_____________________________________ Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Kommerzielle Kommunikation kontra Religion? _____________________________________ I. II. III. IV. V. VI. VII. Leben ist werben……………………………………… 2 Die "Wert-lose Gesellschaft"……….………………... 4 Ist ökonomisches Handeln unanständig?………….. 7 Der Voodoo-Glaube von der Werbewirkung……….. 9 Moralischer Stabilisator Deutscher Werberat………13 Wenn in der Werbung Glocken läuten………………20 Lernen von der kommerziellen Werbung?………….21 Vortrag von Volker Nickel Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Vortragsreihe DomGemeindeZentrum Verden "Christliche Verantwortung heute – Beiträge zur gegenwärtigen Wertediskussion" 13. September 2004 Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 2 I. Leben ist werben Warum überhaupt ein Fragezeichen – "Kommerzielle Werbung kontra Religion?" Die Sache ist doch eigentlich entschieden. Zitat aus dem katholischen Erwachsenen-Katechismus: "Werbung wirkt häufig deprimierend, ja zynisch, sie schafft künstliche Bedürfnisse, die einem humanen Lebensstil wenig entsprechen. Sie propagiert Glücksverheißungen, die von den angepriesenen Produkten nicht erfüllt werden können." Der Bischof der evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Martin Hein, geht noch einen Schritt weiter. Werbung könne als "neuheidnische Religion" aufgefasst werden, die den Namen "Konsum" trägt. Zentrale Gottheit dieser Religion sei Geld. "Die Geschwätzigkeit der Werbung lässt Menschen verwirrt und desorientiert zurück." Auch im Verhältnis zur Kirche räumt Bischof Hein der kommerziellen Kommunikation einen hohen Stellenwert ein. Er spricht davon, dass sich das Christentum zur Werbung in einer ernstzunehmenden religiösen Konkurrenzsituation befindet.1 Die Dinge sind aber vielleicht noch weit komplizierter. Innerhalb der Konfessionen sind die Urteile über den Wert der Werbung für Wirtschaft und Gesellschaft keineswegs gradlinig. Da schreibt die evangelische Sozialakademie Friedewald unter der bemerkenswerten Überschrift "Schritte zum Dialog" wörtlich: "Der Markt ist gnadenlos blind gegenüber Menschen ohne Kaufkraft; er ist blind gegenüber der Zukunft." Die "Imperativ-Werbung" habe das Bewusstsein einer breiten Bevölkerung fest im Griff. Anlass für die Schelte war ein Grundsatzpapier des Arbeitskreises Evangelische Unternehmen in Deutschland e.V. (AEU) über die 'Soziale Marktwirtschaft in christlicher Verantwortung'. Enthalten waren in dem Dokument positive Aussagen zur kommerziellen Werbung.2 Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 3 Es gibt Berührungsangst zwischen Kirche und Werbewirtschaft auch anderer Art – und manchmal mit widersprüchlichen Aussagen in einem Atemzug. Da schreibt ein Pfarrer in einer sächsischen Gemeinde Firmen an – unter anderem mit dem Satz: "Kirche darf nicht dem Trend des kommerziellen Marketings folgen, weil sie ja auch nichts 'verkaufen will' ". Weiter heißt es dann, "…so bieten wir Ihnen die Möglichkeit, hier auf unseren gelb getönten Internetseiten für Ihre Firma zu werben". Keinen Zweifel an seinem Verhältnis zu segensreichen Effekten der kommerziellen Kommunikation und den Unterschied zur Kirche lässt indessen der Berliner Bischof Wolfgang Huber. Er verteidigte die umstrittene MercedesWerbung an der Marienkirche auf dem Alexanderplatz mit dem Hinweis: Es sei legitim, wenn das Geld für die Vergabe von Werbeflächen die Sanierung eines Gebäudes mitfinanziere. Die Werbung an der Kirche ändere nichts daran, dass es innendrinnen ausschließlich um Gottes Ehre geht.3 Mit dieser realitätsbezogenen Einstellung ließe sich dieser Vortrag über kommerzielle Kommunikation und