Text Dr. med. C. García · Konstanze García · Dr. med. Friedhelm Röder · Anja Mahrhold · Annika Pressler Constanze Hodes · Julia Gieb · Christian Schwarz · Susanne Knochenhauer · Karin Weiser · Julia Hieronymus Ulrike Göbel · Thomas Braun · Ann-Katrin Kittel · Julia Saam · Thomas Rumpf · Oliver Lange Dr. C. Garcia, Chefarzt, April 2008 Fotos Dr. Falko Seegel · E-Mail: [email protected] Grafische Gestaltung, Illustationen und Druck: WSD · Christian Wink · 91241 Kirchensittenbach Telefon 0 91 51 / 86 29 77 · Fax 0 91 51 / 86 29 79 · Internet: www.wsd-wink.de Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung vorbehalten. Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm, Internet oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors reproduziert, auf elektronische Systeme gespeichert, verarbeitet oder vervielfältigt werden. Hilfe, wenn die Psyche erkrankt Mit dem Neubau der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie verfügen wir im Landkreis HersfeldRotenburg heute über ein umfangreiches Behandlungsangebot für Menschen, die psychisch erkrankt sind. Um dieses psychotherapeutische und psychiatrische Zentrum herum hat sich im Laufe der Zeit ein weitverzweigtes Netz ergänzender Einrichtungen und Dienste angesiedelt, die zusätzliche Unterstützung anbieten. Für den Laien ist dieses psychiatrische Versorgungsnetz sehr schwer zu durchschauen, und oft prägen aus der Vergangenheit mitgeschleppte Vorurteile und antiquierte Ansichten immer noch das Bild der Psychiatrie. Dieses Buch gibt einen guten Einblick in die moderne psychiatrische Arbeit und stellt erstmals alle in der psychiatrischen Versorgung im Landkreis tätigen Einrichtungen gemeinsam vor. Patienten erzählen ihre Geschichten und Mitarbeiter schildern ihre alltägliche Arbeit, berichten von den Folgen von Erkrankungen und beschreiben Heilungsprozesse. Die Leser erhalten einen anregenden und fachlich soliden Einblick in ein Thema, das der breiten Öffentlichkeit immer noch ein wenig fremd ist. Ich wünsche dem Buch eine weite Verbreitung: Möge es zur Diskussion und zum Nachfragen anregen! Dr. Karl-Ernst Schmidt Landrat des Landkreises Hersfeld-Rotenburg Vorwort Wir haben dieses Buch geschrieben, um auf mehr als 20 Jahre Psychiatrie in Bad Hersfeld zurückzublicken, Begeisterung und ihrem Fleiß haben sie erheblich zum Gelingen des Projektes beigetragen. Sie haben um die Erlebnisse und Erfahrungen noch einmal mit einem gewissen Abstand zu betrachten und um uns Interviews geführt, verschriftet, überarbeitet und immer wieder korrigiert. Sie waren für uns ein wichtiger selbst Rechenschaft über einen Zeitraum zu geben, den wir maßgeblich mit ausgestaltet haben. Prüfstein, denn wenn es uns gelungen ist, ihnen unsere Arbeit verständlich zu machen, ist sie hoffentlich auch für andere nachvollziehbar. An dieser Stelle möchten wir uns ganz herzlich bei Thomas Braun, Julia Zu Beginn eines solchen Vorhabens erscheint alles ganz einfach: Die Geschichte, so denkt man, ist in den Göbel, Constanze Hodes, Ann-Katrin Kittel, Oliver Lange, Annika Pressler und Benjamin Tauber bedanken. Köpfen, sie braucht eigentlich nur aufgeschrieben zu werden. Beginnt man aber die Worte zu Papier zu Anja Marholdt hat während der zwei Jahre, in denen das Buch entstanden ist, neben ihrer täglichen Arbeit bringen, dann entdeckt man - wie bei einem Erkundungsgang durch vermeintlich bekanntes Gelände in der psychologischen Abteilung Interviewaufnahmen in Texte verwandelt, bearbeitet, gesammelt und - doch noch so manches Verborgene, und man stößt auf Dinge, die man übersehen hat oder die bereits redigiert; sie hat Termine vereinbart, Recherchen durchgeführt - und immer den Überblick behalten. Ulla dem Vergessen anheim gefallen sind. Was sich im Alltag Schritt für Schritt, oft über Jahre hinweg, entwi- Kremser hat den Texten ihren letzten Schliff verpasst, was mehr Arbeit war, als wir geahnt hatten. ckelt hat, erscheint nun, dicht gedrängt, sozusagen im Zeitraffer, umso erstaunlicher, und es schwindelt einem das eine oder andere Mal. Das, was wir heute vorfinden und was diejenigen, die jetzt eine Stelle in Manches lässt sich in einer knappen Zusammenfassung übersichtlich darstellen, anderes wird nur an- unserer Klinik antreten, für selbstverständlich und gegeben halten, ist das Ergebnis langer und oft zäher schaulich, wenn man Arbeitsabläufe, Begebenheiten und Erlebnisse aus dem Blickwinkel der Beteiligten Bemühungen. betrachtet. So wechseln zusammenfassende Texte mit Interviews, in denen jede Einrichtung oder Abteilung vorgestellt wird. Wo es möglich ist, kommen auch Patienten zu Wort. Bereits mit dem eigentlichen Ursprünglich wollten wir ganz bescheiden den Werdegang unserer Klinik nachzeichnen, dabei stellten wir Kernbereich psychiatrischer Tätigkeit und den dazugehörigen Institutionen haben wir die ursprünglich jedoch fest, dass die Klinik nur ein Teil eines großen Netzwerkes ist. Und so war es nur folgerichtig, die geplante Seitenzahl deutlich überschritten. anderen Bestandteile dieses Netzes, die komplementären Einrichtungen in der Stadt und im Kreis sowie die Rehabilitationseinrichtungen jenseits der Kreisgrenzen ebenfalls vorzustellen. Wir haben den niedergelassenen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten, den niedergelassenen Psychiatern, den Haus- und Fachärzten, den übrigen Stationen des Klinikums sowie den Einrichtungen Wir haben Weggefährten befragt, Zeitzeugen der turbulenten Anfänge, Mitarbeiter und Kollegen, die auch der Suchtrehabilitation und der Sozialpsychiatrischen Beratungsstelle am Gesundheitsamt kein eigenes heute noch mit uns zusammenarbeiten. Ehemalige Patienten und auch die, die sich heute noch in unserer Kapitel gewidmet. Die Rentenberatungsstelle der deutschen Rentenversicherung, das