http://creativetechnology.salford.ac.uk/fuchs/publications/total_recall.htm Kunstforum, Band 127, Juli - September 1994, Seite 170, DOKUMENTATION! KONSTRUKTIONEN DES ERINNERNS: TRANSITORISCHE TURBULENZEN 2. SCHNITTSTELLEN UND MEDITATIONEN Total Recall Erinnern und Vergessen in der Musik VON MATHIAS FUCHS ! ALVIN LUCIER, Music for Solo-Performer PETER BEYLS im Duett mit dem Computerprogramm Oscar, Brüssel, Juni 1987 ! Ein Lösungsmittel gegen musikalischen Klebstoff gefunden zu haben, glaubte John Cage im Jahr 1970. Die Töne, die durch das Bindemittel der musikalischen Struktur aneinandergeklebt worden waren, sollten zuerst aus ihr gelöst werden und dann als isolierte Individuen "endlich wieder sie selbst werden".1 So zumindest lautete die Programmatik der ästhetischen Befreiungstheorie für verklebte Klänge, wie sie Heinz-Klaus Metzger im Beiheft zur Schallplatte "Music before Revolution" darlegte. Die Beantwortung der Frage, wie die Musik denn zusammenhalten sollte, nachdem der Klebstoff entfernt worden wäre, wurde vorläufig zurückgestellt (wahrscheinlich bis zu einem Zeitpunkt nach der Revolution). Was aber deutlich vorgezeigt werden konnte, war die Intensität losgelöster Töne: Klänge ohne Klebstoff und ohne das Korsett musikalischer Struktur - Klänge freilich auch, die nach Bloch im "sinnlos Punktuellen" sich entwickelten.2 Denn ohne den Klebstoff musikalischer Form müssen die Töne vereinzelt bleiben. Im Gegensatz zu dem alten Sprichwort, daß "der Ton die Musik macht", macht gerade das, was zwischen den Tönen liegt, die Musik. Musik lesen heißt daher auch, den Klebstoff zu untersuchen, der zwischen den Tönen steckt, und nicht die Töne selbst. Entlang einer zeitlichen Achse, deren eine Richtung mit Zukunft und deren andere Richtung mit Vergangenheit beschriftet ist, liest sich Musik als vorwärts oder rückwärts gerichtetes Erinnern. Jedes funktionale musikalische Ereignis trägt das "Netz seiner eigenen Beziehungen zu allen anderen Ereignissen des gleichen Werkes" mit sich.3 Verstanden werden können die musikalischen Ereignisse daher nur mittels Erinnerung. Im Rückblick oder im Vorgriff auf andere Ereignisse des Werkes entsteht erst musikalischer Zusammenhang, Struktur, Beziehung. Man müßte sogar noch weitergehen und sagen, daß jedes Ereignis auch seine Beziehung zu Ereignissen fremder musikalischer Werke mitschleppt, denn nur so wird es möglich sein, Zitate oder Variationen früher geschriebener Musik funktional zu verstehen. Strukturen sind immer Funktionen des Gedächtnisses. Und musikalischer Funktionalismus verweist auf einen Modus des Erinnerns, der "ein gegebenes musikalisches Ereignis - sei es ein Ton, ein Motiv, eine Phrase oder ein Abschnitt - immer schon in Hinblick auf den Bezug zu einem anderen musikalischen Ereignis" sieht.4 Wiederholen, um zu vergessen Traditionelle Formen indischer Musikerziehung beginnen als eine aufwendige Beschäftigung mit dem isolierten Ton. Wer bei einem indischen Lehrer Sitar lernen möchte, hat im ersten Ausbildungsjahr einen einzelnen Ton zu üben, ihn wieder und wieder zu spielen und schließlich zu perfektionieren. Erst im zweiten Jahr darf der Schüler Skalen oder kleine rhythmisch-melodische Figuren erproben. Diese Hochschätzung des isolierten Klanges teilt eine Anzahl zeitgenössischer westlicher Komponisten mit den östlichen Musikern. Barney Childs, um