MENSCHLICHE ETHIK IM STREIT DER KULTUREN

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MENSCHLICHE ETHIK IM STREIT DER KULTUREN
Hans-Martin Sass
ETHIK UND BIOETHIK AUF DEM PRÜFSTAND
Seit den mörderischen Anschlägen religiöser und politischer Extremisten auf unschuldige
Menschen im September 2001, erneut ausgebrochenem religiösen und kulturellem Hass in Palästina
und Indien und untauglichen Versuchen der Selbstrechtfertigung politischer Unterdrückungssysteme
in Kuba, Irak, Nordkorea und anderswo wird schon gleich am Beginn eines neuen Jahrtausends
wieder vom Kampf der Kulturen gesprochen und geschrieben [7]. Die These soll besagen, dass es
einen unauflösbaren Gegensatz zwischen dem Reich des Guten und dem Reich des Bösen gibt und
dass dieser Gegensatz die 'Söhne des Lichts' auffordert, die 'Bösen zu liquidieren, zu bestrafen oder
im besten Fall zu 'bekehren'. Dieses theologische und philosophische Modell des Zarathustra zur
Interpretation und Selbstermächtigung von Terror und Verfolgung der 'Anderen' wurde seit 2500
Jahren immer wieder aufgegriffen, von den Manichäern, den Repräsentanten des religiösen
Fanatismus und des rechten und linken Faschismus und politischen Dogmatismus.
Konfrontationen zwischen Kulturen sind nicht neu und Grenzziehungen zu anderen Traditionen
gehören zum Charakter einer Kultur wie ja auch Individuen ihre Identität aus dem Verhältnis zu
ihrer sozialen und sonstigen Umwelt bestimmen und bestätigen. Rückbindung ethischer Prinzipien
oder Gebote an 'letzte' oder 'absolute' Werte ist Markenzeichen von Kultur, gleichgültig ob diese
Rückbindung durch göttliche Offenbarung oder Vertragstheorie, Naturrecht, Herrscherdiktat oder
eine Mischung aus allen innerhalb der Kultur oder in der Interaktion zwischen Kulturen validiert
wird. Gibt es dann aber überhaupt universale Werte, die allen Kulturen, Religionen oder
Verhaltensnormen gemeinsam sind? Gibt es eine Ethik, spezieller: gibt es eine Bioethik, die alle
Menschen gleichermaßen verpflichten kann und auf die alle gleichermaßen vertrauen können? Oder
sind Werte und Wünsche, Hoffnungen und Ängste kulturrelativ?
Ist der manichäische (Vernichtungs-)Kampf zwischen den Kulturen das einzige Modell der
Interaktionen zwischen Kulturen und Individuen unterschiedlicher Kulturen oder gibt es andere
Modelle der Erklärung und der Selbstfindung in einer heute nicht weniger wertpluralen Welt als es
die Welt des Zarathustra vor mehr als 2500 Jahren war? Am Beginn des 21. Jahrhunderts bestätigt
1
sich immer noch die These des Moses Mendelsohn von 1783: „auch die Ohnegötterei hat, wie eine
leidige Erfahrung lehrt, ihren Fanatismus“ [18:1999]. Klassische Revolutionsstrategien sind zu
Beginn des 21. Jahrhunderts sowohl in säkularerö wie in religiöser Verkleidung modifiziert
weiterentwickelt worden [36].
Auch die deutsche Diskussion um die Bioethik ist durch manichäische Positionen der
Diffamierung und der Verweigerung von Kommunikation und Kooperation gekennzeichnet. Die
diffamierende Stellungsnahme der „Grafenecker Erklärung zur Bioethik“ vom Juni 1996 ist nach
wie vor unter weltanschaulichen Fundamentalisten und bei einigen Medienvertretern
meinungsbildend; hier heißt es: 'Mit großer Besorgnis stellen wir fest, dass die Bioethik kein
Instrument zur Bewahrung der Menschenrechte ist, sondern im Gegenteil an entscheidenden Stellen
den Boden der Menschenrechte verlässt, die geschichtlichen Erfahrungen missachtet und den
menschenrechtlichen Schutz des Einzelnen zweckdienlichen Wertschätzungen unterwirft'. Arrogant
pauschalierend und die weitverzweigte, auch kontroverse, Diskussion innerhalb der internationalen
Bioethik missachtend, wird festgestellt: 'Die Bioethik lehnt letzte Werte ab, so auch die
Unantastbarkeit menschlichen Lebens. Menschliches Leben ist für sie prinzipiell ohne Sinn und
ohne Wert, kann aber durch Handlungen Sinn und Wert erwerben. Voraussetzung für diese
sinnstiftenden Handlungen sind im Denken der Bioethiker Eigenschaften wie Selbstbewusstsein,
Selbstkontrolle, Gedächtnis, Kommunikationsfähigkeit sowie Sinn für Zukunft und Zeit.
Menschliches Leben wird für die Bioethiker erst durch diese Qualitätsmerkmale zu personalem
Leben. Ohne sie sei menschliches Leben unpersonal, ohne Würde, ohne Wert und ohne Recht.- Die
Bioethik bestreitet damit die Universalität der Menschenrechte, die jedem Menschen, - unabhängig
von seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht, seiner Leistung oder seiner Gesundheit - die
Unverletzlichkeit seiner Person und die Unantastbarkeit seiner Würde garantieren. - Auf der
Grundlage dieser bioethischen Grundaussage werden Menschen mit Behinderungen oder
Alterserkrankungen abgewertet und zu Forschungsobjekten und Materiallagern für Transplantate
degradiert, werden Sterbende als Kostenfaktor betrachtet und Embryonen zu Sachen erklärt' [35].
Dogmatiker,
Fanatiker
und
Radikale
orientieren
sich
bevorzugt
an
einem
antikommunikativen und antikooperativen Kampfmodell und nicht an Modellen von
Kommunikation, Kooperation, Ausgleich und Toleranz. Das ist aber ein methodisch wie
konzeptionell sehr enger Ansatz, der ethische und kulturelle Konfliktsituationen eher begründet und
2
verstärkt als erklärt oder verringert. Weniger das Modell des Kampfes, als vielmehr das von
Kommunikation und Kooperation der Kulturen scheint deshalb ein methodisch und konzeptionell
flexibleres und optimales Modell zum Verstehen der gegenwärtigen kulturellen und ethischen
Konflikte und Konfrontationen zu sein. Kommunikation und Kooperation sind unabhängig und vor
ihren philosophischen oder theologischen Bestätigungen immer schon erfolgreiche menschliche
Formen des Umgangs miteinander und der Schaffung und Erhaltung der Märkte von Werten und
Waren gewesen. Nicht erst seit Lessings Vision von einem kommunikativen und kooperativen
Wettkampf zwischen den Kulturen, insbesondere der drei monotheistischen Weltreligionen, zur
Humanisierung und Zivilisierung der Menschen und der Menschheit sind Prinzipien von
gegenseitigem Verstehen und gegenseitiger Hilfe zentrale Themen vieler Weltanschauungen und
Religionen. Die Ideen von Menschenrecht und Menschenwürde und die Idee der einen Menschheit
gehören zusammen: Zum Konzept der Einheit der Menschheit und der Idee von der
Unveräußerlichkeit von Menschenrechten gehört die Vermutung auf eine Universalität menschlicher
Werte und menschlicher Würde jenseits aller kulturellen oder religiösen Ausprägungen. Die
gegenteilige Position müsste zwischen Menschen und 'Unter-Menschen', zwischen lebenswertem
und lebensunwertem Leben unterscheiden und kann keinen Begriff von Menschheit, Menschenrecht
oder Menschenwürde bilden.
Die allgemeine Akzeptanz eines allgemeinen Sittengesetzes ist nach Kant die Bedingung der
Möglichkeit überhaupt über Ethik reden und ethisch handeln zu können. Die inhaltliche
Ausgestaltung dieses von Kant als kategorisch verbindlich beschriebenen Sittengesetzes allerdings
war und ist kontrovers, deshalb hat Kant sich bemüht, den formalen Charakter des kategorischen
Geltungsanspruchs so kompromisslos zu unterstreichen. 'Anima humana originaliter religiosa' heißt
es bei den christlichen Kirchenvätern. Ihres spezifisch religiösen Gehalts entkleidet, heißt das wohl,
dass es zur 'materia humana' gehört, sich an etwas rückzubinden, das Identität stiftet, das orientiert
und Handeln rechtfertigt. Zu diesen Rückbindungen wären dann auch die säkularen Rückbindungen
demokratischer, sozialistischer, anarchistischer, faschistischer, hedonistischer oder umweltbesorgter
Weltanschauungen ebenso zu rechnen wie säkulare und nichtsäkulare Kultbewegungen oder
Neoreligionen.
Die theologische Diskussion hat übrigens immer auch die 'anderen' unter die Religionen
gerechnet und als 'Götzendiener' oder 'Ketzer' bezeichnet. Das 'Böse' oder personifiziert der 'Satan'
3
waren und sind immer potentielle Autoritäten für Referenz von Rückbindung und Auftrag. In den
heiligen Schriften von Judentums, Christentum und Islam erscheint der Satan als reale Gegenmacht
Gottes, des Allmächtigen und Barmherzigen. In anderen Religionen und Weltanschauungen wird
weder das Böse als solches noch die Existenz 'böser Menschen' bestritten. Im Gegenteil, Kultur wird
zumeist als Überwindung des Bösen und als Daueraufgabe in dessen Kontrolle verstanden.
Über Jahrhunderte war die jeweils von interessierten Staaten geschützte oder sogar
geförderte Seeräuberei auf den wichtigsten Handelsrouten endemisch, bis vom Ende des 18.
Jahrhunderts an die Engländer damit begannen, sie brutal zu bekämpfen und auszurotten; andere
Länder, die ebenso wie die Engländer früher im eigenen Interesse die Piraten gefördert hatten,
unterstützten sie. Jetzt wurden sie auch als das bezeichnet, was sie immer schon waren 'hostes
humani generis', Feinde der menschlichen Rasse. Die Methoden des Umgangs mit dem 'Bösen', das
nach biblischem Zeugnis und allgemeiner Erfahrung bevorzugt gern in der Maske des 'Guten'
auftritt, waren unterschiedlich: teils diskursiv oder adhortativ, teils einschüchternd, folternd,
mordend. Wichtig für die Selbstverständigung des Gläubigen ist die sowohl im Judentum wie im
Christentum und Islam bekannte Überlieferung, dass das Böse auch und nicht selten und dann in
besonders gefährlicher Form unter der Maske des Guten, der Kultur, im Namen Gottes oder im
Interesse der Menschenrechte, des Friedens und der Gerechtigkeit auftreten kann und auftritt.
Ethik und Bioethik stehen also wieder einmal auf dem Prüfstand, genauer: religiöse oder
philosophisch Autorisierungen ethischer Prinzipien und religiös oder ideologisch begründete
Handlungen müssen sich befragen und prüfen lassen, ob sie Humanität und Menschlichkeit
befördern oder verhindern. Nach Jakob Burckhardts Einsicht in den 'Weltgeschichtlichen
Betrachtungen' (1904) gilt es, insbesondere kritisch zu sein gegenüber den jeweiligen ethischen
Empörungsmoden und kulturellen Prioritätssetzungen, da nach seiner Erfahrung Humanität und
Menschlichkeit nicht selten gegen die Modetrends und nicht durch dieselben geschützt oder
befördert werden.
Ethische Konzeptionen argumentieren, dass sie sich auf Theorien über Erkenntnis oder
Menschen oder auf Offenbarung eines höheren Wesens, auf das Gesetz der Geschichte oder die
Einsicht in natürliche Gesetzmäßigkeiten gründen. Insofern diese Gründungen und ihre Authentizität
falsch oder widersprüchlich sein können, fehlt es solchen Begründungen gerade in kontroversen
Auseinandersetzungen an Autorität. Oft ist Ethik nichts anderes als die Anwendung von Theorien
4
oder Geboten in der Praxis oder sie wird als Mittel zum Zweck von Theorieherrschaft oder
politischer Herrschaft entworfen und eingefordert. Schließlich können Theorien, Prinzipien,
Tugenden und Gebote wie alle Instrumente sowohl zu guten wie auch zu schlechten Zielen
eingesetzt werden. Menschliche Ethik orientiert sich an Mitmenschen, deren Verletzlichkeit und
Bedürftigkeit, nur sekundär an Theorien und Geboten und nur insofern dieselben Kommunikation
und Kooperation, Helfen und Heilen motivieren und implementieren können. Für die menschliche
Ethik ist der Mensch das Maß des Argumentierens und Intervenierens; Gebote und Theoreme sind
für Ethik und Kultur nur von subsidiärer Bedeutung. Dieser methodische Ansatz einer menschlichen
Ethik könnte naturrechtlich, aufklärerisch oder kommunikationstheoretisch im einzelnen begründet
werden. Im Gegensatz zu der eher paternalistischen Position der Verantwortungsethik von Jonas
[10], in der Obrigkeiten sich verantwortlich fühlen sollen, die Bürger umfänglich vor den Risiken
der modernen Technik zu schützen, geht die menschliche Ethik von einer individuellen
Verantwortungsethik aus und von der These, dass die Ermunterung, Stärkung und Respektierung
individueller Verantwortung Mittel und Ziel der Ordnungsethik in einer wertpluralen Kultur und
Gesellschaft sein muss [26;27].
Die aktuelle Frage nach der Einheit von Ethik und nach einer menschlichen Ethik, in der der
Mensch als Mitmensch im Mittelpunkt von Kommunikation und Kooperation steht, soll unter den
Bedingungen in einer wertpluralen Welt in drei Schritten diskutiert werden, (a) in einer
situationsethischen Diskussion einer Narration über menschliche Ethik, (b) in einer Analyse des
konfliktreichen Verhältnisses von Moraltheologie und menschlicher Ethik, schließlich (c) in einem
ordnungsethischen Entwurf für eine individuelle Verantwortungsethik innerhalb einer pluralen
Wertewelt.
EINE NARRATION ZUR KONKRETEN MENSCHLICHEN ETHIK
Ein Mensch wird auf einsamer Strasse überfallen, verprügelt und ausgeraubt. Er bleibt
halbtot liegen. Danach kommen andere Leute vorbei, unter anderem ein Priester von höherem Rang
und ein Geistlicher von niederem Rang und einer anderen religiösen Gruppierung. Beide helfen
nicht. Schließlich kommt ein Mann vorbei, der zu einer mehrheitlich verachteten religiösen Sekte
gehört; der versorgt das Opfer mit erster Hilfe, bringt den Menschen in ein Gästehaus und zahlt aus
eigener Tasche für Aufenthalt und Behandlung.
5
Diese Narration ist im christlichen Kulturkreis als die 'Geschichte vom barmherzigen
Samariter' bekannt und wurde zuerst von Jesus erzählt [Luk 10]. Sie ist hilfreich vorläufig eine
'prima facie' Antwort auf die Frage nach der Relevanz religiöser Ethik in pluralistischer Gesellschaft
zu suchen. Es ging damals um die philosophische und moraltheologische Frage nach Umfang und
Grenzen mitmenschlicher Solidarität sowie nach der Gemeinsamkeit oder Unterschiedlichkeit
ethischer Prinzipien und Tugenden: genauer nach der Bestimmung des 'anderen' als des Adressaten
von Solidarität innerhalb einer glaubenspluralen Welt. Jesus weicht der metaphysischen und
theologischen Frage aus, setzt vielmehr eine Welt pluralistischer und nicht mehr
allgemeinverbindlicher Wertbegründungen voraus und erläutert seinen Lösungsvorschlag situativ
und narrativ. Einige vorläufige Thesen zu einem Modell einer menschlichen Ethik lassen sich aus
dieser Geschichte ableiten:
(1) Es gibt einen Unterschied zwischen Moraltheologie, menschlicher Ethik und
menschlichem Handeln, zwischen genereller Begründung, individueller Akzeptanz und faktischer
Anwendung von Prinzipien. Diese Einsicht Jesu lässt sich auch auf säkulare Formen der
Begründung und Durchsetzung von Handlungen ausweiten und in einer These zusammenfassen: der
Unterschied zwischen unterschiedlichen Formen ethischen Redens und ethischen Handelns ist selbst
von ethischer Bedeutung.
