Martina Grempler Historie, Religion und Patriotismus. Verdis

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Martina Grempler
Historie, Religion und Patriotismus. Verdis Giovanna D’Arco im Spiegel ihrer Zeit
Als im Februar 1845 die Uraufführung von Verdis „Giovanna d’Arco“ stattfand, existierte
noch kein Staat Italien. Der Uraufführungsort Mailand gehörte als Hauptstadt des Königreichs
Lombardo-Veneto zum Herrschaftsbereich des österreichischen Hauses Habsburg. Die
italienische Halbinsel gliederte sich in eine Reihe von Einzelstaaten.1 Darunter befand sich
Verdis Heimat, das Herzogtum Parma, wo während seiner Jugend ebenfalls eine
Habsburgerin regierte, Herzogin Marie Luise, gleichzeitig die Witwe Napoleons.
Im Norden befand sich neben dem habsburgischen Gebiet das Königreich Piemont-Sardinien,
der einzige italienische Staat, in dem keine fremde Dynastie herrschte. In der Mitte lag mit
dem Großherzogtum Toskana ein weiteres Territorium der Habsburgerfamilie. Den Rest
Mittelitaliens, den sogenannten Kirchenstaat, regierte von Rom aus der Papst als weltlicher
Herrscher. Den Süden des italienischen Stiefels bildete das Königreich Beider Sizilien unter
Mitgliedern der Familie der Bourbonen, die in ihrer Hauptstadt Neapel residierten.
Neapel war noch zu Verdis Zeit die bevölkerungsreichste Stadt Italiens, auf kulturellem
Gebiet lief Mailand ihr jedoch zusehends den Rang ab. Bis in die Zeit Rossinis, Bellinis und
Donizettis war Neapel die führende Opernmetropole Italiens, gleichzeitig entwickelte sich seit
den Jahren um 1800 Mailand zu der Musikstadt, die sie bis heute geblieben ist.
Mailand wurde zum wesentlichen Träger des modernen Musiklebens. Im 18. Jahrhundert
zentrierte sich etwa die Musikerausbildung in Italien vor allem in den Konservatorien von
Neapel. Daneben existierte das Konservatorium von Bologna, sowohl für Rossini wie für
Donizetti die erste Wahl als Ausbildungsstätte. Im 19. Jahrhundert eroberte das
Konservatorium in Mailand diese Führungsposition und als dort im Jahr 1880 der junge
Giacomo Puccini eintrat, war der Status Mailands als führende Musikmetropole und
intellektuelles Zentrum Italiens endgültig gefestigt.
Mailand avancierte zum Ort der Opernagenten und vor allem zum Sitz der Musikverlage,
deren führender Vertreter Ricordi eine entscheidende Rolle nicht nur in Verdis Karriere
einnehmen sollte. Mehr und mehr schrieb ein Opernkomponist seine Werke nicht mehr im
Auftrag des Impresario eines bestimmten Theaters, sondern für einen Verleger, der dann –
1
Überblicksdarstellungen zur italienischen Geschichte u.a.: Rudolf Lill, Geschichte Italiens vom 16.
Jahrhundert bis zu den Anfängen des Faschismus, Darmstadt 1988 (4. Auflage). Volker Reinhardt, Geschichte
Italiens. Von der Spätantike bis zur Gegenwart, Verlag Beck 2003. Zum Thema Verdi und Politik / Religion
siehe ausführlicher die Beiträge von Martina Grempler im Verdi Handbuch, hg. von Anselm Gerhard und Uwe
Schweikert, Stuttgart 2001.
1
gemeinsam mit dem Komponisten – entschied, wo das neue Stück zuerst herauskommen
sollte. „Giovanna d’Arco“ schrieb Verdi allerdings noch im Auftrag eines Theater, im Auftrag
der Mailänder Scala, für deren Impresario Bartolomeo Merelli er bereits mehrere andere
Opern komponiert hatte, darunter „Nabucco“.
Das italienische Musikleben und dies heißt vor allem das traditionelle Produktionssystem der
Oper erlebte im 19. Jahrhundert einen gravierenden Wandel, der mit dem Wandel der
politischen und gesellschaftlichen Situation in Italien Hand in Hand ging.
Die Jahre, in denen Verdi seine Opern schrieb, bildeten für Italien eine unruhige Zeit. Unter
der Herrschaft Napoleons um 1800 war das Land erstmals zu einem zusammenhängenden
Machtbereich vereinigt worden. Diese Erfahrung, wenngleich unter französischer Ägide, ließ
sich nicht wieder rückgängig machen, ebenso wenig die Erfahrungen mit der modernen
französischen Gesetzgebung, mit politischen wie sozialen Reformen und vieles andere.
Auch das Theaterleben blieb selbstverständlich von der französischen Herrschaft nicht
unberührt. Französische Schauspieltruppen zogen durch Italien und führten teilweise auch
Opern auf. An größeren Opernhäusern wie Neapel wurden unter der Herrschaft der Franzosen
neue Werke aus Paris gezeigt, etwa die Opern eines Gaspare Spontini. Ein immens großer
Anteil der italienischen Opern des frühen 19. Jahrhunderts basierte auf französischen
Textvorlagen, was noch bei Verdi zu spüren ist, vor allen bei seinen Vertonungen von
Werken Victor Hugos.
