Elmar Fiechter-Alber Welche Ethik in der Schule?1 Fachdidaktik Ethikunterricht Ausbildungslehrgang Ethik an der PH Tirol, 27.2.2013 Die Themen und die Tagesstruktur 1. Eine Einführung: Auf welche Fragen lassen wir uns heute (nicht) ein? 2. Wer wir sind und warum wir ethische Entscheidungen (spontan) wie begründen a. Problemstellung: wer wir sind und wie wir diese warum beurteilen? b. Erzählen in der Runde c. Aus dem Interview Detlef Horster zum Probelm der normativen Kraft des Faktischen („Information ist ein moralisches Problem. In: Der Standard, 22./23.12. 2012, S 8.) 3. Hermeneutische Horizonte – wie wir ethische Herausforderungen begründen können und warum wir das tun müssen? Input: Ein Plädoyer für eine community-begründete Ethik als Grundlage für Lernprozesse. a. Input: Plädoyer für Walzer b. Gespräch c. Aus dem Interview Detlef Horster zum Probelm der Neutralität der Lehrer 4. Noch einmal (und bewusster): wer sind wir? Meine biografischen Grundlagen ethischer Begründung a. Bilder meiner ethischen Biografie 5. Schultheorie: Schule als lerngenerierende Community. Ethisch-didaktische Perspektiven a. Platon, Hentig, Walzer und die kommunikative Fachdidaktik. b. Themenzentrierte Interaktion als Grundlage ethischen Lernens 6. Exemplarische Perspektiven kommunikativ-kompetenzorientierten Lernens. a. Ein konkretes Thema planen vor dem Hintergrund der Bildungscommunity: ICH – WIR – SACHE - KONTEXT 1 Vgl. Fiechter-Alber, Elmar, Welche Ethik in der Schule. Hermeneutische Grundlagen ethischen Lehrens und Lernens. Mainz 2004. Einführung 1. Eine Einführung: Auf welche Fragen lassen wir uns heute (nicht) ein? Was machen wir heute? Auf dem Programm steht „Fachdidaktik“. Das mache ich gerne mit Ihnen, wenn wir uns im Vorfeld klar darüber sind, was das heißt. Fachdidaktik meint natürlich die Lehre oder das Grundverständnis, wie etwas gelehrt werden kann. Haben Sie eine Idee, wie Sie Ethik unterrichten – und das ist natürlich eine andere Frage, als die, was Sie im Fach Ethik unterrichten. Es geht in der Fachdidaktik nicht (nur) um das Fach – also die Fachwissenschaft. Damit klar ist: Lernen und Lehren in der Schule sind nicht einfach Schmalspurkopien universitärer Fachwissenschaften. Das auf der einen Seite. Und Fachdidaktik ist auf der anderen Seite auch eine andere Frage als die, mit welchen Verfahren Sie Ethik unterrichten, also mit welchem Arbeitsmterial, mit welchen Texten, mit welchen Spielen, mit welchen Sozialformen, Exkursionen, Filmen, Aktionen, … Damit klar ist: Lernen und Lehren in der Schule ist nicht (nur) Methodik. Die Frage nach der Fachdidaktik thematisiert vor allem die Frage nach einer Grundhaltung. Wie verstehen wir Bildung (und ich gehe davon aus, dass wir hier nicht Ausbildung und nicht Erziehung meinen – aber dazu noch später). Wie verstehen wir uns als Lehrerin, als Lehrer? Wie verstehen wir unsere Schülerinnen und Schüler. Welche Möglichkeiten sehen wir im Kontext Schule überhaupt, dass Kinder und Jugendliche lernen können? Ist es überhaupt möglich, in der Schule Ethik zu lernen? Und was heißt das? Heißt das, die grundlegenden ethischen oder moralphilosophischen Theorien der Menschheitsgeschichte zu kennen? Oder bedeutet das, in ethischen Anforderungssituationen verantwortungsvoll handeln zu können? Kann Schule – Ethikunterricht – zu so etwas wie Sinnstiftung und Identitätsbildung für Jugendliche beitragen? Und können wir dem Zielparagraphen der österreichischen Schule entsprechen? Schulorganisationsgesetz § 2. Aufgabe der österreichischen Schule (1) Die österreichische Schule hat die Aufgabe, an der Entwicklung der Anlagen der Jugend nach den sittlichen, religiösen und sozialen Werten sowie nach den Werten des Wahren, Guten und Schönen durch einen ihrer Entwicklungsstufe und ihrem Bildungsweg entsprechenden Unterricht mitzuwirken. Sie hat die Jugend mit dem für das Leben und den künftigen Beruf erforderlichen Wissen und Können auszustatten und zum selbsttätigen Bildungserwerb zu erziehen. Die jungen Menschen sollen zu gesunden, arbeitstüchtigen, pflichttreuen und verantwortungsbewußten Gliedern der Gesellschaft und Bürgern der demokratischen und bundesstaatlichen Republik Österreich herangebildet werden. Sie sollen zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken. Wenn wir uns heute aber die Frage stellen, was wir unter ethischer Bildung im Kontext Schule, konkret im Ethikunterricht verstehen, müssten wir dann nicht angesichts der Herausforderung des kompetenzorientierten Unterrichts die Frage nochmals neu stellen: Nicht „wie lehren wir Ethik?“, sondern „wie lernen unsere Kinder und Jugendlichen Ethik?“. Die Erziehungswissenschaft spricht dann nicht mehr von Didaktik, sondern von Mathetik (aus dem griechischen Es geht also auch um einen Perspektivenwechsel. Was geschieht bei den Schülerinnen und Schülern, wenn sie in ethische Lernprozesse einsteigen – nicht (nur), was können und müssen wir tun? Fragen über Fragen – verzeihen Sie mir, wenn ich eher lerntheoretisch und bildungstheoretisch einsteige. Mir ist es wichtig, im Vorfeld zu klären, um welche Frage es heute überhaupt geht, was denn das Thema des heutigen Tages ist und was ich darunter verstehe, wenn ich den Auftrag erhalte, heute mit Ihnen zur „Fachdidaktik des Ethikunterrichts“ zu arbeiten. Und: Die Behandlung dieser Fragen muss nicht so trocken und theoretisch sein, wie sie klingen! 1. Wer wir sind und warum wir ethische Entscheidungen (spontan) wie begründen a. Problemstellung: vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion um das Recht homosexueller Paare, leibliche Kinder des Partners zu adoptieren Fundamentalethische – also möglichst grundsätzliche Begründungen (nicht Entscheidungen) auf Karten: also wenn Sie das Warum immer weiter treiben, bis Sie zu einem Fundament kommen. b. Erzählen in der Runde c. Eine Möglichkeit: Interview Horster, letzte Spalte oben (Die normative Kraft des Faktischen) Horster hält also die Tatsache, dass ethische Urteile heute aufgrund der Macht des Faktischen getroffen werden, für etwas „sehr Erschreckendes“. Die Macht des Faktischen ist eine relativ einfache ethische Erklärung: „Was möglich ist, können und sollen wir tun!