Kognitive Prinzipien melodischer Wahrnehmung

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Magisterarbeit „Kognitive Prinzipien melodischer Wahrnehmung“
Musikwissenschaftliches Institut der Universität zu Köln
Von Elke Winkelhaus, Köln November 1999
7.
Zusammenfassung der Ergebnisse mit Blick auf den aktuellen
Forschungsstand
Die Suche nach den grundlegenden kognitiven Prinzipien melodischer Wahrnehmung
hat gezeigt, daß die Melodiewahrnehmung nicht isoliert untersucht werden darf,
sondern immer im Rahmen einer ganzheitlichen musikalischen Wahrnehmung
betrachtet werden muß. Die wesentlichen strukturellen Merkmale einer Melodie (v.a.
Kontur, Intervall- und Akzentstruktur) werden stets in Abhängigkeit vom musikalischen
Kontext sowie auf der Grundlage bereits vorhandenen musikalischen Wissens
wahrgenommen. Die zentrale Frage der vorliegenden Arbeit, aufgrund welcher
kognitiver Prinzipien beim Hörer die Wahrnehmung einer Melodie entsteht, wurde
durch den Grundgedanken motiviert, daß das Gehörte nicht als Kopie akustischer
Reizmuster, sondern als Produkt komplexer kognitiver Prozesse zu verstehen ist.
„Das, was wir hören, d.h. als was wir das Gehörte auffassen, stellt [...] nicht eine
Abbildung des physikalisch Gegebenen dar, sondern dessen Verarbeitung.“
(Gruhn 1989: 162)
Der Prozeß des Musikhörens und –verstehens ist darauf ausgerichtet, die über das
Gehör empfangene Flut von akustischen Informationen perzeptiv zu ordnen und auf der
Basis des (bewußten oder unbewußten) Wissens, der Einstellung und Vorlieben zu
kategorisieren und zu interpretieren. Musikalische Wahrnehmungsprozesse sind damit
als Erkenntnisleistungen von individuellen, subjektiven Faktoren abhängig und nicht
ausschließlich
durch
objektive
Reizmuster
determiniert.
Das
Erkennen
von
(melodischen) Gestalten, die nach perzeptiven Gruppierungsprinzipien organisiert
werden, beruht immer schon auf einer Interpretationsleistung, in die der Hörer
Erfahrungen, Wissen und Interessen einbringt.
„Gestalt wird vom Hörer erst hergestellt; sie exisiert – was ihre Komplexität und
ihre zeitliche Ausdehnung angeht – nur in dem Umfang, in dem sie vom Hörer als
Ganzheit erfaßt werden kann.“ (Fricke 1993: 184)
Erklingende Musik stellt sich als Zeitgestalt dar, die aus einer Vielzahl von
hierarchischen und miteinander verwobenen Ebenen besteht, deren Zusammenhänge
erst im „beziehenden Denken“ (Stumpf 1910: 341) des Rezipienten entstehen. Die
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Melodiewahrnehmung
richtet
sich
entsprechend
auf
zeitabhängige
Klangbewegungsmuster, deren übergeordnete Beziehungsstrukturen im Rahmen
interagierender Bottom-up- und Top-down-Prozesse verarbeitet werden. Die Fähigkeit,
eben Erklungenes mit dem augenblicklich Gehörten in Beziehung zu setzen, um so
überhaupt Gestalten wahrnehmen zu können, die Erwartungen auf den folgenden
Verlauf erzeugen, setzt eine Hörweise voraus, die sich als „dynamische Aktivität“
(Kurth 1931: 259), als „dynamischer Prozeß“ (Leman 1991: 38) beschreiben läßt.