Jugendamt und die Obhut befinden, haben uns ihre Geschichten erzählt, haben darüber berichtet, was ihnen widerfahren Pflegeüberleitung haben wir auch nicht aufgeführt. Mit all diesen Personen und Institutionen arbeiten ist. Wir haben Mitarbeiter derjenigen Einrichtungen befragt, die in ständigem direkten Kontakt mit uns wir aber im Alltag häufig zusammen, die Berührungspunkte sind vielfältig, und die Kooperation ist gut. stehen, wie z. B. „die Brücke“, das „Herzberghaus“ und die Werkstatt „Lichtblick“; wir haben Betreuer Es hätte aber bei weitem den Rahmen gesprengt, ihnen in der Darstellung den Raum zu gewähren, der und Richter befragt, die Polizei, den Bürgermeister und viele mehr. So ist es uns hoffentlich gelungen, ein ihrer Bedeutung angemessen ist. So hoffen wir für Ihr Verständnis bei unserer Auswahl. lebendiges Buch zu schreiben, eine kleine Entdeckungsreise in die Vergangenheit und in die Gegenwart. Ganz nebenbei entstand auch ein psychosozialer Führer für den Kreis Hersfeld-Rotenburg mit einem Wenn es uns gelingt, beim Leser Neugierde zu wecken, wenn wir dazu anregen können, weiterzufragen, Verzeichnis aller zentralen Einrichtungen einschließlich Adressen, Kontaktmöglichkeiten etc. wäre das für uns ein schöner Erfolg. Für ein solches Projekt braucht es Ideen, Neugierde, Ausdauer, Zuversicht, Unterstützung, Mut und Humor. Ganz wichtig ist der regelmäßige Gedankenaustausch. Wir konnten während der letzten zwei Jahre alle Praktikanten der psychologischen Abteilung zur Mitarbeit gewinnen. Mit ihrer Phantasie, ihrer Dr. F. Seegel Die thematische Gliederung ... Die thematische Gliederung ... Grussworte und Danksagungen.........................................3-7 Pflege in der Psychiatrie........................................................... 97 Geschichtliches - Rückblick Epidemiologie der Schizophrenie.............................................. 99 Psychiatriegeschichte allgemein................................................ 12 Erholungskur einmal anders - Patientengeschichte................. 100 Psychiatrie und der ganze Mensch........................................... 15 Bewegungs- und Ergotherapie bei Depression........................ 103 Was ist Endogenität?............................................................... 17 Ergotherapie für Senioren...................................................... 106 Psychiatriegeschichte im Landkreis Hersfeld-Rotenburg............ 18 Urlaub von der Klinik............................................................. 106 Was hat sich in den letzten 20 Jahren geändert?...................... 24 Wer wird in der psychiatrischen Klinik behandelt?.................... 29 Was hat sich seit den 70er Jahren geändert?............................ 32 Personalentwicklung in der Psychiatrie..................................... 32 Der erste Patient - Das Leben beschreitet seltsame Wege......... 33 Heimatkunde und Psychiatrie................................................... 35 Interview mit einem Entscheidungsträger: Dr. Simon................ 49 Psychiatrie aus dem Nichts – die Anfänge 1988........................ 50 Erweiterung und Neubau 1998 - Sicht des Betriebsingenieurs...... 53 Planung einer Klinik – aus der Sicht der Mitarbeiter . ............... 56 Interview mit dem Architekten................................................. 58 Auswirkungen der Architektur auf das therapeutische Milieu .. 62 Ambulanz in der Psychiatrie Vorwort................................................................................... 66 Verschiedene Blickwinkel......................................................... 67 Ein Tag in der Ambulanz.......................................................... 69 Einsatzorte und Therapiemethoden.......................................... 75 Flexible Behandlung und Rehabilitation.................................... 75 Die Koordination der Arbeit..................................................... 76 Im Käfig der Angst - Patientengeschichte................................. 78 Angehörige unter sich.............................................................. 81 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Gespräche sind Atemzüge der Seele........................................ 98 „Rooming-in“ in der Psychiatrie............................................. 107 Sprechen macht wirklich viel aus............................................ 108 Elektrokrampftherapie........................................................... 112 Klinische Sozialarbeit.............................................................. 114 Station 2 in der Psychiatrie Vorwort................................................................................. 116 Stationsalltag......................................................................... 117 Qualifizierte Entgiftung.......................................................... 124 Psychotherapie....................................................................... 124 Station 2 - Behandlungsablauf............................................... 125 Gewalt und Aggressionen in der Psychiatrie........................... 130 Mit der Psychiatrie im Kreis unterwegs................................... 132 Eine letzte Chance - Patientengeschichte............................... 133 Bewegungs- und Ergotherapie auf Station 2.......................... 137 Tagesklinik in der Psychiatrie Vorwort................................................................................. 142 Tagesklinik - die Behandlung.................................................. 143 Zurück ins Leben finden - Patientengeschichte....................... 149 Behandlungsverlauf Depression.............................................. 153 Neue Aufgaben..................................................................... 