4 _ Alice Salomon Alice Salomon wurde am 19.April 1872 in Berlin geboren. Am 30. August 1948 starb sie im Alter von 76 Jahren in New York. Zwischen diesen beiden Ereignissen liegt ein Leben, das im bürgerlichen deutschen Kaiserreich begann und sich formierte, den Ersten Weltkrieg erlebte, genauso wie Revolution und Weimarer Republik. Die Nazis trieben sie 1937 ins Exil. Dort erlebte sie den Untergang des „Dritten Reiches“. Nach Deutschland kehrte Alice Salomon nicht mehr zurück. Die Lebensdaten der Alice Salomon sind bekannt, die wichtigsten Stationen im Anhang aufgelistet. In dem Bemühen, Alice Salomons handlungstheoretischen Ansatz zu verstehen – im Rahmen dieser Arbeit kann es dabei nur um Ansätze eines Verstehens gehen – soll hier, ganz im Sinne von Max WEBER, den Gründen des subjektiv gemeinten Sinns nachgegangen werden, die „Verhalten“ erst zu „Handeln“ machen. Und mit LUHMANN wird hier angenommen, dass sich Sinn durch die Betrachtung der jeweils getroffenen Entscheidungen unter Voraussetzung eines gewissen Möglichkeitshorizontes („wir haben immer die Wahl“) annäherungsweise erschließt (vgl. zur sinnverstehenden Methode in der Sozialphilosophie z.B. Horster 2005). Beschreibungen und Fingerzeige „Ihre Lieblingsgestalten waren Florance Nightingale und Jane Addams. Ihnen fühlte sie sich im Innersten wahlverwandt und das mit Recht; denn sie hatte mit beiden wesentliches gemeinsam“ (Peyser 1958, S.11). Mit F. Nightingale teilte Alice Salomon (vgl. Peyser 1958, S.11): Die Schaffung eines (Frauen-)Berufes Das Leiden unter der „Nutzlosigkeit einer bürgerlichen Jugend und Lebensform“ Die Notwendigkeit den eigenen Weg „in die Freiheit eines tätigen Lebens“ erkämpft haben zu müssen Einen tiefen „religiösen Idealismus verbunden mit einer realistischen Organisationsgabe auf sozialem Gebiet“ Ein „unerschöpflicher Tätigkeitsdrang“ Mit J. Addams verband sie ein ähnlicher Werdegang im sozialen Tätigkeitsfeld (vgl. Peyser 1958, S.12): Alice Salomon begann als Mitglied der „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ in Berlin Alice Salomon entwickelte sich zu einer international anerkannten Repräsentantin der sozialen Arbeit und v.a. der sozialen Berufsausbildung Alice Salomon war eine wichtige Vertreterin der internationalen Frauenbewegung „Wenn ich ihre hervorstechendste Fähigkeit mit einem Wort bezeichnen soll, so würde ich sagen: sie war ein `Verwirklicher´“ (Peyser 1958, S.12). „Alice Salomon war körperlich zart und anfällig“ (Peyser 1958, S.12). „Sie war eine bürgerliche Frau ihrer Generation, eine Dame im besten Sinne, und hielt an allem, was an ihrer sozialen Herkunft wertvoll war – Wohnkultur, anregende Geselligkeit, Interesse an Kunst und Wissenschaft – ihr Leben lang fest.“ (Peyser 1958, S.13) „Für Gertrud Bäumer war Salomon die wichtigste Protagonistin des `großstädtischen geistigen Sozialismus´“ (Kuhlmann 2000, S.45). Charlotte Dietrich über Alice Salomon: Sie habe es verstanden, „die im Menschen liegenden Kräfte zu wecken“ (Dietrich nach Kuhlmann 2000, S.45). Biographische Aspekte Autoren die sich mit der Biographie Alice Salomons beschäftigen teilen ihren Lebensweg meist in folgende Beschreibungszeiträume ein (hier z.B. nach Berger 1998): 1872-1892 1893-1918 1919-1932 1933-1948 Elternhaus, Kindheit und Jugend Von der Gründung der „sozialen Gruppen“ zu Alice Salomons Tätigkeit im „Nationalen Frauendienst“ Vom Einsatz für die internationale Frauenbewegung und für die professionelle Bildung der Frauen bis zu Alice Salomons 60. Geburtstag Von der Entlassung aus allen öffentlichen Ämtern und Alice Salomons Emigration bis zu ihrem Tode Je nach biografischem Schwerpunkt wird die eine oder andere Phase genauer beleuchtet. Hier soll der Blick auf Alice Salomons Kindheit und Jugend, sowie auf ihre „Lehrjahre“ gerichtet werden. Kindheit und Jugend Alice Salomon war Tochter eines wohlhabenden bürgerlichen Ehepaares. Vater Albert Salomon entstammte einer Kaufmannsfamilie, die seit Anfang des 18. Jahrhunderts in Norddeutschland ansässig und als Juden unter dem Schutz Friedrich des Großen standen. In der dritten Generation betrieb Albert Salomon zusammen mit seinen Brüdern einen Lederhandel (vgl. Peyser 1958, S.13). Die Mutter Anna geb. Potocky-Nelken entstammte einer Breslauer Bankiersfamilie. Alice Salomon war die zweite von vier Töchtern. Sie hatte noch einen Bruder. Alice erhielt ihren Namen nach „Alice“, der Großherzogin von Hessen, einer Tochter der Queen Victoria (vgl. Peyser 1958, S.14). Das Leben das die Familie lebte, war ein bürgerliches: ein Leben in „hochherrschaftlicher Wohnung“ und Garten, wohlbehütet und fernab von den Arbeitervierteln Berlins. Der Vater war ein Mann mit liberaler Gesinnung und viel unterwegs (vgl. Kuhlmann 2000, S.49). Die Mutter erzog Alice „konservativbürgerlich“ (Peyser 1958, S.15). Obwohl die Familie jüdisch war, spielte Religion im Hause Salomon keine große Rolle (vgl. Kuhlmann 2000, S.50). Es wurden die christlichen Feste gefeiert (vgl. Kuhlmann 2000, S.252). „Das Judentum war für die Mutter eine Sache der Tradition, die man hätte erhalten sollen, wozu sie aber den Mut nicht hatte“ (Peyser 1958, S.15). Alice Salomon besuchte eine christlichkonfessionelle Schule. Allerdings wurde - als sie etwa zehn Jahre alt war - noch einmal versucht, Alice und ihren Schwestern das Judentum mittels eines orthodoxen Hauslehrers näher zu bringen. Der Versuch scheiterte (vgl. Peyser 1958, S.16). Mit dem Tod ihres Vaters begann sich das Leben von Alice Salomon zu verändern. Alice war mit der Schule fertig und die Familie zog in eine kleinere Wohnung. Sie führte das Leben einer „höheren Tochter“. Diesem „Nichtstun“ versuchte sich Alice Salomon zu entziehen. Sie wollte Lehrerin werden. Das lehnte die konservative Familie von Alices Mutter und vor allem ihr Onkel als ihr Vormund ab. Doch sie ließ sich nicht von ihrem Streben nach „mehr“ (als das Warten auf die Ehe) abbringen. So bereitete sie sich erst heimlich und dann durch den Besuch des Viktoria-Lyzeums auf weitere Herausforderungen vor. Der Grund für ihr Engagement nach Bildung war, so PEYSER, „ihr Suchen nach dem Sinn des Lebens“ (Peyser 1958, S.18), der sich nicht ohne weiteres von den Eltern auf die Kinder dieser Zeit übertrug (vgl. Salomon in Berger 1998, S.18). LANDWEHR sieht in dieser Situation des Wartens verallgemeinernd „die latente Bereitschaft bürgerlicher Frauen zu einem sozialen Engagement“ begründet (vgl. Landwehr 1981, S.18). Lehrjahre (1893-1899) Nachdem Alice Salomon 1893 volljährig wurde, erreichte sie die Einladung zur Gründungsversammlung der „Mädchen und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, die am 5.Dezember 1893 im Bürgersaal des Berliner Rathauses stattfand. Die Initiative zu dieser Veranstaltung ging aus von einem Komitee der 1892 in Berlin gegründeten „Gesellschaft für ethische Kultur“. Ihm gehörten „eine Anzahl von, in Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege, führende Berliner Persönlichkeiten“ an, darunter Mitglieder des „Vereins für Sozialpolitik“ und Vertreterinnen der Frauenbewegung (vgl. Landwehr 1981, S.19). Einen Überblick über die Initiatoren und Sponsoren (Auswahl) der „Gruppen“ gibt Abb.1 im Anhang. Die „höheren Töchter“ befanden sich im Wartestand. Ihre Aktivierung sollte einen sich abzeichnenden Bedarf an qualifizierten Helferinnen decken helfen und damit den bürgerlichen Bestrebungen zur Lösung der sozialen Frage zu gute kommen und gleichzeitig zur Profilierung der Frauenbewegung beitragen (vgl. u.a. Landwehr 1981, S.18f; Peyser 1958, S.22f). Kommuniziert wurde