“ Wie aber können wir in Lernprozessen mit Schülerinnen und Schülern auch die Frage nach der Verantwortung stellen. Wie können wir sie in den Gedankenprozess involvieren, der nicht nur nach der Möglichkeit fragt, sondern auch danach, was „gut“ ist. Und können wir das innerhalb von Lernprozessen begründen – sogar so, dass daraus Haltungen werden – zumindest Kompetenzen, die es ermöglichen, in Anforderungssituationen verantwortet zu handeln. 2. Hermeneutische Horizonte – wie wir ethische Herausforderungen begründen können und warum wir das tun müssen? Input: Ein Plädoyer für eine community-begründete Ethik als Grundlage für Lernprozesse. 2.1. Pluralismus als Realität und auch Norm unserer Gesellschaft? Unsere Gesellschaft wird als eine moderne, plurale Gesellschaft beschrieben und meist auch wahrgenommen, in der nicht (mehr)2 eindeutig von Werten oder einer normativen Ethik gesprochen 2 Der Begriff Pluralismus ist relativ junger Natur, wenn man bedenkt, dass die Tatsache unterschiedlicher religiös-weltanschaulicher und politischer Gruppierungen so alt sein dürfte, wie der Versuch Gemeinwesen strukturell (z. B. staatlich) zu regeln. Zum ersten Mal wird ausdrücklich von Pluralismus Anfang des 20. Jhdts. in England gesprochen, als Zweifel darüber auftauchten, „ob mittels des gemeinen Rechts die Aufgaben einer zeitgemäßen rechtlichen Regelung autonomer Gruppenbildung gemeistert werden könnten.“ Fraenkel, Ernst, Der Pluralismus als Strukturelement der werden kann. Unsere Gesellschaft verdankt diese mehrdimensionale Vielfalt „vor allem den Glaubenskriegen der Reformationszeit, der europäischen Aufklärung, der bürgerlichen und der industriellen Revolution.“3 Deshalb verzichtet eine pluralistische Gesellschaft darauf, den Menschen in Wert- und Sollensfragen zu bevormunden. Sie schreibt ihm nicht vor, was er zu glauben und wie er zu werten hat. Ethisches, weltanschauliches und auch religiöses Lernen in der Schule ist deshalb vor eine Herausforderung gestellt, weil den Schülerinnen und Schülern nicht (mehr) einfach vorgegeben werden kann, was gut ist, so als hätten wir einen Rucksack voller gutem Wissen und Können, das einfach übergeben werden könnte. Zu bunt sind dafür die Lebensentwürfe und Weltanschauungen, mit denen Menschen leben und zu bunt sind dafür die biografischen Geschichten der Individuen, denen gesellschaftlich immer stärkere Bedeutung zugemessen wird. Die Betonung der Eigenständigkeit des Individuums und der legitimen Vielfalt wird in der modernen, pluralistischen Gesellschaft zur Norm. Weil innerhalb einer pluralistischen Gesellschaft die Subjekthaftigkeit jedes Einzelnen anerkannt und gefördert wird, ist sie auch geprägt von weltanschaulicher und ethisch-sittlicher Uneindeutigkeit und Unverbindlichkeit. Die Wende zum Subjekt ist jedoch nicht nur ein allgemein gesellschaftliches Phänomen –( und in der Medien- und Marktgesellschaft schon fast wieder verlorenes Gut). Gerade im Bildungs- und Schulkontext folgen Konzepte der Individualisierung, Personalisierung, Differenzierung und Kompetenzorientierung (die Fähigkeit, Anforderungssituationen persönlich zu lösen) der Logik des Pluralismus. Selbst in der Schule wird grundsätzlich darauf verzichtet, den Menschen in Wert- und Sollensfragen zu bevormunden. Schule schreibt Schülerinnen und Schüler nicht vor, was er zu glauben und wie er zu werten hat. Das Konzept des Ethikunterrichts, das sich von einer ein-deutigen Werteorientierung verabschiedet, ist vor die pluralistische Herausforderung gestellt. Wenn Wertefragen nicht ein-deutig und auch nicht konfessionell oder religionsbezogen begründet werden, worauf gründet sich das Lernen dann? Wie begründen Sie ethische Urteile, wie beantworten Sie (und wir alle) die legitime und wichtige Frage des „Warum?“ von Kindern und Jugendlichen? Das war ja die Frage, die wir uns in der Einführungsrunde gestellt haben. Ich möchte Ihnen im Folgenden drei Konzepte anbieten, die als moralphilosophische Entwürfe entstanden sind, aber im Kontext ethischen Lernens in der Schule als fachbezogene Grundverständnisse von Lernen also als fachdidaktische Theorien des Ethikunterrichts dienen können. Ich bezeichne sie als hermeneutische Erkundungsfolien für Ihren Job, Ihre Aufgabe, Ihren Beruf, Ihre Berufung. freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. In: Nuscheler, Franz / Steffani Winfried (Hg.), Pluralismus – Konzeptionen und Kontroversen. München 1972, 163. 3 Höffe, Otfried, Ethik und Politik. Grundmodelle und –probleme der praktischen Philosophie. Frankfurt am Main. 1979, 363. 2.2. Die Suche nach objektiven Kriterien – Naturrecht? Die Naturrechtslehre ist anthropologisch von einem Menschenbild begründet, das über das empirisch Erfassbare hinausgeht. Es geht dabei traditionellerweise um die „Suche nach einer Vernunft des Ethischen, die im Bewußtsein und in den Handlungsintentionen des einzelnen Menschen nicht aufgeht.