Der erste Klavierunterricht

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Didaktik
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Der erste
Klavierunterricht
Frieda Loebensteins Lehrwerk als Anregung
für einen gelungenen Start im Anfangsunterricht Klavier
Eva Erben
Frieda Loebenstein – wer ist das?
So oder ähnlich fällt häufig die
Reaktion aus, wenn der Name der
nahezu in Vergessenheit geratenen
Musikpädagogin ins Spiel kommt.
Selbst in Fachkreisen weiß kaum
jemand, dass Frieda Loebenstein
(1888-1968) durch ihre Tätigkeit als
Dozentin für Klaviermethodik am
Seminar für Musikerziehung an der
Hochschule für Musik in Berlin von
1926 bis 1933 das Reformwerk Leo
Kestenbergs maßgeblich unterstützt
und mitgestaltet hat.
Der erste Klavierunterricht erschien 1927 mit
dem vielversprechenden Untertitel „Ein Lehrgang zur Erschließung des Musikalischen im
Anfangsklavierunterricht“.1 Das aus Schülerheft und Lehrerkommentar bestehende Unterrichtswerk ist, wie die Autorin betont, aus
der Praxis heraus entstanden und für die Arbeit mit sieben- bis zehnjährigen Kindern bestimmt.2
Ausgewählte Textpassagen, die allesamt der
„Ausgabe A für Lehrer“ entnommen sind, sollen zum einen aufmerksam machen auf die
Musikpädagogin Frieda Loebenstein, deren
klavierpädagogischer Ansatz es aufgrund seiner innovativ anmutenden Forderungen zur
Unterrichtsgestaltung und -methodik wert ist,
heute wieder neu entdeckt zu werden. Zum
anderen sollen sie zum Nachdenken anregen
über Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit
der Einstieg ins Klavierspiel vom Gelingen
geprägt ist. Zum dritten laden sie ein, die eigene Standortbestimmung als InstrumentalpädagogIn neu zu überdenken.
FREUDE AM LERNEN
UND LEHREN
„Das Kind, das den Weg zur ersten Klavierstunde antritt, sieht sich vor den Toren einer
Welt, in der alles Singen und Klingen ist. Hier
wird es nun eintreten und wie die andern seine Lieder und Stückchen spielen. Alles in ihm
ist glückliche Erwartung. Es ist des Musikleh-
rers heiligste Aufgabe, diese Erwartung zu
erfüllen. Jede Musikstunde muß so erwartet
werden. Jede Musikstunde soll ein Fest sein
für Lehrer und Kinder. Eine Feierstunde, zu
der sie kommen, in der sie musizieren, spielen und im Musizieren und Spielen in das
Wesen der Kunst immer tiefer eindringen.“3
Um diesen Zustand tiefen Glücksempfindens
beim Klavieranfänger, der Klavieranfängerin
über lange Zeit aufrechtzuerhalten, braucht
es InstrumentalpädagogInnen, die – mit den
Worten des Journalisten und Filmemachers
Reinhard Kahl gesprochen – ins Gelingen verliebt sind,4 die begeistert bei der Sache sind
und mit Hingabe unterrichten. Dann erlebt
auch das Kind die Klavierstunde als etwas
Wertvolles, das Freude macht und Glücksmomente verheißt. Es spürt das Aufgehen im
eigenen Tun, den Zustand also, den wir heute gemeinhin als Flow bezeichnen.5 Erkenntnisse aus der Neurobiologie bestätigen, dass
derartige Erfahrungen Kinder stark und lebenstüchtig machen. Der bekannte Hirnforscher Gerald Hüther formuliert es treffend:
„Kinder, die so etwas erleben dürfen, sind
glücklich, nicht weil sie eine besondere Leistung erbracht haben und dafür Lob und Anerkennung bekommen, sondern weil sie sich
selbst in ihrer eigenen Lust am Tätig- und Lebendigsein erfahren.“6 Dies gilt natürlich in
gleicher Weise für den Pädagogen und die
Pädagogin.
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UNTERRICHTSFORM
„Hieraus ergibt sich notwendigerweise eine
Verteilung des Unterrichtsstoffes auf zwei
Wochenstunden. Die eine Stunde muß Einzelunterricht sein (eine halbe bis ganze Stunde).