(2) Gute menschliche Ethik und ihre Praxis hängen nicht von der intellektuellen Qualität
einer dogmatischen Lehre oder philosophischen Theorie ab. Der intellektuelle Qualitätsstandard
einer Ethiktheorie, gleichgültig ob durch Offenbarung, Hierarchie Vernunft, Konsens, Vertrag oder
sonst wie autorisiert, entscheidet nicht über ihre Durchsetzung in der Praxis. Eine gut gemachte
Theorie ist noch keine Gewähr für eine gute Praxis. Das ethische Handeln wird konstituiert durch
persönliche Bereitschaft zum Handeln, dessen Erfolg von der Situation und der angemessenen
Anwendung einer angemessenen Theorie abhängt. Es gibt also durchaus ethische Theorien, die in
der Theoriefolgenabschätzung in bezug auf ihre Praxisbedeutung negativ bewertet werden können.
In diesem Fall könnte das eine theoriekonstituierte exklusive Einschränkung des Begriffs vom
Nächsten auf Angehörige der eigenen Gruppe gewesen sein. Andererseits gilt entsprechend, dass
allgemein als intellektuell oder anderweitig wenig ansprechend geltende Theorien oder
Frömmigkeitskulturen durchaus genuine Mitmenschlichkeit und menschliche Ethik konstituieren
können. Es ist gleich, wie Deng Xiao Ping bemerkte, ob eine Katze weiß oder schwarz ist: die
6
Hauptsache ist, sie fängt Mäuse.
(3) Gute ethische Theorie und gutes ethisches Handeln sind nicht exklusiv, sondern inklusiv.
Beide beschränken sich nicht auf die Angehörigen der eigenen Rasse, Glaubensgemeinschaft oder
Gruppe. Dem 'Fremden' gilt als einem Mitmenschen das ethische Handeln ebenso wie dem Freund
und Glaubensgenossen. Der Samariter war der Nächste für den, dem er geholfen hatte, nicht weil
beide der gleichen Religion oder Gruppe zugehörten. Mit Absicht erwähnt Jesus die
Gruppenzugehörigkeit des Hilfsbedürftigen nicht. Gleichgültig ob das Opfer ein gläubiger Jude
gewesen war oder nicht, die beiden Priester, die ihm die Hilfe verweigerten, waren situativ zunächst
zwar die ihm Nächsten, ethisch aber die ihm Fernsten. Der 'Fremde', als 'moral stranger' - kulturell,
religiös, ethnisch - kann und darf ausdrücklich aus Kommunikation und Kooperation nicht
ausgeschlossen werden. Im Gegenteil, der 'Andere' soll in besonderer Weise gerade wegen eines
unterschiedlichen Wert- und Weltverständnisses ein Recht der Akzeptanz und des Respekts der
Würde des anderen Gewissens und der anderen Glaubens- und Lebensweise anmelden und erwarten
können [3. Mos 19:34].
(4) Es gibt gewisse mittlere ethische Prinzipien menschlicher Ethik, die von religiösen und
weltanschaulichen Positionen jeweils auf ihre Weise autorisiert werden. Über mittlere Prinzipien
ethischen Handelns und deren Geltung lässt sich Konsens erzielen unabhängig davon, wie sie jeweils
innerhalb der einzelnen Glaubensgruppe begründet werden.
(5) Das Prinzip der Solidarität oder Nächstenliebe gehört zu diesen für jede menschliche
Ethik konstitutiven ethischen Prioritäten, ohne welche Einheit von Menschheit und Menschenwürde,
Menschsein und menschlich sein nicht denkbar sind. Das Prinzip der Nächstenliebe oder Solidarität
beispielsweise lässt sich moraltheologisch, naturrechtlich, kommunikations- oder vertragstheoretisch
begründen. Solidarität, Barmherzigkeit, Nächstenliebe gehören auch in buddhistischen,
konfuzianischen und taoistischen Modellen von Glauben und Orientierung, ebenso im Christentum
und Islam, auch in agnostischen Weltanschauungen, in humanistischer Aufklärung und
sozialistischer wie anarchistischer Gesellschaftstheorie zu den Grundprinzipien ethischen
Orientierens und Handelns. Der Anarchist Kropotkin gab seinem Hauptwerk den Titel 'Mutual Aid'
(1902).
(6) Von allen möglichen ethischen Forderungen sind diejenigen ethischen Grundprinzipien,
die sich auf die Sicherung der Bedingungen von Freiheit, Sicherheit und Lebensqualität beziehen, am
7
ersten universalisierbar und vermutlich a-priori einsichtig [25]. Freiheit von Folter, Hunger, Durst,
Vergewaltigung, Ausbeutung, Recht auf eigene Gedanken und Selbstverteidigung, das sind solche
ethischen Grundforderungen in Religionen und Kulturen, die einen Litmustest im Respekt vor einer
zunächst nur formal beschreibbaren Würde vom Menschen und Menschsein bestehen könnten.
Insofern jeder Mensch Krankheit, Schmerzen, Ausbeutung und Unterdrückung erfahren kann, sind
diese negativen Primärerfahrungen Grund für eine quasi a-priori - aus der ethischen Intuition und
Erfahrung ohne jede weitere Begründbarkeit - universalisierbar.
(7) Ohne sogenannte Sekundärtugenden wie Pünktlichkeit, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Vertragstreue sind persönliche und berufliche Interaktionen zwischen Menschen aus unterschiedlichen
Glaubens-, Rechts- oder Verhaltenskulturen nicht möglich, gleichgültig ob diese speziellen
Sekundärtugenden innerhalb der kulturinternen Verhaltenskultur eine hohe oder niedrige Priorität
haben. Je mehr ethische Prinzipien in Alltagszenarien innerhalb einer Kultur oder zwischen Kulturen
und Lebensformen für die Kommunikation und Kooperation unentbehrlich sind, umso mehr erhalten
sie deshalb einen transkulturellen Charakter.
(8) Die Rolle ethischer Theorien für die ethische Praxis wird häufig überschätzt. Beides, die
Situation, in der gehandelt und verantwortet werden muss, und die ethischen Prinzipien, die Anwendung finden, bestimmen gemeinsam die gelungene ethische Tat. Der Verantwortungserfahrene weiß,
dass gutes Abwägen erst das Gelingen ethischen Handelns sichern kann. Theorien spielen dabei
natürlich eine Rolle; insofern ist abwägende differentialethische Methode nicht mit Utilitarismus zu
verwechseln. Nicht die Utilität, sondern die Angemessenheit der Auswahl und Gewichtung von
ethischen Prinzipien sind entscheidend für ein an religiösen oder nichtreligiösen Normen sich orientierendes Handeln menschlicher Ethik.
(9) Verordnungen und Gesetze werden nicht eingehalten, wenn die Motivation nicht
vorhanden ist. Sie werden aber eingehalten, wenn situative Rahmenbedingungen, die nicht nur durch
Theorien begründet werden, gegeben sind. 'Je mehr Tabus und Verbote vorhanden sind, umso ärmer
werden die Leute. Je genauer die Gesetze und Verordnungen, umso mehr Räuber und Diebe wird es
geben' heißt es bei Laotse [13:57]. Es ist eine Frage ordnungspolitischer Klugheit, keine Regeln
verbindlich zu machen, die doch nicht eingehalten werden, weil sie individuellen Werten oder
Frömmigkeits- und Verhaltenskulturen widersprechen. In gleicher Weise gilt ordnungsethisch, dass
entsprechend dem ethischen Prinzip der Subsidiarität inhaltliche Überzeugungen von Gruppen und
8
Individuen für die Lösung gemeinschaftlicher Aufgaben akzeptiert und gefördert werden sollten,
dass individuelle Verantwortungsethik nicht nur ein Ziel, sondern auch das bevorzugte Mittel
menschlicher Ethik und zivilisierter Kommunikation und Kooperation ist.
(10)
Narrationen
sind
die
methodisch
bevorzugten
Instrumente,
menschliche
Herausforderungen situativ zu erkennen und tradierte Inhalte von Glaubensethik und
Aufklärungsethik, von Theologie und Weltanschauung, auf ihre Hilfe für die konkrete Situation zu
befragen und ethische und situative Prioritäten abzuwägen.
Jesus und seine Gesprächspartner stimmten überein, dass derjenige, der geholfen hatte, dem
Hilfsbedürftigen der 'Nächste' gewesen war, nicht die anderen. In seinem 'Dictionaire Philosophique
Portatif' stellt der Aufklärer Voltaire die Problematik wie folgt dar: Während sich die Christen seit
dem Konzil von Nicaea gegenseitig verbrannt, gefoltert oder totgeschlagen haben über so
komplizierte Fragen, ob Gott eine oder drei Personen oder drei in einer seien, haben gläubige Juden,
Christen unterschiedlicher Konfession, Mohammedaner, Mazedonier, chinesische Deisten, Hindi und
Brahmanen auf den Märkten von Basra, Amsterdam und London Geschäfte von großem Wert im
Vertrauen und durch Handschlag abgeschlossen [33]. Jesus, Laotse, Voltaire und Deng Xiao Ping
scheinen sich bezügliche eines Primats des ethischen Handelns vor und über dem ethischen Reden
einig zu sein, auch in einer Geringschätzung theoretischer Argumentationen, Spitzfindigkeiten oder
Zänkereien im Vergleich mit ethischen, kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leistungen.
Die ethische Praxis einer Theorie kann eine höhere ethische Autorität beanspruchen als die
Theorie selbst. Letztbegründungen sind kulturrelativ. Philosophien und Religionen tragen nicht
immer zu Menschlichkeit, Menschenrechten, Menschenwürde und menschlicher Ethik bei; sie sind
oft auch Teil des Problems ihrer Verletzung. Das Faktum, dass wir Menschen nicht uniform alle
einer Meinung und einer Religion sind, mag mit der Würde der Freiheit von Entscheidung und
Gewissen zusammenhängen. Warum das so ist, bleibt nach dem Koran ein Geheimnis Gottes: 'Wenn
Dein Herr gewollt hätte, wären die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig geworden. Willst
Du nun die Menschen dazu zwingen?' [Sure 10:99]
Die Narrationen von Jesus und Voltaire basieren auf der Evidenz der These, dass nur die
gelungene Praxis die Beweise in der ethischen Theoriefolgenabschätzung liefern kann. Die
skizzierten prima facie Thesen einer menschlichen Ethik im Anschluss an Jesus, Laotse, Voltaire und
Deng Xiao Ping leben aus diesem mitmenschlichen aufklärerischen Geist einer sich Menschen
9
orientierenden Verantwortungsethik, die gerade deshalb von der regulativen Idee eines allgemeinen
Sittengesetzes ausgehen kann. Sie thematisieren die Einheit und Unteilbarkeit des Menschlichen und
der Menschheit und setzen je in anderer Weise eine zumindest latent vorhandene gemeinsame Idee
von Menschlichkeit, menschlicher Ethik, Menschenrechten und Menschenwürde voraus. Das
eröffnet einen ersten Zugriff zur Frage nach dem Verhältnis unterschiedlicher und wertpluraler
Kulturen zur einen Welt zwischenmenschlichen Handelns, Kommunizierens und Verantwortens.
Wenn wir mit Kant von der Existenz eines trotz aller kulturellen Unterschiede allgemeinen
Sittengesetzes als der leitenden Idee für ethisches Argumentieren und ethisches Handeln ausgehen,
dann ergibt sich daraus eine These nicht sehr zum inhaltlichen als vielmehr zum prozeduralen
Ermessen konkreter Inhalte moralischen Handelns von Individuen und Gruppen: Idee und
Realisierung von Menschlichkeit, menschlicher Ethik, Menschenrechten und Menschenwürde
verlangen nach einer kleinen Zahl ethischer Prinzipien, die transkulturell verstehbar und
durchsetzbar sein können. Zu den Grundprinzipien menschlicher Ethik gehören der Schutz vor
Totschlag, Hunger, Folter, sowie das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Zu den mittleren ethischen
Prinzipien sind unter anderem Solidarität und Subsidiarität, Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit zu
rechnen. Insofern müssen Individuen und ethische, kulturelle und religiöse Gemeinschaften sich der
Herausforderung stellen, traditionelle und individuelle Werte, Prinzipien und Ziele ethischen
Handelns für sich selbst und untereinander in fairer Kommunikation und Kooperation und im
gegenseitigen Respekt vor der Würde von Gewissensentscheidungen und Glaubensüberzeugungen
abzuwägen und angesichts von kulturellem und ethischem Dissens nach zivilisierten und kultivierten
Wegen des Zusammenlebens und der Verwirklichung menschlicher Ethik und menschlichen
Handelns zu suchen.
DIFFERENTIALETHIK UND SITUATIVE VERANTWORTUNG
Schauen wir uns das Verhältnis von religiöser Theorie, religiöser Ethik und faktischem
Moralverhalten oder vergleichsweise von philosophischer Theorie, philosophischer Ethik und
faktischem Moralverhalten genauer an. Das klassische Modell für die Beschreibung dieses
Verhältnisses ist das von Begründung durch Offenbarung oder Vernunfteinsicht oder das der
informellen oder formellen Verabredung und Anwendung. Schon Thomas von Aquin, in der
Nachfolge von Aristoteles ein Meister nicht nur der Theoriekonstruktion sondern auch der
10
Theoriefolgenabschätzung, hatte bemerkt, dass die Anwendung von Moraltheologie nicht einfach
einer Rezeptanweisung 'man nehme ...' folgen kann, sondern dass andere Kriterien technischen,
gesellschaftlichen, kulturellen, menschlichen und nichttechnischen und nichtethischen Charakters
hinzukommen und eindimensionale Rezepturen verbieten: 'Quanto magis ad particularia descenditur'
[S. Th. I-II, art 4], je mehr man sich in die komplexen Handlungssituationen des Alltags einlässt,
umso mehr spielen situative und individuelle Variablen eine Rolle, die nicht theoriegetrieben sind.
Der Begründungsstrenge bei der theologischen und metaphysischen Ableitung ethischer Normen
muss also eine Strenge der Misch- und Mikroallokation ethischer, technischer, rechtlicher und
anderer Prinzipien in einer konkreten Situation entsprechen. Es gelten dann nicht mehr nur
Ableitungskriterien, sondern vor allem solche der Abwägung, Anwendung, Mischung und
Zweckmäßigkeit. Wie bei der Differentialdiagnostik geht es darum, Alternativen auszuschließen, das
Problem so eng wie möglich zu umschreiben und Begriffe so eng wie möglich für die Diagnose,
Prognose und die Möglichkeiten der Intervention zu ermitteln.