“4 Diese ontologische Annahme, dass das Gute und das Recht5 als solches unabhängig von Individuellem und Relativem in jeglicher Art menschlichen Zusammenlebens, in den Strukturen der Welt vorhanden sein müsse. Sie ist die Sehnsucht, ein objektives beziehungsweise objektivierbares Gutes und Recht zu ergründen, zu erschließen und dabei „gegenüber einem ethischen Nonkognitivismus und Relativismus an der Wahrheitsfähigkeit und universalen Geltung sittlicher Urteile“ 6 fest zu halten. Die wesentliche Grundannahme lässt sich kurz etwa wie folgt beschreiben: Was gut oder gerecht ist, was sittlich-ethisch zu verantworten ist, müsste doch über subjektive, biografische Prägung sowie konkrete Handlungsbedingungen hinausgehen. Damit ist zunächst nur eine negative Abgrenzung des Naturrechtsdenkens angedeutet, welche auch wesentlich zu einer neuerlichen Diskussion desselben beitrug, nämlich das Naturrecht als Abgrenzung gegenüber dem „gescheiterten Projekt der Moderne“ und gegenüber jeder Art von Subjektivismus und Nihilismus zu begreifen. Im Zusammenhang mit den Anspruch, in der Schule ethische Prinzipien nicht nur kennen zu lernen, sondern sich anzueignen – als Haltung, als Kompetenz – ist die Suche nach objektiven Kriterien, oder zumindest nach kommunizierbaren Kriterien, eine Reaktion auf die Haltung: „Das muss doch jeder für sich selbst entscheiden!“ Vermutlich ist es Ihnen auch schon passiert, dass in einer Auseinandersetzung, in einer Diskussion um ein ethisches Problem Sie von Schülerinnen und Schülern mit diesem Pluralismusargument konfrontiert wurden: „Das muss jeder für sich selbst entscheiden!“ Und dann bleibt uns als Lehrerin/Lehrer der fahle Beigeschmack der Beliebigkeit und der pädagogischen Unzufriedenheit, denn dann bräuchten wir Schule, Bildung, Erziehung nicht, wenn alles jeder für sich selbst entscheiden müsste und könnte – ganz abgesehen 4 Tanner, Klaus, Der lange Schatten des Naturrechts. Eine fundamentalethische Untersuchung, Stuttgart 1993, 11. 5 Erst durch den Übergang von klassischem (v.a. Thomas v. Aquin) zu neuzeitlichem (v.a. I. Kant) Naturrechtsverständnis wird die Unterscheidung zwischen Recht, Gerechtigkeit und Gutem/Tugend vollzogen. Die Rechtspflichten sind jene Pflichten, die wir anderen, den Mitmenschen aufgrund deren Rechte schulden. Sie betreffen also alle intersubjektiven Handlungen des Menschen und beschreiben einen Mindestanspruch für ethisch verantwortbares Handeln und beziehen sich allein auf äußeres Verhalten gegenüber anderen. Tugendpflichten hingegen fragen nach der inneren Gesinnung und nach der moralischen Motivation einer Handlung und beziehen sich sowohl auf das eigene Wohl als auch auf das anderer. Den Rechtspflichten kommt allerdings nach Kant der Vorrang gegenüber den Tugendpflichten zu. „Wir sollen zuerst das tun, was wir einander schulden, bevor wir darüber hinaus Gutes tun.“ Vgl. Anzenbacher, Arno, Christliche Sozialethik, Einführung und Prinzipien. Paderborn1998, 68ff, hier 70. 6 Schockenhoff, Eberhard, Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt, Mainz 1996, 20. natürlich von der Tatsache dass ethische Entscheidungen ja per se immer auch interpersonale Relevanz haben – für mehrere Beteiligte von Bedeutung sind, sonst wären es ja keine ethischen Entscheidungen. Und als eifrige Pädagoginnen und Pädagogen tappen wir in die Falle der Erklärungsversuche, warum ethische Prinzipien zum Menschschein dazu gehören. Diese erweisen sich als Gratwanderung zwischen dem Tal des Dogmatismus auf der einen Seite: „Ungeborenes Leben ist auf jeden Fall schützenswert, weil das Leben des Menschen auf jeden Fall und unter jeder Rücksicht zu schützen ist und das Recht auf Leben jedem Menschen – geboren oder ungeboren – jedem zusteht.“ Oder dem Tal der Tautologie auf der anderen Seite „Ungerechter Krieg ist ungerecht!“ Mit – scheinbarem Naturrecht werden in Lernkontexten Ungewissheiten geschaffen und nicht Lernräume geöffnet, sondern geschlossen. Die Komplexität ethischer Fragestellung – z.B. im Zusammenhang mit medizinischen, aber auch wirtschaftlichen, sozialen und globalen Herausforderungen verunmöglichen Erkenntnisprozesse aus der Natur der Sache allein. Dennoch: „Die Naturrechtsüberlieferung ist in allen ihren Gestalten vom Interesse bestimmt gewesen, ein Widerlager gegen einen ethischen Relativismus bzw. die skeptische Destruktion von Verbindlichkeit überhaupt zu bilden.“7. Insofern bleibt dieses Naturrechtsanliegen vielmehr eine Frage, ein kritisches Sensorium, als eine Antwort. Ein kritisches Sensorium gegenüber der Haltung „Das muss jeder für sich selbst entscheiden!“ Es muss mehr geben! Aber worin besteht dieses Mehr? Wenn wir im Zusammenhang mit dem Ethikunterricht keine konfessionsgebunden oder religionsgebundenen Traditionen haben, auch keine naturrechtlichen Anhaltspunkte, wie denn der Mensch zu verstehen sei und was natürlicher Weise ihm zukommt – woher nehmen wir dann unsere ethischen Entscheidungskriterien? Wie können wir also mit Schülerinnen und Schülern uns auf Begründungen einlassen, diese suchen und entdecken, wenn wir sie nicht einfach vorgeben können? 2.3. Die Einbeziehung des Anderen Hilft uns der Diskurs? Die Diskursethik schließt an Kant8 und seiner Intuition des kategorischen Imperativs9 an. Der kategorische Imperativ bei Kant zielt darauf ab, zu prüfen, ob Normen lediglich subjektiv gültig oder verallgemeinerungsfähig sind. Nur dann spricht Kant ihnen „Sittlichkeit“ zu. Er 7 Tanner, 1993, 12. Anzenbacher, 1998, 111. 9 „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie allgemeines Gesetz werde.“ 8 überlässt diese Prüfung jedem einzelnen handelnden Subjekt. Jeder ist alleine (und letztlich einsam) der Entscheidung ausgeliefert, ob er will, dass eine Maxime, also eine Norm, allgemeines Gesetz werde. Habermas und andere Vertreter der Diskursethik setzen dieses Prüfungsverfahren anders, nämlich konkreter an. Die Entscheidung des Subjekts („… durch die DU zugleich wollen kannst …“) wird erweitert durch den kommunikativen Anspruch. Eine intersubjektive Verständigung gilt als Kriterium für die Prüfung, ob eine Handlung allgemein gültig ist. „Statt allen anderen eine Maxime, von der ich will, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben, muß ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Universalitätsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen wollen“10. Was heißt das für ethisches Lernen und Lehren in der Schule? Kann Schule, Unterricht, Ethikunterricht so etwas wie ein diskursives Verfahren sein. Lernen geschieht – so könnte man moralpädagogisch argumentieren – nie einsam, sondern immer in Auseinandersetzung. Und da haben wir ja in der Schule hervorragende Voraussetzungen. Hinter der Einbettung dieses Verfahrens in einen kommunikativen Diskurs steckt das Anliegen, die Prüfung der Gültigkeit von Normen aus dem monologischen Käfig zu befreien und sie einer Kommunikation, einem Diskurs zuzuführen, dem sowieso nicht zu entkommen ist11, weil wir immer schon in interaktiven Zusammenhängen handeln. Diskursethik gründet also auf der Logik der moralischen Argumentation und versucht damit dort anzusetzen, wo moralische Dilemmata im Normalfall auch entstehen, nämlich in allen möglichen Zusammenhängen kommunikativen Handelns. So verabschiedet sich die Diskursethik von den Traditionen des „neuzeitlichen, subjekt- und bewußtseinsphilosophischen Denkens“12 und versteht das Subjekt in erster Linie von seiner Intersubjektivität her, die von vornherein auf Kommunikation angelegt ist. Der selbstreflexiven Kommunikation des einzelnen mit sich selbst und seinem Handeln ist die Kommunikation mit anderen, mit dem Anderen vorgelagert. Um die Möglichkeitsbedingungen, also die formalen Bedingungen eines derartigen Diskurses zu beschreiben, führt Habermas den Begriff der „idealen Sprechsituation“ ein. Diese besteht zunächst darin, dass wie bereits angedeutet „kein Zwang außer dem des besseren Arguments ausgeübt 10 Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main, 1983, 77. vgl. dazu Gripp, Helga, Jürgen Habermas. Und es gibt sie doch – Zur kommunikationstheretischen Begründung von Vernunft bei Jürgen Habermas. Paderborn u.a. 1984, 131f. 12 Scheidler, Monika, Christliche Communio und kommunikatives Handeln – eine Leitperspektive für die Schule, Altenberge 1993, 52. 11 wird“.13 Ideale Sprechsituationen dürfen demnach „nicht durch Zwänge behindert werden, die sich aus der Struktur der Kommunikation selbst ergeben. Aber wie ist das mit dem Diskurs in der Schule. Können wir von einem – wie die akademische Diskursethik voraussetzt – „herrschaftsfreien Raum“ sprechen? Gerade im Hinblick auf das Beziehungsgeschehen innerhalb des Bildungskontextes Schule, in dem oft so getan wird, als würde ungezwungen miteinander kommuniziert, während verdeckt strategisch ganz andere Interessen und Ziele verfolgt werden, ist die Annahme idealer Sprechsituationen kritisch zu hinterfragen. Denn was heißt es, wenn ethische Begründungen zu suchen oder auch sich ethische Kompetenzen anzueignen, wenn wir dies in einem dichten Beziehungszusammenhang tun, wie es eben Schule und Schulklasse sind. 2.3. Die Einbettung in die lebendige Community Als Kind wurde ich in meinem Bergdorf nie gefragt: „Wie heißt du?“, sondern immer: „Wem gehörst du?“ Und dann war klar: Ich bin der Sohn des Bäckers. Die Frage „Wem gehörst du?“ meint vor allem: In welcher Tradition bist du groß geworden. Meine Eltern haben immer gefragt, wenn wir unsere ersten Freundinnen mit nach Hause gebracht haben: „Isch sie a Ghörige?“ Also, hört sie auf die richtige Tradition? Intuitiv vertraten sie damit das, was in der moralphilosophischen Position des Kommunitarismus systematisiert wird. Ethische Positionen können nicht ausschließlich durch Ableitung aus der Natur des Menschen oder des Menschlichen, auch nicht allein aus dem vernunftbegründeten Diskurs gewonnen werden. Ethik – das was gut ist – entspringt immer aus einer Einbettung in eine bestimmte Tradition, aus einer Einbettung einer community. Der Begriff meint meines Wissens einen abgegrenzten Raum, so etwas wie ein umzäuntes Feld, innerhalb dessen klar und gemeinsam gelernt und gelebt ist, was gut und richtig ist. Das ist gelebte Ethik. Michael Walzer nennt sie „dichte“ – weil eben gelebte und erfahrene Ethik. Innerhalb eines gelebten Kontextes gibt es bewusste – und unbewusste – Grundwerte. Es ist innerhalb der community klar, was unter Freiheit, Gerechtigkeit usw. zu verstehen ist. Innerhalb einer Community geht es dabei nicht um die Klärung, sondern um die Verlebendigung von Ethik. Dadurch wird Ethik verdichtet. Ethik in einer community ist also nicht in erster Linie begründet, sondern vergewissert, weil durch konkrete Situationen durchlebt. Verdichtete Ethik ist allerdings nur innerhalb dieser community als dicht verständlich. Meine Tochter hat im Zusammenhang mit der Wehrpflichtabstimmung gemeint: „Meine Mitschülerin ist so deutlich von 13 Habermas, Jürgen, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt am Main 1973, 148. der Tradition unseres Dorfes geprägt. Ich nicht – ich habe diese Dorftradition nicht. Ich stütze mich vielmehr auf die Haltung in der Familie.“ In Bezug auf ethisches Lernen – auf Lernen überhaupt - in der Schule halte ich diese Verwurzelung in einer community unabdingbar. Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Es geht mir hier nicht um die Ideologisierung einer bestimmten Tradition. Ja, ich bin Religionspädagoge, war über viele Jahre katholischer Religionslehrer. Es geht mir hier nicht darum, den Ethikunterricht zu taufen. Es geht mir hier darum, dass wir in Lernprozessen unseren Schülerinnen und Schülern mit dichter Ethik zur Verfügung stehen. Interview mit Detlef Horster, zum Problem der Wertneutralität von LehrerInnen Die Frage, ob denn ReligionslehrerInnen Ethik unterrichten dürfen oder sollen, möchte ich jetzt gar nicht stellen. Die Aussage von Horster, dass wir LehrerInnen brauchen, die in ethischen Fragen neutral sind, halte ich aus pädagogischer und bildungstheoretischer Sicht gelinde gesagt für bedenklich, im Grunde halte ich eine solche Aussage für eine pädagogische Katastrophe oder Kapitulation. Und ich vermute, dass sich Herr Horster der Tragweite seiner Aussage gar nicht bewusst ist. Warum? Wie geschehen Lernprozsse? Gerade vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der Hirnforschung müssen und dürfen wir davon