Hier wird nur pianistisch gearbeitet (Technik,
Stücke). Die zweite Stunde soll Gruppenstunde sein. Hier wird das Gehör gebildet, gemeinschaftlich gesungen, es werden Lernspiele gespielt, Musikdiktate gegeben und
Improvisationen versucht.“7
Frieda Loebenstein hält Einzel- wie Gruppenunterweisung gleichermaßen für wichtig und
sinnvoll. Während das Klavier im Einzelunterricht den Status eines Solo-Instruments erhält, steht in der Gruppenstunde das gemeinsame musikalische Lernen unter Einbeziehung
des Klaviers im Vordergrund.8 Hier bietet
sich den SchülerInnen die Möglichkeit zum
Austausch sowie zur gegenseitigen Anregung
und Förderung. Zudem ist die praktische
Ausführung von Abzählversen, Kreisspielen
oder das Singen eines Kanons – als Beispiele für im Einzelunterricht zu erarbeitende
Spielstücke – nur in der Gruppe möglich und
sinnstiftend. In diesem Sinne stellt die Gruppenstunde eine wertvolle Bereicherung hinsichtlich der Intensität musikalischer Erlebnisse dar. Jeder Schüler, jede Schülerin sollte
deshalb vom allerersten Anfang an in den
Genuss beider Unterrichtsformen kommen.
INNERE
KLANGVORSTELLUNG
„Grundsatz: Hieraus muß die Forderung erwachsen, daß Auge und rechnender Verstand
(wie sie im Erfassen von Notenlinie, Intervall,
Akkordstufe, Takt, Form in Funktion treten)
im Anfangsunterricht für das Aufnehmen des
Stoffes nicht die in Frage kommenden Faktoren sind, sondern allein das musikalische Ohr.
Für das Klavier umgedeutet: Es wird kein Ton
gespielt, der nicht gehörsmäßig erfaßt ist.“9
Aus diesem Grundsatz folgt konsequenterweise, dass die Ausbildung des relativen Gehörs im Anfangsunterricht bei Frieda Loebenstein das zentrale Lernfeld darstellt. Es verwundert demnach nicht, dass sie in ihrem
Lehrwerk Der erste Klavierunterricht durchgängig mit der Tonika-Do-Lehre10 arbeitet,
ein Konzept, das für das Erfassen von Melodien die auch gegenwärtig wieder an Aktualität gewinnende relative Solmisation nutzt
und im rhythmischen Bereich die Verwen-
dung einer Rhythmussprache vorsieht. Für
die Entwicklung einer inneren Klangvorstellung stellt Frieda Loebenstein zudem verschiedene Übungsformen vor: Hörübungen,
Spielübungen, Singeübungen, Singe-Spielübungen, Hör-Spielübungen, Improvisation,
das Musikdiktat (melodisch und rhythmisch)
und das Transponieren von Spielstücken.
Hier fordert sie Methodenvielfalt und appelliert an die Kreativität und den Einfallsreichtum der Lehrperson.
Hilfreich bei der Ausbildung des „inneren Hörens“ ist nach Loebenstein außerdem das sogenannte „stumme Spiel“ auf dem Tisch, das
sich später bei Peter Heilbut wiederentdecken lässt.11 Das Spielen auf dem Tisch,
verbunden mit dem gleichzeitigen Singen der
Solmisationssilben, soll der Ausführung auf
dem Klavier vorausgehen. Nur so sei gewährleistet, dass der „im innern Klangbewußtsein
gebildete Ton“ eine „freie, ungehemmte Wiedergabe durch die Finger“12 erfährt.
EINFÜHRUNG IN DIE
NOTENSCHRIFT
„Das Kind kann die Stücke so lange gehörsmäßig erarbeiten und üben, als die Melodie
liedartig und leicht zu singen ist, und die Begleitung durchgängig die gleiche Form aufweist. Ist die Begleitung beispielsweise aus
mehreren Formen zusammengesetzt oder
durch Pausen unterbrochen, so ist eine Notierung, Verwendung des Notensystems, unvermeidlich. Auch das Verarbeiten der polyphonen Stücke verlangt eine Aufzeichnung.“13
Die Einführung in die Notenschrift erfolgt bei
Frieda Loebenstein in drei aufeinander aufbauenden Schritten:
1. Elementarstufe: Die Musikstücke werden
mit Hilfe der in der Tonika-Do-Lehre gebräuchlichen Silbenschrift notiert und gelesen,
nachdem sie gehörsmäßig erfasst wurden.