Als 1815 auf dem Wiener Kongress Italien äußerlich im Wesentlichen so wiederhergestellt
wurde, wie es vor Napoleon gewesen war, hatte sich innerlich eine ganze Menge verändert.
Die Idee von einem geeinten, unabhängigen Staat Italien lebte weiter, Patriotismus und
Liberalismus wurden für viele politisch aktive Italiener zu den Maximen ihres Handelns.
In diesen Jahren wurden – nicht zuletzt wiederum in Mailand - wesentliche ideologische
Grundsteine gelegt für das sogenannte „Risorgimento“, für die Epoche der italienischen
Nationalbewegung.
Dieses Wort, das sich von dem Verb „risorgere“ – „sich wieder erheben“ ableitet, weist eine
sprachliche Analogie zum Begriff „Renaissance“ – Wiedergeburt auf. Damit entstand eine
Verbindung zu einer Epoche, in der Italien als Zentrum der abendländischen Kultur erschien.
Zu einer Epoche, in der mit der Trias Dante – Petrarca – Boccaccio die Grundsteine für eine
italienische Literatur und damit auch für ein italienisches Nationalgefühl gelegt wurden. Die
Epoche der Renaissance hatte in der italienischen Wahrnehmung des 19. und 20. Jahrhunderts
eine ähnliche Bedeutung wie die Zeit der Johanna von Orleans für Frankreich.
2
Die Renaissance galt den Italienern als Epoche vor der Fremdherrschaft, als in den einzelnen
Staaten noch italienische Fürstenhäuser regierten, die teilweise europäische Bedeutung
erlangten wie die Medici in Florenz.
Als nationales Monument auf dem Gebiet der Musik sah man in Italien Giovanni Pierluigi da
Palestrina. Mit Palestrina verband man eine Phase der „Re-Italianisierung“ des römischen
Musiklebens (insbesondere des Ensembles der Sixtinischen Kapelle), die die Dominanz der
damals vor allem aus den Niederlanden stammenden Musikern beendete.
Es ist kein Zufall, dass im 19. Jahrhundert das Interesse an dem Komponisten Palestrina
erheblich wuchs. Verdi selbst nannte ihn in einem Brief den „Ewigen Vater der italienischen
Musik“. In der Auseinandersetzung mit der Vokalmusik der Renaissance sah er eine
Rückkehr zu den Wurzeln genuin italienischer Musik und damit ein Mittel, sich von der zu
seiner Zeit geradezu übermächtigen Tradition der Instrumentalmusik des deutschsprachigen
Raums abzusetzen. In diesem Zusammenhang fiel auch das berühmte Zitat „Ritorniamo
all’antico e sarà un progresso“ (Kehren wir zum Alten zurück und es wird ein Fortschritt
sein). Mit Überlegungen wie diesen stand Verdi in seiner Zeit keineswegs allein.
Als „Giovanna d’Arco“ entstand, hatte Italien in den Jahren 1820 und 1830 bereits zwei
Revolutionswellen durchlebt. Das Streben nach Unabhängigkeit hatte seine ersten Opfer
gefordert, zahlreiche Italiener mussten aus politischen Gründen das Land verlassen, wodurch
Paris neben London zum Zentrum der liberal gesonnenen Immigranten wurde.
Die beiden großen ideologischen Richtungen der italienischen Nationalbewegung hatten sich
konsolidiert. Auf der einen Seite standen die Moderati (die Gemäßigten), deren Ziel zunächst
liberale Reformen und letztlich ein italienischer Staat in Form einer konstitutionellen
Monarchie bildete. Auf der anderen Seite standen die Democrati - untrennbar mit dem Namen
ihres geistigen Anführers Giuseppe Mazzini verknüpft. Deutlich radikaler als die Moderati,
vertraten sie die Vorstellung von einer Revolution des Volkes, eines Aufstands der Italiener
gegen die Fremdherrschaft mit dem Ziel einer unabhängigen Republik Italien.
1848/49 kulminierte die patriotische Bewegung wie in anderen europäischen Staaten in einer
Revolution, die in ganz Italien eine zeitweilige Ablösung der Regenten bewirkte. Wie die
vorangegangenen Revolutionswellen konnte jedoch auch die von 1848 keinen dauerhaften
Erfolg erzielen und es sollte noch weitere 10 Jahre dauern, bis der Traum vom unabhängigen
Italien verwirklicht wurde.
Erst in den Jahren um 1860 konnte mit Hilfe Frankreichs die habsburgische Herrschaft über
Norditalien beendet werden und es kam zur Begründung eines Königreichs Italien unter
3
Vittorio Emanuele II, dem ehemaligen König von Piemont-Sardinien. Nach den legendären
Feldzügen des Giuseppe Garibaldi kam auch Süditalien zu diesem neuen Staat hinzu und mit
einigen Jahren Verspätung noch Venedig und 1870 Rom, das kurze Zeit später zur
italienischen Hauptstadt und damit zum Sitz des Königs erhoben wurde.
