Gegen Geschichtsrevision Die Initiative Erinnern und Gedenken Sangerhausen versteht sich als eine parteiunabhängige und überparteiliche Bürgerinitiative. Als praktische Erfahrung aus vielen Jahren kann festgestellt werden, dass unsere Erinnerungsarbeit die Unterstützung aller demokratischen Parteien, wenn auch in unterschiedlichen Maße, gefunden hat. Unvereinbare Gegensätze gibt es nur gegenüber rechtsextremistischen und neofaschistischen Gruppen. Mit der Alternative für Deutschland (AfD) formuliert erstmals eine in den Parlamenten vertretene Partei Einwände gegen die heutige Erinnerungsarbeit. Im Parteiprogramm der AfD heißt es dazu: „Die aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus ist zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst.“ Dieser harmlos klingende Satz bringt nicht zum Ausdruck, worum es der Partei geht, und er beschreibt auch nicht zutreffend die konkrete Situation der Erinnerungsarbeit in Deutschland. Neben den Initiativen, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, gibt es nicht nur eine breit gefächerte Geschichtswissenschaft an den Universitäten, lokale und regionale Geschichtsvereine, dazu auch weithin wirksame Einrichtungen wie Denkmalpflege, filmische Geschichtsdokumentationen, in Sachsen-Anhalt die „Straße der Romanik“, die Händelfestspiele, die Lutherdekade und vieles andere mehr. Übersehen wird auch, dass die Erinnerungsarbeit an Opfern des Nationalsozialismus stets in größere Zusammenhänge unserer Nationalgeschichte führt. Dies ist auch die Erfahrung unserer Initiative. So haben wir zum Beispiel bei dem Widerstandskämpfer James Graf von Moltke die Geschichte seiner ganzen Familie verfolgt und die patriotischen Wurzeln seiner Gegnerschaft zum Hitlerfaschismus dargelegt. Bei unserem sozialdemokratischen Mitbürger Franz Heymann wurde in einem Symposium die Geschichte der lokalen Arbeiterbewegung seit 1890 und die Rolle der Konsumgenossenschaften aufgerollt. Das Wirken des Sangerhäuser Pfarrers und Nazigegners Albrecht Gubalke nährte sich ganz wesentlich aus seiner Beschäftigung mit Meisterwerken deutscher Kunst und Musik. Die Sangerhäuser jüdische Familie Loewe war eng mit der zionistischen Bewegung verbunden, Heinrich Loewe nahm als Mitstreiter von Theodor Herzl am Baseler Kongress 1897 teil. All diese Zusammenhänge wurden durch die Stolpersteinverlegungen und Gedenkveranstaltungen zu Bewusstsein gebracht. Von einer Scheuklappenperspektive der Erinnerungsarbeit kann in keiner Weise die Rede sein. Worum geht es also der AfD? Deutlicher als im Parteiprogramm wird dies in Äußerungen führender Politiker auf internen Veranstaltungen und Schulungszirkeln. Heiner Hofsommer, Gründungsmitglied der AfD, ein nach Rassismusvorwürfen aus dem hessischen Schuldienst ausgeschiedener Geschichtslehrer, sagte am 25. November 2016 auf einer Veranstaltung der Jungen Alternative in Büdingen: „Die deutsche Geschichte hat nicht mit Adolf Hitler 1 begonnen und [ist nicht] mit Erich Honecker zu Ende gegangen. Sicher hat die deutsche Geschichte im letzten Jahrhundert, die deutsche Politik Fehler begangen, zu denen wir uns auch bekennen, aber ich sage Ihnen, die ewige Vergangenheitsbewältigung als Dauerbüßeraufgabe lähmt ein Volk.“ An anderer Stelle: „Je weiter wir von 45 wegkommen, vom Ende des Krieges in Deutschland, desto mehr üben sich die sogenannten Repräsentanten in nicht nachzuvollziehender Unterwürfigkeit, Servilität und öffentlicher Selbsterniedrigung. Aber das hat jetzt ein Ende.