im Aufruf an die jungen Mädchen und Frauen die Notwendigkeit zu „ernster Pflichterfüllung am Dienste der Gesamtheit“. Um „Emanzipationsbestrebungen“ ging es bei den „Gruppen“ explizit nicht (Peyser 1958, S.20). Als Motiv zur Mitwirkung diente die (Selbst-) Zuschreibung einer Schuld, aus der eine Pflicht zum Engagement erwachsen müsse: „Der wirtschaftliche und kulturelle Notstand in großen Bevölkerungsschichten des Vaterlandes, die zunehmende Verbitterung innerhalb weiter Kreise des Volkes, rufen auch die Frauen gebieterisch zu sozialer Hilfstätigkeit auf. Es darf nicht länger verkannt werden, dass gerade die Frauen und jungen Mädchen der besitzenden Stände vielfach eine schwere Mitschuld trifft, jene Verbitterung durch den Mangel an Interesse und Verständnis für die Anschauungen und Empfindungen der unbemittelten Klassen, durch den Mangel jedes persönlichen Verkehrs mit diesen Volkskreisen gesteigert zu haben“ (Peyser 1958, S.20). Im Zentrum stand allerdings nicht, so PEYSER, eine „Wohltätigkeit“, sondern planvolles Handeln aus dem „Pflichtgefühl für die Gemeinschaft“ heraus. Dafür wurden die jungen Mädchen und Frauen, die ihre Aufgabe ehrenamtlich erfüllten, ausgebildet (vgl. Peyser 1958, S.22). Alice Salomon arbeitete einmal wöchentlich in einem Mädchenhort und machte auch Hausbesuche (vgl. Berger 1998, S.22f). Neben der Arbeit hatte vor allem die Begegnung Alice Salomons mit Jeanette Schwerin nachhaltige Wirkung auf ihre Persönlichkeitsentwicklung. Schwerin wurde für Alice Salomon zur mütterlichen Freundin und „geistigen Führerin“ (Peyser 1958, S.27). Jeanette Schwerin war Mitgründerin der „Berliner Gesellschaft für ethische Kultur“, Mitglied des Berliner Vereins „Frauenwohl“ und seit 1896 im Vorstand des „Bundes deutscher Frauenvereine“. Die Arbeit der „Gesellschaft für ethische Kultur“ war richtungsweisend: Frauen waren, im Gegensatz zur Gesellschaft, gleichberechtigte Partnerinnen. Es wurde eine Reform der privaten Wohltätigkeit geplant, in deren Mittelpunkt Aufklärung und Beratung stehen sollten. Die „Gesellschaft“ realisierte dieses Konzept mit der „Auskunftsstelle der Gesellschaft für ethische Kultur“ (später: „Zentrale für private Fürsorge“) (vgl. Peyser 1958, S.25). „Das Vorbild für die `Gesellschaft für ethische Kultur´ waren in Amerika gegründete Gemeinden, in denen Denker dieser philosophischen Richtung [englischer Positivismus und Darwinistische Entwicklungstheorie; M.J.] die Begriffe einer humanen Ethik in volkstümlicher Weise lehrten. Der Hauptgedanke war, `dass in dem Wohlfahrtsprinzip die Grundlage für das genetische Verständnis der sittlichen Regeln und der Maßstab für den Wert alles praktischen Verhaltens gewonnen wird´. Man hatte erkannt, `dass ethische Kultur der Individuen und Reform der sozialen Zustände einander wechselseitig fordern und bedingen´, und glaubte, `an die Realisierbarkeit eines unbedingten sozialen Gleichgewichts und einer allgemeinen Wohlfahrt auf Erden´“ (Peyser 1958, S.25). Über Frau Schwerin erhielt Alice Salomon Zugang zu sozialkritischer Literatur. Sie las Tolstoi, Disraeli, Ward, Besant, Goethe und insbesondere Thomas CARLYLE und John RUSKIN. „Frau Schwerin bestand darauf, dass Alice Salomon nicht in ihrer Tätigkeit aufging, sondern sich durch Lesen ihr eigenes soziales Weltbild formte“ (Peyser 1958, S.27). Von der „Settlement“-Bewegung erfuhr Alice Salomon ebenfalls von Frau Schwerin. Bei ihrem Aufenthalt in London besuchte sie „Toynbee-Hall“. Die „Settlements of University Men in Great Towns“ waren durchzogen von den Ideen der Engländer CARLYLE und RUSKIN, die dadurch in praktische Reformen umgesetzt werden sollten. Während für CARLYLE die Zusammengehörigkeit der Klassen und damit die Einheit der Gesellschaft als ein organisches Ganzes mit wechselseitig