154 Sozialdienst - Krankheit und alles was dazu kommt.................. 81 Die Fallstricke der Sprache...................................................... 156 Der Spiegel der Seele - Patientengeschichte............................. 82 Kunsttherapie in der Psychotherapie...................................... 158 Psychologie - Wenn das Gedächtnis nachlässt.......................... 83 Bipolare Störungen.................................................................. 84 Gerontopsychiatrie - eine besondere Herausforderung Seit ich wieder ein Ziel habe - Patientengeschichte................... 85 Vorwort................................................................................. 164 Blick in die Zukunft - Bevölkerungsentwicklung...................... 165 Station 1 in der Psychiatrie Die Situation alter Menschen................................................. 166 Vorwort................................................................................... 90 Interview mit Bürgermeister Boehmer.................................... 169 Stationsalltag........................................................................... 91 Stiftung Hospital Bad Hersfeld................................................ 173 Station 1 - Behandlungsablauf................................................. 93 Seniorenberatung Waldhessen............................................... 178 Die thematische Gliederung ... Die thematische Gliederung ... Psychiatrie und Justiz Flüchtlingsberatung der Diakonie........................................... 286 Vorwort................................................................................. 182 Selbsthilfegruppe „Horizont“................................................. 292 Im Gespräch mit der Polizei.................................................... 190 Ohne festen Wohnsitz Thema Bewährungshilfe......................................................... 194 Vorwort................................................................................. 296 Betreuer................................................................................. 198 Bahnhofsmission Bad Hersfeld............................................... 297 Betreuungsstelle am Landratsamt........................................... 203 Kontakt- und Beratungsstelle für Wohnungslose.................... 299 Stimmen zum Thema Betreuung - Patientengeschichte.......... 209 Komplementär im engeren Sinne im direkten Anschluss an den Klinikaufenthalt Vorwort................................................................................. 210 Tagesstätte Bad Hersfeld........................................................ 211 Patientengeschichte............................................................... 213 Werkstatt „Lichtblick“........................................................... 214 Das ambulante „Betreute Wohnen“...................................... 218 Mein Leben im Elke-Kamm-Haus - Patientengeschichte.......... 220 Wohnheim „Elke-Kamm-Haus“............................................. 222 Integrationsfachdienst IFD...................................................... 225 Psychosoziale Kontakt- und Beratungsstelle........................... 229 Was passiert nach der Klinik Vorwort................................................................................. 234 Suchtberatung der Diakonie................................................... 236 Hephata - „Herzberghaus“.................................................... 239 Rehabilitation für psychisch kranke Menschen........................ 245 Landkreis - Rehabilitation und Schwerbehinderung................ 249 Agentur für Arbeit - Beratung für Rehabilitanden................... 253 Psychiatrische Entwicklung seit 1971...................................... 259 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Interview mit den Richtern..................................................... 183 Wohnraumhilfe Bad Hersfeld e. V........................................... 304 Adressen Adressenverzeichnis............................................................... 310 Glossar Fachbegriffe und Abkürzungen.............................................. 324 Ausblick Was bringt die Zukunft?........................................................ 328 Klinik am Hainberg................................................................ 263 Historisches zur Klinik am Hainberg........................................ 267 Komplementäre Einrichtungen im weiteren Sinne Vorwort................................................................................. 268 Pro Familia - Beratungsstelle Bad Hersfeld.............................. 269 Psychologische Beratungsstelle der Diakonie.......................... 275 Frauenhaus - Frauen helfen Frauen........................................ 278 Ich bin Saskia - Geschichte einer Betroffenen......................... 283 Ich bin Aishe - Geschichte einer Betroffenen.......................... 284 10 11 Die dadurch genährte Hoffnung, eine ähnliche Ursache sehr wohl, dass man mit Mut und Entschlossenheit für Erkrankungen wie Manie, Depression oder Schi- für das lebenswerte Leben der Schwachen in unserer Psychiatriegeschichte allgemein zophrenie zu finden, erfüllte sich jedoch nicht. Man Gesellschaft eintreten sollte. Vergessen wir nicht: entdeckte aber - eher beiläufig -, dass ein bestimmtes Niemand ist vor einer psychischen Erkrankung gefeit, Salz, Lithium, einen therapeutischen und vorbeugenden wir werden alle einmal alt und auf Hilfe angewiesen Effekt hatte. Außerdem stellte man fest, dass bei Men- sein. Bis dahin können wir mit daran arbeiten, diese Vor unserer Zeit erfolgte, oder ob die Person aufgrund eines verän- schen, die an einer Anfallskrankheit litten, kurz nach Welt in einen Ort der Rücksicht und Unterstützung derten psychischen Zustandes ihr Handeln gar nicht dem Anfall schizophrene oder depressive Symptome zu verwandeln. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir in der Psych- planen und somit die Konsequenzen nicht in der aussetzten. Eine Erkenntnis, die man sich zunutze iatrie von „Krankheiten“ sprechen. Menschen, deren notwendigen Art und Weise absehen konnte. Dies machte: Man löste künstlich Anfälle aus, um schizo- Verhalten aus der Rolle fiel, die seltsam reagierten war der Beginn der Unterscheidung zwischen Strafe phrene oder depressive Symptome zum Verschwinden bzw. deren Handlungen nicht nachvollziehbar waren und Therapie. Zum ersten Mal sprach man von „psy- zu bringen. Dies gelang einmal auf chemischem Wege In der unmittelbaren Nachkriegszeit knüpfte man und deren Gedankengänge fremd blieben, wurden in chischen Krankheiten“. (Cardiazol–Krampf, gehört der Vergangenheit an) oder zunächst an die Anstaltspsychiatrie der Weimarer früheren Zeiten mit anderen Augen betrachtet. In der auf elektrischem Wege (Elektrokrampf-Therapie, EKT). Republik an. Mit der Einführung der ersten Neuro- Antike glaubte man, dass das Verhältnis bestimmter Das 19. Jahrhundert Insbesondere die EKT stieß auf große Ablehnung, da leptika (antipsychotisch wirksamen Medikamenten, Körpersäfte zueinander aus dem Gleichgewicht ge- die frühen Bilder und Filme Menschen zeigten, die, mit wie z. B. „Megaphen“*, „Melleril“*) in den 50er raten war. Man glaubte auch, diese Menschen seien Im 19. Jahrhundert emanzipierte sich die Medizin Gurten festgebunden, unter Krämpfen zuckten und Jahren – einem Meilenstein in der Behandlung psy- verhext, hätten sich in einem früheren Leben etwas von dem Ruf der Scharlatanerie, und das Wissen um sich wanden. Heute erfolgt die EKT unter Vollnarkose chischer Erkrankungen - eröffnete sich das breite zuschulden kommen lassen, seien besessen. Oder aber Krankheiten erlebte einen ungeheuren Aufschwung. in Verbindung mit Medikamenten, die die Muskeln Feld der medikamentösen Therapie. Leider waren sie seien Heilige, durch die die Gottheit Kontakt zu Hier war die Entdeckung der Infektionskrankheiten entspannen. Die Wirkung erfolgt also nur dort, wo die unbestreitbaren Erfolge nur allzu oft mit unan- den Menschen aufnehme. Je nach Ausprägung des ein wichtiger Meilenstein: Der Ergründung der Ursa- man sie auch beabsichtigt. Verhaltens und Dauer der Beeinträchtigung hat man che folgte nicht nur die entsprechende Behandlung, diese Menschen entweder verehrt und im Dorf und in sondern man konnte nun auch bestimmten Krank- genehmen Nebenwirkungen (Bewegungsstörungen, Gewichtszunahme) verbunden. Dies hat sich erst in Der Schatten des Nationalsozialismus den letzten Jahren mit der Einführung einer neuen der Familie mitversorgt, oder sie wurden eingesperrt heiten vorbeugen. Außerdem kam der Erforschung Wirkstoffgruppe, der trizyklischen Neuroleptika, ent- oder ausgewiesen. Auch „Behandlungen“ fanden und Klassifizierung psychischer Erkrankungen eine Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es also einerseits scheidend geändert. Mittlerweile steht uns eine große statt, der „böse Geist“ sollte ausgetrieben werden. größere Bedeutung zu. Die wesentlichen, heute noch große Fortschritte in der Wissenschaft, andererseits Bandbreite von Neuroleptika und Antidepressiva zur Durch bestimmte Zeremonien sollte die Gottheit gültigen Einteilungen und Begriffe erfolgten Ende des aber auch noch größere Rückfälle in eine nicht für Verfügung, sodass sich für beinahe jeden Menschen besänftigt werden. Oft brachte man die Betroffenen 19. Jahrhunderts. Während man bei der Behandlung möglich gehaltene Barbarei. Unter der Nazidiktatur ein passendes Mittel finden lässt. auch in sogenannte Asyle oder Arbeitshäuser, weil körperlicher Erkrankungen große Fortschritte machte waren psychisch Kranke in den Augen der Rassen- man glaubte, dass regelmäßige Tätigkeit die Seele (u.a. erkannte man die Wichtigkeit der Hygiene bei fanatiker gleichbedeutend mit „unwertem Leben“, Dies ist aber nur die eine Seite der Entwicklung. In wieder mobilisiere und kräftige. In jedem Fall stan- Operationen), blieben die Behandlungsmethoden bei und entsprechend wurden sie auch behandelt. Noch der Mitte des 20. Jahrhunderts veränderten sich ganz den die Betroffenen immer bis zu einem gewissen seelischen Erkrankungen zunächst noch sehr begrenzt. heute vorhandene Krankenakten aus dieser Zeit ge- allmählich auch die Behandlungsmethoden psychischer Grad außerhalb der Gesellschaft. Man machte sich Es wurden Provinzialheilanstalten gegründet, die einer ben einen beredten Eindruck von der Behandlung, Erkrankungen. Denn die „Anstaltspsychiatrie“ hatte über sie lustig, begaffte sie, und zuweilen wurden großen Zahl von Patienten Schutz boten. Hier ist der wenn im Jahr 1942 die Todesursache eines Patienten für chronisch Kranke einen sehr unangenehmen Arzt Griesinger zu nennen, der 1845 das erste Lehrbuch etwa auf Tuberkulose lautete. Die Ernährung wurde Nebeneffekt: Sie blieben häufig viele Jahre in einer der Psychiatrie in deutscher Sprache vorlegte. absichtlich knapp gehalten, viele Patienten starben solchen Klinik, da es am Wohnort keine geeignete sie auch gequält. Das 18. Jahrhundert In der Zeit der Aufklärung begann man, diese psy- 12 Die Zeit nach dem 2. Weltkrieg bis 1975 an Infektionskrankheiten, manche wurden in Lagern Unterstützung gab. So wurden sie zu Langzeitpa- Der Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum 2. Weltkrieg umgebracht. Wenn wir heute über die modernste und tienten, verloren die Fähigkeit zur selbstständigen menschlichste Psychiatrie verfügen, die wir je hatten, Lebensführung und waren schließlich auf die Anstalt chischen Ausnahmezustände