Religion fabelhaft abschließen. Erlauben Sie dennoch einige zusätzliche Gedanken. Was ist Werbung? Der Begriff stammt aus dem Althochdeutschen "hwerban". Er bedeutet, 'sich drehen‘, 'sich umtun', 'sich bemühen'. Die Sache aber ist älter: Werbung ist ein Urphänomen menschlicher Existenz. Das Zustandekommen aller freiwilligen Sozialbeziehungen, die Wechselwirkungsprozesse in und auch zwischen Gruppen ist ohne Zuordnung von Sympathie und Antipathie nicht möglich. Und das heißt manchmal auch: nicht ohne Selbstdarstellung. Man braucht sich in diesem Zusammenhang nur Fragen zu beantworten wie beispielsweise: - Wer macht nicht auch Werbung für sich selbst? - Wer klärt schon objektiv über sich selbst auf? – zum Beispiel wenn er sich bewirbt? Wer stellt seine Nachteile in gleicher Weise dar wie seine Vorteile? – legt also seine psychologische Bilanz vor? - Wer will nicht andere überzeugen, beeinflussen? Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 4 - Wer betrachtet sein Passfoto nicht unter dem Aspekt möglicher sozialer Attraktivität? Die Quelle dieses Verhaltens in offenen Gesellschaften ist zutiefst human: Leben ist werben. II. Die "Wert-lose Gesellschaft" Wie aber in einer Gesellschaft effizient für die Ideen politischer Parteien werben, für die Vorstellungen der Gewerkschaften, für die Grundwerte des Christentums, wenn die Gesellschaft ihre traditionellen Werte zerbröselt, wenn sie Hilfe dabei leistet oder tatenlos zuschaut? Die Zeiten sind offenbar düster. Die moderne Gesellschaft befindet sich in einem Begründungsnotstand. Immer weniger fühlen sich die Menschen in eine verpflichtende moralische Ordnung eingebunden. Stattdessen irren sie orientierungslos umher. Die Konsumgesellschaft, und mit ihr die Werbung, fördert den Zerfall der Werte. Soweit das Lamento der Bedenkenträger. Befindet sich unsere Gesellschaft am Abgrund – angeheizt durch zügellosen Konsum, befördert von einem profitgierigen Kapitalismus und dessen raffinierten Methoden der Lenkung von Menschen durch das Instrument Werbung? Dann wäre die Diagnose eindeutig zusammengefasst unter dem Dachbegriff "Werteverfall". Es liegt in der Natur der Sache, dass die Klagelieder über die vermeintlich Wert-lose Gesellschaft vor allem in Richtung Jugend angestimmt werden. Nachdem man sie in den achtziger Jahren noch als "Null-Bock-Generation" etikettiert hatte, ist nun die Rede von einer Jugend bindungsloser "Ichlinge", die Leistung und Verantwortung meiden, alle Vorteile der Multioptionsgesellschaft nutzen – sozusagen im Wellness-Schongang durch die konsumtiv geprägte Dienstleistungswelt surft, bar jeglichen Interesses für öffentliche Angelegenheiten, erst recht ohne Bereitschaft, sich über den eigenen privaten Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 5 Interessenhorizont hinaus im Sinne des Gemeinwohls nachhaltig zu engagieren. Auf jeden Fall richtig ist: Werte haben sich gewandelt. Im Zeitbogen der vergangenen 50 Jahre war nicht nur die Metamorphose von Möbeln, Musik und Mode zu beobachten. Vielmehr kündigte sich ein Erdbeben an, das die gewohnten gesellschaftlichen Normen auf den Kopf stellte.4 "Nirgends wird an den Weisen der Musik gerüttelt, ohne dass die wichtigsten Gesetze des Staates miterschüttert werden." So Platon.5 Und er hatte Recht. Die Rock-'n'-Roll-Welle Anfang der fünfziger und der Beat der sechziger Jahre waren Ausdruck nicht nur der Erosion einiger Werte, sondern des gesamten Zeitgeistes: Zum ersten Mal fasst seit dem Mittelalter stellten die Menschen Regeln der Lebensführung in Frage, und ihr Bewusstsein änderte sich. Tabus wurden gebrochen. Tabus früherer Art haben sich häufig der Demokratisierung der Gesellschaft