“ Dieses Zitat ist in vieler Hinsicht aufschlussreich. Es zeigt, worum es den Vordenkern der AfD in erster Linie geht: Eine Revision der Geschichte, mit der die Ergebnisse des demokratischen Diskurses in einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit unserer jüngeren Geschichte auf verdrängende Schlagworte reduziert werden sollen. Das Entstehen des Nationalsozialismus, die Entfesselung eines Krieges, der Millionen Deutsche das Leben und vielen weiteren Millionen die Heimat gekostet hat, von dem Holocaust gar nicht zu sprechen, all das wird auf „Fehler“ der deutschen Geschichte und Politik reduziert. Es ist kaum eine Position denkbar, die weiter von einem echten Patriotismus entfernt wäre, als diese herz- und kopflose Geschichtsklitterung. Bemerkenswert ist, dass sich Hofsommer aber zu den Fehlern der Geschichte „bekennen“ will. Im Klartext, er stellt sich in eine Traditionslinie mit dem Nationalsozialismus. In kürzerer Form brachte Björn Höcke, der von Hofsommer inspirierte jetzige Landesvorsitzende der AfD in Thüringen, zum Ausdruck, was mit dem „Aufbruch der verengten Erinnerungskultur“ gemeint ist. Auf dem 2. Kyffhäusertreffen des „Flügels“, Juni 2016, behauptete er: „Das permanente Mies- und Lächerlichmachen unserer Geschichte hat uns wurzellos gemacht.“ Und er fügte mit pathetischer Geste hinzu: „Wir haben jetzt 70 Jahre lang Mahnmale gebaut, es ist hohe Zeit, dass wir wieder Denkmäler errichten.“ Der Zeitbezug „70 Jahre“ zeigt überdeutlich, von welchen „Wurzeln“ sich der Flügelmann abgeschnitten fühlt: Es ist der Nationalsozialismus und sicher auch der ihn vorbereitende konservative Nationalismus des Kaiserreiches. Mit welcher Bilanz hat diese Traditionslinie unserer Geschichte abgeschlossen? Nach dem 1. Weltkrieg waren die Kolonien, das Reichsland Elsaß-Lothringen und Westpreußen verloren, nach dem 2. Weltkrieg folgten Pommern, die Neumark, Schlesien und Ostpreußen. Der Nationalismus hat Deutschland in jeder Hinsicht kleiner gemacht, deswegen brauchen wir heute nicht nur Mahnmale, sondern es bedarf neuer und energischer Mahnrufe gegen „Reinwascher“ unserer Geschichte und selbst ernannte „Patrioten“. Heiner Hofsommer beklagt, dass die heutige Generation „kein Rückgrat, sondern nur noch eine Wirbelsäule“ habe. Nach dem Programm der AfD soll die Jugend in Deutschland wieder ein „Fels in der Brandung“ werden und nicht mehr „Treibsand“ sein. Die Schule soll große Deutsche vor Augen stellen – Hofsommer nennt beispielsweise Hermann den Cherusker, Karl den Großen, Luther und Bismarck – und preußische Tugenden lehren. Hier zeigt sich, dass die AfD ein völlig antiquiertes pädagogisches Konzept propagiert. Es läuft im Grunde auf simple Indoktrination der Jugend im nationalistischen Sinn hinaus und vermittelt Schlagwörter statt Bildung. 2 Es ist nicht zu bestreiten, dass die Jugend, wie auch die Gesellschaft insgesamt, identifikationsstiftende Vorbilder braucht. Gerade im Widerstand gegen den Nationalsozialismus findet man herausragende Beispiele für Mut, Charakterfestigkeit und Liebe zur Heimat. Allerdings würde in der Erziehung eine Beschränkung auf deutsche Vorbilder zu einer provinziellen Verengung führen, wie man das zum Beispiel am nationalsozialistischen Kulturbetrieb ablesen kann. Die Weimarer Klassik als Gegenbeispiel hatte die Perspektive einer Weltkultur. Goethe besang im West-Östlichen Divan die Begegnung und Verschmelzung von Orient und Okzident, für die Deutschtümelei während der Kriege gegen Napoleon hatte er nur Spott und Hohn übrig. Die Globalisierung des wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Lebens in unserer Zeit ist ein objektiver Prozess, der nur eine Alternative bereithält: Gestaltend einzugreifen oder den Anschluss zu verpassen. Verantwortlich: Peter Gerlinghoff Januar 2017 3