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Corinna Schirmer
Subsistenzwirtschaft. Nutzgärten zur Selbstversorgung
„Bei Kartoffeln, Gemüse und Obst überwiegend Selbstversorger. Bei Fleisch Teilselbstversorger: Ziegen, Karnickel und Hühner“1, so beschreibt eine 68-jährige Hausfrau aus KölnHürth Anfang der 1980er Jahre beispielhaft für viele andere Haushalte die Beschaffung der
Nahrungsmittel in ihrer Familie seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts.
Erfragt wurden diese Angaben durch eine Fragebogenerhebung aus dem Jahre 19822 deren
Ziel es war, die Nahrungsgewohnheiten der Rheinländer_innen zu erforschen. Welche Nahrungsmittel gehören zum Alltag? Welche werden nur zu besonderen Anlässen genutzt? Werden sie selber produziert oder eingekauft – Eigenanbau, Tante Emma-Laden oder Supermarkt?
Nahrungsaufnahme, -beschaffung und -zubereitung lassen sich als soziale Totalphänomene
einordnen3 – eine Analyse entsprechender Daten, wie der in der Fragebogenerhebung „Nahrung und Speise nach 1900“ gesammelten, kann somit auch Rückschlüsse auf Gesellschaften
und Identitäten geben4: Was kocht der „Rheinländer an sich“? Ersetzt Sushi den Kölner_innen
bald Himmel und Äad?
Fragen wie diesen sollte anhand der Umfrage nachgegangen werden. Kritisch merkten die
Wissenschaftler jedoch selber an: „Der Leitfaden ist sehr umfangreich und dadurch unübersichtlich“5 zudem seien „die verschiedenen Punkte nicht so klar abgegrenzt“6 und „[m]anche
Formulierungen […] unklar“7.8 Hinzu kommt, dass die Antworten durch die Erinnerung der
Gewährspersonen geprägt sind – diese Umfrage „spiegelt [somit] eine transformierte und
1
Landschaftsverband Rheinland – Amt für Landeskunde und Regionalgeschichte/Volkskunderat Rhein-Maas:
Fragebogenerhebung „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“. 2013.1443.032a. In: Landschaftsverband
Rheinland – Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Rheinisches Volkskundearchiv. Bonn 1982.
2
Vgl. Heizmann, Berthold: Die rheinische Mahlzeit. Zum Wandel der Nahrungskultur im Spiegel lokaler Berichte.
Köln 1994, S. 12.
3
Neuloh, Otto/Teuteberg, Hans Jürgen: Psychosoziale Ursachen des Fehlverhaltens in der Ernährung. In: Deutsche
Gesellschaft für Ernährung (Hg.): Ernährungsbericht 1976. Frankfurt a.M. 1976, S. 395-445.
4
Vgl. Hirschfelder, Gunter: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute.
Frankfurt a.M. 2001, S. 9-20. Siehe auch: Assmann, Aleida: Zum Problem der Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leviathan 2/1993, S. 237-253.
5
Heizmann, Berthold: Die rheinische Mahlzeit. Zum Wandel der Nahrungskultur im Spiegel lokaler Berichte.
Köln 1994, S. 12.
6
Ebd.
7
Ebd.
8
Vgl. Schirmer, Corinna: Zum Wert volkskundlicher Fragebogenerhebungen aus kulturanthropologischer Sicht.
Eine Analyse am Beispiel der Befragung „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“. [Ms., unveröffentlicht].
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ausgewählte Realität wider.“9 Trotz aller Kritik können die Wissenschaftler_innen die Quellen einordnen und für ihre Untersuchungen nutzen:
So stellte sich beispielsweise heraus, dass sich landwirtschaftliche Betriebe in der Regel selber versorgten, es im Rheinland aber auch in nicht-landwirtschaftlichen Haushalten selbstverständlich war, dass man die wichtigsten Nahrungsmittel selber produzierte. „Nichtlandwirte
hatte[n] einige Ziegen, Hühner, Kaninchen. Im Garten wurden Kartoffeln und Gemüse für den
Eigenbedarf gezogen.“10
Sofern es möglich war, wurde ein Nutzgarten zum Anbau von Obst und Gemüse bewirtschaftet. Oftmals wurde dort auch Kleinvieh gehalten, wenn möglich sogar ein oder zwei Schweine
oder Kühe. So konnte in diesen Haushalten die Versorgung mit Milch- und sogar Fleischprodukten gesichert werden. Die Familie konnte durch einen solchen Nutzgarten weitestgehend
autark leben, sogar „Bio-Düngung aus Kaninchenmist aus der Kleintierhaltung war selbstverständlich.“11
Die Produkte, die nicht selbst produziert werden konnten, wurden bei landwirtschaftlichen
Betrieben oder auf Märkten zugekauft, beispielsweise „im Frühjahr Saatgut und Pflänzchen
für den eigenen Garten.“12 Ebenso kauften all jene zu, die keinen Nutzgarten zur Verfügung
hatten13: „auf dem Markt [kauften] nur [,] die nichts im Garten hatten“14.