entgegengestellt. So war es jahrzehntelang verpönt, über die Tatsache zu sprechen, dass man als Frau geschieden ist oder ein uneheliches Kind aufzieht. Die Folge davon: Um nicht der gesellschaftlichen Anprangerung ausgesetzt zu sein, blieben viele Ehen nach außen bestehen, aber innen war die menschliche Hölle los. Oder gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen. Das Sexualstrafrecht wurde zwar im Jahr 1973 gelockert, aber die Gesellschaft brauchte noch lange, bis sie beispielsweise Homosexualität öffentlich tolerierte. Erst im Jahr 2000 fasste auch die Werbung Mut: In verschiedenen TV-Spots und Anzeigen tauchten eindeutig gleichgeschlechtliche Paare auf, die ihr gemeinsames Familienleben über die Begeisterung von Speiseeis, Nudeln und Kaffee zum Ausdruck brachten. Wenn wir uns nüchtern umblicken, dann ist unsere Gesellschaft nicht barbarischer, sondern insgesamt toleranter geworden. Viele Tabubrüche von damals sind in die Normalität eingeflossen, Regelverletzungen eingemeindet, Ausgrenzungen aufgehoben. Die Optionen der Lebensgestaltung sind Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 6 vielfältiger, die Konventionen flexibler. In einem Satz: Die Liberalität der Gesellschaft hat zugenommen. Diese Metamorphose verlief nicht ohne Verwerfungen an den Rändern der Gesellschaft. Aber die Ordnung ist nicht aus dem Ruder gelaufen. Verlagert aber hatten sich die Gewichte – von Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu Selbstentfaltungswerten. Unterdessen gewinnen traditionelle Tugenden wieder an Bedeutung.6 Seit Mitte der neunziger Jahre steigt der Wertepegel von Höflichkeit, Arbeitsethik und Sparsamkeit. Dies ist aber kein Rückfall in starre gesellschaftliche Verhältnisse. Vielmehr kündigt sich ein neuer Zeitgeist unter dem Stichwort Werte-Synthese an. Traditionelle Werte verschmelzen bei einem immer größeren Teil der Bevölkerung mit Selbstentfaltung, Engagementbereitschaft, Eigenständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit. Deshalb gibt es sie wirklich, die so genannte "Spaßgesellschaft". Engagement – zum Beispiel auch in politischen Parteien, Kirchen und Gewerkschaften – soll Spaß bereiten. Darunter verstehen heute sehr viele Menschen das Erlebnis aktiven und erfolgreichen persönlichen Wirkens und Helfens – und das in Verbindung mit Erfahrungen der Selbsterweiterung, nicht etwa nur Zerstreuungen und Vergnügungen, wie sie Freizeitparks und Medienangebote bereithalten. Das Bild von der 'Ego-Gesellschaft', vom 'Moral-Vakuum', von der 'Auflösung der Gesellschaft' entpuppt sich bei näherer Analyse als Meinung und nicht als Tatsache. Missachtung von Recht und Gesetz, kriminelle Absahner-Mentalität, Schwarzarbeit, Sozialhilfeschwindel, Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft, Subventionsbetrug, Korruption finden in offenen Gesellschaften statt – aber eben punktuell und nicht generell. So ist "soziale Kälte" in Deutschland nicht vorherrschend, sondern Gemeinsinn.7 Hierzulande engagieren sich 34 Prozent der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig und ehrenamtlich. Unter den jungen Leuten sind es sogar noch mehr.8 Deutschland liegt damit auf einem guten Mittelplatz in der Völkerfamilie. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 7 Im Interesse der Korrektur von Vorurteilen erscheint gleichfalls die Beobachtung der Wissenschaft wesentlich, dass Werte wie "Die guten Dinge des Lebens in vollen Zügen genießen", "Sich und seine Bedürfnisse gegen andere durchsetzen", "Einen hohen Lebensstandard haben" in der Rangskala der Wertschätzungen in der breiten Bevölkerung deutlich abgeschlagen im unteren Mittelfeld liegen. Die grundlegenden Komponenten im Wertesystem der Deutschen sind nach wie vor Familien- und Partnerorientierung, Freundschaft und Unabhängigkeit. Auf die Frage, was sich während seiner Amtszeit am meisten verändert habe, antwortet der langjährige amerikanische Botschafter in Deutschland, John Kornblum: "Die Deutschen sind lockerer geworden." Und das ist vielleicht der Grundton des kommenden Zeitgeistes: Die Verbissenheit ist verschwunden, neue Werte bestehen neben alten, der Weltuntergang findet nicht statt. – Oder doch – ist nicht vor allem ökonomisches Handeln unanständig, amoralisch und Salzsäure für die Werte? III. Ist ökonomisches Handeln unanständig? Auch nach der unterdessen zur Weltgeschichte gehörenden Radikalkritik durch Sozialisten und Kommunisten am marktwirtschaftlichen System ist Gefahr im Verzuge. Der Markt führe zur Tugend- und Moralzerstörung, zur Erosion bisheriger Ordnungen und Traditionen, zur Entwurzelung der Menschen. Wer heutige Debatten verfolgt, muss resümieren, dass Teile der deutschen Öffentlichkeit bereits bei Worten wie 'Ökonomie' und 'Marktwirtschaft' zusammenzucken und sich umschauen, ob auch ja die Wertepolizei bereitsteht. Dem Begriff Marktwirtschaft werden Beiworte hinzugestellt wie 'Raubtier…', 'Profitgier' oder 'soziale Kälte'. Die Idee, dass ökonomisches Denken an sich auch ethisches Denken sein könnte, ist dem deutschen Bewusstsein ganz und Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 8 gar fremd, schreibt Richard Herzinger kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.9 Es war doch die nationalsozialistische Ideologie, die Ressentiments gegen das "raffende Kapital" geschürt und goldene antikapitalistische Regeln aufgestellt hatte wie "Gemeinnutz geht vor Eigennutz". Dass sich die Bundesdeutschen nach der Katastrophe dem Vermehren persönlicher Güter hingaben, statt der blutigen Sache der ethnisch gesäuberten Volksgemeinschaft, war ein großartiger moralischer Triumph über den bösen Geist des Nationalsozialismus. Bis heute, 15 Jahre nach dem Niedergang der Planwirtschaft, hängt der Marktliberalität ein dauerhafter Degout an. Das spiegelt sich auch in der Sicht der europäischen Einigung wider. Wie oft hat man hierzulande gehört, Europa dürfe nicht nur ein Europa des Geldes und des wirtschaftlichen Wohlstandsstrebens, sondern müsse ein Europa höherer, wertvoller Werte sein. Dabei ist es doch die einzigartige Zivilisationsleistung des Gemeinsamen Marktes gewesen, auf unblutige Weise einen Traum zu erfüllen, den Traum, das seit Menschengedenken von Kriegsgemetzel geplagte Europa von den Vorteilen friedlicher Kooperation zu überzeugen. Welch höheren Kulturwert kann es geben? Eine liberale, konkurrenzbestimmte Marktgesellschaft prämiert keineswegs nur das egoistische Kalkül: Sie produziert Moral. Eine rationale Verfolgung persönlicher Ziele auf einem Markt sind gleichbedeutend damit, bestimmte moralische Verhaltensweisen und Haltungen zu praktizieren: Friedfertigkeit, Rechtschaffenheit, Vertrauenswürdigkeit, Loyalität, Kompromissbereitschaft – alles Tugenden, die für ein erfolgreiches Agieren auf dem Markt unerlässlich sind. Die Ethik der Marktwirtschaft ist zutiefst sozial. Grundsätzlich ist es Aufgabe der Unternehmer, nicht den Mantel zu teilen, sondern sich der Mantelproduktion und dessen Absatz zu widmen. Dadurch wird den Menschen ein Arbeitsplatz verschafft und ihnen ermöglicht, sich einen Mantel zu kaufen. Die Ethik des Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 9 Produzierens und der Absatzpolitik hat weit mehr zur Überwindung der Armut getan, als alle Armenpflege oder Sozialhilfe. IV. Der Voodoo-Glaube von der Werbewirkung Werbung ist Teil