Giuseppe Verdi war zu dieser Zeit nicht mehr nur der führende Opernkomponist in Italien wie
zur Zeit der „Giovanna d’Arco“, sondern ein international anerkannter Musiker, der bereits
mehrfach französische Opern für die Theater von Paris geschrieben hatte, der mit „La forza
del destino“ für Sankt Petersburg gearbeitet hatte und mit „Aida“ für Kairo.
Trotz des weiterhin internationalen Erfolgs von einzelnen Komponisten wie Verdi behauptete
die italienische Operntradition insgesamt nicht mehr die Dominanz, die sie im 18. Jahrhundert
hatte, als italienische Musiker die Opernhäuser in nahezu allen europäischen Städten und vor
allem an den Höfen leiteten und prägten. Die italienische Oper des 19. Jahrhunderts musste
sich international mit der Konkurrenz aus Frankreich und schließlich auch aus Deutschland
messen. Nicht nur im Ausland, sondern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in
Italien selbst, wo gleichzeitig die Theater einen nahezu ständigen Kampf gegen widrige
finanzielle Bedingungen austrugen. Nach heftigen Diskussionen etablierten sich in Italien
etwa die Werke Richard Wagners auf den Spielplänen und übten vor allem auf die jüngere
Künstlergeneration große Faszination aus. Diese jungen Künstler strebten nach Emanzipation
von den alten Opernformen oder sogar von der Gattung Oper überhaupt.
Der Umgang mit der eigenen Operntradition von Monteverdi bis Verdi ist gewissermaßen
symptomatisch für das italienische Nationalbewusstsein mit seinem berechtigten Stolz auf
vergangene Größe und der Erkenntnis einer in vieler Hinsicht defizitären Gegenwart. Für die
Epoche des Risorgimento, vor allem für die Zeit nach der Nationalstaatsgründung, galt dies
ebenso wie für das heutige Italien.
Wie stand nun der Mensch Verdi zur italienischen Einigungsbewegung? Es ist zu diesem
Thema schon eine Menge geschrieben worden, vor allem im Hinblick auf Verdis Rolle als
nationale Ikone, in die er vermutlich schon ab den 1840er Jahren langsam hineingeriet und die
sich nach der Nationalstaatsgründung und schließlich nach Verdis Tod deutlich verstärkte.
Bekannt wurde das Akrostichon „Viva V.E.R.D.I.“ als Kürzel für die Parole „Viva Vittorio
Emanuele Re d’Italia“ (Es lebe Viktor Emanuel, König von Italien), die zumindest in den
Jahren kurz vor der Einigung an die Häuserwände in Italien geschrieben wurde, um zum
Kampf für ein vereintes, freies Königreich aufzurufen.
4
Man kann kaum daran zweifeln, dass Verdi ein Patriot war und dass er dem politischen Ziel
eines vereinigten Italiens positiv gegenüber stand, im Gegensatz etwa zu einem Rossini,
dessen Ansichten in dieser Sache zumindest zwiespältig waren.
Trotzdem ist die Frage, wie politisch Verdi überhaupt war und zweitens, inwieweit er bereit
war, für seine politischen Überzeugungen aktiv zu werden, durchaus berechtigt. Sieht man
seinen Briefwechsel2 durch, so findet man zwar eine Reihe von Briefen, in denen er sich zu
Politik äußert, doch besonders häufig tauchen solche Schreiben nicht auf, die Quantität ist
dem vermeintlich viel unpolitischeren Rossini vergleichbar.
Ausführliche politische Erörterungen waren Verdis Sache nicht und auch in Bezug auf die
italienische Einigungsbewegung bleibt er insgesamt zurückhaltend. Zu behaupten, er sei ein
Anhänger Giuseppe Mazzinis gewesen, wäre wohl übertrieben, wenngleich sich in seinen
Briefen gewisse Übereinstimmungen mit Mazzinis Programm feststellen lassen: Verdi hat
zumindest in der Zeit um 1848 der Hoffnung Ausdruck gegeben, ein künftiges, von
Fremdherrschaft befreites Italien würde eine Republik sein. Andererseits ist er jedoch nie in
Opposition gegen irgendeinen der vielen Monarchen getreten, für deren Staaten er seine
Opern schrieb. Im Gegenteil sind gerade vermeintlich so „risorgimentale“ Opern wie
„Nabucco“ oder „I lombardi alla prima crociata“ Mitgliedern der Habsburgerfamilie
gewidmet.
Die ebenfalls von Verdi geäußerte Hoffnung, dass Italien sich aus eigener Kraft befreien
könne, stimmt ebenfalls mit Mazzini überein, der den bekannten Satz prägte „L´Italia farà da
se“ – „Italien wird für sich selbst handeln“. Bei Verdi scheint diese Hoffnung jedoch weniger
dem Glauben an die eigene Stärke, also einem optimistischen Patriotismus, zu entspringen,
sondern vielmehr der Skepsis gegenüber der Hilfsbereitschaft der anderen Nationen,
insbesondere Frankreichs: „Ich hoffe nichts von Frankreich, nichts von England [...] Gott
verhüte, dass wir uns auf unsere Könige und auf fremde Nationen verlassen“ – so schreibt
Verdi 1848 an Clara Maffei.