voneinander abhängigen Teilen ein wichtiges Thema war, zielte RUSKIN mit seiner Arbeit auf die besondere soziale Verantwortung der oberen für die unteren Klassen in der Gesellschaft. Zur Begründung dieser persönlichen Verantwortung der Wohlhabenden gegenüber den Besitzlosen bezog sich RUSKIN auf die christliche Sozialethik (vgl. Sachße 2003, S.113-116). Bei der Umsetzung der Reformen spielte die intellektuelle und politische Elite eine besondere Rolle. Sie sollte die Klassenspaltung durch persönlichen Kontakt mit den Armen überwinden helfen, ihnen Bildung und Kultur geben und dabei ganz allgemein ihre Probleme kennen und verstehen lernen (vgl. Sachße 2003, S.116). „Nicht Geldspenden und Reformprogramme [...] würden von den Armen dringend benötigt, sondern persönliche Begegnung, Freundschaft, Verständnis für ihre Situation“ (Sachße 2003, S.117). Hier zeigten sich die Ansätze, die auch den „Gruppen“ zur Richtschnur wurden. Neben einem Überblick über die aktuellen Reformströmungen in Europa eröffnete Jeanette Schwerin Alice Salomon auch den Zugang zur nationalen und internationalen Frauenbewegung. Als „rechte Hand“ von Frau Schwerin, reiste Alice Salomon 1898 nach Hamburg zur Tagung des „Bundes Deutscher Frauenvereine“, wo sie erfolgreich ihre Jungfernrede hielt und später, als Vertretung für Frau Schwerin, nach London zum Kongress des „Internationalen Frauenbundes“ reiste (vgl. Berger 1998, S.24). Mit dem Tode von Jeanette Schwerin am 14. Juli 1899 verlor Alice Salomon ihre Mentorin und die „Gruppen“ ihre Vorsitzende. Auf Anraten des Stadtrats Münsterbergs wurde Alice Salomon, die ehemalige Schriftführerin, zur Nachfolgerin ernannt. Die Grundlagen waren gelegt, der Weg vorgezeichnet. Und Frau Salomon erhielt die Bewegung, festigte und entwickelte sie, „energisch und mit Erfolg“ (vgl. Peyser 1958, S.35). Als Meilensteine ihres Einsatzes für Schaffung einer beruflichen Tätigkeit in der Wohlfahrtspflege sind zu nennen (vgl. z.B. Landwehr 1981): 1899 die Organisation und Koordination eines Jahreskurses zur Vorbereitung der Frauen als Herzstück einer zukünftigen Profession Sozialer Arbeit; 1908 die Eröffnung der Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg mit einer dreijährigen Ausbildung zur sozialen Berufsarbeit; 1917 Vorsitz der von ihr begründeten Konferenz Sozialer Frauenschulen in Deutschland; 1925 die Gründung der Deutschen Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit; 1929 Gründung und Vorsitzende des Internationalen Komitees sozialer Schulen. Parallel war Alice Salomon in der Frauenbewegung sehr engagiert, auch international. FEUSTEL weist in ihrer Würdigung Alice Salomons auf deren vielseitige Engagements hin, die sie „initiativ, aufklärend und innovativ“ ausfüllte. Sie war Lehrerin und Schulleiterin, Publizistin (LANDWEHR nennt 27 Buchveröffentlichungen und 247 Zeitschriftenbeiträge), Wissenschaftlerin (Promotion in Nationalökonomie 1906 über die ungleiche Entlohnung von Männern und Frauen), Politikerin (national und international) und Rednerin. Einordnung SACHSSE sieht im Werk und Engagement Alice Salomons die Verknüpfung eines Konzepts vom „sozialen Frieden“ mit dem Konzept einer „geistigen Mütterlichkeit“ als „spezifische Emanzipationsvorstellung des gemäßigten Flügels der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland“ (Sachße 2003, S.121). Diese geistige Mütterlichkeit bestand aus einem spezifischen mütterlichen Wesen, das einen „bewahrenden, hegenden und pflegenden Charakter“ hatte. Damit war die bürgerliche Frau, nach SACHSSE, in der besonderen Lage, die Gegensätze zwischen den sozialen Klassen im „direkten persönlichen Kontakt mit den Schwestern der unteren Volksklassen“ zu überbrücken und so an der „Herstellung des Volksganzen“ zu wirken (Sachße 2003, S.121).