Die neueren Überlegungen und Erfahrungen in der Bioethik schließen sich den thomistischen
und aristotelischen Überlegungen an. So schreibt Onora O'Neill: 'The ethical principles that have
received the most attention are highly indeterminate rather than quasi-alogorithmic. They may
constrain but do not regiment action; they are more likely to recommend types of action, policy and
attitudes than offer detailed instructions for living' [20:21]. Maggie Little unterstreicht, dass
Prinzipienethik nicht von einem zu schmal angelegten Konzept der Anwendung von Prinzipien
ausgehen darf: 'For "pricipled" can mean mastery of the set of relevant concepts - having a deep
understanding of the concepts, not just the surface competence, and the skills to navigate them when
they tangle together in concrete situations' [16]. In einem Commom Framework for the Ethics of the
21rst Century der UNESCO heißt es: 'Too much legislation numbs the sense of individual
responsibility. Too little legislation leads to anarchy and disorder. legislation is best when it is
conductive to promotion of individual responsibility' [11]. Jesus, Voltaire und Kant, Deng Xiao Ping
und auch Laotse, hätten dem zustimmen können; ich schließe mich an, vermutlich auch Kropotkin.
Ich habe an anderer Stelle [27] auf den Unterschied zwischen Grundstoffen,
Halbfertigprodukten und Endprodukten hingewiesen, der uns aus den technischen und
produzierenden Wissenschaften und Künsten bekannt ist. Zu den Grundstoffen religiösen Glaubens
gehört für Juden, Muslime und Christen der Glaube an ein persönliches Verhältnis zu einem
11
persönlichen Gott, die Hoffnung auf Auferstehung und das Gebot eines göttlichen Gesetzes; in der
postmodernen pluralistischen Gesellschaft sind dem vergleichbar die Grundprinzipien von Freiheit,
Sicherheit, und Demokratie. Die Grundstoffe beider Orientierungsansätze sind unterschiedlich und
aus diesem Grunde kann und wird es natürlich zu gegensätzlichen Antrieben und Begründungen für
ethisches Handeln kommen. Halbfertigprodukte, bearbeitet und zugeschnitten, aber noch nicht direkt
nutzbar. sind generelle Formeln wie Nächstenliebe oder Solidarität, Meinungsfreiheit oder
Glaubensfreiheit, Recht auf Arbeit und Bestimmung der eigenen Lebensqualität. Diese
Halbfertigprodukte finden schließlich konkrete Ausformung als Endprodukte. Im Sozialstaat
technisch-wissenschaftlicher Zivilisation beispielsweise erscheint das Prinzip der Sicherheit in so
unterschiedlicher Form wie in der Konstruktions- und Bedienungssicherheit von Maschinen, der
Sicherheit des Arbeitsplatzes und der Umwelt, der Sicherungen unserer Sozialsysteme, der
öffentlichen Sicherheit und der Sicherheit vor militärischem oder wirtschaftlichen Krieg, dem
Schutz vor Computerviren und betrügerischer Werbung, um nur einige zu nennen.
Erst eine konkrete Situation aber entscheidet, welches der Endprodukte und mit welchem
Gewicht bei situativen differentialethischen Entscheidungen zwischen technischen und ethischen
Notwendigkeiten und Möglichkeiten angewandt werden kann oder muss. Dabei kann es immer
wieder zur Benutzung zwar richtig konstruierter, aber für diesen bestimmten Zweck nicht geeigneter
Instrumente
aus
einem
durchaus
wohlsortierten
Arsenal
ethischer
Prinzipien
und
Konfliktlösungsprozeduren kommen. Zahnärzte und Chirurgen haben unterschiedliche Zangen für
unterschiedliche Situationen; Sozial- und Gesundheitssysteme haben verschiedene Instrumentarien
im Umgang mit Not, Armut, Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit.
Auch die moderne Medizinethik hat spezialisierte Halbfertigprodukte entwickelt, bioethische
Prinzipien genannt, deren bekanntestes Set das sogenannte Georgetown Mantra ist: Autonomie,
Schadensverbot, Hilfsgebot, Gerechtigkeit [2;5]. Diese gelten aber nicht unmittelbar und nicht in
einer vorgegebenen Priorität. Sie sind vielmehr gegeneinander und gegen andere Prinzipien
abzuwägen. Als utilitaristische Prinzipien können sie ethische Sachkompetenz fördern, nicht jedoch
als solche schon das ärztliche Ethos, das personengebunden und nicht prinzipiengebunden ist. Für
die patientenethische und arztethische situative Interaktion habe ich vorgeschlagen, statt
Prinzipienkatalogen Ausschluss- und Abwägungsmodelle zu benutzen analog den Methoden der
Differentialdiagnose oder denen der Kasuistik in talmudischer Tradition: für den Arzt die Abwägung
12
zwischen Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten und der eigenen professionellen
Expertise und Ethik, zwischen dem Schadensverbot und dem Hilfs- und Heilsgebot; für den
medizinischen Laien oder Patienten die Abwägung zwischen Lebensstil und Gesundheitspflege,
zwischen Selbstbestimmung und Compliance [27]. Dieser differentialethische Ansatz kann sich auf
die klassische Tradition der Güterabwägung nach technischen und ethischen Prinzipien mit engen
Begriffen, Szenarien und vergleichen Fallstudien [10;13].
Grundsätzlich stehen die beiden Prinzipien des primum nil nocere und des bonum facere in
Spannung; sie sind nur im Einzelfall aufzulösen und für spezielle Szenarien vorzuentscheiden;
gleiches gilt für die Spannung zwischen paternalistischer Verantwortung des Arztes und
selbstbestimmender Autonomie des Patienten, die nur selten in idealen Formen der Partnerschaft,
viel häufiger in asymmetrischen Formen der Interaktion zwischen Arzt und Patient sich ausdrückt.
Dieser handlungstheoretische und risikotheoretische Ansatz bezieht ethische Risiken,
Unsicherheiten, Vorteile und Nachteile in die medizinischen Risikoüberlegungen mit ein. Die vier
miteinander verschränkten Prinzipien des nil nocere, des bonum facere, der responsibilitas und der
libertas können niemals je allein, sondern immer nur in ihrer Interaktion bewertet werden. Quasi als
Generalprobe wie als Mittel und Ziel der Arzt-Patient Interaktion sehe ich das Vertrauen sowohl in
seinem an die Person gebundenen Ethos wie auch als ethisches Prinzip, ohne dessen Erhaltung und
Stärkung überhaupt keine zwischenmenschliche und auf Werten basierende Interaktion möglich ist,
erst recht nicht, wenn es um Krankheit, Schmerz, Leid und Tod geht. Als zusätzliche, aber für das
einzelne Szenarium oder den Einzelfall noch zuzuschneidende Prinzipien sehe ich die Wahrheit am
Krankenbett, die Schweigepflicht und die Zustimmung nach Aufklärung an; sie sind den vier
genannten Gütern und auch dem Vertrauensprinzip nachgeordnet und finden von dort ihre
differenziertere Ausprägung. Insgesamt ist das Prinzip der Verantwortungspartnerschaft zwischen
dem Experten und dem Laien handlungsleitend für die medizinische Intervention und oder den
Verzicht auf sie.
Entscheidend bei diesem Modell einer differentialethischen wie partnerschaftlichen
Gesundheitsethik ist die Integration und Interaktion von Arztethik und Laienethik, von Arzt und
Patient, welche insgesamt erst das Szenarium künftiger Gesundheitsethik und der für sie
konstitutiven Kriterien für Intervention und Interaktion abgibt. Auf der einen Seite steht die
Arztethik mit der klassischen Abwägung zwischen dem nil nocere und dem bonum facere und der
13
neuen Abwägung zwischen ärztlicher Verantwortung und Selbstbestimmung des Patienten, beide
Abwägungen zusammengehalten im Modell der Verantwortungspartnerschaft und unterstützt durch
ärzteethische Zusatzprinzipien wie der Pflicht zum Einholen der Zustimmung nach Aufklärung, der
Wahrheit am Krankenbett, der Schweigepflicht und der Solidarität. Auf der anderen Seite steht die
Patientenethik mit den Abwägungen zwischen Lebensqualität und Gesundheitsrisiko, und zwischen
Compliance und Selbstverantwortung, beides wiederum zusammengehalten in einer Partnerschaft
von Verantwortung und unterstützt durch Zusatzprinzipien wie Informationsrecht und -pflicht,
Präventionsrecht und -pflicht, Recht zu Verfügungen für den Betreuungsfall und Pflicht zur
Solidarität. Diese Partnerschaft in der Verantwortung modifiziert die medizinisch-technische
Indikation und die Statistik der Prognosesicherheit. Eine nicht in Vertrauenspartnerschaft
durchgeführte Chemotherapie mit relativ guter Prognose ist medizinisch-ethisch weniger indiziert
als eine vertrauensgestützte Behandlung mit einer statistisch viel schlechteren Aussicht auf Heilung.
Bei einer medizinisch-technisch und damit arztethisch sehr starken Indikation für eine bestimmte
Intervention wird in einer asymmetrischen Partnerschaft das directive counselling und das Bemühen
um die Einwilligung zur Behandlung im Vordergrund ethischer Überlegungen stehen. Bei technisch
weniger zwingenden oder nichtvitalen Indikationsstellungen, bei Vorhandensein von
Interventionsalternativen mit durchaus unterschiedlicher Wirksamkeit, bei Interventionsverzicht
oder Interventionsreduktion, vor allem in Fällen von infauster Prognose oder Multimorbidität, auch
in der Nähe des Todes, werden wichtige entscheidungsleitende Bewertungskriterien asymmetrisch
durch Selbstverantwortung und -bestimmung von Patienten, auch durch Betreuungsverfügungen
oder benannte Betreuer, vorgegeben und sollten in ärztlicher Beratung, Begleitung und Betreuung
entsprechend umgesetzt werden. Auch für die moderne Arztethik lässt sich ein Prinzip der
Compliance mit dem wertrational vom Patienten formulierten 'Heilauftrag' oder 'Begleitungsauftrag'
des Experten formulieren.
Für das differentialethische Ausmessen der meisten Szenarien der Interaktion von Arzt und Patient
genügt, eine kleine Liste von konsensfähigen mittleren ethischen Prinzipien abzuwägen, zu denen
der Respekt vor der Würde des anderen als Person sowie saubere technische wie ethische
Risikobilanzen gehören. Ethische Prinzipien werden in Büchern diskutiert, Ethos lernt man nicht aus
Büchern, sondern im Leben. Über Ethik kann man diskutieren und räsonieren, Ethos wird gelebt.
Diese Einheit von Expertise, Ethik und Ethos macht die Verantwortungspartnerschaft zwischen
14
medizinischen Laien und medizinischen Experten klarer als die nur auf Arztethik zugeschnittenen
Prinzipienkataloge.
Bei situativen und differentialethischen Abwägungen wird die Problematik der
Identifizierung und Belastbarkeit der primären Verantwortungs- oder Handlungsträger zumeist
unterschätzt, die Rolle der Theorien dagegen überschätzt. Das größere Szenarium, in dem gehandelt
und verantwortet werden muss, und die menschliche Ethik, die aus einem größeren Gesamtkonzept
des Glaubens oder Denkens kommt, beide gemeinsam bestimmen die gelungene ethische Tat. Jeder
Verantwortungserfahrene weiß, dass es eher Erfahrung und Abwägen sind als feststehende
Prinzipien, die ein Gelingen ethischen Handelns sichern können. Theorien und Frömmigkeitsinhalte
sind wichtig, ersetzen aber nicht die Einheit von Ethik und Ethos in Kommunikation und
Kooperation in einer menschlichen Ethik im Gewande der Experten-Laien Interaktion. Insofern ist
die differentialethische Methode auch nicht mit der utilitaristischen zu verwechseln. Nicht die
Utilität, sondern die Angemessenheit der Auswahl und Gewichtung von ethischen Prinzipien
innerhalb einer Ethik des Ethos sind entscheidend für ein an religiösen oder nichtreligiösen Normen
sich orientierendes Handeln und Verantworten.
Natürlich geht es nicht ohne individuelle Rückbindung ethischer Normen an den Willen
Gottes, das Naturgesetz, den Gesellschaftsvertrag oder das Diktat des Despoten. Das gleiche gilt für
die Rückbindung der Ingenieurkunst an die newtonschen und gallileischen Gesetze. Kein
vernünftiger Ingenieur oder Konstrukteur wäre aber so vermessen, allein mit den gallileischen
Fallgesetzen oder den newtonschen Regeln allein im beruflichen Alltag auszukommen. Ein
vergleichbarer ethischer Kunstfehler ist es, konkrete situative Herausforderungen von komplexen
Gemengelagen ethischen und nichtethischen Inhalts durch den einfachen hermeneutischen Schluss
auf den Willen Gottes oder die 'Natürlichkeit' oder 'Unnatürlichkeit' einer Handlung zu entscheiden.
Zumindest müssten für ernannte oder erwählte Kirchenführer gegenüber ihrer Glaubensgemeinschaft
die Prinzipien der Autorisierung (Autorisation) durch die Gruppe oder deren Interessen und der
Freiwilligkeit und Freiheit der Zugehörigkeit (limited protection und limited solidarity)
nachgewiesen werden, - Prinzipien, welche Engelhardt für ethische Forderungen durch säkulare
Obrigkeiten fordert [4:10-12], die aber ebenso für religiöse Führer oder Sprecher gelten.
MENSCHLICHE ETHIK UND GRENZEN DER TOLERANZ
15
Insofern bestimmte moderne wertplurale Gesellschaften vorherrschend durch die eine oder
andere Religions- oder Aufklärungskultur geprägt sein können, ist eine Übereinstimmung von
Bürgern über Prinzipien und Prioritäten menschlicher Ethik und die Rangordnung der
Verantwortungsträger nicht immer gegeben. Dagegen konnte Jesus in der Narration vom
barmherzigen Samariter von einem prima facie gegebenen Konsens in der Rangordnung von
Prioritäten und Verantwortungsträgern in dieser extremen Not- und Leben-Tod-Situation ausgehen.
Sehr häufig jedoch besteht für die religiöse Ethik wie für die Ethik der pluralistischen Gesellschaft
das Problem der Harmonisierung von religiösen und nichtreligiösen Geboten. 'Die Leute sollen nicht
versuchen, ihre eigene "Wahrheit" anderen aufzuzwingen', sagte Papst Johannes Paul II in seiner
Neujahrsansprache 1991. Wenn versucht wird, das religiöse Gesetz zum Bürgergesetz zu machen,
dann, so fährt er fort, 'erstickt es die Freiheit der Religion, engt andere Menschenrechte ein oder
verweigert sie ..., Intoleranz kann das Resultat aufkeimender Versuchungen des Fundamentalismus
sein, der leicht zu ernsthaftem Missbrauch, zum Beispiel der radikalen Unterdrückung aller
öffentlichen Manifestationen von Pluralität führt'. Der Papst wandte sich in seinem Plädoyer für die
'öffentliche Manifestation von Pluralität' gegen den islamischen Fundamentalismus; seine
Argumente lassen sich jedoch auf Unterdrückungen und Usurpationen christlicher, jüdischer und
anderer Religionen und ihrer Hierarchien anwenden. Kulturelle Unterschiede sind ein reicher
Ausdruck von Menschenwürde. Individuen und Gemeinschaften müssen kulturelle Werte für sich
selbst und in fairer Kommunikation und Kooperation abwägen und ihre Kultur dadurch bestätigen,
dass sie auch im Dissens zivilisiert miteinander leben. Die päpstlichen Enzykliken 'Quadrogesimo
Anno'[31] und 'Veritatis Splendor'[33] geben für eine gemeinsam verantwortete menschliche Ethik
bei bestehendem dogmatischen oder ideologischen Dissens weitere Hinweise für säkulare und
religiöse Wertegemeinschaften: Respekt vor dem Gewissen und Subsidiarität.