Ebenso unklar bleibt Verdis Haltung gegenüber Papst Pius IX. Dieser wurde nach seiner
Wahl 1846 für zwei Jahre zu dem großen Hoffnungsträger der Nationalbewegung. Verdis
Schüler Emanuele Muzio kommentiert in dieser Zeit in einer großen Anzahl von Briefen an
den gemeinsamen Förderer Barezzi die Politik des neuen Papstes – von Verdi selbst haben
wir zu dieser für das Risorgimento so wichtigen Episode keine Zeile.
2
Ausgaben von Verdis Briefen (Auswahl): Alessandro Luzio (Hg.), Carteggi Verdiani, 4 Bde., Rom 1935 und
1947; I Copialettere di Giuseppe Verdi, hg. von Gaetano Cesari und Alessandro Luzio, 1913 (Reprint: Bologna
1968). Verdi-Briefe in deutscher Übersetzung hg. von Hans Busch, Frankfurt a.M. 1986.
5
Den unter dem unmittelbaren Eindruck der Revolution in Mailand geschriebenen, bekannten
Brief an Francesco Maria Piave vom 21. April 1848 darf man nicht überbewerten: „Du
sprichst mir von Musik!! Was ist in Dich gefahren?...Du glaubst, dass ich mich jetzt mit
Noten, mit Tönen beschäftigen will?...Es gibt, es darf nur eine Musik geben, die den Ohren
der Italiener von 1848 gefällt: die Musik der Kanonen.“ Verdi war allerdings in dieser Zeit in
Paris und hat intensiv gearbeitet, also natürlich an Musik gedacht. Der Brief bleibt ein
spontaner Gefühlsausbruch ohne reale Auswirkungen.
Verdi konnte sich spontan für politische Ereignisse oder Personen begeistern. Eine aktive
Beteiligung an der Revolution, gar als Soldat, hat er wohl nie ernsthaft in Erwägung gezogen.
Einer seiner Briefe, in dem auch der bekannte Satz „ich kann nur ein Tribun sein“ fällt, zeugt
vielleicht auch ein wenig von schlechtem Gewissen, denn einige Menschen, die Verdi sehr
nahestanden, hatten an den Ereignissen von 1848 aktiv Anteil. Darunter sein Librettist
Francesco Maria Piave, der Schriftsteller und Journalist Graf Opprandino Arrivabene oder das
Ehepaar Andrea und Clara Maffei, deren Mailänder Salon ein führender Treffpunkt der
italienischen Patrioten war. Nicht zuletzt ist Verdis enger Mailänder Freund Luciano Manara
zu nennen, der beim Kampf um die römische Republik unter Garibaldi 1849 sogar sein Leben
verlor.
Insgesamt war Verdis Skepsis in politischen Angelegenheiten wohl bedeutender als sein
Patriotismus. Dies zeigt sich unter anderem an der bestürzten Reaktion auf den Tod des von
ihm hochgeschätzten ersten italienischen Ministerpräsidenten Camillo Cavour: „Welches
Unglück. Welcher Abgrund von Unheil!“, „Der arme Cavour! Und wir Armen!“.
Diese Skepsis Verdis äußert sich auch in den teilweise deprimierten Kommentaren zu der
wirtschaftlich und sozial sehr problematischen Situation im neuen Nationalstaat: „Was
werden unsere Staatsmänner machen? Einen Unsinn nach dem anderen! Es gehört mehr dazu,
als das Salz und das Getreide zu besteuern und die Armen noch ärmer zu machen. Wenn die
Bauern nicht mehr arbeiten und die Gutsherren sie wegen zu hoher Steuern nicht mehr
arbeiten lassen können, dann werden wir alle verhungern. Merkwürdig! Als Italien in so viele
kleine Staaten geteilt war, blühten überall die Finanzen! Jetzt, da wir alle vereint sind, sind
wir ruiniert. Aber wo ist der Reichtum von einst?“. So schrieb er 1867, also nur wenige Jahre
nach der Gründung des Nationalstaats. Diese war damals noch nicht einmal abgeschlossen,
denn in Rom regierte immer noch der Papst und nicht der König von Italien.
Man darf bei diesem Zitat nicht vergessen, dass Verdi selbst zu den von ihm kritisierten
Gutsherren gehörte und damit zur staatstragenden Schicht in einem Land, wo zunächst nur der
vermögende Teil der Bevölkerung überhaupt zu Wahlen zugelassen war.
6
Der Mensch Verdi besaß ein soziales Gewissen und ein gewisses Interesse an Politik. Seine
Bereitschaft zu aktivem Engagement war jedoch begrenzt, trotz seiner zeitweiligen Tätigkeit
als Abgeordneter des italienischen Parlaments. „Ich kann nur ein Tribun sein“ schreibt er an
Piave. Und nimmt man das traditionelle Verdi-Bild, so war er dies durch seine Musik und
zwar auf besonders wirkungsvolle Weise.