Üblich war auch, in Form der Subsistenzwirtschaft, Waren untereinander zu tauschen, sodass
die selbst erwirtschaftete Produktpalette erweitert werden konnte.
Diese finanzielle Entlastung sorgte zudem oftmals dafür, dass mehr Raum für andere Investitionen war und so in guten Zeiten der Lebensstandard nicht nur gehalten sondern sogar erhöht
werden konnte.15
So wurden sozialpolitisch auch Nutzgärten in Städten und insbesondere in Arbeitersiedlungen
forciert.16 Festzuhalten ist jedoch auch, dass die Gartenarbeit in der Vergangenheit in der Regel Frauenarbeit war – insbesondere bei Nutzgärten von Angestellten: Verbrachte der Mann
9
Ebd. Siehe auch: Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen,
Frankfurt a.M./ New York 1983, S.27-31.
10
Landschaftsverband Rheinland – Amt für Landeskunde und Regionalgeschichte/Volkskunderat Rhein-Maas:
Fragebogenerhebung „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“. 2013.1443.213a. In: Landschaftsverband
Rheinland – Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Rheinisches Volkskundearchiv. Bonn 1982.
11
Ebd. 2013.1443.027a.
12
Ebd. 2013.1443.172a.
13
Vgl. Heizmann, Berthold: Die rheinische Mahlzeit. Zum Wandel der Nahrungskultur im Spiegel lokaler Berichte. Köln 1994, S. 15.
14
Landschaftsverband Rheinland – Amt für Landeskunde und Regionalgeschichte/Volkskunderat Rhein-Maas:
Fragebogenerhebung „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“. 2013.1443.080a. In: Landschaftsverband
Rheinland – Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte: Rheinisches Volkskundearchiv. Bonn 1982.
15
Vgl. Steinborn, Vera: Die Museumsgärten. In: Arnold Lassotta/Thomas Parent (Westfälisches Industriemuseum/Textilmuseum Bocholt) (Hg.): Das Arbeiterhaus. Dortmund 1991, S. 25.
16
Vgl. ebd., S. 26.
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den Arbeitstag in der Fabrik, war die Frau für die Versorgung des Haushaltes und der Kinder,
sowie des Nutzgartens und den produzierten Produkten zuständig.17
Im Laufe der Zeit wandelten sich jedoch die gesellschaftlichen Verhältnisse, Exportwege
wurden ausgebaut, der Alltag verändert sich stetig: So hielten beispielsweise vorgeschnittene
Ananasstücke und abgepackte Wurstwaren ihren Einzug in die Kühlschränke. Doch ob und
wie dies Auswirkungen auf eine Gartennutzung hatte und hat, ergo sich Nutzgärten bis heute
im Rheinland gehalten und ihre Funktionen sich eventuell geändert haben, sollte eine weitere,
wenn auch nicht ganz so umfangreiche, Umfrage im Rahmen dieses Studienprojektes im ersten Halbjahr 2016 zumindest ansatzweise in Erfahrung bringen:
Es stellte sich heraus, dass mehr als die Hälfte der befragten Personen gärtnern – der Umfang
der Gartennutzung ist jedoch im Vergleich zur Fragebogenerhebung der 1980er Jahre minimal. Die meisten Gärtnerinnen und Gärtner gaben an, eine Gartenfläche (mit) zu bewirtschaften, einige Personen verfügten über bepflanzte Balkone.