ausgehen, dass entscheidende Lernprozesse dann ermöglicht und gefördert werden, wenn sie in gute Beziehungen eingebettet sind, das heißt, dass Menschen mit klarem Profil als Lernpartner/innen zur Verfügung stehen. Rein aus der Sicht der Neurobiologie sind es die drei Botenstoffe Dompamin, die Opioide und das Oxytozin, das uns Menschen hilft motiviert zu lernen und neugierig zu sein. Diesen Cocktail an Botenstoffen – sagt z. B. der Hirnforscher Joachim Bauer14 – schickt das Gehirn vor allem dann über die Theke, versorgt uns also damit, wenn wir in soziale und wert-schätzende Netzwerke eingebunden sind. „Ja no na ned“ geht Lernen leichter, wenn es im Rahmen von geglückten Beziehungen geschieht. Insbesondere im Zusammenhang mit dem Lernen von Werten, mit der Herausforderung, ethische Anforderungssituationen zu meistern, ist es also nicht hilfreich, wenn Kinder und Jugendliche möglichst neutrale und ausschließlich sachliche Lernpartnerinnen und –partner zur Verfügung haben. Ethik lernen bedeutet in den Kontext einer Wertegemeinschaft eingebunden zu sein. Kann aber Schule das sein? Kann Schule das leisten? Ich behaupte: JA! Nicht als Anspruch, sondern als Faktum. Schule ist immer Wertegemeinschaft, jede Klasse ist Wertegemeinschaft – ist lebendige Community, in der sich Werte verdichten? 14 Bauer Joachim, Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern, München 4 2011 , 21. Und kann und soll ich als Lehrerin, als Ethiklehrerin mit meiner Werteposition zur Verfügung stehen. Kann ich das leisten? Ich behaupte: JA! Auch nicht in erster Linie als Anspruch, sondern wieder: Als Faktum. Immer, bewusst und unbewusst, offen gelegt oder nicht stelle ich als Lehrerin, als Lehrer Wertepositionen und –haltungen zur Verfügung. Ich bin Teil der lebendigen Community, in der sich Werte verdichten. Gerne möchte ich am Nachmittag mit Ihnen noch Gedanken dazu anstellen, wie vor dem Hintergrund dieser Idee der Schule und des Unterrichts Lernprozesse ethischen Lernens gedacht und geplant werden können. 3. Noch einmal (und bewusster): wer sind wir? Meine biografischen Grundlagen ethischer Begründung Ich möchte mit Ihnen eine mutige Erkundungstour wagen, die ich aber im Zusammenhang mit ethischem Lehren und Lernen für unerlässlich halte. Wenn wir Schule als personalen Lernraum verstehen, in dem Menschen einander als Person zur Verfügung stehen, und wenn Lernen Beziehungsgeschehen innerhalb einer Community ist, in der sich Ethik verdichtet, dann ist es wichtig, dass wir als Lernpartner, als Lerncoach, als LehrerIn eben nicht neutral bleiben, sondern innerhalb dieses Lerngeschehens auch mit unserer Position eintreten Die Erkundungstour, die ich Ihnen jetzt zumuten möchte ich eine biografische und persönliche. Nehmen Sie sich persönlich eine halbe Stunde Zeit, und machen Sie eine biografische Erkundung. Versuchen Sie aus Ihrer eigenen persönlichen Biografie Stationen einzufangen und zu skizzieren, von denen Sie glauben, dass sie exemplarisch Ihre ethische Begründungshermeneutik geprägt haben. Das heißt. In welchen Situationen, Erfahrungen, Erlebnissen – vor allem Beziehungen – haben Sie denn selbst gelernt, warum etwas gut ist, wie man zur Begründung in einer ethischen Anforderungssituation gelangt. Versuchen Sie das auf einem Leporello zu skizzieren. Das ist zunächst für Sie – und ich bitte Sie – nach diesen 30 Minuten mit einer Person hier in der Gruppe ins Gespräch zu kommen. 4. Schultheorie: Schule als lerngenerierende Community. Ethisch-didaktische Perspektiven 4.1. Wozu ist die Schule (nicht) da? Kann man in der Schule Ethik lernen? Angesichts von großen gesellschaftlichen Herausforderungen wird diese Frage immer wieder an die Schule herangetragen. Die Lern-Defizite, die andere gesellschaftliche pädagogische Systeme aufweisen (z.B. Familie), sollen doch durch die Schule abgefangen werden. Ist es Aufgabe der Schule, dies zu leisten? Kann Ethikunterricht Wertebildung leisten? Oder ist er eben „nur“ Unterricht, der Schülerinnen und Schülern sachliche Inhalte zur Verfügung stellt. Die Idee der Kompetenzorientierung geht ja eindeutig davon aus, dass Schule dazu beitragen soll, dass SchülerInnen konkreten Anforderungssituationen gewachsen sind. Es geht um konkrete Kompetenzen. Vielleicht kennen Sie aus der Diskussion um die Kompetenzorientierung die am meisten verwendete Definition, nämlich die von Franz Weinert: Er definiert Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [die willentliche Steuerung von Handlungen und Handlungsabsichten] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“15. Es war ja Hartmut von Hentig, der bereits in den 90er Jahren diesen hohen Anspruch stellte, als er ausgehend von den brennenden Asylwerberheimen in Deutschland die Mahnschrift „Schule neu denken“ verfasste. Schule ist Vorbereitung auf die Gesellschaft, auf das “spätere Leben”. Und genauer: Vor dem Hintergrund einer mobilen und kulturell sowie ethnisch vielfältigen Gesellschaft dürfen wir uns nicht mit der „ein-fältigen“ Gesellschaftsvorbildung der Familie zufrieden geben. Schule soll deshalb möglichst adäquat die Vielfalt von Gesellschaft wiederspiegeln, für die sie ausbildet und erzieht. Insofern bildet Schule in Miniaturausgabe ein Gesellschaftssystem, in dem die relevanten „Projekte“ zur Bewältigung anfallen, und deshalb auch die lernimmanenten Aufgaben schulischen Unterrichtens sind. Den Begriff „Unterricht“ lehnt Hentig tendenziell ab, weil es in der Schule nicht um Unterricht geht, sondern Schule ein Lebens- und Erfahrungsraum sein soll. Mit der Beschränkung der Schule auf den Unterricht seien Realitäten ausgeklammert, die unvermeidbar zu einem Gesellschaftssystem gehören. Und wenn Schule auf das Leben in der Gesellschaft vorbereiten wolle, dann könne sie dies am besten, indem dort in quasi-realen Situationen eben jener Lebens- und Erfahrungsraum ermöglicht und für wahr genommen wird, mit dem SchülerInnen auch in späterer Gesellschaft konfrontiert werden. Auch wenn es oft als normative gesellschaftliche Überforderung erfahren und abgelehnt wird, Schule ist faktisch mit Lebensproblemen von Menschen, allerdings nicht nur von Schülerinnen und Schülern, sondern auch mit jenen von Lehrerinnen und Lehrern konfrontiert. Sie kommt an diesen gar nicht vorbei. Sie kann sich zwar daran vorbeischleichen, indem sie diese verwaltet und verdrängt bis sie totgeschwiegen sind. Aber auch dann nimmt sie sich ihrer an, allerdings in eben einer Weise, die das Leben zum Störfaktor des Unterrichts abstempelt. „Hentigs Schule ist eine Lebens- und Erfahrungsschule, in der so viel Erfahrungslernen wie möglich und so wenig Belehrung wie notwendig stattfindet.