Dabei wurden in der Verdi-Literatur immer wieder vor allem die patriotischen Chöre seiner
frühen Opern von „Nabucco“ über die „Lombarden“ und „Ernani“ bis hin zu „Macbeth“
hervorgehoben oder anders gesagt: der Blick verengte sich auf die frühen Opern. Deren
tatsächliche politische Wirkung auf die Zeitgenossen muss nach den Forschungen eines Roger
Parker oder einer Birgit Pauls wohl relativiert werden.3 Patriotische Szenen existierten bereits
in den Opern von Verdis Vorgängern, als ein festes Szenenmodell wie etwa Kerkerszenen.
Wir wissen heute, dass etwa der Chor „Guerra, guerra“ (Krieg, Krieg) aus Vincenzo Bellinis
„Norma“ oder entsprechende Szenen aus Rossinis „La donna del lago“, „Le siège de
Corinthe“ oder „Wilhelm Tell“ in politischer Hinsicht vor der Einigung eine mindestens
ebenso große Rolle spielten wie die patriotischen Chöre Verdis.
Roger Parker untersuchte ganz konkret der Fall des legendären „Va pensiero“ aus „Nabucco“
und stellte dabei fest, dass der Mythos um diesen Chor an einigen Stellen brüchig ist. So ist
nicht nur die Legende kaum haltbar, wonach Verdi die Oper erst komponierte, als ihm der
Text zu „Va pensiero“ zufällig ins Auge sprang.
Bei Verdis Beerdigung sollen die Klänge dieses Chores den Toten auf seinem letzten Weg
begleitet haben, gesungen von den Hunderttausenden Menschen, die den Weg des Trauerzugs
säumten. In Wirklichkeit handelte es sich offenbar um eine professionelle Aufführung mit
etwa 500 Sängern unter Arturo Toscanini, nicht auf der Straße während der Prozession,
sondern schon auf dem Friedhof.
Eine in der älteren Verdi-Literatur von Francesco Abbiati aufgeführte Kritik zur Uraufführung
des „Nabucco“, nach der das Publikum die Wiederholung von „Va pensiero“ verlangt haben
soll, wurde von Abbiati eigenmächtig verändert. Der entsprechende Passus der Kritik bezog
sich ursprünglich nicht auf „Va pensiero“, sondern auf einen anderen Chor in „Nabucco“,
nämlich auf „Immenso Jehova“.
In Verdis Autograph zu „Nabucco“ ist „Va pensiero“ ein recht problemloser Fall, bei
„Immenso Jehova“ hingegen hat Verdi massiv korrigiert, das heißt Text geradezu wütend
durchgestrichen. Im ursprünglichen Text, den die Herausgeber der kritischen Edition von
3
V.a. Birgit Pauls, Giuseppe Verdi und das Risorgimento: Ein politischer Mythos im Prozeß der
Nationenbildung, Berlin 1996; Roger Parker, „Arpa d’or dei fatici vati“. The Verdian Patriotic Chorus in the
1840s, Parma 1997
7
„Nabucco“ entziffern konnten, war in den letzten beiden Zeilen die Rede von einem Gott, der
die Macht hat, die Ketten seines Volkes zu lösen: „Spesso al tuo popolo / Donasti il pianto /
Mai i ceppi hai franto / Se in te fidò“ – „Oft gabst du deinem Volk Leid/aber Du hast seine
Ketten gelöst, wenn es dir vertraute.“ Der Grund für die Änderung des Textes war vermutlich
eine Intervention der Zensur oder die Furcht Verdis vor einer solchen. „Immenso Jehova“ war
ursprünglich wohl viel brisanter als „Va pensiero“ – der Mythos um diesen Chor scheint
zumindest teilweise postum konstruiert.
Insgesamt wurden die patriotischen Chöre der frühen Verdi-Opern nicht besonders häufig
zum Opfer der Zensur. Diese lenkte ihr Augenmerk üblicherweise mehr auf moralisch
kritische Stellen und weniger auf politisch unangenehme Inhalte. Patriotismus in der Oper war
schon seit deren Anfängen keineswegs etwas Ungewöhnliches, ganz im Gegenteil. Der
Konflikt zwischen Vaterlandsliebe und persönlicher Neigung, wie er auch in „Giovanna
d’Arco“ aufscheint, gehörte schon im 18. Jahrhundert zu den zentralen Opernthemen.
Für “Giovanna d’Arco” ist vor allem ein Zensurfall bekannt und zwar bei einer Aufführung
1865 in Venedig.4 Dass die Zensur in dieser Situation besonders wachsam agierte, kann
angesichts der Umstände nicht verwundern. Italien war zu dieser Zeit bereits seit einigen
Jahren ein unabhängiger Nationalstaat. Nur Venedig und Rom gehörten noch nicht dazu, also
ausgerechnet zwei besonders symbolträchtige Städte: die ehemalige freie Seerepublik
Venedig, in der Vergangenheit ein internationales Wirtschaftszentrum, dessen Schiffe die
ganze damals bekannte Welt befuhren. Und zum anderen Rom, der ehemalige Mittelpunkt der
antiken Welt, die Hauptstadt des katholischen Glaubens und nicht zuletzt wie Venedig einer
der Hauptorte der Revolution von 1848.
