Titel Heimatlieder sind in Deutschland längst nicht mehr nur Volkslieder von Silcher und Co. In der Migrationsgesellschaft gibt es einen reichen Fundus von Folklore aus aller Welt – was aber kommt davon in der Chorszene an? Sing mir dein Lied Von Nora-Henriette Friedel 15 Chor zei t~ D E Z 2014 Der Quan ho. Chor Berlin pflegt die Tradition der nordvietnamesischen Singspiele Foto: Melanie Stegemann W enn man uns im Alltag zusammen sieht, denkt man vielleicht, wir sind eine Bande schwerer Kegeljungs, jedenfalls keine Sänger», sagt Ante Bagaric. «Dass wir dann polyphon singen, erstaunt die Leute.» Der Berliner mit kroatischen Wurzeln leitet die Klapa-Berlin, ein neunköpfiges A-cappella-Ensemble, das seine Probe auch gern mal in den öffentlichen Raum verlegt. «Klapa» heißt «Clique» und bezeichnet sowohl das Sängerensemble als auch den mehrstimmigen dalmatinischen Volksgesang, bei dem die Melodie und die passenden Harmonien die Musik tragen und der Rhythmus eine eher untergeordnete Rolle spielt. In der typischen Besetzung mit Solotenor und weiteren Tenören, Baritonen und Bässen wird Klapa in Kroatien seit Mitte des 19 . Jahrhunderts gepflegt, seit 1967 jährlich auf einem internationalen Festival gefeiert und in den letzten zwei Jahrzehnten neu entdeckt – und zum Beispiel um weibliche Stimmen erweitert. Seit dreieinhalb Jahren leitet Ante Bagaric die Klapa-Berlin, in der sich zweimal wöchentlich Ingenieure, Informatiker und Handwerker zur WELCHE ROLLE SPIELT MIGRATION EIGENTLICH IM CHOR? 20 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen haben eine Migrationsgeschichte oder Eltern, die nicht in Deutschland geboren wurden. Bei Kindern unter zehn Jahren liegt dieser Anteil bei einem Drittel – in den Ballungsgebieten wesentlich höher. In der Mehrzahl der Chöre allerdings sind Menschen aus nichteuropäischen Kulturräumen kaum anzutreffen. Die meisten Chorbegeisterten finden schon als Kinder zu dieser meist langjährigen Leidenschaft, das belegen Studien. Das legt nahe, dass man bei den Kindern mit Migrationsgeschichte ansetzen sollte, wenn man mittelfristig mehr Vielfalt in den Chören und mehr Menschen die Teilhabe an dieser Form des gemeinsamen Musizierens ermöglichen will. Nicht zuletzt muss sich die organisierte Chorszene auch um diese Zielgruppe bemühen, will sie dem demografischen Wandel ohne einschneidenden Mitgliederschwund begegnen. Genau dort setzt ein gerade gestartetes Forschungsprojekt des Arbeitskreises Musik in der Jugend (AMJ ) an. Das etwas andere Vokalensemble: Sänger der Klapa-Berlin mit ihrem Leiter Ante Bagaric (re.) Unter dem Arbeitstitel «Chormusikkultur und Migrationsgesellschaft» will das vom AMJ -Vorstandsvorsitzenden Karl Ermert initiierte Projekt eine Forschungslücke schließen und erfassen, wie man vor allem im Kinder- und Jugendchorbereich mit dem Thema Migration ganz praktisch umgeht. Experten aus Musikpädagogik und Chorpraxis sollen befragt, die Singkulturen von MigrantInnen genauer unter die Lupe genommen und Beispiele gelungener Integration in «deutschstämmige» Chöre untersucht werden. Schließlich sollen konkrete Handlungsstrategien entwickelt werden. Bei einem abschließenden Symposium im Oktober 2015 werden die Ergebnisse präsentiert – anschließende Fortbildungsangebote und Modellversuche mit Chören sind geplant. «Man kann nicht mehr sagen, wir hätten die eine Kultur in Deutschland», sagt Niklas Büdenbender, Schulmusiker und Musikpsychologe, der das Projekt an der Uni Oldenburg wissenschaftlich betreut. «Wir haben