Im Laufe der vorliegenden Arbeit ist deutlich geworden, welche kognitiven Prinzipien
für die Melodiewahrnehmung im wesentlichen verantwortlich sind. Es wurde gezeigt,
daß die Herstellung melodischer Beziehungsstrukturen vor allem von der Tonhöhen-,
Kontur- und Rhythmuswahrnehmung abhängt. Die nähere Betrachtung und Diskussion
einer Reihe experimenteller, musikpsychologischer Untersuchungen hat gezeigt, daß der
Melodiewahrnehmung kognitive Prinzipien zugrundeliegen, die nicht nur für die Musik
westlicher Kulturen gelten, sondern universellen Charakter besitzen. Hierzu zählen
insbesondere
die
Prinzipien
der
Kategorien-
und
Ähnlichkeitsbildung,
die
Ordnungsgenerierung nach dem Prinzip der Setzung und Veränderung, das
Sekundgangprinzip sowie die Gruppierung auf der Basis der Gestaltprinzipien.
Vor allem die Dynamik musikalischer Hörprozesse, die nicht zuletzt aus der
Wechselbeziehung zwischen diesen kognitiven Prinzipien resultiert, führt zu einer
Komplexität der musikalischen Informationsverarbeitung, die Leman zufolge (1991: 43)
den Einsatz intelligenter Computersysteme in der Musikforschung nötig macht. Die
Entwicklung sogenannter Künstlicher Neuronaler Netze (KNN) hat dazu geführt, daß
die menschliche Intelligenz nicht mehr nur aus der Perspektive logischer oder
regelgestützter sondern auch dynamischer Systeme betrachtet wird. KNN bilden eine
„bestimmte Klasse dynamischer Systeme“ (Leman 1991: 27), deren Architektur die im
Gehirn vorgefundenen Nervenmechanismen simuliert beziehungsweise modelliert. In
der Musik angewendete KNN haben u.a. zum Ziel, herauszufinden, wie zeitvariierende
musikalische Informationen auf höheren Abstraktionsebenen eingefangen werden
können, wie Merkmale über die Zeit gefunden und erkannt und wie zeitliche
Beziehungen dargestellt werden können (vgl. Bharucha 1987 in West et al. 1991:
19/20).
Bereits
der
klassische
informationsverarbeitendes
Symbolverarbeitungsansatz
System
betrachtet
und
hat
den
kognitive
Menschen
als
Prozesse
als
Berechnungsprozesse auf- gefaßt, die mit Hilfe der Künstlichen Intelligenz modelliert
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werden können (Newell & Simon 1976 in Strube 1996: 304ff.). Mit Hilfe des formalen
Systems der Künstlichen Intelligenz können Informationen in symbolischer Form
verarbeitet, das heißt assoziiert, organisiert, gespeichert, mit bereits vorhandenen
Informationen verglichen und je nach Vergleichsresultat unterschiedlich bearbeitet
werden (vgl. Fröhlich 1998: 228/229).
„Im Symbolvberarbeitungsansatz bestand meistens eine Ähnlichkeit zwischen der
mit musikwissenschaftlichen Mitteln analysierten und formal dargestellten
Struktur (z.B. hierarchische Strukturbäume) und der Struktur der Repräsentation
dieser musikalischen Struktur (hierarchische Repräsentationsstruktur).“ (Kleinen
& Stoffer 1998: 1861)
Innerhalb der Kognitionspsychologie und der Kognitiven Musikpsychologie vollzog
sich Mitte der 1980er Jahren eine theoretische Umorientierung: angenommen wurde,
daß neurale Prozesse nicht nur seriell und symbolisch, sondern zeitlich parallel
ablaufen, und die Information nicht zentral oder hierarchisch, sondern distribuiert
gespeichert wird. Als Hauptvertreter dieses sogenannten Parallelverarbeitungsansatzes
(parallel distributed processing) beziehungsweise Konnektionistischen Ansatzes gelten
James L. McClelland & David E. Rumelhart (1986), die eine Reihe konnektionistischer
Modelle entwickelten. Parallelverarbeitungsmodelle orientieren sich an der Architektur
von neuronalen Netzen, also mehrdimensional miteinander verbundenen Nervenbahnen
im Gehirn. Der Konnektionismus unterscheidet sich von der Theorie der
Symbolverarbeitung insbesondere dahingehend, daß die Architektur konnektionistischer
Modelle aus vielen Verarbeitungseinheiten besteht, die im Vergleich zur Komplexität
des Gesamtsystems relativ einfach sind und darüber hinaus keine bedeutungshaltigen
Symbole sondern funktionelle Einheiten (units, nodes) darstellen (vgl. West et al. 1991:
16).
