Und dann gab sie mir die Hand. Meine sehr persönliche Begegnung mit Judith Butler bei der Verleihung des Adorno-Preises an sie am 11.9.2012 in Frankfurt am Main Nein, bedauerte die Dame des Protokolls, es seien alle Plätze vergeben. Wochenlang hatte ich bei verschiedenen offiziellen Stellen um einen der begehrten Plätze in der bedeutungsgeschwängerten Paulskirche angefragt. Dass ich auch Philosophie unterrichte und ein ähnlich „verqueres“ Leben führe, wie die Preisträgerin dies sozusagen als staatsbürgerliche Tugend einfordere, entlockte dem Protokollchef nur ein höfliches Lächeln. Da gäbe es sicherlich viele von dieser Sorte. Wenn er sich da mal nicht getäuscht hatte! Meine Stimme allerdings, die dann nur noch sanft klang und traurig, als ich merkte, dass alles Mühen wohl nichts nutzen würde, bewirkte dann etwas, das der Preisträgerin mit Sicherheit gefallen hätte, und womöglich hat sie als guter Geist im Hintergrund diese Szene auch irgendwie mitbestimmt: Ich bekam unverhofft meine Karte, jetzt aber glückselig schnell in mein schönstes schwarzes Kleid, und welcher Blazer und welcher Lippenstift gefällt wohl einer so sanft und achtsam anmutenden Frau? Dass sie, die das Schubladendenken mit ihrem Identitätsdiskurs so gründlich ad absurdum geführt hatte, den Reizen der Komplementarität nicht gänzlich abgeschworen habe , setzte ich wohl unbewusst dabei voraus. Ja, auch ich wollte ihr etwas zurückgeben an diesem denk-würdigen 11. September, dieser Frau, die sich so mutig öffentlich zu ihrer Verletzlichkeit bekannte und heute Abend die Größe besaß, sich und uns jede Kleinlichkeit im Umgang mit ihren Kritikern zu ersparen. Sie, die nicht nur die Feministinnen „aufgewühlt“ habe, so die Laudatio von Frau Professor Gehlen, sie, die die gesellschaftlich notwenige „trouble-maker“ –Rolle so kosmopolitisch denkend und handelnd ausfüllte, sie ahnt wohl einiges von der identitätsreifenden Funktion, die sie neben mir noch einigen weiteren Menschen im Saal bietet, die sie spiegelt und bestärkt und wir ihr diesen Spiegel zurückgeben auf dankbare und energetisch liebevolle Weise: Wie man ein gutes Leben inmitten des schlechten führen könne, das lässt mich plötzlich wieder teilhaben am lange verdrängten Prinzip Hoffnung. ihr Impetus, die Menschen als gleich berechtigte, auf Augenhöhe anzusprechen, löst Barrieren auf, Barrieren, die dem bloßen Überleben dienten und sich wie ein rauschhafter Nebel um die von ihr nun endlich benannten Sinnfrage gelegt hatten. Absichtslos offen bin ich nun für die friedvolle Energie dieser so kleinwüchsig-großen Frau,die einen großen Bogen spannt von Adorno über Freud bis hin zum missachteten Alltagsmenschen ,der sich zu den „Unbetrauerbaren“ zählt und dem sie eine gefühlte Sprache gibt und für den sie eine Wirklichkeit skizziert, die dieser bräuchte, damit auch sein Leben so wert geschätzt wird, dass es dann auch betrauerbar wird,-irgendwann. Ihre Nähe zur modernen Traumaforschung wird deutlich, wenn sie von den Schwierigkeiten spricht, die Lebendigkeit zu suchen und diese gleichzeitig zu fürchten. Der neuen Psychoanalyse jenseits bloßer Narration spricht sie das Gegenmodell der Performanz zu, die mit den Chancen von Übertragung und Gegenübertragung das falsche Leben im richtigen betrauern und anders gewichten lasse. Den Mut zu trauern verkörpert sie eindrucksvoll an diesem so gar nicht traurigen Abend für sie, in dem sie falscher Naivität gegensteuert mit dem gefühlten Wissen, dass nicht alles Erlebte in Sprache, in Ausdruck zu fassen sei. Kein Talk-Show Abend also dieser Diskurs, wahrlich nicht, und auch dies macht sie zu der tiefsinnigen „Denkerin von Weltrang“ ,als welche sie heute zu recht in der FR bezeichnet wird. Mag es dieses sich immer wieder neu „Rechenschaft ablegen“ sein, das sie authentisch verkörpert und sprachlich auf höchstem Niveau zu fassen bekommt, was sie bei mir zum Katalysator verdrängter Hoffnungen und Wünsche werden lässt, - der dialektische Prozess des sich gegenseitig „Brauchens“ und Erreichens war spürbar heute Abend. Sie lebt, was sie sagt. Dass sie auch Intuition hat und genau spürt, wen sie ganz erreicht und beseelt hat und wer ihr von Herzen zugewandt ist, zeigt sie mir auf wunderbare Weise im Hinausgehen: Sie gibt mir die Hand. Ingrid Dautel 11.9.2012