"Möglicherweise lag Newton falsch"

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"Möglicherweise lag Newton falsch"
aktualisiert am 11.05.2009, 9:39 Uhr | Von Boris Hänßler, Spiegel Online
Ein Foto des Weltraumteleskops Hubble zeigt die Kollision zweier
Galaxien (Foto: Reuters)
Die Dunkle Materie ist für Astronomen Rätsel und Hilfe zugleich: Bisher wurde sie noch nie direkt
nachgewiesen, doch ohne sie scheint das All nicht funktionieren zu können. Die Galaxien etwa müssten
von der Fliehkraft ihrer Rotation zerrissen werden, würde man die Dunkle Materie nicht voraussetzen.
Rund 23 Prozent der Gesamtmasse des Universums soll sie ausmachen, im Februar 2008 meldeten
Wissenschaftler gar den indirekten Nachweis des mysteriösen Stoffs. Doch ist es möglich, dass es ihn gar nicht
gibt? Seit einiger Zeit wächst die Zahl der Physiker, die die Existenz Dunkler Materie anzweifeln. Als Alternative
bieten sie an, die Newtonsche Gravitationstheorie zu modifizieren - was unter Astronomen einer Blasphemie
gleichkommt.
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Angriff auf Newton
Die Standard-Kosmologie geht davon aus, dass die Gravitation überall im Universum dem Newtonschen
Gravitationsgesetz und der allgemeinen Relativitätstheorie gehorcht. "Möglicherweise lag Newton aber falsch",
sagt Pavel Kroupa vom Argelander-Institut für Astronomie (AIfA) der Universität Bonn. "Seine Theorie beschreibt
zwar die Alltagseffekte der Schwerkraft auf der Erde, die wir sehen und messen können. Die tatsächliche Physik
hinter der Gravitation kennen wir aber vielleicht gar nicht."
Nachbarn der Milchstraße im Test
In Artikeln, die im "Astrophysical Journal" und den "Monthly Notices" der britischen Royal Astronomical Society
erschienen sind, zweifeln die Forscher die Allgemeingültigkeit von Newtons Gesetzen an. Kroupas Team
untersuchte mit Wissenschaftlern um Gerhard Hensler, dem Leiter des Astronomischen Instituts der Universität
Wien, und Helmut Jerjen von der Australian National University die Satellitengalaxien der Milchstraße. Dabei
handelt es sich um Zwerggalaxien, die teilweise nur ein paar tausend Sterne enthalten.
Satellitengalaxien scheinen Newton nicht zu gehorchen
"Unsere statistischen Untersuchungen zeigen, dass die Verteilung der Satellitengalaxien völlig inkonsistent ist mit
der Vorhersage der Standard-Kosmologie", sagt Jerjen. Demnach müssten die Satellitengalaxien gleichmäßig um
die Milchstraße verteilt sein, doch die 30 bekannten liegen alle mehr oder weniger in derselben Ebene: Sie sind
rechtwinklig zur Milchstraße wie in einer Art Scheibe angeordnet.
"Gezeitenarme" der Hauptgalaxien
Die Forscher nehmen an, dass die Satellitengalaxien in einer frühen Phase des Universums aus Kollisionsresten
entstanden sind. Zwei stießen zusammen und bildeten den sogenannten Bulge, den kugelartigen Zentralbereich
unserer Milchstraße. Bei einer derartigen Kollision entstehen Gezeitenarme, da die Anziehung der ersten Galaxie
auf die zweite auf der einen Seite stärker ist als auf der anderen - beide werden auseinandergezogen. In den
Gezeitenarmen bilden sich kleine Satellitengalaxien.
Dunkle Materie, wo laut Newton keine sein dürfte
Sie können gemäß der Standardtheorie keine Dunkle Materie enthalten. "Die Sterne in den jetzt untersuchten
Satelliten bewegen sich aber viel schneller, als sie es nach den Berechnungen dürften", sagt Kroupas Kollege
Manuel Metz. "Als Ursache kommt aus klassischer Sicht nur die Anwesenheit Dunkler Materie in Frage." Ein
Widerspruch - es sei denn, man nimmt an, dass wesentliche Grundlagen der Physik bislang falsch verstanden
wurden.