viele Kulturen. Und Musik ist als nonverbales Kommunikationsmedium ein wunderbarer Katalysator, um mehr Verständnis für das Anderssein zu entwickeln.» Dabei sei es besonders nachhaltig, bei Kindern ein Interesse fürs Chorsingen zu wecken, sagt der Wissenschaftler, weil Menschen nachweislich in den ersten zehn Lebensjahren musikalisch am offensten sind für Neues. Offen für Neue ist man prinzipiell auch bei der Klapa-Berlin. «Allerdings muss der Klang homogen sein», sagt Ante Bagaric, «Voraussetzung ist also, den alten Dialekt der dalmatinischen Küstenregion zu beherrschen, und das ist nicht ganz leicht.» Die Autorin ist Redakteurin der Chorzeit. Cho rze it~ DE Z 2014 Hierzulande werden heute Heimatlieder unterschiedlichster Herkunft gesungen. zismus und Geisterbeschwörung verbinden und heute in Marokko auch jenseits des religiösen Kontextes populär sind. Die Kubaner Ricardo, Rafael y Pedro (die das Cover dieses Heftes zieren) spielen Musik ihrer Heimat, die in den 20 er, 30 er Jahren entstand, den Son, bei dem auch häufig mehrstimmig gesungen wird. Vielfalt wird dann auf jeden Fall schon einmal zu erleben sein. Und wenn man Jochen Kühling glauben darf, singen am Ende des Konzerts wie bei den früheren Auftritten alle gemeinsam – natürlich auch mit dem Publikum. Was aber kommt von all der Vielfalt in Deutschland eigentlich in der Chorszene an? Immer häufiger gibt es Chöre, in denen sich die Kulturen begegnen, etwa den Stuttgarter HiwarChor, in dem deutsche SängerInnen zusammen mit MuttersprachlerInnen Lieder aus dem Repertoire der klassischen arabischen Musik singen. Oder die brasilianischen Chöre Cantares aus München oder Vozes do Brasil aus Köln, die offen für alle sind, die sich für die reiche Musikkultur des südamerikanischen Landes begeistern. Es gibt Chorleiter und Komponisten wie den Dresdner Paul Hoorn, der Roma-Lieder sammelt und daraus Chorsätze macht. Oder Chöre wie den MultiKultiChor Bonn, in dem Menschen aus über 30 Nationen singen und der sich zum Ziel gesetzt hat, mindestens ein Lied aus jedem Herkunftsland einzustudieren. An Volkshochschulen und Kirchgemeinden werden Chöre gegründet, die sich ausdrücklich an Flüchtlinge und AsylbewerberInnen wenden und sie mit Menschen von hier zusammenbringen wollen. 17 Probe zusammen finden. Bagaric selbst ist Vertriebsleiter bringen, wo sie auf ein bildungsbürgerliches Publikum eines Designmöbelherstellers. Der leidenschaftliche Mu- trifft. «Was Migration betrifft», sagt Terkessidis, «geht es siker ist gern unter Menschen. Früher hatte er eine Rock- in Deutschland nicht um Kulturvermittlung, sondern um band, seit acht Jahren engagiert er sich als Organist und Kulturermittlung – das Ende der Ignoranz.» Noch immer verstehe man in Deutschland die mit der Chorleiter in der kroatisch-katholischen Gemeinde Berlin. Die Berliner Klapa-Sänger sind zwischen 30 und 50 Migration einhergehende Vielfalt eher als Störung im Jahre alt und bis auf einen gebürtigen Kroaten alle Gastar- Normalablauf denn als ein Faktum, das es zu gestalten beiterkinder, in Berlin längst zu Hause. Den Klapa-Gesang gilt. Migration wird als Problem gesehen, das durch Inkennen viele seit Kindertagen von Besuchen bei Verwand- tegration gelöst werden muss, wobei man oft wie selbstten in Kroatien. Vor rund 20 Jahren rief Božo Maric, ein verständlich die Bringschuld bei den MigrantInnen, auch aus Kroatien an die Berliner Gemeinde entsandter Pries- der zweiten und dritten Generation sieht, die sich an eine ter, das Ensemble ins Leben. «Davor