ein Beispiel zu nennen, behauptet von seinen Arbeiten: "Jeder Ton ist ein eigenständiges Ereignis. Er ist mit keinem anderen Ton durch irgendeine Hierarchie verbunden. Er braucht keine Beziehung zu dem zu haben, was ihm vorausgegangen ist oder was ihm folgen wird. Er ist für sich selbst wichtig, nicht für das, was er zu einer musikalischen Linie oder einem musikalischen Verlauf beiträgt."5 Ähnliches ließe sich von Stücken Meredith Monks, La Monte Youngs oder John Cages behaupten. Cages Projekt, dem Funktionalismus zu entkommen, basiert auf einer Strategie, Vorhersagbarkeit zu verunmöglichen wie auch Nachvollziehbarkeit zu erschweren. Ersteres gelingt ihm durch die Einführung von aleatorischen Kompositionsparameten (I-Ching oder Fontana Mix), von extrem forcierter Komplexität (HPSCHD) oder - im Gegenteil - so stark herabgeschraubter Komplexität (4'33"), daß ein funktional orientiertes Lesen der Musik kaum mehr zu bewältigen ist. Aber auch die rückwärts gerichtete Interpretation erklungener Musik kann kaum gelingen, weil eine permanente Veränderung der Stücke kein Werk im traditionellen Sinne zurückläßt. Cage sagt selbst, daß "Musik nichts anderes als das Aufblitzen der Zeit" sei. Wie aber soll Erinnerung in einer Umgebung möglich sein, die so stark auf Präsenz hin angelegt ist? "Als ich zum erstenmal Gegenstände zwischen die Seiten des Klaviers steckte, hatte ich den Wunsch, die Töne zu besitzen (und sie dadurch wiederholen zu können). Als aber die Musik von mir fortging und von Piano zu Piano und von Pianist zu Pianist lief, wurde klar, daß nicht nur zwei Pianisten sich wesentlich voneinander unterscheiden, sondern daß auch zwei Pianos niemals identisch sind. Wir haben es im Leben weniger mit der Möglichkeit von Wiederholung zu tun als mit den einmaligen Qualitäten und Eigenschaften einer jeden Gelegenheit."6 An die Stelle des Erinnerns setzt Cage das Sichereignen. In die Rolle des Gedächtnisses tritt das Vergessen. Doch dieses Vergessen ist kein "Systemfehler", kein negatives Vergessen, vielmehr ein kreativer Akt des Sichentledigens traditioneller Formen, Institutionen und Traditionen. Während es Cage bei diesem Vergessen um eine Beseitigung des "Klebstoffs" geht, also um eine Abkehr vom Funktionalismus, interpretiert Daniel Charles das Unternehmen als einen "Funktionalismus des Vergessens".7 Für ihn verschiebt sich "der Begriff der Funktion vom Gedächtnis zum Vergessen hin". Grund für diese positive Wendung ist Charles' Verständnis eines Vergessens als "positives Vergessen", das sich dem "Imperialismus des Gedächtnisses"8 entgegenstellt. "Die Funktion der Musik von heute ist also vital: Die Musik ist das Anti-Gedächtnis."9 Dem Gedächtnis als großem Kerkermeister der Tradition oder auch nur der unmittelbar verflogenen musikalischen Ereignisse stellt Charles ein Vergessen entgegen, das Deleuze und Guattari "revolutionäres Vergessen" nennen.10 "Ich befinde mich ständig auf der Flucht", lassen sie den amerikanischen Aktivisten Jackson als Beleg für die Kraft des Fortlaufens sagen, "ja, ich höre nicht auf zu fliehen; aber auf der Flucht halte ich ständig nach einer Waffe Ausschau." Das revolutionäre Vergessen, die nach vorn gerichtete Flucht, stellt sich bei ihnen als ein politischer Akt dar, der der "reaktiven Trägkeitskraft" entgegengesetzt ist. Den beiden Autoren erscheint es "evident, daß das revolutionäre Vergessen ... eine wirkliche Aktivität darstellt. Auf diese Weise vollzieht der Revolutionär über das Vergessen einen Bruch und bleibt unzugänglich für den Einwand, der ihm ständig gemacht wird: So etwas hat immer existiert, also wird es immer existieren". Wenn man - wie Daniel Charles - diesen emphatischen Begriff des Vergessens von der Black-Panther-Bewegung auf John Cages' Musik überträgt, muß man allerdings gut achtgeben, ob man nicht einen alten Zen-Greis mit einem Samurai-Krieger verwechselt. Diapositive sonore Als 1948 im französischen Rundfunk Pierre Schaeffers "Concert des Bruits" erklang, wurde ein Methodenwechsel eingeläutet, der eine uralte musikalische Absicht mit neuen Mitteln ausrüstete. Was die Programmusik des 19. Jahrhunderts mit wechselndem Ausmaß an Peinlichkeit vorgeführt hatte, die instrumentale Nachahmung von Vogelgezwitscher und Bachesmurmeln, sollte nun die "Musique concrète" mit spätfuturistischer Ernsthaftigkeit fortführen. Der instrumentalen Imitation folgte die instrumentelle Reproduktion. Der Hörer wurde mit einem musikalischen Parameter konfrontiert, der nach Tonhöhe, Lautstärke, Timbre und Plazierung des Klanges nun seine Anekdote, d.h. seinen Erinnerungswert zur realen Klangwelt, enthielt. Der "Musique concrète", die sich zunehmend auf die musikalische Organisation des Klangmateriales konzentrierte, setzte Luc Ferrari die anekdotische Musik entgegen. Das Neue an dieser Art von Musik ist nach Ferrari die Fähigkeit der Musik, "Elemente der akustischen Realität zu speichern, und auf Wunsch wieder freizugeben".11 Ferrari bremst das Tempo des Schnittes gegenüber den Arbeiten der "Musique concrète" dramatisch ab, um "dem Hörer genug Zeit zu geben, ihre (der realitätsgebundenen Elemente) Herkunft auszumachen; dann, daß beim Hörer über den Vorgang ihrer Identifizierung Erinnerungen angestoßen werden an Situationen, in denen er selbst schon diesen Elementen begegnet ist".12 In Ferraris "Hétérozygote" begegnet man innerhalb der einzelnen Sätze, die hier eher Szenen oder Tableaux genannt werden sollten, Kollisionen von Objekten, die wie im bildnerischen Surrealismus collagiert auftreten. Mittels Vexierungs-Techniken verrätselt Ferrari Klangelemente, die vom Hörer in ihrer Überlagerung mehrdeutig gelesen werden können. Rückkopplungseffekte und Studiomanipulationen unterstützen die Distanz zu rein konkreter und eindimensionaler Klangrealität. Durch Montage und gezielten elektroakustischen Eingriff versucht Ferrari, Erinnerungen zwar auszulösen, also einen assoziierenden Hörer zu schaffen, gleichzeitig aber zu verhindern, "daß der Hörer sich vom Stück wegträumt".13 Die Annäherung realitätsgebundener Musik an die akustische Realität treibt Ferrari in "Presque rien ou Le lever du jour au bord de la mer" auf die Spitze, indem er in diesem Stück nur mehr realitätsgebundenes Material verwendet und weder durch elektroakustische Manipulation eingreift noch durch Schnitte komponiert oder verfremdet. Das Stück, das Ferrari als "Diapositive sonore" bezeichnet, läßt nicht mehr wie die früheren Werke jeden einzelnen Hörer aus dem vorgelegten Bausatz heterogener Bilder seine persönliche und individuell begründete Geschichte herauslesen, sondern sie erzählt dem Publikum eine bestimmte, von Ferrari fixierte Geschichte. Es ist dies die Geschichte vom Tagesanbruch