“16 Als embryonic society soll Schule also den Lebensraum Gesellschaft realisieren, indem Spielregeln beachtet werden, die den Grundwerten der Gesellschaft entsprechen: die Würde und Freiheit der Person, die Vielfalt der Meinungen, Lebenszielen und Lebensformen und ihre pluralistische Gestalt.17 15 Franz E. Weinert (Hrsg), Leistungsmessungen in Schulen, Weinheim und Basel, 2001, S. 27f Winkel, Rainer, Theorie und Praxis der Schule oder: Schulreform konret – im Haus des Lebens und Lernens, Balmannsweiler 1997, 53. 17 Über die hier ausführlich beschriebene Funktion der Schule hinaus, junge Menschen im Rahmen einer quasi-realen Gesellschaftssituation auf die große Gesellschaft vorzubereiten, kommt der Schule nach Hentig durchaus auch die Aufgabe zu, die kommende Generation darauf vorzubereiten, die Gesellschaft umzugestalten. Vgl. von Hentig, Hartmut, Wie frei sind freie Schulen, Gutachten für ein Verwaltungsgericht, Stuttgart 1985, 194. 16 Schule soll also nicht jener Ort sein, an den junge Menschen vom Leben und vor der rauhen Gesellschaft bewahrt bleiben, sondern sollen mit dem Leben konfrontiert werden. Diese Konfrontation soll als Chance genützt und den SchülerInnen nicht vorenthalten werden, indem sie als Störung des Unterrichts verdrängt wird. Es geht also darum, eine Aufmerksamkeit zu entwickeln, die wahr-nimmt und für wahr hält, dass das was in der Schule de facto passiert, Leben und Erfahrungsraum ist, der nicht ausgeblendet werden kann. Er kann höchstens totgeschwiegen und als Störfaktor bestraft und wegver- und gewaltet werden. Deshalb soll eine Schule nicht nur zu Demokratie erziehen, sondern selbst Demokratie sein. Deshalb lernen SchülerInnen in der Schule „politeuein, die Betätigung der Bürger in der polis“18. Im Übrigen ist die Metapher der polis nicht nur Idealtypus einer zu verwirklichenden Schuldemokratie. Sie ist auch realistische Beschreibung dessen, was in der Schule der Fall ist. Tatsächlich gibt es im Beziehungsgeschehen Schule Unterdrückungsmechanismen, Mobbying, verfeindete Gruppen und lebenstötende Strukturen. Dies zu verkennen wäre eine fatale Ausblendung von Tatsachen und die künstliche Harmonisierung des Lebensraumes Schule. Denn auch die antike polis war keine Idealgesellschaft. Auch dort gab es „- neben grandiosen Dingen und Ereignissen – … Sklaven und entrechtete Frauen, Oligarchien und quälende Kultriten, Verbannungen und Schierlingsbecher.“19 Schule soll nicht nur Lebens- und Erfahrungsraum sein. „Schule ist (Hervorh., f.-a.) ein Lebensraum – neben den Lebensräumen Familie-und-Wohnung und Straße-und-Nachbarschaft und Natur“20 und social networks und what’s ups! Im Hinblick auf die Fragestellung ist diese Annahme nicht unbedeutsam. Schule ist nicht nur ein Ort, an dem Ethik mehr oder weniger gut gelehrt und belehrt werden soll, weil sie als Unterrichtsgegenstand im Fächerkanon vorkommt. Schule ist wie andere Lebensräume auch, immer schon, weil sie Beziehungsgeschehen ist, Ort ethischen Lernens. Als Theologe komme ich nicht umhin, den legendären Satz des lateinamerikanischen Befreiungstheologen Leonardo Boff zu modifizieren: „Gott kommt früher als der Missionar“21. Ethik kommt in der Schule also vor dem Ethiklehrer. Aus diesem Grund ist speziell für das Anliegen des Ethikunterrichts eine weitere Ebene in den Blick zu rücken. Neben all den planbaren und unter Umständen evaluierbaren Lernprozessen, die wir als Lehrerinnen und Lehrer gewohnt sind, vor allem zu sehen, ist jene Aufmerksamkeit zu schulen, die alle ungeplanten und unvorhersehbaren Lernsituationen wahr nimmt, an denen Leben erfahren wird und Ethik relevant wird – innerhalb der learning community. Und wir könnten jetzt eine lange Liste von Erfahrungen sammeln, die wir alle aus dem Schulalltag kennen. Weil Schule und Unterricht Beziehungsgeschehen ist, geht es immer um Werte: Ich erinnere mich - es ging um Werte, als die 16jährige Schülerin mitten am Vormittag aus der Schule abgehaut ist – in den Wald, weil sie es in der Schule nicht mehr aushielt – und auch zu Hause nicht. 18 von Hentig, Die Schule neu denken. Eine Übung in praktischer Vernunft, München, Wien, 1993, 224. 19 Winkel, 55. 20 Hentig, 1993, 215. 21 Boff, Leonardo, Gott kommt früher als der Missionar. Neuevangelisierung für eine Kultur des Lebens und der Freiheit, Düsseldorf 1991. - es ging immer um Werte, als ich in eine Klasse kam und mir jemand sagte, die oder der hat Geburtstag. - es ging um Werte, als mich die Kinder vor oder nach einer Schularbeit fragten, ob wir nicht eine Meditationsstunde einbauen können - es ging um Werte, als ich dabei war, wie ein Kollege eine Schülerin auf die Farbe ihrer Unterwäsche ansprach. - und es ging natürlich um Werte, als eine Schülerin in der 6. Klasse starb. Allein all das, was aus dem Beziehungs- und Lebensalltag in der Schule aufmerksam wahrgenommen werden könnte, bietet Anlass genug, um für das Leben zu lernen. Solche Situationen sind ethisch höchst relevante Herausforderungen, denen sich verantwortungsvolle Lehrer nicht entziehen können. Und wer sich die Mühe macht, Ethik-Lehrpläne durch zu buchstabieren, wird erkennen müssen, dass es dabei um keine anderen als um solche – lehrplansprachlich formulierten – aber lebensrelevante Themen geht, die mit den genannten Beispielen – narrativ formuliert – angedeutet wurden. Und sie stehen im Grunde nicht gegen den Lehrplan und das Wissen und auch nicht zusammenhanglos neben ihm, sondern sind Anlassfall, sich mit dem Menschheitswissen, mit dem „Stoff“ auseinanderzusetzen, weil dieser helfen kann, Leben zu verstehen und zu gestalten. Zusammenfassend zu diesen schultheoretischen Überlegungen hilft uns unter Umständen der etymologische Blick auf das Wort Schule. Von ihrer Wortbedeutung her ist dieser Aspekt das ureigene Spezifikum von Schule. Die s´cholé war „die Bank am Rande der Arena von Athen …, auf der man ruhte, nachdachte, zur Besinnung kam.