Hierbei ergab sich jedoch, dass eine reine Subsistenzwirtschaft von den jeweiligen Gärtnerinnen und Gärtnern nicht betrieben wird. Die Nutzung der Gärten oder auch von Balkonen mit
Bepflanzung erfolgt überwiegend als begrünte Fläche, die einer positiven Freizeitgestaltung
der Nutzenden zuträglich sein soll: „Zur Zeit wird er [der Garten] hauptsächlich zum Grillen,
Frühstücken und Arbeiten auf der Terrasse, Schaukeln und Entspannen genutzt.“18 So eine
etwa 25-jährige Kölnerin, die zudem aber angibt: „Ansonsten steht natürlich auch Gartenarbeit an, also Unkraut jäten, Blumen gießen, Rasenmähe[n], Samen aussäen.“19 Ihr Wunschgarten übersteigt jedoch ihre aktuellen Lebensverhältnisse: „Er sollte so groß sein, dass neben
dem Anbau von Gemüse und Obst, aber noch genügend Platz zum Erholen bleibt. Am besten
wäre es, wenn zusätzlich noch zwei Ziegen und ein paar Hühner unterkommen. Allerdings
weiß ich, dass mir dafür momentan noch die Zeit dafür fehlt - das wäre dann was für die Rente.“20
Ihre Antworten stehen hierbei stellvertretend für die meisten der anderen gärtnernden Beantworterinnen und Beantworter dieser Umfrage:
Kontemplative Arbeiten sowie ästhetischer Nutzen eines Gartens, oder eben eines bepflanzten
Balkons stehen im Vordergrund, in vielen Fällen wurden auch einige Gemüsepflanzen gezo-
17
Vgl. ebd.
Schirmer, Corinna: Online-Umfrage: „Woher kommen Ihre Nahrungsmittel?“. Person 1. Bonn 2016.
19
Ebd.
20
Ebd.
18
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gen. Die Subsistenzwirtschaft stand dabei jedoch eher im Hintergrund, sie erweist sich oftmals als positiver, teils auch intendierter Nebeneffekt.
Die Antworten der aktuellen Fragebogenerhebung bestätigen somit den Rücklauf der Subsistenzwirtschaft im 20. Jahrhundert, welcher sich schon dort in der Umfrage niederschlug. Zu
erkennen ist jedoch ein neuer Trend im 21. Jahrhundert: Gesunde, regionale Speisen rücken
aktuell in den Vordergrund und eine Bepflanzung der Gärten mit Pflanzen, die der Nahrung
dienen, wird für die Gärtnerinnen und Gärtner immer interessanter.
Mit Hinblick auf die teils auch kritisch zu sehende Methode der Fragebogenerhebung lässt
sich also feststellen, dass Subsistenzwirtschaft auch im 21. Jahrhundert durchaus „in“ ist, jedoch zumindest bei den befragten Personen nicht als Nahrungsgrundlage dient. Gärtnern ist
dennoch en vogue, jedoch für die meisten Gärtnerinnen und Gärtner als Freizeitbeschäftigung
und nicht als Lebensgrundlage.
Quellen:
Landschaftsverband
Rheinland
–
Amt
für
Landeskunde
und
Regionalgeschich-
te/Volkskunderates RheinMaas: Fragebogenerhebung „Nahrung und Speise im Wandel nach
1900“. In: Landschaftsverband Rheinland – Institut für Landeskunde und Regionalgeschichte:
Rheinisches Volkskundearchiv. Bonn 1982.
Schirmer, Corinna: Online-Umfrage „Woher kommen Ihre Nahrungsmittel?“. Bonn 2016.
Literatur:
Heizmann, Berthold: Die rheinische Mahlzeit. Zum Wandel der Nahrungskultur im Spiegel
lokaler Berichte. Köln 1994.
Hirschfelder, Gunter: Europäische Esskultur. Eine Geschichte der Ernährung von der Steinzeit bis heute. Frankfurt a.M. 2001, S. 9-20. Siehe auch: Assmann, Aleida: Zum Problem der
Identität aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leviathan 2/1993.
Lehmann, Albrecht: Erzählstruktur und Lebenslauf. Autobiographische Untersuchungen,
Frankfurt a.M./ New York 1983.
Neuloh, Otto/Teuteberg, Hans Jürgen: Psychosoziale Ursachen des Fehlverhaltens in der Ernährung. In: Deutsche Gesellschaft für Ernährung (Hg.): Ernährungsbericht 1976. Frankfurt
a.M. 1976.
Schirmer, Corinna: Zum Wert volkskundlicher Fragebogenerhebungen aus kulturanthropologischer Sicht.
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Eine Analyse am Beispiel der Befragung „Nahrung und Speise im Wandel nach 1900“. [Ms.,
unveröffentlicht].
Steinborn, Vera: Die Museumsgärten. In: Arnold Lassotta/Thomas Parent (Westfälisches Industriemuseum/Textilmuseum Bocholt) (Hg.): Das Arbeiterhaus. Dortmund 1991.
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