in einem jugoslawischen Fischerdorf. Es geht immer noch um Erinnerung, aber nun nur mehr um die Erinnerung Ferraris. Schwarzenegger und Schopenhauer: Total Recall Zaghaft müssen alle Versuche instrumenteller Musik erscheinen, die aus dem Fundus der Musikgeschichte zitierten, wenn man sie mit dem vergleicht, was elektronisches Sampling im Bereich der Aneignung zuwege bringt. Sampling, wie es von Produzenten wie romeo romeo, Digital Underground oder Run-D.M.C. verwendet wird, stellt die Methode der Variationen oder des Zitats auf den Kopf. Musikgeschichtliches Material dient nicht mehr als Ausgangspunkt einer materialtreuen oder parodierenden Entwicklung, es stellt vielmehr das Ausgangsmaterial als Endprodukt vor. In zweierlei Hinsicht hebt sich Sampling von den Variationen, Zitaten und Plagiaten älteren Datums ab: Quantitativ stellt Sampling eine Potenzierung der Möglichkeiten des musikhistorischen Erinnerns dar. Während die Instrumentalmusik vielleicht ein paar hundert Variationen zu einem bestimmten Haydn- oder Mozartthema hervorgebracht hat, liegt der Rekord im Sampling derzeit bei 1500. So oft wurde "One Nation under A Groove" von George Clinton weiterverwendet. Die Zahl der nicht angemeldeten Raub-Samples dürfte bei 10 000 liegen. Qualitativ hebt Sampling sich ebenfalls von der Variation alter Prägung ab: Das Ausgangsmaterial erscheint in der Gestalt der identischen Kopie. Wenn die Gruppe US3 im Stück "Cantaloop" ein Sample Herbie Hancocks verwendet, das dieser Jahre zuvor auf der Platte "Cantaloupe Island" einspielte, dann zeigt sich die Schleife der Kopie (Loop of Cantaloupe: Canta-loop) als perfekte Reproduktion im Zirkel der musikalischen Wiederverwertung. "Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik", bemerkte Nietzsche, als hätte er zum Sampling Stellung nehmen wollen.14 Natürlich liegt auch der Technik der "Variationen zu einem Thema von ..." ein Aspekt des Erinnerns zugrunde, doch erst die elektronischen SamplingTechniken erzeugen "Erinnerungsmusiken" in der vollen Bandbreite des Wortes, weil sie im Moment des Wiedererkennens ihre musikalische Signifikanz entwickeln und erschöpfen. Erinnerung kommt hier im Gewand eines "Total Recall"15 einher, das Vergangenes als Immer-Gleiches einfriert. Während das Sampling-Keyboard als perfekte Maschine zur Herstellung von Klangkopien dient, kann Sampling - auch unabhängig vom Gerät des Samplers allgemein als Herstellungsverfahren für Realitätskopien verstanden werden. Der Komponist Lukas Foss arbeitet in seinen "Variationen" mit Sampling-Techniken, die er von einem Orchester ausführen läßt.16 Instrumentengruppen spielen in den Variationen I ein Stück von Händel ohne die geringsten Abweichungen. Lediglich die Lautstärke wird vom Komponisten an verschiedenen Stellen zurückgenommen und dann wieder "aufgedreht". In den Variationen II ist dann ein Scarlatti dran, der nachgespielt wird, und in den Variationen III die E-Dur-Partita von Bach. Foss verwendet das Bach-Stück, "als gäbe es keine anderen Noten auf der Welt".17 Foss nennt den 3. Teil der Variationen auch "Phorion" nach dem griechischen Ausdruck für "gestohlene Güter". Seine Rolle im gestalterischen Prozeß besteht lediglich in der Festlegung von Ausblendungen in der Klangmasse des gestohlenen Materials. Grundlegend für seinen "perforierten" Händel, Bach oder Scarlatti