Venedig sollte 1866 dem Haus Habsburg entrissen werden und an das Königreich Italien
fallen. Die Aufführung von „Giovanna d’Arco“ fand also nur ein Jahr zuvor statt, in einer
aufgeladenen Atmosphäre, die der Regisseur Luchino Visconti in seinem Film „Senso“
(Sehnsucht) beeindruckend dargestellt hat. Visconti wählt für die Eröffnungssequenz
bezeichnenderweise das Teatro La Fenice als Schauplatz und lässt eine Aufführung von
Verdis „Troubadour“ zum Anlass einer revolutionären Kundgebung werden und zu einer
Demonstration gegen die anwesenden österreichischen Militärs.
4
Es kursierte auch eine Zensurfassung „Oriana di Lesbo“. In den Augen der Zensoren problemtisch dürfte in
erster Linie die nicht standesgemäße Liebe zwischen Carlo und Giovanna, einem König und einem
Hirtenmädchen, gewesen sein.
8
In dieser spezifischen politischen Situation in Venedig kam es also zu dem genannten
Zensurfall bei “Giovanna d’Arco”. Im Einleitungschor wurden dabei zwei Zeilen ersetzt:
“Orda immensa di barbari ladri / Questa misera terra distrugge” (Eine gewaltige Horde
barbarischer Diebe zerstört dieses arme Land). Dieser Vers wurde zu „Come vinta
dall´angliche squadre / Questa terra de´ franchi si strugge (Besiegt von den englischen
Truppen vergeht das Land der Franzosen). Im Einleitungschor des 2. Aktes wurden die Zeilen
“Fia sacro il dì che un popolo / Dal fango si levò“ (Heilig sei der Tag, an dem ein Volk sich
aus dem Staub erhebt) ersetzt durch “Fia sacro il dì che Gallia / L´oltraggio vendicò” (Heilig
sei der Tag, an dem Gallien sich für die Schmach rächt).
Das heißt also, die Zeilen wurden in der zensierten Version explizit auf den historischen
Hintergrund der Oper bezogen, auf den längst vergangenen Krieg zwischen Frankreich und
England. Die Möglichkeit einer Übertragung auf die aktuelle italienische Situation sollte
offenbar minimiert werden und vor allem wurde das gefährliche Bild des sich erhebenden
Volkes gestrichen.
Der Gedanke an einen Freiheitskampf, der von Gott gewollt ist, - „Heilig sei der Tag“ – findet
sich in „Giovanna d’Arco“ ebenso wie in dem zitierten Chor „Immenso Jehova“ aus
„Nabucco“. Gerade dieser Gedanke spielte in der Ideologie des Risorgimento eine ganz
wesentliche Rolle. Die Frage, wie sich Religion und Unabhängigkeitskampf zueinander
verhalten sollten, bildete eine zentrale Problematik in dem tief katholischen Land Italien.
Damit in Zusammenhang stand natürlich die Rolle des Papstes, der in seiner Eigenschaft als
Regent eines italienischen Einzelstaats einer Vereinigung des Landes de facto entgegenstand.
Gerade in den frühen 1840er Jahren wurde diese Problematik in der Nationalbewegung
intensiv diskutiert.
Nur kurz vor der Uraufführung von „Giovanna d’Arco“ erschien eine der erfolgreichsten
Programmschriften des Risorgimento, „Il primato morale e civile degli italiani“ (etwa: „Der
moralische und zivile Primat der Italiener“) verfasst von Vincenzo Gioberti. Gioberti sah in
der engen Anbindung an die katholische Religion eine besondere Stärke Italiens. Wie viele
seiner Zeitgenossen propagierte er ein Bündnis von Papsttum und liberal-nationaler
Bewegung. Der Papst als moralische Instanz sollte ein nach Möglichkeit unblutig zu
erreichendes geeintes Italien stützen oder, in den Überlegungen von Gioberti, als Vorsitzender
eines künftigen Bundes der italienischen Einzelstaaten sogar anführen.
Als der vermeintlich liberale Pius IX. nur ein Jahr nach der Uraufführung von „Giovanna
d’Arco“ zum Papst gewählt wurde, hofften viele auf eine Realisierung solcher Ideen. Diese
Hoffnungen sollten sich mit der Revolution von 1848 zerschlagen und das prekäre Verhältnis
9
des neuen Italien zum Papsttum wurde zu einer besonders schweren Hypothek für das junge
Königreich.