Das Prinzip der Subsidiarität [31;26;28] besagt, dass die jeweils der Herausforderung am
nächsten Stehenden auch die primären Verantwortungs- und Handlungsträger sein sollen, also
beispielsweise Eltern für ihre Kinder, die Nachbarschaft für die in ihres Schutzes oder der Hilfe der
Nachbarschaft oder Gemeinde Bedürftigen. Erst wenn diese primär Geforderten versagen, dann sind
höhere Verantwortungsebenen gefragt und zur Aktion berechtigt und gefordert. Im Gebiet der
neueren Sozialethik hat sich dieses vor Jahrhunderten entwickelte Prinzip christlicher Ethik bewährt.
Es lässt sich aber auch mit Gewinn in andere Bereiche angewandter Ethik, beispielsweise in die
16
Gesundheits- und Bioethik übertragen. Es ist ein bewährtes Prinzip zur Herausforderung der
Verantwortungskompetenz der zunächst Betroffenen und zur Entlastung des Zwanges zum Konsens
bei kontroversen Problemen in einer multikulturellen Gesellschaft mit reichen und sehr
verschiedenen kulturellen Werten und Inhalten. Das Modell der ethischen Subsidiarität erhält immer
dann verantwortungsethische und ordnungsethische Bedeutung in einer wertpluralen Gesellschaft,
wenn Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker verschiedener Couleur sich streiten, wie im Fall des
moralischen Status von embryonalen Stammzellen, des frühen Embryo oder der Kriterien des
menschlichen Todes der Fall ist. Solange kein 'volontee generale', keine plausible und vom 'volontee
des tous' getragene ethische Wertung beispielsweise des Status von embryonalen Stammzellen
erreichbar ist, sollten die zunächst Betroffenen ihre Verantwortung und Wertung einbringen: das
sind die Partner, von denen die Zellen kommen, die Forscher oder Ärzte, die mit ihnen umgehen und
die prospektiven Rezipienten von Medikamenten oder Geweben, die aus diesem Material gewonnen
werden. Wenn jemand stellvertretend für diese Zellen sprechen soll, sofern man ihnen überhaupt
Willen und Interesse unterstellen kann, was hier dahingestellt bleiben soll, dann wären das die
Menschen, von denen sie kommen. Wann immer Theologen, Ethiker, Juristen und Politiker in einer
pluralistischen Gesellschaft keinen breiten und von der öffentlichen Kultur getragenen inhaltlichen
Konsens finden, dürfen die primär betroffenen und nächststehenden Individuen und natürlichen
Kleingruppen nicht in ihrer Verantwortung eingeschränkt werden. Gesellschaftliche,
weltanschauliche und religiöse Gruppen sollten im Gegenteil alles tun, um die individuelle
Kompetenz zu Güterabwägung, Verantwortung und menschlicher Ethik zu stärken.
Aber es gibt Grenzen der Toleranz dort, wo ethische Grundprinzipien und mittlere
Prinzipien, die vielfältig gestützt sind, verletzt werden [24]. Diese Grenzen der Toleranz gelten
selbstverständlich für die Sklaverei, Gewalt gegen Gewaltlose, den sexuellen Missbrauch, die
Ausbeutung oder die Folter von Mitmenschen. Die Grenzen der Toleranz gelten aber auch für
kulturell sanktionierte Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, wie schon Kant am Beispiel der
Kastration zum Zweck eines wirtschaftlichen Erfolgs als Sänger in der Opera Sera begründet hat und
wie die aktuelle bioethische Diskussion sie kritisiert am Beispiel der euphemistisch 'female
circumcision' genannten Verstümmelung der Genitalorgane bei jungen Mädchen aus kultureller
Tradition [12;17]. Diese Prozedur ist grausam und schmerzhaft. Den Mädchen wird keine
Gelegenheit zur Aufklärung und Zustimmung gegeben. Es handelt sich um eine Verstümmelung, die
17
ungesund und möglicherweise lebensgefährlich sein ist. Es schränkt das Opfer ein in der künftigen
individuellen und sexuellen Entwicklung und Freiheit. Es ist ein Eingriff in das natürliche Recht auf
den eigenen Körper und dessen Unversehrtheit. Gleiches gilt wohl auch für die frühere Sitte des
Fußbindens in China [14]. Es gilt nicht für die rituelle Beschneidung von Knaben, über die keine
gesundheitlichen Risiken berichtet werden, eher für das Kennzeichnen von Kindern mit
Stammeszeichnungen im Gesicht oder an sichtbaren Stellen des Körpers, wenn diese
Zugehörigkeitszeichen sichtbar bleiben und nicht beseitigt werden können. Die Mensurnarben der
Angehörigen schlagender Verbindungen in Deutschland sind demgegenüber selbstgewollt und
werden vom Träger und seiner Umwelt je individuell und unterschiedlich bewertet; sie schaden
keinem Dritten und fallen nicht unter das Toleranzverbot ebenso wenig wie selbstgewählte Tattoos,
auch wenn später deren Vorhandensein von den Trägern bereut wird.
Es wird kontrovers diskutiert, ob Toleranz auch gegenüber dem indischen Kastenwesen
angezeigt ist, wo Mitmenschen nach ihrer Kastenzugehörigkeit definiert werden oder sich selbst
definieren. Falls jeder ohne gesellschaftliche oder berufliche Sanktionen aus der Kaste aussteigen
könnte, wären die Kasten eine Angelegenheit, in die man hineingeboren aber in der man aber nicht
bleiben muss. Falls das Kastenwesen aber die freie Entfaltung hindert oder zu Diskriminierung führt,
dann ist es mit der Idee der gleichen und unteilbaren und unveräußerbaren Würde des Menschseins
von uns allen nicht vereinbar und unakzeptabel und widerspricht der Idee der einen menschlichen
Ethik [18]. Das Institut der 'Unberührbaren' in der indischen Kultur scheint aber eindeutig gegen das
Recht auf Nichtdiskriminierung zu verstoßen.
Unaussprechliche Grausamkeiten und Missachtungen der Menschenwürde wurden und
werden im Namen religiöser Gebote, auch im Namen Gottes verübt. Die Folterungen der heiligen
Inquisition gehören ebenso dazu wie die feige Ermordung tausender Unschuldiger im New Yorker
World Trade Center. Auch viele der unzählbaren Judenpogrome wurden im Namen Gottes
ausgeführt. Die Apokalypse des Johannes beschreibt sehr detailliert den massiven Missbrauch
religiöser Sprache und Inhalte durch den Antichristen in der Postmoderne. Insofern müssen sich
auch theologische Äußerungen und Kampagnen religiöser Hierarchien gefallen lassen, auf
Doppelzüngigkeit geprüft und nach ihrem Beitrag zur Respektierung und Durchsetzung von
Menschenwürde und menschlicher Ethik befragt zu werden. Religionen sind nicht als solche schon
oder wegen ihrer Berufung auf Offenbarung ein sicherer Hort der Menschenwürde. Das zeigt leider
18
auch die Geschichte der jüdischen, christlichen und islamischen Religionsgruppen. Der Koran ist
eindeutig in der absoluten Verurteilung des Mordens von Unschuldigen und ebenso im eindeutigen
Lob der Rettung von Menschenleben durch Gesundheitspflege und im Krieg: 'Wenn einer jemanden
tötet, jedoch nicht wegen eines Mordes oder weil er auf der Erde Unheil stiftet, so ist es, als hätte er
alle Menschen getötet. Und wenn jemand ihn am Leben erhält, ist es, als hätte er alle Menschen am
Leben erhalten'[Sure 5:32].
Hegel hat es in seiner Rechtsphilosophie (1817) deutlich gemacht, dass die Idee von
Menschenwürde und Menschenrechten irgendwann auch einmal in Bürgerrechten festgelegt und
einklagbar sein muss. Ein Menschenrecht des Schutzes vor Verstümmelung des eigenen Körpers
durch
andere
und
der
Nichtdiskriminierung
wegen
Religions-
oder
Kasten-
oder
Rassenzugehörigkeit muss als Bürgerrecht einklagbar sein, wenn es mehr sein soll als eine
philosophische Proklamation oder eine unverbindliche staatliche oder zwischenstaatliche
Absichtserklärung. Die Missachtung der Menschenwürde unterscheidet die Unkultur von der Kultur,
die menschliche Ethik von vielen Spielarten religiös oder ideologisch überfrachteter oder verzerrter
'Ethik', wo Unkultur sich im Gewande religiöser oder philosophischer Sprache und Ziele versteckt.
Toleranz gegenüber der Unkultur ist ethisch und kulturell kontraproduktiv und nicht akzeptabel.
THEOLOGISCHE MORAL UND MENSCHLICHE MORAL
Es gibt andere unschöne, aber unvermeidbar zu unserem Diskussionszusammenhang
gehörende Narrationen zur Relevanz menschlicher Ethik in wertpluralen und glaubenspluralen
Gesellschaften. Zu diesen negativen und peinlichen Geschichten gehören die Geschichten von der
ethnischen Säuberung Palästinas im Zuge der israelischen Landnahme, beispielsweise die
Ausrottung der gesamten Bevölkerung und die Verbrennung der Städte Jericho und Ai auf Geheiß
Gottes [Jos. 6-8], auch die Geschichten von der Folter, der 'hochnotpeinlichen Befragung' und
Verbrennung andersgläubiger Christen in der Gegenreformation, die Verbrennung von Johannes Hus
in Basel und die von Giordano Bruno auf dem Campo Fiori in Rom, die Gräuelgeschichten der
Judenpogrome, die Geschichten der jahrhundertelangen kirchlichen Sanktionierung der
Sklavenhalterei und der Kastration von Knaben für die Opera Sera und den Chorgesang, die
theologische Rechtfertigung und politische Verteidigung des 'Gottesgnadentums' feudaler
Obrigkeiten gegen die Einklagung von Menschenrechten und gegen die Forderung nach gerechteren
19
politischen und sozialen Strukturen. Diese Geschichten sind zu zahlreich und zu unappetitlich, als
dass eine einzelne herausgegriffen werden müsste. Sie werden heute teilweise gern als
'Abweichungen vom rechten Wege' bezeichnet, waren damals aber ebenso Ausdruck religiöser Ethik
wie heutige religiöse Forderungen nach dem Unterlassen von Empfängnisverhütungsmitteln oder
das Unterlassen der Forschung an Stammzellen.
Nicht nur Kulturen und säkulare Traditionen ändern sich, auch kirchliche Lehren,
Konzilsmeinungen und die Prioritäten religiöser Empörung. Insofern sind die Protagonisten
religiöser Forderungen unberechenbar, weil nicht auszumachen ist, warum gerade diese Position mit
dem Hinweis auf den 'Willen Gottes' oder das 'Naturgesetz' eingenommen wird und nicht eine
andere: warum heute die Ablehnung der Nutzung embryonaler Stammzellen für die Forschung zur
Heilung von Krankheiten schwer leidender Mitmenschen, warum damals die Verteidigung des
Gottesgnadentums gegen Hunger, Ausbeutung, Armut, Unwissenheit und Rechtlosigkeit. Kirchliche
Hierarchien und moraltheologische Theoreme sind sowohl ein Teil der Lösungen in der
menschlichen Ethik wie auch ein Teil der Probleme, mit denen menschliche Ethik konfrontiert ist.
Der Diskurs mit Kirchenführern oder Gläubigen und der Prozess der Verabredung gemeinsamer
mittlerer Handlungsprinzipien und Tugenden ist aus verschiedenen Gründen schwierig, von denen
ich sechs nennen will. Jeder dieser Punkte muss als ein Warnsignal gelten, innerhalb von
wertpluralen Kulturen und Gesellschaften ethische Forderungen aus religiösen Lagern kritisch zu
prüfen und zu hinterfragen.
(1) Ethische Forderungen, die sich aus gruppeninternen Offenbarungs- oder
Glaubensinhalten ergeben, sind als solche nur innerhalb der Glaubensgemeinschaft plausibel zu
machen, nicht denjenigen gegenüber, die die spezifischen Glaubensinhalte nicht kennen oder nicht
teilen wollen oder können. Missionierung durch Überzeugung - nicht mit Zwang - ist ein Weg,
zusammen mit dem dogmatischen Inhalt auch die daraus sich ergebenden ethischen Gebote zu
vermitteln und zu fordern. Unter Verzicht auf Missionierung wird aber häufig ein anderer Weg
eingeschlagen, konfessionsinterne Überzeugungen direkt als Forderungen in eine pluralistische
Gesellschaft hineinzutragen. Dogmenbefrachtete ethische Maxime werden in diesem Fall nicht als
solche vorgetragen, sondern als dogmenfreie selbstevidente, humanistische Forderungen. Sie werden
mit Argumenten des Naturrechts und der Menschenwürde abgelöst von den Sondervoraussetzungen
des jeweiligen Glaubens- oder Dogmenzusammenhanges begründet. Ein Beispiel hierzu ist die
20
schon erwähnte Diskussion um die Nutzung embryonaler Stammzellen in medizinischer Forschung
und Therapie. Stammzellenforschung soll der Menschenwürde widersprechen, weil sich embryonale
Stammzellen möglicherweise nach Rückverbindung mit mitochondrischer Zellsubstanz und
Einpflanzung in einen menschlichen Uterus zu einem menschlichen Fötus entwickeln könnte und
deshalb auch wohl als beseelt gedacht werden müssten. Diese Argumentation ist seit dem 1.
Vatikanischen Konzil eine verbindliche Auslegung der erst 1870 entwickelten Doktrin von der
unmittelbaren und direkten Beseelung der befruchteten menschlichen Eizelle vom Zeitpunkt der
Empfängnis an [28;32]; die Änderung des Kirchenrechtes im Corpus Juris Canonici folgte 25 Jahre
später [15]. Die Enzyklika der Glaubenskongregation von 1987 setzt den Beginn des Personseins mit
dem der Fertilisation als identisch [31]. Wäre die römisch-katholische Moraltheologie bei der
ursprünglichen Animationslehre geblieben und damit auch in der Nähe der mosaischen und
aristotelischen Lehre, dann hätte sie keine oder nur geringe Akzeptanzprobleme mit medizinischer
Forschung zur Therapie der menschlichen Infertilität, zur in-vitro-fertilisation, zur Forschung am
frühen Embryo und an embryonalen Stammzellen, auch kein Problem mit der enorm hohen, circa
50% betragenden Rate natürlicher Aborte [28]. 'Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem
Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebenden Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine
lebendige Seele' [1. Mos 2:7]. Im traditionellen Judentum wurde erst der nachhaltig atmende
Neugeborene als beseelt und damit als Ebenbild Gottes angesehen. Vor der Geburt war er 'pars
viscerum matris' (ein Teil der Mutter), und erhält erst nach der Geburt den unbedingten moralischen
Status eines Menschen (nefesh adam), wie das mosaische Gesetz und der Talmud es auslegen
[23;21]. Im Gefolge der thomistischen Theologie hatte die römisch-katholische Kirche
jahrhundertelang zwischen unbeseelten Embryonen vor dem 40. bzw. dem 80. Tage der
Schwangerschaft und beseelten Föten danach unterschieden [28].
(2) Während die römisch-katholische kirchliche Doktrin die Forschung an embryonalen
Stammzellen ablehnt und diese Ablehnung mit säkularen Argumenten der Menschenwürde und der
Menschenrechte vorträgt, ist sie andererseits inkonsequent darin, dass sie für spontan absterbende
frühe Embryonen nicht einmal liturgisch aktiv wird oder Initiativen zur medizinischen Aufklärung
und Reduktion der natürlichen Abortrate im Interesse dieser frühen 'Mitmenschen' unternimmt.