der Absatzpolitik von Unternehmen. Vor den skizzierten Zusammenhängen von Marktwirtschaft und Moral müsste dieses Instrument der Unternehmensführung hohes Ansehen genießen. Welchen Wert hat die Werbung für Wirtschaft und Gesellschaft? Der Päpstliche Rat für die sozialen Kommunikationsmittel hat bereits 1997 ein Positionspapier zur Ethik in der kommerziellen Kommunikation publiziert. Der Vatikan wörtlich: "Werbung ist das wirksamste sozio-ökonomische Instrument für die Anlage der Ressourcen und für die beste Befriedigung der Bedürfnisse." Werbung – so der Päpstliche Rat – trage "zur Leistungsfähigkeit und zur Preissenkung der Produkte bei", kurbele den wirtschaftlichen Fortschritt an und helfe, den Konsumenten "wohlüberlegte, kluge Entscheidungen zu treffen". Das alles schaffe neue Arbeitsplätze, führe zu höheren Einkommen und zu einem annehmbaren menschlicheren Lebensstil für alle. Und Werbung helfe gleichfalls, die Medien – "einschließlich jene der Kirchen" – zu finanzieren und die Menschen überall auf der Welt mit Informationen, Unterhaltung und Inspiration zu versorgen. Aus deutscher Sicht lässt sich der Erkenntnis des Vatikans eine Fußnote anfügen: Von den jährlich rund 30 Milliarden Euro Investitionen in Werbung hierzulande profitieren die Medien mit 20 Milliarden Euro netto – also mit rund 70 Prozent.10 Die Erkenntnisse des Päpstlichen Rats über die Funktion der MarktKommunikation und ihre Effekte hätte die Werbebranche nicht besser auf den Punkt bringen können. Zwar ist das Ansehen der Werbearbeit repräsentativ in der Bevölkerung Deutschlands mit Abstand höher als jenes der politischen Parteien oder Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 10 gesellschaftlicher Institutionen. In der gesellschaftspolitischen Debatte aber taugt Werbung zur Erklärung jeglichen menschlichen Fehlverhaltens. Bis heute im Jahr 2004 halten sich Urteile über Werbung hartnäckig wie Löwenzahn darüber, wie "teuflisch" ihre Glücksverheißungen wirken: Werbung sei Schuld an Trunksucht, an exzessivem Tabak- und Tablettenkonsum, an Vergewaltigungen, Autounfällen, Magersucht und gleichzeitig Fettleibigkeit, an Scheidungen und Schulden, an Zahnschäden, an Verhaltensstörungen bei Kindern, Depressionen Erwachsener und Kirchenaustritten. Dieser Dauerverdacht gegenüber der kommerziellen Kommunikation erinnert an den Buchtitel des berühmten französischen Werbefachmanns, Jacques Seguela: "Sag nicht meiner Mutter, dass ich in der Werbung arbeite. Sie glaubt, ich sei Pianist in einem Bordell." Müssen also Werbefachleute und ihre kapitalistischen Auftraggeber in Sack und Asche auf Erden wandeln? Und auch die Medien? – sie transportieren ja schließlich die Anzeigen, Plakate und Spots gegen monetäre Vergütung. Bei einer großen Anzahl von Politikern trifft man auf den Voodoo-Glauben von der unheimlichen Wirkung kommerzieller Werbung. Allein aus ihren Wahlkämpfen sollte ihnen bewusst sein, dass es sich bei jener Sicht der Dinge offenkundig um Stammtisch-Psychologie handelt. Dass Werbung auch im Bereich der Ökonomie kein Wunderheilmittel ist, lässt sich daran ablesen, dass der private Konsum seit Jahren an der Verlustlinie surft. Werbung taugt zwar als Wettbewerbsmittel für das einzelne Unternehmen, kann aber keinen Aufschwung aus sich heraus produzieren. Verbraucherentscheidungen haben weitaus komplexer zusammengesetzte Motive. Deshalb ist es auch ein Irrglaube, mit Werbeverboten ließe sich menschliches Verhalten ändern oder gar steuern. Überall dort, wo Werbung verboten wurde, hat sich an auftretenden Phänomenen des Missbrauchs von Waren und Dienstleistungen und den daraus resultierenden Folgen gesundheitsschädlichen Konsums