ist das aus der Musikgeschichte gesampelte Material, in das er "nur mehr die Löcher hineinkomponieren" muß.18 Einem extrem erinnerungslastigen Material steht bei Foss ein kompositorischer Prozeá gegenüber, der seine Wirkung im Vergessen-Machen entfaltet. Foss arbeitet vornehmlich subtraktiv, nicht additiv. Die "gestohlenen Güter" der Musikgeschichte werden daher nicht in "vollkommener Rückerinnerung" (Arnold Schwarzenegger und Arthur Schopenhauer) heraufbeschworen, sondern verletzt. Ebendarin sieht Nietzsche den springenden Punkt am kreativen Akt: die Universalität des geschichtlichen Kontinuums für einen Augenblick zu durchbrechen. Gerade die Möglichkeit, auslöschen zu können, was gespeichert wurde, macht bei Nietzsche das Glück aus: "Wer sich nicht auf der Schwelle des Augenblicks, alle Vergangenheiten vergessend, niederlassen kann, wer nicht auf einem Punkt wie eine Siegesgöttin ohne Schwindel und Furcht zu stehen vermag, der wird nie wissen, was Glück ist und noch schlimmer: er wird nie etwas thun, was andere glücklich macht. Denkt euch das äußerste Beispiel, einen Menschen, der die Kraft zu vergessen gar nicht besässe, der verurtheilt wäre, überall ein Werden zu sehen: ein solcher glaubt nicht mehr an sein eigenes Sein. {...} Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben."19 Während für Schopenhauer "vollkommene Rückerinnerung" die "eigentliche Gesundheit des Geistes" bedeutet, bestimmt Nietzsche denjenigen Punkt, an dem der Faden der Erinnerung reißt, als den kreativen Moment. Genau diesen Moment, an dem die universale Perspektive zerbricht und für einen Augenblick ein "verkürzter Horizont" sich einstellt, nennt Nietzsche fruchtbar, weil in ihm die Gegenwart der Zensur der Vergangenheit trotzt.20 Die Begrifflichkeit im Umfeld des Vergessens läßt beim Komponisten Foss ("perforiert", "gestohlen"), erst recht aber beim Philosophen Nietzsche ("Verbrechen", "Grauen"), den Eindruck entstehen, daß das VergessenMachen als destruktiver Akt gedacht werden kann. Anders als im träg-schläfrigen Entgleiten der Erinnerung wird bei Foss und bei Nietzsche das Vergessen-Machen als Eingriff, wenn nicht gar Ein-Schnitt, betrachtet. Das darin verborgene Gewaltpotential artikuliert sich noch deutlicher in den Analysen kreativer Prozesse durch die italienischen Futuristen oder gegenwärtige Zukunftssucher. Raymond Lauzzana und Denise Penrose verkünden im "Pre-21st Century Manifesto", daß es "keine Kreation ohne Destruktion gibt" und daß man, "um etwas Neues zu schaffen, erst etwas Altes zerstören" müsse, um schließlich zu dem Schluß zu gelangen: "Die Auswahl ist das letztendliche Mittel des Künstlers. In einem begrenzten Universum eingeschränkter Möglichkeiten ist die einzige Rolle des Künstlers, zu entscheiden, was er schafft und was er zerstört, was er speichert und was er löscht."21 Speichern Der technisch verdinglichte Begriff für Erinnerung lautet "Speicher". Was einmal abgelegt und noch nicht vergessen ist (d.h. technisch "nicht gelöscht" ist), gilt als erinnert. Der technischen Intelligenzforschung stellt sich daher die Erinnerungsproblematik als ein Speicherproblem und als ein Repräsentationsproblem dar. In Anlehnung an wahrnehmungstheoretische Modelle sehen AI-Programme bisweilen zwei Speicherklassen vor, die linear angeordnet und gegenseitig permeabel sind: das Langzeitgedächtnis und