Auch Früh- oder Totgeburten oder die 'Opfer' selektiver Aborte werden nicht mit Sakramenten,
deren Entwicklung und Administration allein in der Autorität und Verwaltung der Kirche liegen
21
würde, bedacht. Im jüdischen Verständnis ist das ungeborene menschliche Leben [1, Synhedrin 72b]
zwar künftig potentiell ein Mensch, sein eigentlicher moralischer Status ist jedoch ein Teil der
'Geheimnisse von Gott' und das 'Entreißen einer Sache von ihrem Wachstum', wie der Abort
bezeichnet wird [1, Sabbat 107b] ist kein Tötungsdelikt und ein weit geringeres Vergehen als das
Töten eines Insekts am Sabbat. Sollte also ein Angehöriger dieser Religion in einer wertpluralen
Gesellschaft das Recht zur Forschung mit embryonalen Stammzellen erhalten und der Anhänger
einer anderen, beispielsweise der römisch-katholischen, das Recht haben, nicht an dieser Forschung
und ihren Ergebnissen teilhaben zu müssen?
(3) Die selektive Durchsetzung von kongregationsinternen Glaubensinhalten führt zu einer
selektiven Vernachlässigung von anderen moraltheologischen Forderungen und ethischen Maximen.
Im Falle der Ablehnung von Forschung und Therapie mit embryonalen Stammzellen kommt es zu
einer Ablehnung von möglicher Therapie, Linderung oder Heilung kranker Mitmenschen, zu einer
staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung real existierender und leidender kranker
Mitbürger im Interesse von potentiellen Föten, die bei Vorhandensein vieler anderer
Voraussetzungen möglicherweise künftig einmal geboren werden könnten.
(4) Interessanterweise konzentrieren sich kirchliche Hierarchien in der wertpluralen
Gesellschaft nicht darauf, für ihre Gläubigen Gewissensklauseln bei neuen Gesetzgebungen oder
Verordnungen zu erzielen, sondern Gesetze und Verordnungen generell in ihrem Sinne zu
dominieren und zu bestimmen [19]. Im Falle der gesellschaftlichen und politischen Diskussion um
die embryonalen Stammzellen wäre das für die Gläubigen der römisch-katholischen Kirche ein
Schutz vor der Nutzung embryonaler Stammzellen römisch-katholischer Provenienz ohne
Zustimmung der Hierarchie, für weniger hierarchisch strukturierte Glaubensgemeinschaften die
Forderung nach Zustimmung der Eltern zu Umfang und Inhalt der Forschung und Therapie mit
embryonalen Stammzellen. Diese religiösen Stimmen müssten auf einer Kennzeichnungspflicht für
durch Stammzellen gewonnene Arzneimittel oder Behandlungsmethoden und für ihre Anhänger auf
dem Recht der Verweigerung solcher Medikamente und Heilverfahren bestehen, auch wenn andere
Verfahren weniger erfolgreich oder teurer sind. Die Pflicht zur Kennzeichnung von koscherer,
vegetarischer oder gentechnisch veränderter Nahrung und das Recht von Gläubigen gewisser
Denominationen, Blutkonserven für sich abzulehnen, sind Beispiele wie in pluralistischen
Gesellschaften und Ordnungssystemen pluralen Glaubens- und Wertunterschieden Rechnung
22
getragen
werden
kann
Stammzellendiskussion
und
nicht
auch
sollte.
Weil
bei
vom
Schutz
glaubender
der
derzeitigen
Minderheiten,
europäischen
sondern
von
glaubensüberfrachteten, nicht jedem einsichtigen Theorien über Menschenwürde gesprochen wird,
ist es naheliegend zu vermuten, dass nicht menschliche Ethik, sondern politische Einflussnahme
kirchlicher Hierarchien eine entscheidende Rolle spielen.
(5) Viele moraltheologische Forderungen werden nicht nur für die eigenen Gläubigen
aufgestellt, sondern sollen für alle Menschen insgesamt verbindlich sein. Hier zeigt sich eine
mögliche Diskrepanz zwischen einer relativ geringen kircheninternen Intensität des Predigens und
Ermahnens und einer hochaktiven Beeinflussung politisch Verantwortlicher. Eine Statistik
beispielsweise über die Beichtpraxis und Predigtpraxis katholischer Priester im Vergleich mit
kirchlichen
Verlautbarungen
zu
sexueller
Ethik
bei
Empfängnisverhütung,
Schwangerschaftsabbruch, in-vitro-fertilisation und der Forschung mit embryonalen Stammzellen
würde die Frage aufkommen lassen, wo denn die eigentlichen Adressaten kirchlicher Ermahnung
und Unterweisung sind, unter den Gläubigen der eigenen Konfession oder in den Parlamenten und
Medien pluralistischer Gesellschaften. Haben wir es hier mit Biopolitik oder Biokirchenpolitik statt
mit Bioethik, mit Machtpolitik statt mit Moraltheologie zu tun? Meinungsumfragen unter Gläubigen
bestätigen einen nicht geringen Gegensatz zwischen öffentlichen ethischen Forderungen von
kirchlichen Hierarchien und der Meinung der Gläubigen; für die Einstellung zu
Empfängnisverhütung, Abort und in-vitro-fertilisation sind diese Diskrepanzen bekannt, was die
Forschung mit embryonalen Stammzellen betrifft, so akzeptieren 61% der Gläubigen römischkatholischer Provenienz in den USA dieselbe, während 24% sie ablehnen [19:A8]. Wie ist dieser
Gegensatz zu erklären; haben kirchliche Hierarchien es aufgegeben, Gläubige zu ermahnen oder sind
die Ermahnungen erfolglos geblieben; in beiden Fällen ist der Aus- und Umweg über die
biopolitische Pression suspekt und ethisch nicht zu rechtfertigen.
(6) Konflikte gibt es schließlich auch, wenn Religionsgemeinschaften von ihren Anhängern
Handlungen verlangen, die gegen das ethische Empfinden und die Regeln von Gesetz und
Verordnung in pluralistischen Gesellschaften stoßen. Mit Schmerzen verbundenes rituelles
Schlachten von Tieren entspricht nicht den Prinzipien der Tierethik und ist nicht konform mit den
geltenden Verordnungen und Gesetzen. Staaten sind aber gegenüber ihren religiösen Minderheiten
nicht selten großzügig und nehmen solche Verstöße entweder nicht zur Kenntnis oder erlauben sie
23
unter gewissen Bedingungen, so wie jetzt beispielweise das rituelle Schlachten durch Juden und
Muslime in der Bundesrepublik. Nicht religiös begründeter Missbrauch von Tieren, Hahnenkämpfe
oder dog-fights beispielsweise, wird dagegen widerspruchslos strikt verboten und bestraft.
Insgesamt lässt sich festhalten, dass religiöse Forderungen, die sich in nichttheologischer,
vielmehr in säkularer Menschenrechtsterminologie nicht nur an Gläubige, sondern an die Bürger
pluralistischer Staaten und ihre Regierungen insgesamt wenden, kritisch überprüft werden sollten,
ob sie innerhalb der eigenen Glaubensgeschichte autorisiert sind, ob sie innerhalb ihrer eigenen
Argumentation konsequent oder nur selektiv sind, ob sie die Sprache pluralistischer Diskurse und
Konsensbildungen zu usurpieren oder umzudefinieren versuchen, ob sie auch andere Positionen in
einer wertpluralen Gesellschaft als ethisch valide akzeptieren oder vielmehr diffamieren und ob sie
damit ethische Kommunikation und Kooperation unterminieren und sabotieren. Wenn diese Fragen
negativ beantwortet werden müssen, dann tragen allerdings diese Hierarchien zu einem Kampf der
Kulturen und zur Polarisierung und möglicherweise Zerstörung der wertpluralen Gesellschaft bei.
Nicht der Kampf der Kulturen, sondern die Kommunikation und Kooperation zwischen den
Kulturen scheint aber nach den heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam
auch für die Glaubens- und Frömmigkeitskulturen konstitutiv zu sein.
24
ORDNUNGSETHIK DER EUROPÄISCHE WERTEGEMEINSCHAFT
Als Mohammed wegen der Verfolgung von Mekka nach Medina fliehen musste, suchte er in
einer Stadt Zuflucht, in der drei große Gruppierungen - Juden, Christen, Muslime - das Sagen hatten.
Sie schlossen untereinander einen Vertrag, die Gemeindeordnung von Medina, in der sie sich als
'eine einzige "umma" (Gemeinde) gegenüber den Menschen' erklärten. Dies war ein frühes Modell
einer wertpluralen Gesellschaft, die vorlebte, wie trotz aller theologischen und weltanschaulichen
Gegensätze gemeinsam Regeln eines zivilisierten gemeindlichen Lebens, einer menschlichen Ethik
und eines menschlichen Ethos gefunden und praktiziert werden können [9].
Ausgehend vom historischen Beispiel der Gemeindeordnung von Medina und der
gegenwärtigen Diskussionen um den Kampf der Kulturen können die ordnungsethischen
Bemühungen um eine europäische Harmonisierung als ein naheliegendes Beispiel für eine
menschliche Ethik innerhalb einer wertpluralen Gesellschaft und politischen Gemeinschaft dienen.
In einem nicht wertuniformierten Europa gibt es heute für europäische Bürgerinnen und Bürger bei
Freizügigkeit des Reisens die Möglichkeit der Abkopplung des eigenen Gewissens von der
jeweiligen nationalstaatlichen Gesetzgebung und Verordnung. Die bürokratische Harmonisierung
von Verordnungen und Gesetzen - abfällig auch Eurokratie genannt - soll zu einem neuen spezifisch
europäischen zivilisierten und kultivierten Umgang unter Europäern führen. Harmonisierung ist das
Schlagwort der Europapolitik. Wie lassen sich aber Gesetze harmonisieren, wenn jeweils
unterschiedliche kulturelle, ethische und auch parteipolitische Vorbedingungen für nationalstaatliche
Gesetze gegeben waren. Das heutige Verfahren, Euroharmonisierung als Ergebnis obrigkeitlicher
Verhandlungen zu erreichen, nimmt die kulturspezifischen und ethischen Voraussetzungen, die zu
jeweils anderen Regelungen in Europa geführt haben, nicht ernst. Es ist ethisch und kulturell
bedenklich und ordnungspolitisch fragwürdig. Es entsteht der Eindruck, dass traditionelle für Recht
und Verordnung geltende ethische Vorannahmen um des wirtschaftlichen Vorteils oder einer
politischen Uniformisierung willen aufgegeben werden sollen. Das stärkt nicht das Vertrauen
europäischer Bürger in ihre jeweiligen Obrigkeiten und den europäischen Harmonisierungsprozess.
Werte und Verantwortungen europäischer Bürger können nicht wie die Zahl der Lastwagenachsen
auf Europas Strassen oder Heringsfangquoten eurokratisch harmonisiert werden.
Im Zuge der Freizügigkeit und Mobilität für europäische und deutsche Bürger ist es
inzwischen allerdings zu einer indirekten - leider nach dem Geldbeutel selektiven - Harmonisierung
25
von Werten gekommen, insofern jedem reicheren Bürger freisteht, sich innerhalb einer regionalen
Werte-, Verordnungs- und Rechtskultur in Europa von der jeweils in der eigenen Region geltenden
Werte- und Normenkultur abzukoppeln und durch kurzfristigen oder längeren Aufenthalt Angebote,
Freiheiten und Möglichkeiten von Selbstentwurf und Selbstverantwortung zu realisieren, welche die
eigenen regionalen Gesetzlichkeiten verbieten oder unmöglich machen. Wir leben heute wie vor 350
Jahren zur Zeit des Westfälischen Friedens von 1648 in einer ethisch unakzeptabel heiklen und
unstabilen Situation der Pseudoharmonisierung und Pseudotoleranz nach dem Prinzip des 'cujus
regio, ejus religio'. Vor 30 Jahren kostete die Abkopplung des Gewissens von der
bundesrepublikanischen Regelung des Schwangerschaftsabbruchs einer ungewollt schwanger
gewordenen deutschen Bürgerin eine Rückfahrkarte nach Holland. Abkopplungskosten für ein
bundesrepublikanisches Gewissen bei der Präimplantationsdiagnostik, gewissen Formen ärztlichen
Sterbebeistandes und von bestimmten Abortiva entsprechen heute den höheren Kosten für Reisen
nach England, Holland oder Frankreich und der privaten Finanzierung des entsprechenden Service, Kosten welche für die Reicheren und Informierteren unter unseren Mitbürgern tragbar sind, aber
leider nicht für die anderen. Den in ihrer Gewissensentscheidung nicht ernstgenommenen
Bundesbürgerinnen, die in andere europäische Länder reisen, um dort ethisch zu verantworten, was
bei uns kriminalisiert ist, werden demnächst in umgekehrter Richtung touristisch diejenigen
menschlichen Zellen (in ethisch bequemer Definition derzeit pluripotent genannt) und solche DNASequenzen folgen, welche den Regelungen des deutschen Embryonenschutzgesetzes widersprechen.
So wird auf eine zynische Weise auch die rechtliche Garantie eines freien europäischen Waren- und
Dienstleistungsverkehrs eingelöst.
Wer konnte es sich schon vor 350 Jahren finanziell leisten, aus Gewissensgründen das
Heimatland für immer oder für eine Zeit zu verlassen. Der Westfälische Kompromiss sah einerseits
für die Obrigkeiten Gestaltungs- und Entscheidungsfreiheit für Werte und Ethik vor, für die Bürger
nur unter der Bedingung der Migration, akzeptierte aber andererseits auch die jeweils andere
Position als 'nicht vom Teufel', als akzeptierbar oder tolerierbar innerhalb Europas, nur nicht im
eigenen Land. Es war ein eurokratischer Obrigkeitsfriede, der den Respekt vor der Würde
individueller Wert- und Verantwortungsentscheidung ausdrücklich nicht einschloss und auch heute
nicht einschließt.
Man darf trotzdem davon ausgehen, dass pharmakologischer Abort, Embryonenforschung
26
und Präimplantationsdiagnostik [16] in England und Frankreich, aktive medizinische Sterbehilfe auf
Verlangen entscheidungskompetenter schwerkranker Bürger in Holland offensichtlich - auch nach
der Bewertung deutscher Obrigkeiten - nicht den Menschenrechten und europäischen Bürgerrechten
widerspricht? Hätte im andern Fall unsere Regierung nicht beim europäischen Gerichtshof klagen
oder den Ausschluss dieser Staaten aus der Europäischen betreiben oder selbst austreten müssen?
Nichts dergleichen ist passiert oder ist zu erwarten. Vielmehr haben die Signaturstaaten der
Europäischen Bioethikkonvention den Staaten, in denen ethisch und rechtlich zulässig ist, was in
ihren eigenen Staaten politisch nicht akzeptiert und rechtlich verboten ist, zugestanden so zu
verfahren, wie sie nun mal verfahren. Und die bestehenden Regelungen gehen nun einmal wie schon
vor 350 Jahren davon aus, dass deutsche Bürgerinnen vor dem zu schützen sind, was in anderen
Staaten der europäischen Wertegemeinschaft Recht und billig ist. Der in der Europäischen
Bioethikkonvention eingegangen Verpflichtung, aktiv einen Bürgerdiskurs innerhalb der einzelnen
Länder über bioethische Fragen anzuregen und zu fördern, sind weder in Deutschland noch
anderswo eindrucksvolle Aktionen gefolgt.