wissenschaftlich zu dürfen wir nie vergessen, wie dünn sich die Haut der als Lebensmittelpunkt angewiesen. In den 50er Jahren erforschen. Eine der wichtigsten Neuerungen, die Nachdem man den Erreger der Syphilis, der bei vielen Zivilisation über die Abgründe spannt. Wir dürfen das entstand - zunächst in England - eine Gegenbewe- auch heute noch gilt, war die juristische Einstufung. Menschen zur sogenannten „geistigen Umnachtung“ Erreichte nicht als selbstverständlich hinnehmen, wir gung zur herkömmlichen Anstaltspsychiatrie. Man Es wurden ein Arzt und ein Richter hinzugezogen, um führte, entdeckt hatte, boten sich ungeahnte Behand- müssen es in jeder Generation neu bekräftigen und bemühte sich, psychisch Kranke nach Möglich- darüber zu urteilen, ob ein solches Verhalten, wenn lungsmöglichkeiten. Mit einem Schlag gelang es, die erarbeiten. Das heißt nicht, dass man ständig über keit dort zu behandeln, wo sie verwurzelt waren, es strafrechtlich relevant war, in vollem Bewusstsein Ursache für eine schlimme Erkrankung zu beseitigen. den Nationalsozialismus sprechen muss, das heißt aber sodass ein Höchstmaß an Selbstständigkeit gewahrt 13 14 bleiben konnte. Hierfür war ein breit gefächertes Die Behandlung beschränkt sich heute also nicht mehr therapeutisches Angebot notwendig, und so entstan- allein auf die Gabe von Medikamenten, sondern sie den die ersten Tageskliniken, ambulanten Dienste, umfasst ein gut erprobtes und vielseitiges Therapie- Wohnheime, Werkstätten, usw. Ganz allmählich angebot. Die Patienten werden ausführlich über ihre verbreitete sich dieses Gedankengut, nicht zuletzt im Erkrankung informiert, sie erhalten Psychotherapie Kontext der Geschehnisse vor und nach 1968. Dies ließ nach Bedarf, ergänzt durch Ergotherapie und Sport, sich jedoch nur durch einen gewissen politischen Druck sie werden vom Sozialdienst betreut und erfahren auf die Verantwortlichen realisieren. Am 03.10.1973 Unterstützung bei alltäglichen Anforderungen und berichtete das „Gesundheitsmagazin Praxis“ aus Bedürfnissen. Schon bei der Aufnahme wird eine allen bekannten Wissenschaften: in der Biologie, die dem Alltag einer deutschen psychiatrischen Anstalt. therapeutische Strategie erarbeitet, die die Entlassung Medizin muss immer zuerst praktisch helfen, erst Chemie und Physik beinhaltet, der psychologischen Es wurden Schlafsäle mit über 30 Betten und einer und Weiterbehandlung durch einen niedergelassenen danach kommen die theoretische Reflexion und die Theorie und Praxis sowie sämtlichen Zweigen der einzigen Toilette inmitten des Raumes, der besseren Arzt, einen niedergelassenen Psychotherapeuten oder wissenschaftliche Begründung. Die Psychiatrie blickt Sozialwissenschaften. Indem sie also alle möglichen Überwachung wegen, gezeigt. Ärzte und Pfleger eine Ambulanz beinhaltet. Bei möglichen Problemen auf eine lange Erfahrung in der Diagnostik und Be- Perspektiven auf den Menschen berücksichtigt, ver- „verwahrten“ die Patienten, von denen viele bereits am Arbeitsplatz kann der Sozialdienst helfen; die Auf- handlung psychischer Erkrankungen bis in die Anfänge sucht sie dem Menschen als leib-seelischer Einheit über mehrere Jahre dort ausharrten. Die Kamera fuhr nahme in die Tagesstätte, in das Wohnheim oder in des 19ten Jahrhunderts zurück. Diese Erfahrung ist gerecht zu werden. kommentarlos durch die Säle. Alles erinnerte an ein die Werkstatt wird von der Klinik aus vorbereitet. So die Grundlage für die heutige diagnostische Einord- Straflager. Therapie existierte kaum, Bewegungsthera- haben wir mittlerweile eine Situation, wo die soge- nung der Störungen, die Therapie und das Vertrauen pie, Psychotherapie, Ergotherapie waren unbekannt. nannten „chronisch Kranken“ nicht mehr in Kliniken in die Wirksamkeit der angewandten Maßnahmen. Psychologen waren nicht anzutreffen. Die meist aus verwahrt werden, sondern möglichst selbstständig in In diesem Sinn unterscheidet sich die Psychiatrie in der Kaiserzeit stammenden Anlagen waren in der Regel der Gemeinde wohnen können, wobei sie von den nichts von den anderen medizinischen Fachgebieten. Das, was wir „psychisch“ nennen, also z.B. die Per- überbelegt, und so berichtete ein Pfleger, dass die Enge Mitarbeitern des „betreuten Wohnens“, von einem Die psychiatrische Praxis gliedert sich in die folgenden sönlichkeit, das Verhalten oder auch die „psychischen häufig zu Aggressionen führte, die man dann mangels ambulanten Pflegedienst, von Psychiatern und auch drei Hauptteile: Personal mit Medikamenten unterdrückte. von Psychotherapeuten betreut und unterstützt wer- (Ontogenese) und auch bei der Gattung Mensch den. Behandlung findet nur dort statt, wo sie auch 1. die ätiologische Bemühung um die Bestimmung der (Phylogenese) aus dem Zusammenspiel von biolo- Richtungsweisend für ein Umdenken im Umgang nötig ist. Im Übrigen fördern wir die Selbstständigkeit Ursachen seelischen Leidens und der Aufstellung von gischen Anlagen und sozialer Umgebung im Laufe des mit psychisch Kranken war 1975 der Bericht der „Psy­ und Kompetenz der Patienten im Umgang mit einer empirisch fundierten Klassifikationen seiner Ursachen Lebens. Das Neugeborene tritt zuerst in der Familie chiatrie Enquete Kommission“, einer vom Deutschen langwierigen Erkrankung. So lassen sich Klinikaufent- und Formen (Psychopathologie); Bundestag einberufenen Untersuchungskommission halte verkürzen oder sogar vermeiden. Neben den Mimesisprozess (Mimesis = Nachahmung, bezeichnet zur Bestandsaufnahme der Zustände in deutschen Aufgaben der Klinik kommt also dem sogenannten 2. die Methoden der Untersuchung oder Exploration das Vermögen, mittels einer körperlichen Geste eine psychiatrischen Kliniken. Bis zur Umsetzung der darin „komplementären Sektor“ eine große Bedeutung und der nosologischen