nichts geändert. In Ländern mit halbwegs liberalen Werberegeln dagegen, wie Deutschland, werden schadstoffärmere Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 11 Zigaretten geraucht und sinkt der Alkoholkonsum. Werbeverbote im Ernährungsbereich werden gleichfalls nichts am Problem von Fettleibigkeit ändern. Zensur von Marktkommunikation ist Politik nach Placebo-Art, also ein Scheinmedikament beim Kampf gegen Probleme in der Gesellschaft. Die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse bestätigen immer wieder: Werbung produziert kein menschliches Fehlverhalten. Die Entscheidung, ob jemand Missbrauch mit Waren betreibt, unterliegt nicht dem Einfluss der MarktKommunikation, sondern ist im Menschen und seiner Mitwelt begründet. Ein Käufer kann und soll durch Werbung zwar bewogen werden, anstelle der einen Biermarke die andere zu kaufen. Ob der Konsument aber einen halben Kasten an einem einzigen Abend leert – das hängt von anderen Einflüssen und Motiven ab. So verhält es sich zum Beispiel auch mit Schokoriegeln, Bonbons oder anderen Lebensmitteln. Der Grund für die fehlende Möglichkeit, Menschen von heute wie Marionetten zu bewegen, ist hinlänglich bekannt: Ihre Psyche ist hochkompliziert. Es gibt bei ihnen keinen geradlinigen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Reiz und Reaktion wie bei Tieren. Das spiegelt sich in fast sämtlichen neueren Forschungserkenntnissen der Sozialwissenschaften wider. Alles, was ein Mensch sieht, erlebt und bewertet, ist bereits Interpretation auf dem Hintergrund seiner Persönlichkeit. Das betrifft auch den Ablauf sowie Art und Weise, wie er Informationen verarbeitet. Wozu dann aber die ganze Werbung, so fragen dann Politiker immer wieder – auch solche, die auf den Lippen die Errungenschaften der Marktwirtschaft tragen. Der Zusammenhang ergibt sich aus der effizienten Betriebsführung: Markt-Kommunikation ist ein entscheidendes Wettbewerbsmittel für das einzelne Unternehmen, um seine Marktanteile zu halten, auszuweiten oder um Konsumenten für neue Produkte zu gewinnen. Konkurrenzwirtschaft lebt durch das Angebot attraktiver Alternativen. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 12 Jede Werbemaßnahme ist eine kommerziell orientierte Botschaft mit dem Versuch, das Kaufverhalten der Umworbenen zu beeinflussen. Entscheidend aber ist nicht das Werbebild, sondern was mit der Botschaft beim Empfänger geschieht. Sieht ein psychisch gesunder Mensch eine Werbung mit erotischen Elementen, dann wird er daraufhin nicht zum Vergewaltiger. Enthält Autowerbung sportive Elemente, macht das niemanden zum Verkehrsrowdy. Und auch die Motivation zu rauchen, Süßigkeiten im Übermaß zu konsumieren und sich auch ansonsten ungesund zu ernähren, resultiert nicht aus Werbebildern wie jeder Therapeut aus seiner Praxis verdeutlichen kann. Werbung als Auslöser allen Übels hinzustellen, zeugt von allzu schlichter Denkübung. Menschen haben nicht nur Erbanlagen, unterschiedliche Biographien und individuelle Erlebnisse. Sie werden auch durch zahlreiche andere Absender beeinflusst - wie zum Beispiel von redaktionellen Teilen der Medien, Bildungssystemen, politischen Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder den Erziehungsmethoden der Eltern. Es gehört zu den latenten Widersprüchen der "Verbraucherschutz"-Politik, dass der Bürger einerseits als "Souverän" in seiner Rolle als Wähler belobigt wird, in Sachen Werbung aber letztlich die Karikatur des Konsumtrottels unterlegt ist. Werbeverbote stellen daher die Frage nach dem rechten Verhältnis von Bürger und Staat. Der legitime Sozialstaat ist freiheitsfunktional und überlässt vieles der Freiheit des Einzelnen. Der illegitime, paternalistische Fürsorgestaat aber bevormundet die Bürger, indem er ihr Leben von oben lenkt. Dass eine offene Gesellschaft der Mündigen zu besseren Ergebnissen in der Fortentwicklung der Menschheit führt, ist unterdessen ein geschichtlicher Fakt – auch und vor allem in Sachen Moral. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 13 V. Moralischer Stabilisator Deutscher Werberat Verhält sich die Werbung aber im Rahmen des als verbindlich akzeptierten und eingehaltenen sittlichen Normensystems – handelt sie moralisch? Und wie geht sie mit christlichen Motiven um? Allen Unternehmen gemeinsam ist, dass sie im Prozess der MarktKommunikation zuerst die Hürde der Aufmerksamkeit überspringen müssen. Aufmerksamkeit zu erreichen ist heutzutage werbefachliche Schwerstarbeit: Die Konkurrenz ist gewaltig. Jeder ringt um Aufmerksamkeit – Politiker, Kirchen, Gewerkschaften, gesellschaftliche Institutionen – sie sind für jeden Marmeladenfabrikanten Konkurrenten um das Interesse der Menschen. Ist öffentliche Aufmerksamkeit für Zahnbürsten und Autos, Küchenkrepp und Waschmaschinen angesichts der Omnipotenz von gesellschaftlichen Mitteilungsbedürfnissen auf der Bühne der Öffentlichkeit überhaupt noch produzierbar? Ist das Problem der Werbung heute nicht ihre vermeintliche Macht, sondern ihre Ohnmacht? Einige Unternehmen denken in diese Richtung. Sie greifen zu einem Instrument, das sich als 'Prinzip Provokation' zusammenfassen lässt. Provozieren ist eine fabelhafte Sache. Man kann auf diese Weise seine Ehe beenden, Kriege anzetteln, aber auch soziale Betroffenheit auslösen oder ganz einfach Diskussionen mit dem Ziel anregen, schlechte Dinge zum Besseren zu wenden. Die Bandbreite von Provokation reicht von Waffe bis Werkzeug. Das Aktionsfeld der Provokation ist variantenreich. Provozieren heißt hervorrufen, herausfordern, aufreizen. Gefühlsaufwallungen sollen zu bestimmten Äußerungen oder Handlungen verleiten. Da wirbt ein Bestattungsunternehmen in den Vereinigten Staaten mit dem Text: "Warum leben, wenn Sie schon für 10 Dollar beerdigt werden können?" Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 14 Kritiker klassifizieren solche Werbetexte als schlimmen "Tabu-Bruch", robustere Gemüter als "makaber". Provokation ist keinesfalls eine Kommunikationstechnik nur der kommerziellen Werbung. Und deshalb kann sie bis hin zu Tabu-Brüchen auch als Werkzeug des Guten dienen, beispielsweise um Spenden für soziale Zwecke zu sammeln. Oder um auf Gefahren aufmerksam zu machen, wie das die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit ihrer nachdenkwürdigen Kondom-Kampagne versucht. Noch in Erinnerung ist ein Fall politischer Provokation. Die CDU stellte ein Plakat vor, in dem das Portrait des amtierenden Bundeskanzlers, Gerhard Schröder (SPD), nach Art einer Verbrecherkartei gezeigt wurde. CDUGeneralsekretär Laurenz Meyer sagte dazu, dass diese Darstellung als Provokation mit dem Ziel gemeint sei, über den "Rentenbetrug" öffentlich zu debattieren. Die Erregung bei den Sozialdemokraten über das CDU-Plakat ist aufschlussreich: Auch auf Seiten der SPD gab es bereits Geschmacklosigkeiten. So zeigte ein Plakatmotiv der Jungsozialisten die CDU als kriminelle Vereinigung: Hinter Gitterstäben sieht man Politiker wie Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble und Roland Koch. Oder die Tierschutzorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals).11 Sie schaltete eine Kampagne auf Großplakaten unter dem Titel "Holocaust auf deinem Teller". Beigefügt sind Sätze wie "Sechs Millionen Juden sind in Konzentrationslagern gestorben, aber dieses Jahr werden sechs Milliarden Grillhähnchen