Vom politischen Münsteraner Modell einer Toleranzharmonie zwischen Obrigkeiten von
1648 bis zu Spinozas und Lockes normativen ethischen Visio0nen einer innergesellschaftlichen
Harmonisierung durch Nichteinmischung europäischer Obrigkeiten in die Märkte individueller
Werte und Visionen und der Respektierung der Würde des individuellen Gewissens jenseits und
gegen die Macht der jeweiligen Obrigkeit war es in der Vogelperspektive gesehen nur ein kurzer
Weg. Heute ist uns die Pluralität individueller religiöser Glaubenshaltungen und der Respekt vor
dem religiösen Gewissen des anderen selbstverständlich. Wir wundern uns darüber, dass es vor
Jahrhunderten überhaupt in Europa zu solchen Scheußlichkeiten, Verfolgungen, Unterdrückungen
und Kriminalisierungen kommen konnte. Wie würde der europäische Humanist Spinoza aus dem
nicht fernen niederländischen Leiden in der Vogelperspektive von drei Jahrhunderten die heutigen
europäische Scheintoleranzen und Scheinharmonisierungen bewerten? Er würde unsere Situation
vermutlich ähnlich bewerten, wie man die ängstliche Münsteraner Scheinharmonisierung von 1648
bewerten muss und wie er in seinem Theologisch-Politischen Traktat seinerzeit ausführte, dass es
ein Fehler ist, zu befürchten, dass mit der Freigabe des Gewissens europäischer Bürgerinnen und
Bürger in Sachen bioethischer Kontroversen der innergesellschaftliche Frieden und die individuelle
wie kollektive Moral leiden würden, dass im Gegenteil der Respekt vor der Würde des Gewissens die
27
Freigabe ebendieses Gewissens von den jeweiligen regionalen Bevormundungen zulassen sollte,
jedenfalls soweit wie diese Positionen in anderen europäischen Regionen Recht, Gesetz und
akzeptierte Praxis sind.
Wie lässt sich jenseits von Verordnungsharmonisierung eine Werteharmonisierung und tolerierung diskursfähig machen? An anderer Stelle habe ich eine Umkehrharmonisierung (reverse
harmonisation) vorgeschlagen, die man auch grenzüberschreitende Toleranzharmonisierung nennen
könnte und die an die bestehenden Rechts- und Verordnungskulturen in den europäischen Staaten
anknüpfen würde [29:216f]. Dieser Vorschlag geht von der Voraussetzung aus, dass kein
europäischer Staat in die europäische Gemeinschaft aufgenommen werden dürfte, in dem nicht
Werte respektiert und geschützt werden, deretwegen es auch in anderen europäischen Staaten
freiheitseinschränkende Gesetze und Verordnungen gibt. Sollten entgegen den Beteuerungen der
europäischen Obrigkeiten und ihrer zwischenstaatlichen Behörden aber dennoch Staaten
aufgenommen worden sein, deren Gesetze und Verordnungen den Vorstellungen von
Menschenwürde der Bürger und Regierungen anderer europäischer Staaten widersprechen, dann
sollten unverzüglich solche Staaten ihre Regelungen ändern oder aber aus der Wertegemeinschaft
ausgeschlossen werden. Wenn dem aber nicht so ist und trotz unterschiedlicher Rechts- und
Verordnungssysteme in allen europäischen Staaten ein vergleichbarer und akzeptabler Respekt vor
der Menschenwürde herrscht, dann könnte der Prozess europäischer Harmonisierung vom
Bestehenden ausgehen und die weitere Entwicklung einem demokratischeren Prozess von
harmonisierender Gesetzgebung und Verordnung und einem in Kommunikation und Kooperation
gewachsenen Verständnis des Umgangs miteinander in einem durch mehr Migration und mehr
Verständnis für andere Formen des Lebens- und Verantwortungsentwurfs überlassen. Die
ordnungsethische Formel für politische Entscheidungen entsprechend der Maxime einer
Toleranzharmonisierung könnte lauten: Solange in einer auf gemeinsamen Werten beruhenden
Staatengemeinschaft für Gewissensentscheidungen unterschiedliche staatliche Regelungen
existieren, sollten im Einzelfall Bürgerinnen und Bürger des einen Staates das Recht haben, für sich
Regelungen eines der anderen Staaten in Anspruch zu nehmen, ohne in diesen Staat reisen zu
müssen. Das kann natürlich nur für weltanschaulich kontroverse Gewissensentscheidungen gelten.
Fragen des Steuer-, Bau- und Verkehrsrechts beispielsweise würden nicht unter diese Maxime
fallen; für Teile anderer Bereiche sind Zuordnungen schwieriger, aber nicht unmöglich. Die Geltung
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einer solchen Maxime würde bestehende Regierungen und zwischenstaatliche Behörden zwingen,
bestehende und geplante Gesetze und Verordnungen einer Ethikfolgenabschätzung und einer
Kulturfolgenabschätzung zu unterwerfen und damit überhaupt der Prüfung, ob enge Regelungen im
Interesse mündiger Bürger und einer funktionierenden Verantwortungsgesellschaft überhaupt
notwendig sind.
Wenn europäischen Bürgern das Recht der Freizügigkeit eines ethischen Tourismus aus
Gewissensgründen nicht verwehrt wird, dann sollte es möglich sein, dass anstelle der zusätzlichen
Fahrkarte dieses Recht auch im eigenen Land wahrgenommen werden kann. Eine solche Regelung
würde auch zu mehr Gleichheit unter europäischen Bürgern beitragen bei Fragen, in denen Reiche
ohne viel Mühe und Geld ihr Gewissen abkoppeln können von der jeweiligen nationalstaatlichen
Obrigkeit, Arme aber nicht. Für andere Bereiche europäischer Harmonisierung, beispielsweise für
das Wirtschaftsbinnenrecht, gelten seit dem 'Cassis di Dijon' Urteil (1978) des Luxemburger
Europäischen Gerichtshofes über die Berechtigung, französischen Johannisbeerlikör als
(hochprozentigen) Wein auch außerhalb Frankreichs anzubieten und zu verkaufen in der
Europäischen Union bereits solche Harmonisierungen; auch das Reinheitsgebot für Bier, auf das
Deutsche stolz sind, gilt nicht außerhalb der Bundesrepublik und innerhalb Deutschland kann als
Bier auch verkauft werden, was nicht diesem Reinheitsgebot entspricht. Warum werden die
Gewissen europäischer Bürgerinnen und Bürger anders behandelt als der 'Cassis di Dijon' und die
verschiedenen Formen Bier zu brauen? Warum gibt es neben dem Wirtschaftsbinnenrecht kein
Ethikbinnenrecht in der europäischen Wertegemeinschaft?
Die Diskussion um den frühen Embryo, die Stammzellen oder um das Recht des
Selbstentwurfs und der prospektiven Selbstbestimmung für mögliche dunkle Stunden von künftigem
Leiden oder Demenz skizziert nur einige Bereiche, die in wertpluralen Gesellschaften besser der
Verantwortungsethik mündiger Bürger überlassen blieben als dem obrigkeitlichen Paternalismus
kirchlicher oder staatlicher Hierarchien. Insofern stehen diese Beispiele aus dem engeren Raum der
Bioethik nur stellvertretend für viele andere Bereiche eines immer noch anwachsenden Reichtums
an technischer und ethischer Komplexität, an zuwachsenden individuellen und kollektiven
Möglichkeiten der Gestaltung menschlicher Ethik und Kultur, aber auch des individuellen Versagens
in der Gestaltung. Die zunehmenden technischen und die ethischen Risiken der modernen Welt
lassen sich nicht durch zunehmende Bevormundung mündiger Bürgerinnen und Bürger lösen. Im
29
Gegenteil, je komplexer die ethischen und zivilisatorischen Herausforderungen werden, umso mehr
wird ihr gelingendes Gestalten von der Verantwortungsmündigkeit der Bürgerinnen und Bürger
abhängen, Zivilisation, Kultur und Ethik menschlich zu gestalten. Eine Ordnungsethik und
Ordnungspolitik, die diese individuelle Verantwortungsethik akzeptiert und fördert, ist jedem
paternalisierenden Eingriff, der über das Setzen von generellen Rahmenbedingungen für technische
und ethische Sicherheit hinausgeht, überlegen [26]. Der Philosoph und Medizinethiker Galen,
Leibarzt des Kaisers Marc Aurel, formulierte für die Berufsethik der Ärzte vor fast 2000 Jahren 'non
homo universalis curatur, set unus quique nostrum': es gibt nicht den Einheitsmenschen, der unserer
Heilkunst anvertraut ist, sondern den jeweils einzigartigen Mitmenschen in seiner individuellen
Persönlichkeit. Für die Berufsethik der ordnungspolitisch Tätigen würde diese Maxime bedeuten,
individuelle Werte und Verantwortungen zu akzeptieren und zu fördern und den Obrigkeitsstaat in
einen Verantwortungsstaat umzubauen.
Für kirchliche Hierarchien gilt es zu unterscheiden zwischen der internen Verantwortung den
Angehörigen der eigenen Glaubens- oder Kulturgemeinschaft gegenüber und denen, die dieser nicht
angehören [19]. Innerhalb der wertpluralen Gesellschaft kann Kirchenleitungen und bestimmten
Naturrechtstheorien keine adhortative, autoritative, regulative oder direktive Zuständigkeit
zugesprochen werden, sondern nur eine missionarische, diskursive, edukative und adjuvantive in der
gesellschaftlichen Bemühung um Konsens in inhaltlichen Fragen oder um Kooperation und Toleranz
innerhalb von Dissens. Es ist aber nicht nur den Hierarchien, sondern auch den demokratischen
Obrigkeiten vorzuwerfen, dass dieselben den Hierarchien eine höhere Wertkompetenz und
gesellschaftliche Mitsprache einräumen als dem individuellen Gewissen von Gläubigen und
Bürgern. Der Beitrag kirchlicher Hierarchien zur gesellschaftlichen und kulturellen Meinungs- und
Wertbildung gehört primär in die Hirten- und Pastoralbriefe, in die Kirchen, Moscheen und
Synagogen, nicht auf den Marktplatz oder in die Hallen der politischen Lobby [19]. Auch
philosophische Theorien, unter Einschluss unterschiedlicher Naturrechtstheorien, können keine
autoritative Rolle beanspruchen; sie müssen sich an die Regeln des Diskurses, der Argumentation
und der Werbung für den eigenen Standpunkt bei Bürgern und anderen kulturellen oder religiösen
Gruppen halten. Jeder Begriff von Natur enthält immer schon ein religiöses, kulturelles oder
ethisches Vorverständnis von Natur und des Verhältnisses des Menschen zu ihr;
Naturrechtstheorien sind keine Begründungsinstrumente, sondern Instrumente der Vermittlung und
30
Plausibilisierung vortheoretischer lebensweltlicher Orientierung von Individuen oder Gruppen.
Individuelle Verantwortung und gesellschaftlicher Konsens, inklusive des Konsenses, dass Dissens
in entscheidenden Fragen des Gewissens unumgänglich ist, das sind die moralischen Subjekte des
Abwägens,
bei
dem
hilfsweise
orientierend,
aber
nicht
dominierend,
klassische
Naturrechtskonzeptionen beigezogen werden können. Alternativen zum Kalifenstaat sind
menschliche Ethik, individuelle ethische Risikokompetenz und -verantwortung und liberale
Ordnungsethik und -politik.
„Brüder“ schreibt Moses Mendelsohn, gläubiger Jude, mutiger Aufklärer und Visionär einer
sowohl pluralistischen Gesellschaft und einer menschlichen Ethik am Ende des ausgehenden 18.
Jahrhunderts, „ist es Euch um wahre Gottlosigkeit zu tun, so lasst uns keine Übereinstimmung lügen,
wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und
empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch. Warum uns einander in den wichtigsten
Angelegenheiten unseres Lebens durch Mummerei unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht
umsonst seine eigenen Gesichtszüge eingeprägt hat?“ [18:201]
MENSCHLICHE ETHIK UND GRENZEN DES ORDNENS UND VERSTEHENS
Es gibt Grenzen des Ordnens, Anordnendes und Verordnens durch staatliche, quasi-staatliche
und religiöse Obrigkeiten in Angelegenheiten menschlicher Ethik. Diese Grenzen sind teils bedingt
dadurch, dass Moraltheologie und Ordnungspolitik überlagert oder motiviert sind durch andere als
ethische Ziele. Sie sind aber auch darin begründet, dass Sachkompetenz und Prognose,
Risikoanalyse und -kompetenz von Hierarchien und Organisationen nicht als solche schon höher
einzuschätzen sind als die von Bürgerinnen und Bürgern; das gilt insbesondere, dann wenn
Überzeugungen, Werte, Wünsche und Handlungen individuell geprägt und verantwortet werden
wollen. Hinzu kommt, dass religiöse und staatliche Obrigkeiten sich selten einer kritischen
Hinterfragung ihrer ethischen Vorentscheidungen stellen oder dieselben gar hintertreiben. Im
Gegensatz zu den durch Ethikkommissionen begleiteten klinischen Forschungen in der Medizin
fanden und finden in der Schulpolitik und Sozialpolitik Versuche am Menschen in großem Stil statt,
die weder durch Ethikkommissionen begleitet noch in ihrem zeitlichen Verlauf begrenzt sind.
Seltene kritische Überprüfungen und Änderungsvorschläge, die unliebsam sind, werden in
behördlichen Panzerschränken verschlossen, dem Bürgerdiskurs entzogen und geben selten Anlass
31
zu Änderungen. Kirchliche Hierarchien ändern, wie diskutiert wurde, ohne nähere nachträgliche
Begründung so wichtige Positionen wie die zur verzögerten Animation des frühen menschlichen
Lebens oder zur Autorität hierarchischer Letztentscheidungen.
Verfehlungen gegen menschliche Ethik, Menschenrechte und Menschenwürde werden
nachträglich mit individuellem menschlichem Versagen und Verschulden erklärt. Die damals
geltende theologische Rechtfertigung beispielsweise der gegenreformatorischen Folter- und
Verfolgungspraxis ist nicht Gegenstand nachträglicher kritischer Überprüfung und Vorsorge gegen
den Rückfall in unethische Praktiken. Derzeit beruft sich das unmenschliche Morden, Foltern und
Unterdrücken von Andersgläubigen durch einige islamische Gruppierungen und die sie
unterstützenden oder tolerierenden Staaten auf den Koran. Demnächst werden diese unethischen
Handlungen und ihre theologische Begründung mit dem Hinweis auf das Verschulden und die
Verblendung von einigen wenigen Fanatikern 'erklärt'. Innerhalb der wertpluralen Gesellschaft kann
es für keine Religion, erst recht nicht für deren Hierarchie eine Priorität ethischer Autorität geben.
Kirchliche Hierarchien und Gläubige könnten und sollten jedoch durch Argumentation, Diskurs,
Vorbild und Toleranz an Entwurf, Implementierung und Stabilisierung menschlicher Ethik als einer
regulativen Idee für Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit arbeiten.