das Kurzzeitgedächtnis. Der belgische Musiker Peter Beyls, der selbst in der AI-Forschung tätig ist, entwickelte ein interaktives Musikprogramm, das es ihm ermöglicht, mit dem Computer zu konzertieren.22 Über eine sensorisch bestückte Violine kann Beyls Figuren eingeben, die der Computer als Melodiefolgen, Rhythmen oder dynamische Strukturen abspeichert. Der Speicher dafür ist in zwei Klassen geteilt, durch die das Erinnerte zu diffundieren vermag. Jeder musikalische Einfall wird zuerst einmal im Kurzzeitgedächtnis abgelegt und kann von dort als unmittelbares Echo wieder ausgegeben werden. Wie ein improvisierender Jazzmusiker wirft auf diese Weise das Programm dem lebendigen Musiker seine Einfälle wieder zurück. Doch gleichzeitig schiebt das Programm die aufgenommenen Figuren in tiefere Gedächtnisschichten herab. Melodien, die so aus der Klasse des Kurzzeitigen ins Langzeitige weitergeleitet worden sind, können im späteren Verlauf des Stückes "aus der Tiefe" wieder auftauchen und somit ins musikalische Geschehen - aber auch ins Kurzzeitgedächtnis, aus dem sie längst gelöscht worden sein mögen - einfließen. Die Aufführungen Beyls' lassen trotz des relativ mechanistischen Gedächtnismodells Eindrücke des spontanen Rückerinnerns, des repetitiven Im-Gedächtnis-Haltens und des allmählichen Vergessens zu. Echo-Techniken Das Konzept der "Echos" hat die Vorstellungskraft einer ganzen Reihe von Komponisten beflügelt. Einer der ersten, der ein komplettes Stück diesem Konzept unterordnete, war Lukas Foss. "Echoi" für Klarinette, Cello, Perkussion und Piano setzt sich mit Echos in verschiedenen Auslegungen des Wortes auseinander: melodische Imitation, verhallte Timbres (Klarinette dicht am Fell einer Kesselpauke angeblasen) und Passagen, die sich ständig wiederholen, um wieder an ihren Beginn zurückzuspringen (etwa wie Platten mit einem Rillenschaden). Der 4. Satz des Stückes führt ein Tonband ein, das die Ausführenden vor Beginn der Aufführung aufgenommen haben. Während der Wiedergabe des Bandes sind die Musiker angehalten, das Band in einer verzerrten, zeitdisparaten Weise zu imitieren. Um die Struktur noch weiter zu komplizieren, beginnt die Musik vom Band nach einiger Zeit nun auch noch sich selbst zu wiederholen. Bei den zwei Kanälen des Bandes handelt es sich nämlich um die Aufnahmen einer vorhergehenden Aufnahme, die mit versetzten Verzögerungszeiten auf die Kanäle des Aufführungsbandes überspielt wurde.23 Durch diesen Eingriff gelingt es Foss, Erinnerung in kaskadierter Form zu inszenieren. Das Band erinnert nicht nur an die instrumentalen Passagen. Es ruft auch Erinnerungen wach an die Klänge des Tonbandes selbst, das sich auf die konkreten, aber verklungenen Instrumentenklänge bezieht: Erinnerung der Erinnerung. In dem Moment, da die Musik sich dergestalt vom Ereignis zur Rückbesinnung wandelt, tauscht sie alles Augenblickliche gegen "vollendete Zeit" ein.24 Musikalisches Erlebnis wandelt sich so in ein "Eingedenken", eine erinnerte Erfahrung bereits erlebter Prozesse. Es versteht sich von selbst, daß das Tonbandgerät ein Mittel, jedoch keine Voraussetzung für solche Entwicklungen darstellt. Mahler, um ein Beispiel zu nennen, arbeitete in seinen Symphonien sehr ähnlich - und völlig tonbandlos. Alvin Luciers Arbeit "I am sitting in a Room" geht von einem technischen Set-up aus, das eine