wurde Klapa hier «Leitkultur» anpassen sollen. Die Barrieren, die hiesige und da im engsten Familienkreis gesungen», sagt Bagaric. Institutionen errichten und die strukturelle Ungleichheit produzieren, werden dabei selten kritisch hinterfragt. «Aber es gab keine auftrittswürdige Formation.» Immerhin hat sich Deutschland, nach den USA mittVOR DER KULTURVERMITTLUNG lerweile das weltweit beliebteste Einwanderungsziel, 1999 KOMMT DIE KULTURERMITTLUNG erstmals in seiner Geschichte amtlich dazu bekannt, ein Nachdem die Gruppe vor allem in der Gemeinde aufge- Einwanderungsland zu sein. Das ging einher mit dem von treten ist, bei Feiertagen in der Kirche, in der kroatischen der rot-grünen Bundesregierung reformierten StaatsbürBotschaft, auf Messen, Weihnachtsmärkten und Vernis- gerrecht, einem historischen Kurswechsel in der Auslänsagen, konzertiert sie seit Sommer letzten Jahres auch derpolitik, denn die Staatsangehörigkeit konnte ab sofort auf großen Bühnen in ganz Deutschland. Ihr Publikum vom Geburtsort und musste nicht länger von der Herkunft reicht weit über die kroatische Community hinaus. Als ei- der Eltern abgeleitet werden. Man begann anzuerkennen, nes von dreizehn Ensembles sangen die neun beim Projekt dass die seit den 1960 er Jahren ins Land geholten soge«Heimatlieder aus Deutschland», das im Juni 2013 in der nannten Gastarbeiter, die hier Familien gegründet hatten, ausverkauften Komischen Oper Berlin vor begeisterten längst Teil der BRD waren und eben keine Gäste mehr. ZuhörerInnen Premiere feierte. Diese Realität rückt das Projekt «Heimatlieder aus «Wir waren neugierig auf die Berliner Musikwelten Deutschland» ins Rampenlicht großer Kulturinstitutiabseits vom Mainstream-Geschehen», sagt Jochen Küh- onen, es versammelt Chöre und Bands mit populären ling. Der frühere Unternehmensberater arbeitet seit 15 Stücken aus Italien, Griechenland, Portugal, Spanien, Jahren im Musikgeschäft und förderte bis 2010 schwer- Kroatien, Serbien, der Türkei, Marokko, Südkorea, Polen, punktmäßig türkische und deutschtürkische Musike- Mozambique, Kuba und Vietnam sogar auf einer gleichrInnen. So erschien der Siegertitel des Eurovision Song namigen CD , die Kühling und Terkessidis 2013 beim BerContest 2003 , «Every Way That I Can» von Sertab Erener, liner Label Run United veröffentlichten. Live erklangen in dem Verlag, den er mit seinem türkischen Partner leite- die «Heimatlieder» inzwischen etwa im Schauspiel Köln, te. Zusammen mit dem Autoren und Migrationsforscher im Theater Augsburg, im Deutschen Theater Göttingen Mark Terkessidis entwickelte Kühling 2012 die Idee, Fol- und bald wird eine Auswahl der KünstlerInnen auch beim klore aufzuspüren, die in Jahrzehnten der Arbeitsmigra- Vokalfest Chor@Berlin zu erleben sein. Neben der Klapa-Berlin steht dann zum Beispiel auch tion nach Deutschland eingewandert war. Das gemeinsame Singen dieser Heimatlieder halfen den Bruch kitten, der Quan ho. Chor Berlin auf der Bühne mit nordvietnaden die Migration mit sich gebracht hatte, und machten mesischem Quan-ho.-Gesang, einem Wechselgesang zwischen Frauen- und das Ankommen in der Männerstimmen, die Fremde leichter. die Liebe besingen. Kühling und TerDie Formation La Cakessidis finden, es sei ravane du Maghreb höchste Zeit, diese wird Musik der GnaFolklore jenseits von wa darbieten, einer Weltmusik- und Mulethnischen Mindertikulti-Veranstaltunheit in Marokko, degen auf eine «Hochren Lieder Sufi-Mystikultur»-Bühne zu Titel Foto: Veit Tresch C h or ze i t~ D E Z 2014 16 Titel