Zuordnung der Befunde oder Wirkung zu erzielen) nennen kann. Sie garantiert die geforderten Standards vergingen aber beispielsweise zu. Er bietet den Patienten, die eine dauerhafte Diagnostik im Kreis Hersfeld-Rotenburg noch nahezu 30 Jahre Betreuung und Unterstützung benötigen, ein breit welt. Die Kommunikation des Einzelwesens mit der (siehe: „Psychiatriegeschichte im Landkreis Hersfeld- gefächertes Angebot vor Ort: Tagesstätte, Wohnheim, 3. und die Therapie und die Prophylaxe psychischer Umwelt, d. h. auch mit seinen Mitmenschen, ist also Rotenburg“). Heute erfolgt hier gerade mal „so viel Wohnen im Verbund, betreutes Wohnen, Werkstatt, Störungen. institutionelle Therapie wie nötig“. Dafür stehen ein Integrationsfachdienst, Beratungsstelle sowie diverse stationärer Bereich, eine Tagesklinik und eine Ambulanz Freizeitangebote. Die Psychiatrie und der ganze Mensch Dr. Claudio García von Problemen sie es zu tun haben. Die gesammelte Erfahrung fließt also in die Fachbegriffe. Theoretisch Psychiatrie – Fachgebiet der Medizin sucht die Praxis der Psychiatrie ihre Begründung in Biologisches, Soziales und Psychisches Krankheiten“, entsteht beim einzelnen Menschen in eine Wechselbeziehung mit der Umwelt, die man notwendige Anpassung des Individuums an die Um- primärer Natur. Der Mensch kann schon nachahmen, also kommunizieren, bevor er weiß, was das ist und Wie jeder spezialisierte Beruf hat die Psychiatrie im wie es geht. Der zwischenmenschliche, mimetische zur Verfügung. Um dies alles zu verwirklichen, benö- Laufe ihrer Geschichte ihre eigene Sprache entwi- Prozess - Kommunikation - ist demnach vor dem In- tigte man, zusätzlich zu Ärzten und Pflegepersonal, ckelt, um die Fülle der Phänomene zu erfassen und dividuum da. Psychische Störungen können auf allen eine ganze Reihe weiterer Fachleute. Bereits in der zu ordnen, um Zusammenhänge herzustellen und Ebenen der Individualität (psychisch, körperlich, sozial) Weimarer Republik wurde die „Arbeitstherapie“ auf- diese zu überprüfen. Die verwendeten Begriffe sind und im zwischenmenschlichen Bereich ihren Ausgang gebaut, zunächst in Gütersloh. Sozialarbeiter wurden die Werkzeuge des Denkens, sie sind Abkürzungen nehmen. Da man in der Psychiatrie die sozialbedingten erstmals in die Behandlung mit einbezogen. Aber noch z. B. für eine Gruppe von Symptomen oder Kran- Störungen implizit als psychisch reaktive Folgeer- 1973 bemängelte das „Gesundheitsmagazin Praxis“, kengeschichten. Spricht man also beispielsweise von scheinungen auffasst und die Gesellschaft allgemein dass Psychologen sowie Musik- und Bewegungsthe- einer endogenen Depression, dann können sich die mehr oder weniger als eine Konstante betrachtet, rapeuten dringend gebraucht würden… „Eingeweihten“ sehr genau vorstellen, mit welcher Art ergeben sich für die Praxis als eigentliche Quellen 15 psychischer Störungen grob vereinfacht die Bereiche Psychosen selbst erhält. Die Psychopharmaka waren bietet aber aktuell in der Behandlung einen enormen bis dahin aufgrund rein empirischer Erfahrung thera- therapeutischen Vorteil, da es die Voraussetzungen peutisch eingesetzt worden und hatten, trotz damals für eine Rehabilitation in einem Maße schafft, die Biologische Zustände können die Ursache in der Ent- unbekannter Wirkweise, die Lage der psychiatrischen früher nicht gegeben war. Es stellt einen wichtigen stehung psychischer Störungen sein, sie können auch Patienten wahrhaftig zum Positiven »revolutioniert«. Schritt dar, und wir wissen gegenwärtig nicht, welche Bereits Anfang des letzten Jahrhunderts hat man nur auslösend oder pathoplastisch auswirkend sein. Mit Damit ist natürlich nicht gemeint, dass eine Schizo- weiteren Schritte noch folgen werden. dieser Überlegung Rechnung getragen. So wurde Pathoplastik ist die Umformung oder Umgestaltung phrenie ausschließlich auf die Störung der Neuro- die Reihenfolge der organischen, schizophrenen, sonst gut bekannter Störungsbilder durch Faktoren transmitter reduziert wird. Dieses Erklärungsmodell phasischen und reaktiven psychischen Störungen gemeint, die außerhalb dieser Störung liegen. Wenn definiert. In derselben Reihenfolge nimmt, ausge- z. B. in der Pubertät eine endogene Psychose auftritt, hend vom Organischen, die kausale Beteiligung des ist das Erscheinungsbild ein anderes, als wenn ein äl- Biologischen als auch die Irreversibilität der Störung terer Mensch von dieser Krankheit befallen wird. Eine ab, und das Gewicht des Psychoreaktiven, d. h. des biologische Veränderung, wie das organische Psycho- psychologisch Verstehbaren wächst. Diese Ordnung syndrom, vermag sämtliche anderen psychiatrischen wurde Schichtenregel der Psychopathologie genannt. Störungen in ihrem Erscheinungsbild umzuprägen. Wichtig ist dabei, dass eine Störung auf einer Schicht Für das Verständnis der Entstehung psychischer natürlich eine Beteiligung oder begleitende Mitwirkung Störungen sind die Begriffe »Neuroplastizität« und anderer Schichten zwangsläufig nach sich zieht. So »Migrationsstörung« sehr wichtig. Neuroplastizität ist Wir sprechen in der Psychiatrie oft von endogenen Anpassungen ein Beispiel für Diskontinuität dar. Bei wird zum Beispiel eine endogene, phasische Depression in der Entwicklung des Nervensystems die Fähigkeit Erkrankungen, wie z.B. der endogenen Depression. physikalisch-chemisch herbeigeführter Umstellung (Schicht des Phasischen) durch die Persönlichkeitsart des Körpers, Verbindungen zwischen Nervenzellen Hat man mögliche andere Ursachen, wie z. B. Hor- sprechen wir von exogener Determination bzw. von des Betroffenen (aus einer Schicht des Reaktiven) indi- (synaptische Kontakte) aufzugeben und neue auszu- monstörungen, Tumore etc. ausgeschlossen, zeigt sich exogener Krankheit - wird sie psychologisch erwirkt, viduell