„Staat und Gesellschaft können in die falschen Hände fallen“ Ein Gespräch mit Dr. Bernd Brunemeier (geb. 1943), Abiturient des Jahrganges 5 unserer Schule und langjähriges Mitglied des NRWLandtages aus BI-Brackwede Redakteur: Herzlich willkommen zurück im Westfalen-Kolleg! Herr Brunemeier, beschreiben Sie bitte Ihr Gefühl, heute als Goldabiturient, der vor 50 Jahren seine Matura erworben hat, hier in der Schule zu stehen. Dr. Brunemeier: Das ist schwer zu beschreiben. Man hat jetzt ein wenig das Gefühl, dass das Leben an einem vorbeizieht. Das ist emotional schon kippelig. So ein langer Zeitraum, der verstrichen ist – ein merkwürdiges Gefühl! Redakteur: Erinnern Sie sich an die allererste Zeit am Kolleg? Dr. Brunemeier: Als ich am „Institut zur Erlangung der Hochschulreife“ anfing, 1963, war das unter extrem schwierigen Bedingungen. Es gab zwei Gebäude, die in jeder Hinsicht unzulänglich waren. Alles war noch viel kleiner. Dr. Heller und Herr Strackhoff [erster Schulleiter und Mitglied des ersten Lehrerkollegiums; Anm. d. Redaktion] haben damals buchstäblich Pioniertätigkeit geleistet und uns mit grossem Engagement einen Weg gebahnt. Redakteur: Nach dem Abitur und Studium waren Sie wissenschaftlich tätig, haben promoviert, haben in der Schule gearbeitet, haben aber dann doch eine politische Laufbahn eingeschlagen, die Sie für die SPD bis in den nordrhein-westfälischen Landtag geführt hat. Dabei haben Sie sich immer für den Zweiten Bildungsweg und speziell für das elternunabhängige Bafög eingesetzt. Eine Konsequenz Ihrer eigenen Erfahrungen im ZBW? Dr. Brunemeier: Ja, denn mir wurde bewusst, dass der Zweite Bildungsweg in doppelter Hinsicht notwendig ist. Zum einen in gesellschaftlicher Hinsicht: Der Zweite Bildungsweg erschließt eine gesellschaftliche Bildungsreserve, die für uns alle unverzichtbar ist. Und zum anderen auf individueller Ebene: Der Zweite Bildungsweg macht den Weg frei für berufliche und persönliche Bildungsperspektiven, dient der Selbstverwirklichung. Das halte ich bis heute für grundlegend wichtig. Redakteur: Aus Gesprächen mit Studierenden weiß ich, dass viele in der Kollegzeit eine z.T. erhebliche Neuausrichtung ihres Lebens erfahren. Das geht so weit, dass einige im Laufe der drei Jahre sogar Freundschaften und Beziehungen verlieren, die bislang wichtig waren und neue aufbauen. Einige Studierende müssen sich regelrecht gegen ihr familiäres Umfeld wehren, das ihren Bildungsplänen zunächst mit Skepsis und Unverständnis gegenübersteht. „Was – du willst studieren?“ Auch neue Tagesabläufe und ggf. Ortswechsel muss man erstmal verkraften. Ging das Ihnen auch so? Dr. Brunemeier: Nein. Bei mir gab es eher eine Kontinuität bei Freunden und Familie. Die Menschen, die für mich ganz wichtig waren und sind, standen hinter meinen Bildungswünschen. Da gab es ein hohes Maß an familiärer und freundschaftlicher Zustimmung. Redakteur: Was hat sich aus Ihrer Sicht im ZBW bis heute am stärksten verändert? Dr. Brunemeier: Nun, der Personenkreis hat doch stark gewechselt im Laufe der Zeit. Zum Beispiel haben die Frauen später, nach unserer Zeit, das gleiche beansprucht wie wir. Zu unserer Zeit war das eine Männerdomäne mit wenigen Frauen. Aber dennoch – die Grundsituation hat sich nicht verändert. Redakteur: Mir fällt als Lehrer heute auf, dass nur vergleichsweise wenige Studierende heute bereit sind, sich wie Sie in Parteien, Gewerkschaften, Vereinen zu engagieren. Klaus Hurrelmann sprach von der „Generation Y“, den „Egotaktikern“, die sich immer fragen: was kommt dabei für mich heraus? Selbst die Mitgliedschaft im Förderverein des Kollegs mit monatlich 50 Cent Beitrag wird von immer weniger Studierenden als solidarischer Beitrag zu Projekten, Exkursionen usw. gesehen, sondern als einschränkende Verbindlichkeit interpretiert. Auch eine Politikskepsis macht sich breit. Dass Parteien die anstehenden Probleme lösen können, bezweifeln viele. Was würden Sie aus Ihrer Erfahrung heraus diesen skeptischen jungen Erwachsenen antworten? Dr. Brunemeier: Das sind Ausreden! Ich sehe eine Großzahl von Menschen, die damals, in den 70er- und 80er-Jahren Mitglieder in politischen Parteien geworden sind. Das war damals ganz selbstverständlich. Ich würde den jungen Erwachsenen antworten: Parteien und zivilgesellschaftliche Gruppen sind Teilhabegremien dieser Gesellschaft. Wenn sich Demokraten in ihr nicht engagieren, tun es andere. Bedenken Sie: Staat und Gesellschaft können in die falschen Hände fallen. Redakteur: Im vergangenen Jahr zeigte das Historische Museum Bielefeld die Ausstellung „Linksruck“ über die 1968er-Rebellion hier in der Region. War die Atmosphäre an den Schulen, an den Hochschulen Mitte und Ende der 60er-Jahre aus Ihrer Sicht wirklich so politisierend? Dr. Brunemeier: Ja, extrem. Ich habe im Sommersemester 1968 an der Uni Bochum angefangen zu studieren. Ich musste buchstäblich über Barrikaden steigen, um in den Hörsaal zu gelangen. An der Uni gab es allein 10 bis 15 marxistische Gruppen, die alle über Revolution redeten und sich gegenseitig anfeindeten. Ich wollte aber keine Revolution, ich wollte studieren - meinen politischen Beitrag habe ich parallel zum Studium in der Bielefelder Kommunalpolitik geleistet. Dennoch weiß ich heute, dass wir der Studentenbewegung insgesamt viel zu verdanken haben, denn es war ja auch eine Befreiungsbewegung, irgendwie musste man weg vom Muff der Adenauerzeit. Redakteur: Herr Brunemeier, wir danken Ihnen für das Gespräch. Das Gespräch führte Christian Boldt-Mitzka, AG Öffentlichkeitsarbeit. (06.05.15)