VOR DER PREMIERE - Die Kinderoper »Brundibár« als Kooperation von Tonne, Philharmonie und capella vocalis Theresienstädter Fassung REUTLINGEN. Es grenzt an ein Wunder und ist zugleich ein Hinweis für die lebendige Kraft der Musik: 55 Mal wurde im KZ Theresienstadt von inhaftierten Kindern und Musikern die Kinderoper »Brundibár« aufgeführt. Geleitet wurden die Aufführungen vom Komponisten Hans Krása - und immer wieder neu arrangiert, wenn Mitwirkende in die Vernichtungslager abtransportiert wurden und andere Instrumentalisten sie ersetzen mussten. 1944 wurde auch der aus Prag stammende Jude Krása nach Auschwitz gebracht und vergast - im Alter von 45 Jahren. Die grauenvolle Situation, in der die in den Konzentrationslagern der Nazis zusammengepferchten und gequälten Menschen leben mussten, will Tonne-Intendant Enrico Urbanek in seiner Neuinszenierung von »Brundibár« nicht verschweigen. Darum lässt er die Geschichte in einem Lager spielen (Ausstattung: Ilona Lenk), wo die Kinder ihre Auftrittskostüme und Requisiten aus dem Wenigen ihrer Habe zusammenstellen. Hinzugefügt wird zu der 40-minütigen Kinderoper ein bis zu achtstimmiger Eingangs-chor der capella vocalis (mit den Männerstimmen), der die Atmosphäre der verzweifelten Trauer vermittelt: »Wie liegt die Stadt so wüst« von Rudolf Mauersberger. Die singenden Darsteller sind 20 Mitglieder des Knabenchores capella vocalis zwischen 9 und 14 Jahren, je zur Hälfte aus Reutlingen und Besigheim, wie ihr Leiter Eckhard Weyand mitteilt. Gemeinsam mit Ulrike Härter hat er die Solopartien und die Chorstücke einstudiert, zunächst im zweiwöchigen Ferienaufenthalt in einem bayerischen Kloster und danach an den Wochenenden im Theater, wo noch die für die Jungen ungewohnte Übung des Schauspielens hinzukam. Nach den vielen Proben schälte sich nun eine Hauptbesetzung heraus, die sich jedoch im Laufe der zehn Vorstellungen auch ändern kann. Markus Landerer dirigiert Die musikalische Leitung der aufwendigen, von etlichen Sponsoren unterstützten Koproduktion von Tonne, Württembergischer Philharmonie und capella vocalis hat Markus Landerer, Domkapellmeister am Wiener Stephansdom. Mit ihm setzt sich die fruchtbare Zusammenarbeit bei der »Stadtoper« 2009 fort. Hans Krásas Musik verortet Landerer zwischen Zemlinsky, der Krásas Lehrer war, und französischem Neoklassizismus: »gute, interessante Musik, harmonisch tief und nicht zu simpel«. Geschrieben wurde »Brundibár« 1938 in Prag, doch verhinderte Hitlers Machtübernahme eine Aufführung. In Theresienstadt fertigte Krása eine neue Fassung, die für die Reutlinger Inszenierung verwendet wird. Sie ist für ein kleines Orchester mit elf Musikern geschrieben und enthält neben Violinen, Flöten, Klarinette und Trompete auch ein Akkordeon und eine Gitarre. Es spielen die Profis der Württembergischen Philharmonie. Das ursprünglich tschechische Libretto stammt von Adolf Hoffmeister. Im Mittelpunkt stehen die beiden Kinder Aninka und Pepiek. Ihre Mutter ist krank und braucht dringend Milch, doch ist kein Geld im Haus. Jeder, den die Geschwister auf dem Markt um Hilfe bitten, weist sie ab. Da nehmen sie sich den Leierkastenmann Brundibár als Vorbild, um mit Musik Geld einzuspielen. Aber der verjagt sie. Es wird Nacht, da gesellen sich Spatz, Hund und Katze zu Aninka und Pepiek und ihnen wird klar: Wir müssten viele sein. Gemeinsam trommeln sie einen ganzen Chor zusammen und unter aller Mithilfe jagen sie Brundibár fort und wehren auch seine verbrecherischen Methoden ab, mit denen er sie ausschalten will. Für Propaganda missbraucht Dieser gespielte Erfolg unter dem Motto: »Gemeinsam sind wir stark« hat den Kindern im KZ sicher Mut geben können. Mit dem bösartigen Brundibár haben die Gefangenen Hitler gleichgesetzt. Brundibár heißt übersetzt Brummer oder Hummel. Hitlers Propagandaleute haben indes die Kultur in Theresienstadt für ihre Zwecke missbraucht und sie in dem Film »Der Führer schenkt den Juden eine Stadt« als schöne Freizeitbeschäftigung verkauft. In dem Film ist auch ein Ausschnitt von »Brundibár« zu sehen. Im Rahmen der Reutlinger »Brundibár«-Produktion gibt es zur geschichtlichen Vertiefung von Ende September bis Ende Oktober in der Christuskirche eine Ausstellung über den Alltag im KZ Theresienstadt anhand von Tagebüchern und Zeichnungen von 60 Mädchen, die im Laufe der Zeit in Zimmer 28 des KZs untergebracht waren. Der Titel der Ausstellung: »Die Mädchen von Zimmer 28, L 410 Theresienstadt«. Sie ist dienstags bis samstags von 14 bis 17 Uhr geöffnet, auf Anfrage auch vormittags für Schulklassen. Enrico Urbanek wünscht sich ein möglichst breites Interesse für das Thema des Holocausts, von dem offenbar viele Jugendliche und junge Erwachsene heutzutage nur wenig wissen. Die Kinderoper richtet sich ausdrücklich auch an Erwachsene. (GEA) Reutlinger General-Anzeiger, 22.09.2011, Monique Cantre