musikalische Form erzeugt. Ein Mikrophon, das in einem Raum positioniert ist, fängt Geräusche auf, die in diesem Raum erklingen, und leitet die Signale an einen Verstärker und einen Verzögerungsmechanismus weiter, der die Signale daraufhin über einen Verstärker wieder in den Raum entläßt, wo sie vom Mikrophon aufgenommen werden, verstärkt werden usw... In einem Kreislauf, der weit davon entfernt ist, Wiederkehr des Immer-Gleichen zu sein, kehren Töne wieder, die von der Verstärkungsapparatur, stärker aber noch von den akustischen Gegebenheiten des Aufführungsraumes, verändert werden. Ständig ähnelt das Klangbild sich selbst und unterscheidet sich zugleich von seinem zeitlichen Vorgänger. Sowenig Erinnerung die maßstabsgetreue Reproduktion des Vergangenen ist, ist ein Echo die originalgetreue Kopie seines Originals. In Alvin Luciers Stück ist musikalische Erinnerung mehr als nur Wiederholung. Jede Repetition zieht ihrem Vorgänger etwas ab und fügt ihm etwas hinzu (Hall z.B., aber auch Phasenverschiebung, Überlagerung). Ein Echo, das - so verstanden - Vergangenes nicht nur repetiert oder mechanisch abschwächt, sondern vielmehr musikalische Ereignisse permanent modelliert, versetzt und rekombiniert, kommt Formen menschlichen Erinnerns wesentlich näher, als es die effizientesten "Memory Devices" der Computerindustrie vermöchten. Doch gleichzeitig sind diese musikalischen Echos gerade durch die Komplexität ihrer Erinnerungsmechanismen perfekte Maschinen des Vergessens. Nie erscheint ein Klang wie zuvor, und jedes musikalische Ereignis, das diesem Mechanismen zugetragen wird, ist bereits passé in dem Moment, in dem es erklingt. ANMERKUNGEN: 1 Heinz-Klaus Metzger: Versuch über prärevolutionäre Musik Plattenbegleitheft zur Schallplatte "Music Before Revolution", S.4 2 Ernst Bloch: Über Gegenwart in der Dichtung. In: Ästhetik des Vor-Scheins. Hrsg. Gert Ueding, Frankfurt/M. 1974 3 Daniel Charles: Musik und Vergessen. merve Verlag, Berlin 1984, S. 8 4 L. Meyer: Music, the Arts, and Ideas. University of Chicago Press 1967, S. 296 5 Barney Childs: Art, Indeterminacy. In: John Vinton (Ed.), Dictionary of Contemporary Music. New York 1974, S. 336 6 John Cage: Empty Words. Middletown 1979, S. 8 7 D. Charles (s. Anm. 3), S. 15 8 Ebd., S. 17 9 Ebd., S. 21 10 Gilles Deleuze und Félix Guattari: Antipsychiatrie und Wunschökonomie. merve Verlag, Berlin 1976, S. 17, 18 11 Hansjörg Pauli: Luc Ferrari - Vom Realismus zur Realität, S. 72 12 Ebd., S. 73 13 Ebd., S. 73 14 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, 1872, S. 114 15 Total Recall. Ein Film von Paul Verhoeven, Hauptdarsteller: Arnold Schwarzenegger 16 Edward Downs: Guide to Symphonic Music, Walker and Company, New York 1976, S. 341, 342 17 Lukas Foss: Programmnotizen zur Uraufführung 18 L. Foss 19 F. Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, 1874 20 F. Nietzsche (s. Anm. 14) 21 Raymond Lauzzana, Denise Penrose: A Pre-21st Century Manifesto. In: FINEART Forum 1, ein elektronisches Mailing System am Computernetz BITNET. Empfangen am 23. April 1987. Nachgedruckt in: Languages of Design, Vol. 1, No. 1. Amsterdam 1972 22 Peter Beyls: Introducing Oscar. Proceedings of the ICMC, Köln 1988 23 Elliott Schwartz, S. 115, 116 24 Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire. In: Ausgewählte Schriften, Frankfurt a. Main 1961, S. 276