Die Geschichte um die Jungfrau von Orleans fügt sich also auf der einen Seite harmonisch in
eine bereits bestehende Tradition patriotischer Opernstoffe ein, mit Motiven wie dem Konflikt
zwischen Pflicht und Neigung, der verknüpft erscheint mit dem Verhältnis zwischen einem
Vater und seinem aufsässigen Kind. Auf der anderen Seite berührte dieses Sujet Themen, die
damals hochaktuell waren wie etwa den patriotischen Krieg gegen fremde Besatzer, das Ideal
vom Kampf des Volkes oder die Idee vom gottgelenkten Freiheitskampf. Nicht zuletzt
erscheint die Auseinandersetzung mit vielleicht dem zentralen französischen Nationalmythos
durch italienische Autoren von einer besonderen Aktualität angesichts der entscheidenden
(und oft zwiespältigen) Rolle, die Frankreich während der gesamten Epoche des Risorgimento
spielte.
Man sollte sich allerdings davor hüten, Verdis Oper allzu sehr mit der damaligen italienischen
Tagespolitik zu verknüpfen, allein schon weil der Grundgedanke, dass der Mythos um Jeanne
d’Arc für die Idee von einem geeinten Vaterland steht, bereits für die Vorlage von Friedrich
Schiller essentiell ist. Bereits dort findet sich auch der Opfertod der Johanna, die sterbend
nach ihrem Banner verlangt. Diese emotionale Schlussszene mit der für das Vaterland
sterbenden Heldin, der Kriegerin, hat Verdi nicht nur in „Giovanna d’Arco“ verwendet,
sondern 1849 auch in „La battaglia di Legnano“.
„Die Schlacht von Legnano“, geschrieben für Rom zur Zeit der römischen Republik von
1848/48 ist ohne Zweifel die Oper, in der Verdi am offensten patriotische Inhalte umgesetzt
hat. Im Unterschied zu „Giovanna d’Arco“ an einem Stoff aus der italienischen Geschichte
des Mittelalters, wo explizit Italiener gegen einen deutschen Kaiser , nämlich Friedrich
Barbarossa, kämpfen.
Der den Märtyrertod sterbende Kämpfer für das Vaterland, sei er männlich wie Arrigo in „La
battaglia di Legnano“ oder weiblich wie Johanna, gehört ohne Zweifel zu den besonderen
Lieblingsfiguren der Operngeschichte. Verdi in seiner Zeit hatte gegenüber dem 18.
Jahrhundert den Vorteil, dass er wirklich den Helden auf der Bühne sterben lassen und so das
rührende Potential eines derartigen „singenden Todes“ voll ausnutzen konnte. Dies war noch
dem frühen Rossini nahezu unmöglich. Sein „Tancredi“ (die Titelfigur ist ein Musterbeispiel
des patriotischen Helden) kursierte mit einem glücklichen Finale, das von Rossini für eine
Aufführung in Ferrara komponierte ernste Finale mit dem Opfertod des Helden hatte eher
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experimentellen Charakter, denn Sterben auf der Opernbühne war damals aus Zensurgründen
kaum möglich.
Interessant ist, dass Rossini seinen gefallenen Helden einen vergleichsweise stillen Tod
sterben lässt und den Akzent der Szene auf den Abschied von der Geliebten legt. Der
Märtyrertod als großes Tableau mit Chor und heroischer Gestik scheint vor allem ein in den
1840ern beliebtes Phänomen, ebenso wie die Verbindung des Todes für das Vaterland mit
Sakralem oder sakral wirkender Musik.5 Mazzinis Gedanke einer „Religion des Vaterlands“
lässt sich auf der Opernbühne durchaus finden.
Vor allem Markus Engelhardt hat in mehreren Beiträgen darauf hingewiesen, dass Verdi mit
der Einführung der Sphäre des Übernatürlichen, mit den Chören der guten und bösen Geister,
die um die Seele Johannas wetteifern, einen eigenen Akzent gesetzt hat.6 Einen Akzent, der
für sein eigenes Werk damals neu war und der insgesamt nicht als typisch für die italienische
Oper dieser Zeit angesehen werden kann. Der italienischen Ausprägung der Romantik fehlte
zumindest in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend diese Sphäre des
Phantastischen, die im deutschsprachigen Raum fest dazu gehörte, man denke nur an Webers
„Freischütz“.
Zwar wimmelt die italienische Oper des romantischen Zeitalters nur so von düsteren
Vorahnungen und von Prophezeiungen - Hexen, Geister, Feen oder Dämonen treten dort
jedoch vergleichsweise selten in Erscheinung. Italienische Bösewichter etwa bleiben in aller
Regel irdisch und sind keine geheimnisvollen Gestalten wie etwa der Samiel des „Freischütz“.
Italienische Helden haben zwar oftmals eine zweifelhafte Herkunft aufzuweisen, entstammen
jedoch selten der Verbindung eines Menschen mit einem dämonischen Wesen wie die
Titelhelden in Marschners „Hans Heiling“ oder Meyerbeers „Robert le Diable“ („Robert der
Teufel“), eines der entscheidenden Werke der französischen Grand Opera.