Die Würde des menschlichen Gewissens und die Würde von Ethik und Ethos liegen auch
darin, dass sie irren können, dass sie Tugenden und Prinzipien falsch anwenden, falsche Prioritäten
setzen, primäre Herausforderungen und kontraproduktive Ergebnisse ihrer Abwägungen und
Entscheidungen nicht übersehen. Die Gewissen und die ethische Abwägungen von Politikern,
Denkern, Institutionen und Konzilen wurden und werden nicht selten von anderen Interessen
überlagert oder gesteuert, haben geirrt und werden irren. Es ist ethisch, kulturell und demokratisch
bedenklich, wenn irrende Subjekte in Politik, Verbänden und Kirchen die Kosten des Irrtums auf
andere abwälzt. Auch das ist eine Konsequenz des Subsidiaritätsprinzips und des Auftragsprinzips,
dass Kosten von Irrtümern oder Vergehen primär den moralischen Subjekten zuzurechnen sind, die
den Irrtum begehen. Eine Institutionalisierung europäischer Werteharmonisierung könnte als Prinzip
der transnationalen europäischen Subsidiarität (transnational European subsidiarity) wie folgt
aussehen: Solange Staaten, die zur europäischen Wertegemeinschaft zählen und die sich selbst
dazurechnen, unterschiedliche rechtliche und ethische Bewertungen und Regulierungen bioethischer
Entscheidungskonflikte haben, sollten diese Staaten in der Respektierung der Würde des Gewissens
32
europäischer Bürgerinnen und Bürger Gewissensklauseln in ihren Gesetzen und Verordnungen
vorsehen, welche im Einzelfall die Abkopplung des individuellen Gewissens von der nationalen
Bevormundung im Rahmen der europäischen Rechts- und Wertegemeinschaft erlaubt.
Zophar von Naema kritisiert den klagenden Hiob als Schwätzer: 'Meinst Du , dass Du
wissest, was Gott weiß; und wollest es so vortrefflich treffen wie der Allmächtige?' [Hiob 11:7f].
Und Gott spricht später selbst zu Hiob: 'Wo warst Du, da ich die Erde gründete? Sag an, bist Du so
klug! Weist Du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie eine Richtschnur gezogen hat?'[Hiob
38:4f]. Diese Narration erscheint in den Theologien als die Lehre vom 'deus absconditus' oder dem
'Geheimnis Gottes' und ist der Versuch einer Antwort auf die Frage nach dem Leid der Gerechten
und dem Erfolg der Gottlosen, dem Holocaust, auch nach dem Leid, das Kirchen und Obrigkeiten
über die Leute bringen. Aus der Diskussion um die Theodizee lässt sich das Bild vom Geheimnis
Gottes auf kontroverse ethische Fragen in pluralistischen Gesellschaften übertragen. Wenn der
moralische Wert der embryonalen Stammzelle ein Geheimnis Gottes bleibt, dann gibt es für die
naturrechtliche Interpretation kein Lehramt sondern nur eine individuelle Gewissensentscheidung
'mit Furcht und Zittern' wie Luther sagen würde. Die Rolle religiöser Hierarchien würde sich
beschränken auf die Belehrung und Ermahnung der Gläubigen, die Argumentation und den Diskurs
anderen gegenüber, und das Gebet zu Gott, dass er Exhortatio und Argumentatio erfolgreich sein
lasse.
Wahre Frömmigkeit besteht nicht im Beachten von liturgischen oder dogmatischen
Vorschriften, erst recht nicht in der Verfolgung Andersgläubiger oder in der Beeinflussung
Andersdenkender in wertpluralen Staaten, sondern im Dienst am Mitmenschen. So heißt es im
Koran: 'Die Frömmigkeit besteht nicht darin, dass Ihr Euch (beim Gebet) mit dem Gesicht nach
Osten oder Westen wendet. Sie besteht vielmehr darin, dass man an Gott, den jüngsten Tag, die
Engel, die Schrift und den Propheten glaubt und sein Geld - mag es einem noch so lieb sein - den
Verwandten, den Waisen, den Armen, dem der dem Weg Gottes gefolgt und dadurch in Not
gekommen ist, den Bettlern und für den Loskauf von Sklaven hergibt, das Gebet verrichtet und die
Almosensteuer bezahlt. Und Frömmigkeit zeigen diejenigen, die wenn sie eine Verpflichtung
eingegangen sind, sie erfüllen, und die in Not und Ungemach und Kriegszeiten geduldig sind. Sie
allein sind wahrhaftig und gottesfürchtig' [Sure 2:177].
Im taoistischen Denken findet sich vergleichbar die Idee von der Würde menschlicher Ethik
33
jenseits von religions- oder kulturspezifischen Regeln oder Strategien für Handeln: 'Du regierst ein
Reich mit Gesetzen; Du gewinnst einen Krieg durch unerwartete Bewegungen; aber Du gewinnst die
Welt, indem Du sie loslässt. Warum weiß ich das? Weil es in mir ist' [13:57].
In der Diskussion mit Jesus über die Frage, was denn das göttliche Gebot genau sei,
antwortet der Pharisäer unter Verzicht auf die Detailvorschriften des mosaischen Gesetzes, von
denen er eine Fülle hätte anführen können: 'Du sollst Gott Deinen Herren lieben von ganzem
Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und Deinen Nächsten als Dich
selbst'. Jesus stimmt dieser Antwort voll und ganz zu: 'Du hast recht geantwortet, so wirst Du leben'
[Luk 10:27f]. Er bezieht sich damit auf die rabbinische Lehre vom Grundprinzip des Gesetzes, dass
es nämlich dem Leben und dem Respekt vor dem Leben dienen solle [3. Mos 18:5; auch 19:34 u.ö.].
Sabbatgebote können verletzt werden, wenn das vorgeordnete unbedingte Gebot der Lebensrettung
(pekuach nefesh) es verlangt. Das göttliche Gebot ist für das Leben da; das Leben darf nicht für das
Gebot geopfert oder verletzt werden; wer das tut, missversteht das gottgegebene Gebot. Schreibt
Rabbi Joseph Karo in seinem Code of Jewish Law [Yoreh De'ah 336:1]: 'The Torah gave permission
to the physician to heal; moreover this is a religious precept and it is included in the category of
saving life; and if the physician withholds this services it is considered sharing blood' [3]. Paul
Ramsey, einer der Väter der amerikanischen Bioethik, identifizierte die 'agape' als dienende Liebe
zum Nächsten als das Grundprinzip christlicher Ethik, an dem sich auch der Glaube zu messen habe.
Nicht die Beachtung dieses oder jenes Prinzips oder der Glaube an dieses oder jenes Dogma
entscheidet über einen gottwohlgefälligen Lebenswandel und den rechten Glauben, sondern der
glaubende Dienst am Nächsten [22]. Im Islam wird vergleichbar von einer vorgeordneten
Glaubenspflicht zum Erhalt und zur Beförderung des Lebens ausgegangen. Bezüglich der
Respektierung der Fastengesetze wird argumentiert, dass dieselben nicht eingehalten werden dürfen,
wenn Krankheit oder Leiden die Einnahme von Nahrung und Medizin während der Fastenzeit
erforderlich sind. Diese Abwägungen sollen jedoch nach Maßgabe der Risiken von Krankheit und
Beachtung der Fastengebote erfolgen [8;9:92-98].
Würde das christliche Gebot der Nächstenliebe es für gläubige Anhänger römischkatholischer Lehren von der unmittelbaren Beseelung der befruchteten menschlichen Eizelle und der
möglichen Beseelung jeder einzelnen embryonalen Stammzelle erlauben, diese ziemlich
komplizierte und primär nicht ethische, sondern dogmatische Theorie hintanzustellen im Interesse
34
der Entwicklung und Anwendung von Medizin für real existierende kranke und leidende Nächste,
Mitmenschen, Christen oder Nichtchristen? Das ist die Frage an die Gläubigen dieser Konfession
und an die Verantwortlichen ihrer Hierarchie. Für die menschliche Ethik einer wertpluralen
Gesellschaft würde die komplementäre Frage lauten: Sollten Katholiken sich nicht gegen eine durch
das kirchliche Lehramt sanktionierte Theorie und deren Handlungsfolgen entscheiden wollen, so
hätte eine wertplurale Gesellschaft und Gesetzgebung eine solche Gewissensentscheidung zu
respektieren, so wie sie ja auch respektiert, wenn jemand keine Kontrazeptiva benutzen, keine
Schwangerschaft beenden, keinen vorehelichen Sex oder kein fremdes Blut haben will. Staatliche
Regeln und religiöse Vorschriften müssen sich daran messen, wie sie Bürgerinnen und Bürger als
Menschen in der Würde ihrer Entscheidungen nach Gewissen und Wissen respektieren, wie sie die
Würde und Leben des real existierenden Nächsten achten, insbesondere des leidenden und
hilfsbedürftigen, wie sie zu menschlicher Ethik im Sinne einer Ethik der Menschlichkeit beitragen.
35
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33. Vatican (John Paul II), 1993: Veritatis Splendor, Vatican City
34 Voltaire (1764) Dictionaire Philosophique Portatif, Geneve
35. Wunder M [für den 'Arbeitskreis zur Erforschung der "Euthanasie"-Geschichte'] (1995/96)
Gravenecker Erklärung zur Bioethik
36. Sass HM (2002), Junghegelianische Revolutionsstrategien im 21. Jahrhundert. Aufklärung und
Kritik 9 (2): 19-3
DIE KLEINE STADT AM BERG
37
Die Stadt ist wirklich klein, im Verhältnis zum Berg so wie ein Tropfen am Eimer. Aber es
ist die einzige Stadt am Berg und die Leute sind stolz auf sie, auch auf den Berg und auf ihren
großen Reichtum. Diesen Reichtum erblicken sie in der Würde der Bürgerinnen und Bürger, ihrer
Kultur und der Art und Weise, wie sie mit einander, mit ihren Werten und mit dem Berg, von dem
sie leben, umgehen.
Die Freiheit und Sicherheit der Bürger geht ihnen über alles. Sie helfen sich gegenseitig, und
vor allem der jungen Generation, verantwortlich zu handeln, 'andere' zu respektieren, auch wenn sie
deren Meinungen oder absoluten Werte nicht teilen. Und sie verabscheuen Lüge, Diebstahl,
Totschlag, Ungerechtigkeit, Egoismus, Arroganz und Intoleranz. Lügen, Stehlen und Morden wird
bestraft, auch wenn Diebe und Mörder vorgeben, im Namen Gottes oder aus einer höheren Einsicht
zu handeln. Nicht alle glauben übrigens an Gott, aber alle sind der Meinung, dass, sollte es einen
Gott geben, er Töten, Stehlen und Lügen verbieten würde. Das sagen auch die in den jüdischen,
christlichen und muslimischen Häusern und Straßen von dem 'Allmächtigen und Barmherzigen'. Wer
an Gott glaubt, ist sich auch der Macht des Satans bewusst; alle aber wissen um das Böse im
Menschen und um böse Menschen, die sie zu bekämpfen sich verpflichtet fühlen. Sie verabscheuen
Intoleranz und Arroganz und versuchen durch Zuhören und Argumentieren eine Kultur von
vertrauensbasierter Kommunikation und Kooperation zu schaffen.
Sie meinen, die Menschenwürde liege vor allem in der Würde, dem Recht und der Pflicht zur
individuellen Entscheidung nach Werten, und sie halten die Würde des Rechtes jedes Mitmenschen
auf religiöse oder philosophische Letztüberzeugungen für unverletzlich. Vor allem respektieren sie
deshalb die Würde der individuellen Gewissensentscheidung und werfen sich nicht gegenseitig
Unmoral oder Unkultur vor, wenn sie andere moralische oder kulturelle Urteile fällen als ihre
Mitmenschen.
Auch wenn sie die Überzeugungen von Mitbürgern nicht für sich selbst akzeptieren wollen
oder sie gar für abstrus halten, tun sie alles, damit diese Mitbürger nicht gegen ihre Überzeugung zu
etwas gezwungen werden. Nahrungsmittel beispielsweise sind gekennzeichnet, so dass man ersehen
kann, ob sie koscher oder vegetarisch oder aus biologischem Anbau sind. Niemand wird gezwungen
Medikamente zu nehmen, ungeborenes Leben abzutreiben, Organe zu spenden oder zu empfangen,
oder Arbeiten zu übernehmen, wenn das den eigenen Werten widerspricht. Wenn das Gewissen
anderer bedrängt oder verachtet, dann werden alle sehr böse, weil sie die Fundamente der kleinen
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Stadt und die Würde aller ihrer Bürger bedroht sehen.
Die Freiheit und Sicherheit von Gewissen und Kultur ist für sie ebenso wichtig wie die
politische und wirtschaftliche Sicherheit und Freiheit. Neben der kulturellen Abschätzung von
Technologie beschäftigen sich Forscher auch mit der Abschätzung von Theoriefolgen und
Gesetzesfolgen. In der Regel haben Gesetze eine Mondscheinklausel, die angibt zu welchem
Zeitpunkt ein Gesetz ausläuft, wenn es nicht ausdrücklich verlängert oder modifiziert wird. Viele
Gesetze haben eine Gewissensklausel, die es Bürgern erlaubt im Einzelfall, sofern das ohne Schaden
für andere möglich ist, eine Ausnahme zu erwirken. Das betrifft natürlich nicht die Gesetze gegen
Mord, Raub und Lüge, auch nicht die Steuergesetze oder die des Straßenverkehrs.
Ein Blick auf die Architektur der Häuser zeigt am klarsten die kulturelle und ethische
Konstruktion der Stadt. Unterschiedlich wie sie sind, sind Häuser nach identischen
Strukturprinzipien gebaut: in den untersten Stockwerken gleichen sie sich, in den obersten sind sie
so unterschiedlich voneinander wie der Reichtum der gemeinsamen Kultur. In den verbundenen
Erdgeschossen geht es um die Sicherung der Einwohner und der ganzen Stadt vor Hunger, Mord,
Folter, die Solidarität mit den Armen und Kranken und mit denjenigen, die sich selbst nicht helfen
können.
Die Grundrisse und Gegenstände in den oberen Geschossen aber zeigen den Reichtum
unterschiedlicher Werte ihrer Besitzer. In einem Haus wird darüber gestritten, ob menschliche Föten
eigene moralische oder gar juristische Rechte haben oder ob sie nur erst mal 'pars viscerum matris',
Teil des mütterlichen Körpers und der Würde einer Schwangeren sind. In einem anderen Haus wird
diskutiert, ob religiöse Fastengebote bei Krankheit gebrochen werden dürfen im Interesse des
Lebens von 'pekuach nefesh' als einer Gabe Gottes. Eine jahrhundertealte Diskussion, ob jemand als
Todkranker in der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode um den Giftbecher bitten dürfe, ist
wieder abgeflacht; statt dessen wird sehr heftig gefordert, dass Ärzte nun endlich eine anständige
Schmerzbehandlung machen sollen, damit die Euthanasiediskussion überflüssig wird.
Im obersten Stockwerk schließlich wird am lautesten und intensivsten gestritten um so
komplizierte Fragen, ob denn Gott eine Person in drei oder drei in einer sei, ob es einen
Hauptpropheten gibt oder gar ein Stellvertreter Gottes auf Erden, auch ob menschliche Zygoten, die
weggeworfen oder nicht ausgetragen wurden, beseelt waren und dann auch etwas mehr als 50% der
Auferstandenen im Paradies ausmachen werden, ob es eine Seelenwanderung gibt, ob Pflanzen und
39
Tiere eine Seele haben, ob man überhaupt an eine höhere Macht glauben müsse um ein anständiger
Mensch und Bürger zu sein.
Solche Diskussionen laufen schon eine lange Zeit und werden wohl nie aufhören; sie
repräsentieren auf ihre Weise den großen Reichtum dieser kleinen Stadt. In manchen Häusern
versteht man exzentrische Palaver bei den 'anderen' nicht, hält sie auch teilweise für absurd oder
albern. Andere meinen, es handele sich hier um Gegenstände, deren Wahrheit ein 'Geheimnis Gottes'
sei und die deshalb eher Bescheidenheit als Rechthaberei verlangen. Aber man würde alles tun, den
Diskutanten das Recht zu Überzeugung, Diskurs, Streit und Dissens zu sichern.