Ein neuronales Netz besteht strukturell aus einer Verschaltung solcher funktionellen
Einheiten zu einem Netzwerk. Die Informationsweiterleitung in diesem Netz erfolgt
nach Prinzipien, die auch bei biologischen Nervenzellen (Neuronen) vorliegen: Über
regelbare Eingangsgewichtungen erhält ein Neuron Informationen von vorgeschalteten
Neuronen. Die Weiterleitung der Werte längs der Verbindungen im Netz hängt von der
Stärke der Verknüpfungen zwischen den Neuronen ab, die durch wiederholte
Aktivierung erlernt wird (vgl. McLeod et al. 1998: 14). Ein Neuron kann für jede Art
von Information (z.B. für Tonhöhe, für ein rhythmisches Segment, für eine Frequenz
etc.) stehen, die im Netzwerk verschlüsselt ist. Dabei führen Ähnlichkeitsbeziehungen,
die beispielsweise durch die Transposition einer Melodie entstehen, nicht wie bei der
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Symbolverarbeitung zu „strukturellen Ähnlichkeiten“ (Kleinen & Stoffer 1998: 1861)
zwischen
analysierten
und
repräsentierten
Strukturen,
sondern
zu
ähnlichen
Aktivitätsmustern im Netzwerk.
„Neuronale Netze können demnach im Prinzip alle dimensionalen oder
kategorialen Diskriminationen musikalischer Art, zu denen ein Hörer fähig ist,
abbilden.“ (Kleinen & Stoffer 1998: 1861)
Hinsichtlich der musikpsychologischen Erforschung kognitiver Prinzipien der
Melodiewahrnehmung
bieten
neuronale
Netzwerkmodellierungen
damit
die
Möglichkeit, nicht nur strukturelle sondern insbesondere auch funktionelle Merkmale
der perzeptiven Organisation melodischer Beziehungsstrukturen berücksichtigen zu
können. Darüber hinaus sind neuronale Netze dadurch lernfähig, daß sie die Stärke der
Verbindungen zwischen den Verarbeitungseinheiten verändern können. Wird zum
Beispiel die erste und fünfte Stufe eines Dreiklangs gespielt, so ergänzt
beziehungsweise aktiviert das Netzwerk in Abhängigkeit vom musikalischen Kontext
entweder die Dur- oder die Mollterz. Innerhalb eines neuronalen Netzes ist letztlich
nicht
das
Layout
der
verschiedenen
(hierarchischen)
Ebenen
der
Verarbeitungseinheiten, sondern vielmehr das Muster der assoziativen Verbindungen
zwischen diesen Einheiten (pattern of connectivity) von Bedeutung (vgl. Bharucha
1994: 232/233).
Der Vorteil parallel verteilter Verarbeitungseinheiten bei der Modellierung der
menschlichen Kognition besteht darin, die interagierenden Bottom-up- und Top-downProzesse der Verarbeitung im
Hinblick
auf das
die Melodiewahrnehmung
kennzeichnende „beziehende Denken“ (Stumpf 1910: 341) zu beschreiben. Die
Fähigkeit zum „beziehenden Denken [Hören]“, zum „Heraushören“ (Mattusch 1995:
11) meint die aktive (Re-) Konstruktion der melodischen Gestalt auf der Basis bereits
vorhandener
(Hör-)
Erfahrungen
und
bildet
die
Voraussetzung
für
die
Melodiewahrnehmung, das heißt für das Erkennen von Ähnlichkeiten aufgrund
struktureller sowie funktioneller Beziehungen.
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