In Italien kam es erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verspätet zu einer
intensiveren Rezeption der sogenannten Schauerromantik, wobei die Mailänder
Künstlergruppe Scapigliatura eine wesentliche Rolle spielte, der auch Verdis Librettist Arrigo
Boito verbunden war. Giuseppe Verdi arbeitete zu dieser Zeit bereits an seinem Spätwerk und
die Sphäre des Phantastischen blieb auch bei ihm auf wenige Opern beschränkt, vor allem auf
5
Bei Arrigos Tod in „La battaglia di Legnano“ verwendet Verdi sogar den originalen lateinischen Text des “Te
Deum” sowie einen Psalm.
6
Markus Engelhardt, Giovanna d’Arco, in: Verdi Handbuch, hg. von Anselm Gerhard und Uwe Schweikert,
2001, S. 334-335. Außerdem: Shakespeare-Anleihen in Verdis Schiller-Oper „Giovanna d’Arco“, in: Über
Musiktheater. Festschrift Arthur Scherle, München 1992, S. 71-83; Zwischen „bellico“ und „soprannaturale“ –
„Die Jungfrau von Orleans“ in den Vertonungen von Nicola Vaccai und Giuseppe Verdi, in: Venedig und die
deutsche Literatur, Tagungsband, Laaber 2002 (Thurnauer Schriften zum Musiktheater Bd. 19), S. 39-53.
11
„Macbeth“. In „Giovanna d’Arco“ hat er sie erstmals erprobt und sie hat in diesem Fall wohl,
(neben dem inneren Konflikt der Giovanna und der Vaterfigur Giacomo) sein besonderes
Interesse geweckt, stärker noch als die patriotischen Inhalte, die bereits in mehreren seiner
früheren Opern enthalten waren.
Was die patriotischen Szenen betrifft, so wirken sie in „Giovanna d’Arco“ etwas schematisch
und in gewisser Weise auch ambivalent. Die Szene des verunsicherten Volkes zu Beginn mit
der dort artikulierten Sorge um das Schicksal des Vaterlandes kann für die Oper dieser Zeit
schon als ein inhaltlicher Topos gelten. Rossini etwa hat eine solche Szene sowohl an den
Beginn der „Belagerung von Korinth“ als auch an den seiner „Moses“-Opern gesetzt.
Auch der Freiheitschor „Dal cielo a noi chi viene“ zu Beginn des II. Aktes entspricht
inhaltlich durchaus der Konvention, vor allen in den ersten zwei Zeilen, wo die Frage nach
einem vom Himmel gesandten Retter gestellt wird, der die Ketten des Volkes brechen soll.
Metrisch verwendet hier Verdi allerdings im Unterschied zu „Va pensiero“ oder zu dem Chor
„Oh Signore, dal tetto natio“ keine aus Zehnsilblern, sondern eine überwiegend aus
Siebensilblern bestehende Strophe (in der italienischen Metrik zählt im Gegensatz zur
deutschen in erster Linie die Silbenanzahl und nicht deren Betonung).
Der ursprünglich auch in Rezitativen eingesetzte Siebensilbler ist die in den Opernlibretti
dieser Zeit wohl am häufigsten zu findende Versform. Sie bleibt daher relativ unspezifisch, im
Gegensatz zum Decasillabo, zum Zehnsilbler, der als durchaus charakteristisch gerade für
erhabene patriotische Stücke zu sehen ist.
Auch musikalisch wirkt der Chor zu Beginn des II. Akts von „Giovanna d’Arco“ etwas
beliebig, fast beiläufig. Von der emotionalen Kraft der Chöre aus „Nabucco“ oder „I
lombardi“ ist „Dal cielo a noi chi viene“ ein ganzes Stück entfernt. Dies macht jedoch Sinn,
denn dieser Anfangschor und die darauffolgende Instrumentalmusik erweisen sich als hohler
Pomp, wenn nur kurze Zeit später die Stimmung gegen Johanna radikal umschlägt.
Das Schlusstableau des II. Aktes mit der leidenden, opferbereiten Johanna, dem verzweifelt
an die Unschuld der geliebten Frau glaubenden Carlo und mit dem zwischen Vaterliebe und
Zorn schwankenden Giacomo erreicht dann durchaus jene aufwühlenden Qualitäten, die für
die Musik Verdis so charakteristisch sind, jenen besonderen Dualismus von pathetischem und
martialischem Tonfall.
Das Ungestüme, ja „Wilde“ in der Musik Verdis, ihre besondere Emotionalität und Kraft, die
von vielen Kritikern auch negativ als „Brutalität“ gesehen wurden, ist eine Erklärung dafür
sein, dass gerade seine Musik zur Musik des Risorgimento wurde. Der Wissenschaftler John
Rosselli bezeichnete deswegen vor allem „Ernani“ und „Trovatore“, also zwei Opern, in
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denen die patriotische Thematik kaum eine Rolle spielt, als diejenigen, die den Geist des
Risorgimento am besten spiegeln würden. So aktuell die Inhalte der „Giovanna d’Arco“ für
die Zeit des Risorgimento auch sein mögen, die Inhalte allein machen nicht die politische
Wirkung eines Stücks aus.
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