“22 a. TZI als Grundlage ethischen Lernens 23 Zurecht können wir sagen, dass diese schultheoretischen Überlegungen weit über das Spezifikum des Ethikunterrichts hinausgehen. Die Tatsache, dass es immer um Werte und um ethische Herausforderungen geht, dass wir eine werte-dichte Lerncommunity sind, das trifft auf alle Fächer, auf alle Lehrerinnen und Lehrer und auf die Realität der Schülerinnen und Schüler in allen Lernzusammenhängen zu. Was ist jetzt aber das Spezifische der Lerncommunity, der Lern-polis Ethikunterricht. Ich würde gerne anhand eines pädagogischen mehrperspektiven Konzepts eine Planungs- und Lernaufmerksamkeit vorstellen, die mir vor dem Hintergrund des bisher Ausgeführten bedeutsam und hilfreich sein kann. Je mehr es möglich ist, dass sich Themen (und eben nicht nur die Sache) des konkreten Unterrichts nach persönlichen, sachlichen, gemeinschaftlichen und globalen Zusammenhängen orientieren, umso größer werden Sinnzusammenhänge und Beziehungstiefen und somit auch zwischenmenschliche Beziehungsverantwortung. Diese Realität, aber auch diese Hoffnung steckt 22 Winkel, 117. Cohn, Ruth C., Es geht ums Anteilnehmen. Die Begründerin der TZI zur Persönlichkeitsentfaltung. 2 Freiburg i.B. u.a.O. 1993 . Cohn, Ruth C. / Farau, Alfred, Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der 12 Behandlung Einzelner zu einer Pädagogik für alle. Stuttgart 1994 . 23 hinter der Themenzentrierten Interaktion, wenn sie davon ausgeht, dass „individualistisch“ und „kollektivistisch“ keine Gegensätze sind, sondern Persönlichkeit und Gemeinschaftlichkeit, Autonomie und Interdependenz untrennbar miteinander verbunden sind. Wir stehen unabdingbar in Zusammenhängen und wir können diese Zusammenhänge nur leben oder gut leben, wenn wir uns als eigenständige Personen auf die Interaktion dieser Zusammenhänge einlassen. Jetzt gehen wir im schulischen Bildungszusammenhang, im konkreten Unterricht oft davon aus, oder vielleicht ist es nur ein Klischee dass die zu unterrichtende Sache, der Unterrichtsstoff isoliert steht – ein zu Lernendes Abstraktum ist. Und dabei geht der Zusammenhang mit den einzelnen lernenden und lehrenden Menschen, mit den Beziehungen, die diese Menschen miteinander haben, mit dem Kontext und den Rahmenbedingungen, die dieses Lernen prägen verloren. Die TZI versucht diesem isolierten Verständnis von Lehren und Lernen entgegenzuwirken und spricht von einer dynamischen Balance von vier bestimmenden Faktoren, die in Bildungsprozessen in Gruppen, auch in der Schule in Zusammenhang gesetzt werden können und sollen: DAS PRINZIP DER DYNAMISCHEN BALANCE Jede Gruppe ist durch vier Faktoren bestimmt: 1. die Person (Ich) 2. die Gruppeninteraktion (Wir) 3. das Thema oder die Aufgabe (Es), 4. das Umfeld im engsten und weitesten Sinn. (Globe). Symbolisch kann diese Konstellation als gleichseitiges Dreieck in einer vielschichtig-transparenten Kugel ausgedrückt werden: Ich, Wir und Es sind gleich wichtig, ebenso wie unsere nahe und ferne Umgebung, der »Globe«. Das Ich: Ich kann mich als Person empfinden, erspüren und erkennen wie niemand sonst, nämlich, subjektiv. Je mehr ich mich nach innen wende und je klarer ich mir meine eigene Perspektive von der Außenwelt schaffe, umso sinnvoller kann ich entscheiden, wie ich Mitwirkender an meinem Lebensprozess bin und/oder sein möchte. Nur ich und niemand sonst kann meine Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gefühle und Gedanken für mich erleben und vertreten, niemand außer mir hat meine Erinnerungen und Sehnsüchte und entscheidet für mich. Ich kann mein Bewusstsein erweitern durch Nachdenken, Nachspüren, Suchen nach Wahrhaftigkeit, Bitten um Hilfe und Kooperation. Doch ich bleibe ich selbst, die/der sich ändert. Je mehr ich diese offene, suchende Haltung in mir bewahre, umso leichter wird es mir, offen und tolerant mit anderen zu sein. Ich bin nur ich, weil ich auch Wir-Anteil bin: Wir-Anteil meiner Eltern, meiner Kinder, meiner Nächsten, meiner Fernsten, Wir-Anteil der Menschheit Die Aufmerksamkeit für das ICH ist eine grundsätzliche respektierende Haltung gegenüber menschlicher Erfahrung und eine Wertschätzung von Biografie und deren Entwicklung. Je mehr ich mein Bewusstsein für mich selbst erweitere, um so deutlicher wird mir die Vielfalt innerer Strömungen und Motivationen; umso einfacher wird es auch zu verstehen, dass jeder Mensch anders ist und sein muss in der Vielfältigkeit seiner Erlebnisse und Fähigkeiten. Das Verstehen des ICH – und damit auch das Lieben des ICH – ist ein Anliegen der TZI, wenn wir versuchen es in den Zusammenhang mit der Sache, mit dem Wir, mit dem Globe zu bringen. Allerdings müssen wir uns gerade im schulischen Zusammenhang der Grenzen dieser Aufmerksamkeit bewusst sein. Wir können und dürfen nicht grenzenlos Einblick nehmen in die Geschichte, Erfahrung, Situation der einzelnen Schülerinnen und Schüler. Und wir können, dürfen, wollen und sollen auch nicht grenzenlos Einblick geben in unser eigenes Ich als Lehrerinnen und Lehrer. Hier kommt schon ein wesentlicher Grundsatz zum Tragen, der