ausgestaltet. Die Person reagiert dann ebenso bilden, um neue und komplexere Funktionen im Lauf ein Geschehen, das - durch irgendein Ereignis in Gang von Reaktion oder reaktiver Störung. Liegt die Funk- individuell auf die eigene Krankheit (Erlebnisreaktion der Entwicklung zu ermöglichen. Neuroplastizität be- gesetzt - willentlich vom Betroffenen nicht beeinflusst tionsstörung in sich selbst oder in ihrem organischen aus derselben Schicht) wie auf das veränderte Verhal- deutet auch, dass von Noxen angegriffene oder schon werden kann und irgendwann zum Ende kommt. Substrakt, so sprechen wir von einer somatischen ten der Umwelt wegen der Krankheit (auch Schicht geschädigte Neuronen unter bestimmten Bedingungen Bei genauer Betrachtung entdeckt man biologische Störung. Ist diese nicht exogen, sondern anlagebe- des Reaktiven). ihre Funktion wiederherstellen oder regenerieren Rhythmen, die nicht mehr koordiniert werden oder dingt, handelt es sich um eine endogene Störung. können. Wenn also dieser Prozess in einer frühen sogar gegenläufig sind. Der Schlaf ist z. B. extrem ge- Sensu stricto wird der Begriff auf phylogenetisch Allein dieses Beispiel illustriert, wie komplex der Auf- Entwicklungsphase eines Menschen zum Teil nicht stört, der Antrieb ist insbesondere morgens schlecht, erworbene Fehlsteuerungen des Gehirns bezogen, bau einer Krankheit, in diesem Fall einer endogenen ausreichende oder fehlerhafte Reparaturen ausführt, manchmal ist er aber auch im Übermaß vorhanden welche direkt und nicht über eine Organstörung die Depression, sein kann. In der Psychiatrie kann man könnte sich dies u. a. als ursächliches Moment in der und es fehlt gleichzeitig die Konzentration, sodass Psyche verändern. Abhängig von ihrer Tiefe werden sich daher gar nicht einseitig biologisch oder sonst Entstehung der Schizophrenien erweisen. die betreffende Person ziellos getrieben und hilflos sie zu funktionell-reversiblen Störungen (phasischen auf der Station herumirrt. Wie ist dieser Begriff nun Psychosen), die auf Neurotransmitter- und chronobio­ zu fassen? logischen Störungen basieren oder zu neuronalen, des Psychischen und die des Biologischen. Die Schichtenregel Entstehung psychischer Störungen irgendwie einseitig einer Krankheit oder Störung nä- 16 Was ist Endogenität? hern. Eine einseitige Betrachtung führt automatisch Ähnliches gilt für die sogenannten Migrationsstö- zur Überbewertung eines Aspektes gegenüber den rungen: Darunter versteht man die normale, also anderen. Vernachlässigt man das Biologische, kann es physiologische Wanderung von Nervenverbänden gefährliche Folgen für die Betroffenen haben, wenn (Neuronenverbänden) während der embryonalen eine mitunter schwerwiegende Krankheit übersehen Entwicklung zu ihren endgültigen Tätigkeitsorten. „Der Endogenitätsbegriff ist logisch und wissenschafts- Biorhythmik in Gang gebracht werden. Sodann sind wird. Vernachlässigt man umgekehrt die psychologische Wenn diese Wanderungsbewegung gestört wäre, theoretisch unentbehrlich, wie seine Verwendung in sie autonom, wie ihre schichtentypische Gestalt und Dimension, dann lässt man den Betroffenen mit seinen könnte dies eventuell auch die Entstehung einiger vielen Wissenschaften zeigt. Endogenität meint das ihre Unerreichbarkeit für äußere Stimuli beweisen. Sorgen, Nöten und berechtigten Anliegen allein. psychiatrischer Krankheitsbilder erklären. Gesamtgefüge phylogenetisch erworbener Basalrhyth- Sie enden durch Erschöpfung des prädeterminierten men und Reaktionsentwürfe des Nervensystems und Fehlrhythmus“. teils irreversiblen Veränderungen (Prozesspsycho- Dazu Dr. García sen) führen. Phasische Verläufe können von einem hochemotionalen Auslöser durch Dysregulation der Es kommt also in der Behandlung darauf an, die Schicht Zum Schluss seien die Entdeckung der Neurotransmitter des Endokriniums einschließlich ihrer biologischen zu berücksichtigen, die bei der Entstehung primär ist, und deren Rezeptoren genannt, mit denen man zum Grundlagen und der Möglichkeit pathologischer und dann die anderen Schichten entsprechend mit Teil die Wirksamkeit der Psycho- und Neuropharmaka Umschaltungen. Der Einzelne stellt in seiner zeit- einzubeziehen. erklären konnte und auch Hinweise auf die Genese der lichen Identität ein Beispiel für Kontinuität, seine 17 Psychiatriegeschichte gesundheitlichen Belange nicht an andere Instanzen Nervenarzt tätig. Herr Dr. Berlit beschränkte sich auf delegieren. eine Privatpraxis, Herr Dr. Oberdahlhoff und Herr Dr. Dahlmann, damals Chefärzte der Hainbergklinik, Sie soll lediglich den integrativen Kern eines waren konsiliarisch an der psychiatrischen Versor- im Landkreis psychiatrischen Versorgungsnetzes bilden, bei der gung beteiligt. Am Gesundheitsamt versah Herr Prof. die Klinik selbst das Zentrum der Behandlung der Fünfgeld aus Marburg in Zusammenarbeit mit Frau Hersfeld-Rotenburg akut gefährdeten Patienten darstellt, während ein Elke Kamm den sozialpsychiatrischen Dienst. Die weites Netz von komplementären Einrichtungen Arbeit der PSAG erhielt nachhaltige Unterstützung (Beratungsstellen, Betreutes Wohnen, Wohnen im vom damaligen Landrat, Herrn Norbert Kern, dem Verbund, Wohnheim, Begegnungsstätte, Ergothe- 1. Kreisbeigeordneten, Herrn Dr. Günter Simon, lag die Aufnahmepflicht für psychisch kranke Patienten rapie, Integrationsdienst, Werkstatt mit beschützen und dem Geschäftsführer des Kreiskrankenhauses, dieses Kreises in Marburg, daneben fanden Patienten Arbeitsplätzen für psychisch Kranke u. a.), niederge- Herrn Sust. Vor dem Zweiten Weltkrieg sah die psychiatrische Ver- auch in den Universitätskliniken Gießen, Würzburg lassenen Psychiatern und Psychotherapeuten sowie sorgung im Kreis folgendermaßen aus: Zuständig für und Göttingen sowie in den Krankenhäusern