Man weiß auch und schätzt, dass diese Gegenstände aus den oberen Stockwerken die
Aktivitäten der niederen beeinflussen und findet das richtig. Aber man akzeptiert nicht, wenn die
Grundfesten der gemeinsamen unteren Etagen, der Plätze, Strassen und Infrastruktur durch
Indoktrination und Bevormundung gefährdet werden oder wenn einzelne Hausgemeinschaften sich
aus der Gemeinschaft der Bürgerinnen und Bürger ausschließen oder diese gar aktiv bedrohen. Wem
die Regeln oder Gebräuche eines Hauses nicht passen, dem steht es frei auszuziehen und sich
woanders einzumieten. Es gilt aber als selbstverständlich, dass man dort, wo man wohnt, die Hausund Gastregeln beachtet.
Die Namen der Strassen und Plätze erinnern die Bürger an die gemeinsame Geschichte und
die Wurzeln der Stadtkultur. Ein Platz ist den Opfern von Mord, Gewalt und Terrorismus gewidmet,
den gemordeten und verbrannten Bürgerinnen und Bürgern der Städte Jericho und Ai, Nanking und
Dresden, den Opfern unzähliger Judenpogrome, den Gefolterten und Verbrannten der sogenannten
heiligen Inquisition, den Opfern globaler Kriminalität des sogenannten World Trade Center. Andere
Plätze und Straßen erinnern an die Sklaverei, die vielen Formen von Genozid, an menschliche
Vorbilder und die Mitgeschöpflichkeit von Tier und Pflanze. Den Berg, an dem sie leben, sehen sie
täglich und verehren ihn. Insgesamt schließen sich die Einwohner der Einsicht des Taoisten an, dass
zwar Fenster und Türen die Dimension von Räumen und Häusern vorgeben, dass es aber auf die
freien Räume und ihre jeweilige Ausgestaltung innerhalb der Zimmer ankommt, ob und wie man in
ihnen leben kann. So haben sie ihre Stadt gebaut und so versuchen sie, ihre Würde und die ihrer
Stadt gegen Unkultur und Unwürde zu erhalten, auch weil es keine andere Stadt am Berg gibt oder
geben wird.
Hans-Martin Sass
40
41
ZUSAMMENFASSUNG:
Gegen die These vom 'Kampf der Kulturen' entwirft Hans-Martin Sass ein Modell vom
'Kommunikation und Kooperation der Kulturen'. In der Stärkung und Respektierung individueller
Verantwortungsethik sieht er das bevorzugte Mittel und Ziel im Streben nach einer menschlicheren,
friedvolleren und zivilisierteren Kultur. Seine Kritik am moraltheologischen und
ordnungspolitischen Paternalismus in Europa verbindet er mit einem Plädoyer für
Gewissensklauseln bei nationalen und supranationalen Gesetzgebungen und Verordnungen.
ABSTRACT:
Discussing the 'Clash of Cultures' theory Hans-Martin Sass presents a model of 'Communication and
Cooperation of Cultures'. Trust and respect in an ethics of individual responsibility is the preferred
means and end in striving towards a more humane, peaceable, and civilized culture. A critical review
of paternalism in moral theology and in European politics and regulation calls for Conscience
Clauses in European national and transnational legislation and regulation.
ISBN 3-931993-13-2
Hans-Martin Sass ist Professor für Philosophie an der Ruhr Universität in Bochum und Senior
Research Scholar am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown Universität in Washington DC. Er
hat Philosophie, evangelische Theologie und Geistesgeschichte in Erlangen, Marburg und Münster
studiert.
Herausgeber:
Prof. Dr. med. Burkhard May
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Herbert Viefhues
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum
Ruhr-Universität
Gebäude GA 3/53
44780 Bochum
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Internet: http://www.medizinethik-bochum.de
Inhalt:
Menschliche Ethik im Streit der Kulturen
Die kleine Stadt am Berg
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS
FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright
liegt beim Autor.
© Hans-Martin Sass
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Heft 132
MENSCHLICHE ETHIK IM STREIT DER KULTUREN
Hans-Martin Sass
2. Auflage Januar 2003
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Zentrum für Medizinische Ethik
Medizinethische Materialien
Die unterstrichenen Hefte sind derzeit leider vergriffen und nicht lieferbar.
Heft 74: Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin: Ethik in der klinischen Forschung. April 1992.
Heft 75: Viefhues, Herbert: Behinderung und Ungestalt - zugleich ein diskursanalytischer Versuch
zur medizinischen Ethik -. Juni 1992.
Heft 76: Sass, Hans-Martin; Kielstein, Rita: Die Wertanamnese. Methodische Überlegungen und
Bewertungsbogen für die Hand des Patienten. 2. überarb. Aufl. Dezember 1992.
Heft 77: Uhlenbruck, Wilhelm: Selbstbestimmung im Vorfeld des Sterbens - rechtliche und
medizinische Aspekte. September 1992.
Heft 78: Sass, Hans-Martin: Informierte Zustimmung als Vorstufe zur Autonomie des Patienten.
September 1992.
Heft 79: Tausch, Reinhard: Vergeben. Von der Bedeutung des Vergebens in
zwischenmenschlichen Beziehungen, auch in der Medizin. Mai 1993.
Heft 80: Schara, Joachim: Patientenaufklärung vor Krebsschmerztherapie. Juni 1993.
Heft 81: Sass, Hans-Martin; Kielstein, Rita: Wertanamnese und Betreuungsverfügung. 3. überarb.
Aufl. Juli 1995.
Heft 82: Kielstein, Rita: Klinik, Genetik und Ethik der autosomal dominant polyzystischen
Nierenerkrankung. 2. überab., erw. Aufl. März 1995.
Heft 83: Ilkilic, Ilhan: Der Bochumer Arbeitsbogen und der türkische Patient. Pratik Tip Etigi Icin
Bochum Calisma Tablosu Ve Türk Hastasi. Juli 1993.
Heft 84: Materialien zur Erstellung von wertanamnestischen Betreuungsverfügungen. Eingeleitet
und zusammengestellt von R. Kielstein, H.-M. Sass. Übersetzt von S. Eschen. 3. Aufl.
September 1995.
Heft 85: Timmermann, Jens: Das Thema Sterbehilfe in Thomas Morus' "Utopia". November 1993.
Heft 86: Tausch, Reinhard: Sinn-Erfahrungen. Förderung, Chancen und Grenzen bei Betroffenen
und Helfenden. November 1993.
Heft 87: Vliegen, Josef: Moderne Psychiatrie und ihr Bild vom Menschen. Dezember 1993.
Heft 88: Hinrichsen, K.V. (Hg.): Sterben und Schwangerschaft. Mit Beiträgen von M. Bissegger,
K. Hinrichsen, E. Reichelt, H.-M. Sass, K.-E. Siegel, I. Wolf. 3. Aufl. Juni 1994.
Heft 89: Sass, Hans-Martin: Die Würde des Gewissens und die Diskussion um
Schwangerschaftsabbruch und Hirntodkriterien. 3. Aufl. Juni 1994.
Heft 90: Jakobs, Günther: Geschriebenes Recht und wirkliches Recht beim
Schwangerschaftsabbruch. März 1994.
Heft 91: Sass, Hans-Martin: Ethische und bioethische Herausforderungen molekulargenetischer
Prädiktion und Manipulation. 2. Aufl. Juni 1994.
Heft 92: Sass, Hans-Martin: Hippokratisches Ethos und Nachhippokratische Ethik. Juni 1994.
Heft 93: Koch, Hans-Georg; Sass, Hans-Martin; Meran, Johannes Gobertus: Patientenverfügung
und Stellvertretende Entscheidung in rechtlicher, medizinischer und ethischer Sicht. 3.
Auflage April 1996.
Heft 94: Fuchs, Christoph: Allokation der Mittel im Gesundheitswesen - Rationalisierung versus
Rationierung. Juni 1994.
Heft 95: Schroeder-Kurth, Traute: Das "Slippery Slope"- Argument in der Medizin und
Medizinethik. Dezember 1994.
Heft 96: Pohlmeier, Hermann: Selbstmordverhütung - Zur Ethik von Selbstbestimmung und
Fremdbestimmung. Dezember 1994.
Heft 97: Epplen, Jörg T.; Rieß, Angelika; Rieß, Olaf: DNA-Diagnostik in der Humangenetik:
Voraussetzungen und Tendenzen. März 1995.
Heft 98: Stotz, Gabriele: Theoretische und ethische Probleme der psychiatrischen Diagnose. März
1995.
Heft 99: Vollmann, Jochen: Fürsorgen und Anteilnehmen: Ethics of Care. April 1995.
Heft 100: Hinrichsen, Klaus V.; Sass, Hans-Martin: 10 Jahre Zentrum für Medizinische Ethik. Juni
1996.
Heft 101: Schreiber, Hans-Ludwig: Die Todesgrenze als juristisches Problem - Wann darf ein
Organ entnommen werden? Juli 1995.
Heft 102: Hartmann, Fritz: Lebens- und Hilfeleistungen im Sterben. 2. Aufl. Februar 1995.
Heft 103: Kielstein, Rita (Hg.): Ethische Aspekte in der Nephrologie. 2. Aufl. Februar 1995.
Heft 104: Bernat, Erwin: Antizipierte Erklärungen und das Recht auf einen selbstbestimmten Tod.
Januar 1996.
Heft 105: Richter, Gerd; Schmid, Roland M.: Ethische Perspektiven der Gentherapie 1995. Januar
1996.
Heft 106: Bauer, Axel: Braucht die Medizin Werte? Gedanken über die methodologischen Probleme
einer „Bioethik“. März 1996.
Heft 107: Tausch, Reinhard: Empirische Untersuchungen zu Sinn-Erfahrungen und
Wertauffassungen. Juli 1996.
Heft 108: Sass, Hans-Martin: Ethik-Unterricht im Medizinstudium; Methoden, Modelle und Ziele
der Integration von Medizinethik in die medizinische Aus- und Fortbildung. August 1996.
Heft 109: Meyer, Frank P.: Salus aegroti suprema lex; Probleme klinischer Studien aus der Sicht
eines Mitgliedes einer Ethikkommission - Schwerpunkt Onkologie. August 1996.
Heft 110: Sass, Hans-Martin: Reform von Gesundheitswesen und Krankenhäusern in
verantwortungsethischer Perspektive. August 1996.
Heft 111: Sass, Hans-Martin, Kielstein, Rita: Die medizinische Betreuungsverfügung in der Praxis.
Vorbereitungsmaterial, Modell einer Betreuungsverfügung, Hinweise für Ärzte,
Bevollmächtigte, Geistliche und Anwälte. 7. Auflage Dezember 2000.
Heft 112: Spittler, Johann F.: Sterbeprozess und Todeszeitpunkt - Die biologischen Phänomene und
ihre Beurteilung aus medizinischer Sicht. August 1996.
Heft 113: May, Arnd; Gawrich, Stefan; Stiegel, Katja: Empirische Erfahrungen mit
wertanamnestischen Betreuungsverfügungen. 2. Auflage Juli 1997.
Heft 114: Biller, Nikola: Der Personbegriff in der Reproduktionsmedizin. September 1997.
Heft 115: Kaminsky, Carmen: Gesagt, gemeint, verstanden? Zur Problematik der Validität
vorsorglicher Patientenverfügungen. Oktober 1997.
Heft 116: Baumann, Eva: Gesellschaftliche Konsensfindung und Humangenetik. Oktober 1997.
Heft 117: May, Arnd: Betreuungsrecht und Selbstbestimmung am Lebensende. September 1998.
Heft 118: Zülicke, Freddy: Chancen und Risiken von Gentechnik und Reproduktionsmedizin.
September 1998.
Heft 119: Meyer, Frank P.; Sass, Hans-Martin: Klinische Forschung 2000. Oktober 1998.
Heft 120: Grossmann, Wilfried; Maio, Giovanni, Weiberg, Anja: Ethik im Krankenhausalltag Theorie und Praxis. Oktober 1998.
Heft 121: Das Ulmer Modell medizinethischer Lehre: Sponholz, Gerlinde; Allert, Gebhard; Keller,
Frieder; Meier-Allmendinger, Diana; Baitsch, Helmut: Sequenzierte Falldiskussion für die
praxisnahe Vermittlung von medizinethischer Kompetenz (Ethikfähigkeit); Uhl, Andreas;
Lensing; Claudia: Perspektiven und Gedanken zur medizinethischen Ausbildung. August
1999.
Heft 122: Schmitz, Dagmar; Bauer, Axel W.: Evolutionäre Ethik und ihre Rolle bei der Begründung
einer zukünftigen Medizin- und Bioethik. März 2000.
Heft 123: Hartmann, Fritz: Chronisch Kranksein als Grenzlage für Kranke und ihre Ärzte. März
2000.
Heft 124: Baberg, Henning T.; Kielstein, Rita; Sass, Hans-Martin (Hg.): Der Behandlungsverzicht
im Blick des Bochumer Inventars zur medizinischen Ethik (BIME). April 2000.
Heft 125: Spittler, Johann F.: Locked-in-Syndrom und Bewusstsein – in dubio pro vita. August
2000.
Heft 126: İlkılıç, İlhan: Das muslimische Glaubensverständnis von Tod, Gericht, Gottesgnaden und
deren Bedeutung für die Medizinethik. September 2000.
Heft 127: Maio, Giovanni: Ethik und die Theorie des "minimalen Risikos" in der medizinischen
Forschung. September 2000.
Heft 128: Zenz, Michael; Illhardt, Franz Josef: Ethik in der Schmerztherapie. November 2000.
Heft 129: Godel-Ehrhardt, Petra; May, Arnd T.: Kommunikation und Qualitätssicherung im
Betreuungsrecht – Ergebnisse einer Befragung zur Mailingliste [email protected]. März 2001.
Heft 130: Dabrock, Peter; Klinnert, Lars: Würde für verwaiste Embryonen? Ein Beitrag zur
ethischen Debatte um embryonale Stammzellen. Juli 2001.
Heft 131: Meyer, Frank P.: Ethik der Verantwortung. Verkommt »Evidence Based Medicine« zu
»Money Based Medicine«? März 2002.
Heft 132: Sass, Hans-Martin: Menschliche Ethik im Streit der Kulturen. 2. Auflage Januar 2003.
Heft 133: Knoepffler, Nikolaus: Menschenwürde als Konsensprinzip für bioethische
Konfliktfälle in einer pluralistischen Gesellschaft. März 2002.
Heft 134: Quante, Michael: Präimplantationsdiagnostik, Stammzellforschung und
Menschenwürde. März 2002.
Heft 135: Köchy, Kristian: Philosophische Grundlagenreflexion in der Bioethik. März 2002.
Heft 136: Hengelbrock, Jürgen: Ideengeschichtliche Anmerkungen zu einer Ethik des Sterbens. Juli
2002.
Heft 137: Schröder, Peter: Vom Sprechzimmer ins Internetcafé: Medizinische Informationen
und ärztliche Beratung im 21. Jahrhundert. Juli 2002.
Heft 138: Zühlsdorf, Michael T. und Kuhlmann, Jochen: Klinische und ethische Aspekte der
Pharmakogenetik. August 2002
Heft 139: Frey , Christofer und Dabrock, Peter: Tun und Unterlassen beim klinischen
Entscheidungskonfliktfall August 2002
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