nicht von der TZI stammt, aber dort große Bedeutung erlangt hat und den die Gründerin der TZI Ruth Cohn mit dem Begriff „selektive Authentizität“ beschreibt. Was du von dir gibst soll authentisch sein, wähle aber aus/selektiere, was du von dir gibst. Das Wir: Das Wir ist kein psycho-biologischer Organismus wie das Ich, sondern eine Gestalt, die durch die jeweiligen Ichs in deren Interaktion entsteht und, wie jede Gestalt, mehr ist als die Summe ihrer Teile. Im engeren Sinn ist das Wir das Zusammenspiel von Menschen im selben Raum und in derselben Zeit, die sich aufeinander und auf ein gemeinsames Thema beziehen, d. h. akut interaktionell sind. Im weiteren Sinn kann eine Gruppe, ganz speziell eine Schulklasse durch ein gemeinsames Anliegen auch über Raum und Zeit bestehen. Eine Gruppe wird nicht dadurch gestärkt, dass Personen ihre Individualität aufgeben, sondern dadurch, dass diese sich in der jeweiligen Gemeinschaft aktualisieren. Jeder Mensch verwirklicht sich in der Beziehung zu den andern und in der Zuwendung zur Aufgabe. Das Wir wird stärker nicht durch Mitglieder, die sich selbst aufgeben, sondern durch die, die sich eingeben. Nicht: Ich gebe mich auf für meine Gruppe sondern: Ich gebe mich ein. In schulischen Bildungsprozessen dürfte dieser Faktor einer der problematischsten sein. Meist werden die Vorgänge des Wir als Störung und als Disziplinlosigkeit gesehen. Und die Achtsamkeit auf das WIR darf auf keinen Fall verwechselt werden mit einem Laissez-faire, das jede Interaktion einer Schulklasse thematisiert. Das widerspricht zutiefst der dynamischen Balance, weil dann meist die Aufmerksamkeit auf das ICH, auf jeden Fall auf die Sache verloren gehen. Und auf eine weitere Gefahr möchte ich aufmerksam machen: Als Lehrerin, als Lehrer haben wir das WIR nicht restlos in der Hand. Wir sind nicht omnipotent. Wir Theologen sprechen deshalb von einem geschenkten WIR. Aber wir können davon ausgehen und aufgrund unserer Unterrichtserfahrung wissen wir, dass allein das Da-Sein verschiedener ICH’s eine Auswirkung auf die Einzelnen hat. Die Dynamik der Gruppe und die Regeln, die sich in einer Schulklasse entwickelt haben, haben Einfluss, was wie gelernt und thematisiert werden kann. Das Es: Das Es ist die Sache der Gruppe, der kleine Teil oder Aspekt der Welt von Dingen und Geschehnissen, um die sich eine Gruppe zentriert. Im schulischen Unterricht sprechen wir herkömmlich vom „Stoff“. Wenn das Thema, die Aufgabe, von allen Ichs als eigenes Anliegen und in Bezogenheit aufeinander gewollt und getragen wird, besteht eine optimale Arbeitssituation. Aber wir wissen aus der Schule, dass dies ein hehres Ziel ist, das zu hoch gesteckt ist. Wenn es aber möglich ist, das ES, die SACHE mit dem ICH und/oder dem WIR, dem GLOBE in Verbindung zu bringen, dann erhält die Sache auch Sinn. Vom Ich und vom Wir gehen wir sehr nahe liegend davon aus, dass diese Aufmerksamkeit auch ethische Aufmerksamkeiten sind. Es steckt ein bestimmtes Menschenbild dahinter. Die Sache, könnten wir sagen, ist wertneutral, ist pure Theorie. NEIN! Ob ich – selbst im Mathematikunterricht – Statistiken aus dem Bereich der wirtschaftlichen Gewinnmaximierung oder aber aus dem Bereich der Klimaveränderungen erlerne – ist eine ethische Entscheidung. Mehr noch im Ethikunterricht. Welches Wissen, welche Fakten, welche Weltanschauungen thematisiert werden, das sind ethische Entscheidungen. Ob das betreffende Thema jedoch konstruktiv für die einzelnen und die Umwelt ist, muss durch Realitäts- und Wertbestimmung beurteilt werden. Ohne solchen Kompass können selbst Gruppensolidarität und Arbeitsfähigkeit lebensschädlich sein. Der Globe: Zum Globe gehören die Menschen und Geschehnisse außerhalb der Hier-und-JetztGruppe. Diese Außenwelt – familiäre, berufliche, hierarchische, ökologische usw. – ist jedoch in ihrem Außensein auch immer in der Gruppe wirksam. Für das nähere Umfeld ist dies offenbar: für die abwesenden Partner, Freundinnen und Freunde, den Stundenplan, der konkrete Unterrichtsraum, das was aus der vergangenen Stunde noch präsent ist, … Die Ich-Wir-Es-Faktoren sind Gruppenleitern und Lehrern fast immer schneller bewusst als die Wichtigkeit des Globe. Die Abwehr sagt: „Man kann doch wirklich nicht alles berücksichtigen. Wir brauchen optimale Unterrichtsbedingungen. Alles von außen stört. Wir haben schon genug mit uns selbst zu tun. Was können wir schon anfangen mit diesem unheimlich großen Globe, der um das Gruppenzimmer herum liegt und in es hineinwirkt? Man muss sich bescheiden.“ Die Zuwendung sagt: »Wir müssen uns mit den Einwirkungen des Globe auf uns und unsere Einwirkung auf ihn beschäftigen. Sonst sind wir wie ein Kapitän, der zwar sein Schiff kennt, sich jedoch um die Meeres-, Wind- und geographischen Situationsbedingungen nicht kümmert. Wer den Globe nicht achtet, den frisst er! Ich möchte dies unterstreichen: Das Bewusstsein der Globe-Faktoren ist für jede Gruppe so wesentlich wie das der Ich-, Wir- und Es-Faktoren." Soweit also die einzelnen vier Faktoren, die in der TZI Grundaufmerksamkeiten sind, die wahrgenommen werden wollen, weil sie Realitäten – auch und besonders im Schulalltag – sind. Die dynamische Balance TZI (in der Schule) beruht auf der idealtypischen Arbeitshypothese, dass bei der Behandlung eines Unterrichts jede Person (Ich), die Interaktion der Gruppe (Wir) und die Arbeit an einer Aufgabe (Es) als gleichgewichtig angesehen werden sollen und der Einfluss des Umfelds (Globe) beachtet werden müssen. 5. Exemplarische Perspektiven kommunikativ-kompetenzorientierten Lernens. Wir entscheiden uns für ein konkretes Thema aus einem Lehrplan und assoziieren zu den vier Faktoren: welche Anliegen könnten sich aus den jeweiligen Faktoren ergeben? - TZI-Modell auf Plakat malen oder einfach nur die 4 Faktoren aufschreiben und dazu assoziieren. (Kleingruppen) - Präsentation im Plenum