Relativ früh werden die Namen der weißen
Tasten eingeführt, um beim Spiel in verschiedenen Tonarten den Grundton benennen zu
können und somit die Kommunikation zu erleichtern.
2. Unterstufe: Verwendung findet nun die relative Notation im Do-Schlüssel14 innerhalb
des traditionellen Liniensystems. Wie bei den
Übungen zum relativen Hören soll beim relativen Lesen der Melodiefluss erfasst und das
„Buchstabieren“ einzelner isolierter Noten
vermieden werden.
3. Mittelstufe: Der ansteigende Schwierigkeitsgrad der zu spielenden Stücke erfordert
den Übergang zur absoluten Notation. Der
Schüler, die Schülerin ist nun mit dem Prozess des Erkennens der den Noten innewohnenden musikalischen Bewegungskräfte soweit vertraut, dass „die [absolute] Benennung der Noten seine Art des ‚Notenlesens‘
nicht mehr unterbricht“.15
Der Übergang zur jeweils nächsten Stufe der
Verschriftlichung von Musik erfolgt also erst,
wenn dies die zunehmende Komplexität der
zu spielenden Stücke bzw. der spieltechnische Entwicklungsstand des Schülers oder
der Schülerin erfordert.
LERNEN IM SPIEL
„Ihre erste Anwendung finden die bisher gelernten Töne in Rufen und Abzählreimen. […]
Ist so zunächst durch diese mehr spielerische Art das musikalische Geschehen an die
Kinder herangetragen, dann ist es an der
Zeit, sie in die einzelnen Zusammenhänge
der Gebiete einzuführen. Schon im kleinsten
musikalischen Gebilde wirken alle Elemente
der Musik. In der Singzeile lassen sich melodische, harmonische und rhythmische Kräfte
nachweisen. In […] Rufen und Reimen ist melodische, harmonische, rhythmische und formale Struktur deutlich zu erkennen.“16
Dass Instrumentalunterricht ohne Spielanteile das Traurigste ist, was einem Lernenden
passieren kann,17 war bereits Frieda Loebenstein bewusst. Neben Rufen, Abzählreimen
und Kreisspielen, die im Unterricht tatsächlich mit der Gruppe gespielt wurden, finden
in ihrem Lehrwerk folgende weitere Ausprägungen von Spiel Berücksichtigung:
Bewegungsspiele, die dem Erfassen der
Form eines Musikstücks (z. B. Kanon) oder
der Vermittlung musiktheoretischer Inhalte
(z. B. Durchgangstöne, Vorhalt, Modulation)
dienen. Letztere werden im Lehrerheft als
„Übungsspiele“ bezeichnet.
Fröbelspiele des Tonika-Do-Bundes wie z. B.
Taktlegespiel, Würfelspiel oder Lieder-Quartettspiel.
Anschauungsmittel der Tonika-Do-Lehre,
die methodisch vielfältig angeboten werden.
Im Klavierunterricht nutzt Frieda Loebenstein
Handzeichen, Solmisationssilben, Silbentafel, Wandernote,18 Taktsprache, Tonika-DoHefte19 und Linientafel.
Der spielerische Umgang mit Musik und der
Einsatz von Lernmaterialien helfen, abstrakte
Lerninhalte durch konkretes Handeln im
wahrsten Sinne des Wortes erlebbar zu machen und anschaulich darzubieten.
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Diese Auszüge aus dem Unterrichtswerk Der
erste Klavierunterricht von Frieda Loebenstein
mögen einen Einblick geben in eine Lehrweise, deren Sinn und Zweck die Autorin mit folgenden Worten zusammenfasst: „[D]er Schüler, bei dessen Unterweisung auf jeder Stufe
die Ausbildung des Gehörs der Ansatzpunkt
ist, vermag nun auch, nach Gehör zu spielen
und Formen zu erfinden. Er steht seinem
Instrument nicht mehr als etwas Fremdem
gegenüber, auf dem er nur eben die eingelernten Stücke spielt, sondern er verwächst
mit ihm, kann sich frei auf ihm bewegen, er
gelangt zu einer höheren, geistigen Erfassung
der Musik und des musikalischen Kunstwerks
und damit zu einem wahrhaften Musizieren.“20 Ein anspruchsvolles, allzu oft unerreichtes Ziel, das es nach wie vor anzustreben gilt!