"Modifizierte Newtonsche Dynamik"
"Wahrscheinlich leben wir in einem nicht-Newtonschen Universum", sagt Kroupa. "Wenn diese Annahme stimmt,
lassen sich unsere Beobachtungen auch ohne Dunkle Materie erklären." Kroupa und seine Kollegen gehen davon
aus, dass in Bereichen von Galaxien, in denen extrem schwache Beschleunigungen herrschen, eine "Modifizierte
Newtonsche Dynamik" ("Mond") gilt.
Ist Dunkle Materie unnötig?
Eine Version der Theorie wurde 1983 von Mordehai Milgrom vom Weizmann-Institut in Israel entworfen und von
Astronomen meist belächelt. Sie führte eine neue Naturkonstante in Newtons Theorie ein, um die
Gravitationskräfte in Galaxien ohne Dunkle Materie zu erklären.
Warum fliegen die Sterne nicht "aus der Kurve"?
Laut Newtons Gravitationsgesetz müsste das Tempo, mit der Sterne um das Zentrum ihrer Galaxie kreisen,
abnehmen, je weiter sie vom Zentrum entfernt sind. Die Realität sieht allerdings anders aus: Die Geschwindigkeit
bleibt gleich oder nimmt sogar zu. Dennoch werden die Sterne an den Rändern der Galaxien nicht von der
Fliehkraft aus der Kurve getragen, wie es laut Newton eigentlich geschehen müsste. Deshalb gehen die meisten
Astrophysiker davon aus, dass die Gravitation der Dunklen Materie die Galaxien zusammenhält. Der "Mond"Ansatz aber besagt, dass in diesen kosmischen Regionen eine Veränderung des Newtonschen
Gravitationsgesetzes einsetzt.
"Vielleicht sind wir alle auf dem falschen Weg"
Ob die Thesen aus den beiden aktuellen Studien sich auch auf andere Bereiche des Universums übertragen
lassen, muss sich noch zeigen. Simon White, Direktor des Max-Planck-Instituts für Astrophysik in Garching, ist
skeptisch. "Bis jetzt gibt es keine Modifikation der Gravitationsgesetze, die die gesamte Palette an
Beobachtungen im Universum erklären kann", sagt der britische Astrophysiker. "Vielleicht sind wir alle auf dem
falschen Weg, aber die Alternativen sind nicht sehr attraktiv."
Größte Masse steckt in unsichtbaren Teilchen
Selbst an Kroupas Institut sieht man die Modifizierte Newtonsche Dynamik kritisch. Thomas Reiprich, Leiter einer
Forschungsgruppe, die Dunkle Materie in Galaxienhaufen untersucht, verweist auf die Beobachtungen der
vergangenen Jahre im Bullet-Cluster. Dabei handelt es sich um zwei kollidierende Galaxienhaufen, die derzeit als
einer der besten Beweise für die Existenz Dunkler Materie gelten. Im Bullet-Cluster sammelt sich Gas nicht, wie
eigentlich anzunehmen wäre, um die erkennbar größere Masse. "Das kann man am einfachsten damit erklären,
dass die meiste Masse in Teilchen ist, die man nicht sieht, also in Dunkler Materie." Dennoch sei es wichtig, den
von Kroupa gefundenen Diskrepanzen zur Standardtheorie genau nachzugehen.
Neue Ausrichtung der Kosmologie möglich
Außerdem gebe es Untersuchungen, nach denen die Modifizierte Newtonsche Dynamik" auch im Bullet-Cluster
funktioniere, sagt Kroupa. Der Galaxienhaufen Abell 520 etwa verhalte sich praktisch umgekehrt zum BulletCluster. Kroupa glaubt deshalb, dass die neuen Forschungsresultate die Ausrichtung der Kosmologie verändern
könnten: "Wenn das richtig ist, was wir hier gefunden haben, wäre der ganze Aufwand um die schwarze Materie
für die Katz'."
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