Haina dem Sozialpsychiatrischen Dienst des Landkreises die die Behandlung psychisch Kranker waren die Anstalten und Merxhausen Aufnahme. Jedoch war die Behand- Behandlung und Betreuung der übrigen Patienten Merxhausen, Marburg, Haina und Hephata; Namen, lung zu dem Zeitpunkt dort oft „miserabel“, wie das übernimmt. Die Aktivitäten sollen über ein flexibles Der traurige Anlass, der die Gründung der PSAG die in vielen Teilen der Bevölkerung auch heute noch „Gesundheitsmagazin Praxis“ in einem Beitrag vom Konferenz-System koordiniert werden. beschleunigte, war der Selbstmord eines Lehrers, Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts einen eher negativen Beigeschmack haben, da sie als Oktober 1973 feststellte, und des Weiteren bedeutete der im Begriff stand, zur Behandlung in die Klinik Kürzel für gesellschaftliche Ausgrenzung stehen und die große Entfernung zur Heimat während des oft lan- Die psychiatrische Klinik soll wiederum eine sich Hephata eingewiesen zu werden. Man war sich einig, mit Begriffen wie „Ruhigstellen“ und „Wegsperren“ gen Aufenthaltes für die Patienten eine zunehmende selbst stets aktualisierende Fachlichkeit in der Span- dass nun endlich auch im Kreis ausreichende Behand- in Verbindung gebracht werden. Mit der Machter- Entfremdung und somit eine zusätzliche Belastung. Als nung zwischen dem täglichen Umgang mit den an- lungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen müssten. greifung der Nationalsozialisten brachen dann für die mit dem Bericht der Enquete-Kommission einerseits deren medizinischen Disziplinen des Krankenhauses Am 11.12.1982 berichtete die HZ von einer Tagung schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft dunkle ein eklatanter Mangel beschrieben und andererseits einerseits und den sozialen Institutionen des komple- der DGSP und der HSEG, in deren Verlauf man sich Zeiten an. Da sie weder als Kanonenfutter noch als auch eine neue Richtung gewiesen wurde, die die mentären Umfelds andererseits pflegen. an den hessischen Sozialminister wandte, um 80 Arbeitskräfte taugten, behandelte man sie wie Abfall, Vorteile einer „gemeindenahen Psychiatrie“ in den ernährte sie nur unzureichend, ließ sie verhungern Mittelpunkt stellte, begann unmerklich, aber letztlich stationäre und 20 teilstationäre Behandlungsplätze Die Lage im Kreis Hersfeld-Rotenburg oder pferchte sie in speziell dafür ausgestatteten unaufhaltsam die Entwicklung hin zu kleinen psychi- in Hersfeld zu fordern, die am Kreiskrankenhaus oder auch am St.-Elisabeth-Krankenhaus angesiedelt Einrichtungen zusammen und brachte sie um. Noch atrischen Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern Bereits aus dem Jahr 1972 datieren Überlegungen für heute erinnern in Hadamar Ausstellungen an diese und zu den komplementären Diensten wie Werk- eine Neuordnung der psychiatrischen Versorgung, die schreckliche Zeit. stätten, Tagesstätten und Wohnheimen, also weg neben der Errichtung einer psychiatrischen Abteilung von den Großkliniken. Es ging um die Verwirklichung in Fulda auch die Einrichtung einer solchen in Bad des Grundprinzips der Gleichstellung von psychisch Hersfeld vorsah. Hier spielten noch Überlegungen Aber erst am 28.06.1985 vermeldete wiederum die und körperlich Kranken. Daraus ergeben sich gleich eine Rolle, die sich an den alten Kreisgrenzen Hers- HZ, dass am Kreiskrankenhaus unter vorläufiger Trä- Die Vorschläge der „Psychiatrie Enquete Kommission“ mehrere zwingende Forderungen: feld–Rotenburg orientierten. Angeregt von der HSEG gerschaft des LWV eine psychiatrische Abteilung als zur Weiterentwicklung der Psychiatrie, sind heute so (Hessische Gesellschaft für soziale Psychiatrie), Mitar- Außenstelle des PKH Marburg eingerichtet werden Eine moderne klinische Psychiatrie soll, vergleichbar beitern der 1977 gegründeten Klinik am Hainberg in solle. Gegenüber den ursprünglichen Planungen hatte für den Ausbau der Behandlungsstätten und komple- mit den Abteilungen für Innere Medizin, Chirurgie, Bad Hersfeld (Herrn Dipl.-Psych. Dr. Rainer Doubrawa, man sich für eine Zwischenlösung mit einer Institut- mentären Dienste, der in den folgenden 30 Jahren in HNO-Medizin u. a., in ein Allgemeinkrankenhaus Herrn Dipl.-Psych. Dr. Dietmar Juli, Frau Dipl.-Soz. sambulanz, 15 tagesklinischen Behandlungsplätzen Deutschland erfolgte und im Kreis Hersfeld-Rotenburg integriert sein und nicht ausgegliedert „im Grünen“ Päd. Hiltrud Herzog-Juli), Mitgliedern der politischen und 24 stationären Betten entschieden, wie der 1. im Jahr 2004, also etwa 30 Jahre nach dem Bericht der liegen. Parteien wie Herrn Dr. Teising von den Grünen, Kreisbeigeordnete Alfred Holzhauer bekannt gab. Kommission, zum Abschluss kam. Doch bis dahin war dem Arbeitsamt, vertreten durch Herrn Dipl.- Psych. Der Kreis sollte dem LWV im Schwesternwohnheim 2 Sie soll der kommunalen Zuständigkeit unterlie- Scheerer sowie Vertretern des LWV, insbesondere Stockwerke zur Verfügung stellen, an dessen Ausbau wäre nicht ohne ein beträchtliches Engagement aller gen, d. h., die Kommune soll sich, wie bei anderen Herrn Hübner, wurde 1980 die PSAG (Psychosoziale sich das Land Hessen mit 1,7 Millionen DM beteiligen Beteiligten möglich gewesen. Bis zur Inbetriebnahme medizinischen Disziplinen auch, für ihre psychisch Arbeitsgemeinschaft) gegründet. Zu dieser Zeit war wollte. Bei der bevorstehenden 3. Fortschreibung der psychiatrischen Klinik in Bad Hersfeld im Jahr 1988 kranken Mitbürger zuständig fühlen und deren im Kreis einzig Herr Dr. Galle als niedergelassener des Krankenhausbedarfsplanes des Landes Hessen Die Entwicklung seit 1975 aktuell wie damals, und sie bildeten die Richtschnur es ein weiter Weg, und das, was wir heute vorfinden, 18 Was muss noch passieren? werden könnten. Nägel mit Köpfen 19