19 Das Tonika-Do-Heft kann man sich ähnlich wie ein
Rechenheft vorstellen. Ein Kästchen entspricht dem
Grundschlag, also ‚ta‘. In ihrem Tonika-Do-Heft schrieben die SchülerInnen sowohl die im Unterricht gehörsmäßig erarbeiteten Spielstücke als auch rhythmische
und melodische Diktate sowie eigene Erfindungen mit
Hilfe der Silbenschrift selbstständig auf.
20 Frieda Loebenstein: „Tonika-Do als Grundlage für
den Klavierunterricht“, in: Mitteilungen des TonikaDo-Bundes, Nr. 4/5, 1926, S. 14.
Eva Erben
ist Diplom-Musiklehrerin für Elementare
Musikpädagogik und Klavier und unterrichtet an der Musikschule in Kitzingen.
1 Frieda Loebenstein: Der erste Klavierunterricht. Ein
Lehrgang zur Erschließung des Musikalischen im Anfangsklavierunterricht, Ausgabe A für Lehrer, Ausgabe B
Notenheft für Schüler, Berlin-Lichterfelde 1927.
2 Frieda Loebenstein: Der erste Klavierunterricht. Ein
Lehrgang zur Erschließung des Musikalischen im Anfangsklavierunterricht, Ausgabe A für Lehrer, BerlinLichterfelde 21928, S. 4 und 24.
3 ebd., S. 5.
4 Reinhard Kahl: Individualisierung – das Geheimnis guter Schulen, Archiv der Zukunft, Hamburg 2011, S. 113.
5 Eine Reihe von methodischen Impulsen, die eine derartige Unterrichtsatmosphäre entstehen und erleben
lassen, findet sich in: Ulrich Mahlert: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht,
Mainz 2011, S. 271-281.
6 Herbert Renz-Pölster/Gerald Hüther: Wie Kinder heute
wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick
auf das kindliche Lernen, Fühlen und Denken, Weinheim
2013, S. 72.
7 Loebenstein 1928, S. 6.
8 Die Gruppenstunde im Verständnis von Frieda Loebenstein ist demnach nicht vergleichbar mit dem gegenwärtig an Musikschulen angebotenen instrumentalen
Gruppenunterricht. Frieda Loebenstein sieht die Gruppenstunde nicht als Ersatz bzw. Alternative, sondern
vielmehr als notwendige Ergänzung zum Einzelunterricht.
9 Loebenstein 1928, S. 9.
10 Eine ausführliche Darstellung von Inhalten und Zielen der Tonika-Do-Lehre findet sich in: Martin Losert:
Die didaktische Konzeption der Tonika-Do-Methode.
Geschichte – Erklärung – Methoden, Augsburg 2011.
11 vgl. Peter Heilbut: Klavier spielen. Früh-Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis,
Mainz 1993, S. 252 f.
12 Loebenstein 1928, S. 28.
13 ebd., S. 64.
14 Der Do-Schlüssel markiert die Position des Grundtons innerhalb des Notenliniensystems.
15 Loebenstein 1928, S. 124.
16 ebd., S. 14 f.
17 „Warum ist Instrumentalunterricht ohne Spielanteile
das Traurigste, was einem Lernenden passieren kann?“
So heißt es provokativ im Klappentext des kürzlich erschienenen Buchs: Barbara Busch (Hg.): Spielraum
Instrument und Stimme. Neue Studientexte zur Instrumentalpädagogik, Augsburg 2014.
18 Die Wandernote besteht aus einem mit einem Holzgriff versehenen dünnen Metallstab, an dessen oberem
Ende ein aus Blech ausgestanzter Notenkopf befestigt
ist. Sie diente dem Zeigen von Melodien auf der Linientafel.
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