in Schlachthäusern sterben". Heftige Debatten löste die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di mit Werbespots im Fernsehen aus. Zu sehen sind Jugendliche bei Selbstmordversuchen. Daneben liegt ein Bewerbungsschreiben für eine Lehrstelle mit dem unübersehbaren Stempel "Abgelehnt". In die Kritik geraten ist auch die Werbekampagne der Katholischen Kirche für Schwangerenberatung im Jahr 2001. Die ganzseitige Zeitungsanzeige Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 15 zeigte eine nackte Frau in Embryo-Haltung. Die Kritik des Generalsekretariats der evangelischen Frauenarbeit sowie des Sozialdienstes Katholischer Frauen: Diese Darstellung präsentiere Frauen als unmündige, entscheidungsunfähige Wesen; zudem sei die Darstellung voyeuristisch. Die Deutsche Bischofskonferenz hatte sich bereits 1996 einen diskussionswürdigen Freibrief ausgestellt: Auf dem Höhepunkt einer öffentlichen Debatte über tatsächliche oder vermeintliche Gotteslästerungen in Presse, Fernsehen und Werbung teilte sie mit: "Wer einen höheren ethischen Wert verfolgt, dem sind Grenzüberschreitungen durch Provokation erlaubt." Bei der Wirtschaftswerbung ginge es dagegen um puren Egoismus und nicht um elementare Rechte des Menschen. Es ist nicht Sache der Wirtschaft, über andere Sektoren der öffentlichen Kommunikation zu richten. Die Werbebranche ist für sich selbst verantwortlich. Ihre Arbeit muss sie im Rahmen der rechtlichen Vorschriften und freiwillig gesetzten Grenzen und Regelmechanismen leisten. Wie aber sind die realen Verhältnisse im Kampf um Kunden, um deren Aufmerksamkeit und Sympathie – also: Wie ist es mit der Werbemoral der Wirtschaft bestellt? Wenn das Stilmittel Provokation in den Kommunikationsstrategien aller Bereiche der Gesellschaft zumindest eine gewisse Rolle spielen, wäre es geradezu absurd, wenn sich nicht auch in der Werbung der Wirtschaft solche gesellschaftlichen Phänomene widerspiegelten. Der kommerziellen Kommunikation aber sind strenge sittliche Grenzen gezogen. Wer beispielsweise wissentlich in seiner Produktwerbung die Unwahrheit sagt, dem drohen nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) bis zu zwei Jahren Gefängnis. Undenkbar, dass der Gesetzgeber auch für die politische Werbung eine solche Vorschrift erließe. Mit der im UWG verankerten Klagebefugnis für Wettbewerber und Verbraucherschützer wird dem Werbegeschehen ständig kritisch auf die Finger Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 16 geschaut. Unlautere oder irreführende Methoden der Marktkommunikation verschwinden in der Regel wieder rasch vom Markt. Auch darf die Werbung der Wirtschaft Konkurrenten nicht herabsetzen oder Konsumenten irreführen. Darüber hinaus gelten rund 15 weitere Spezialgesetze und Verordnungen wie in den Bereichen Lebensmitteln oder Arzneien. Strafbare Werbung – also kommerzielle Kommunikation, die wissentlich gegen Rechtsnormen verstößt – ist ein Randphänomen in den Statistiken von Wirtschaftschaftskriminalität. Und selbst dann, wenn kommerzielle Werbung rechtlich einwandfrei ist, werden Kritiker nicht allein gelassen. Ihnen steht ein Konfliktregler mit effizientem Management zur Verfügung: Will ein Kunde, ein Bürger Kritik an Werbemaßnahmen kommerzieller Unternehmen üben, kann er sich seit dem Jahr 1972 an den Deutschen Werberat wenden. Gegründet hat den Werberat der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW). Er wird von den gegenwärtig 43 Organisationen der werbenden Firmen, der Medien und der Agenturen getragen. Zugang zum Werberat hat jeder, der will – also Privatpersonen, gesellschaftliche Gruppierungen oder politische Instanzen. Es reichen der Beschwerdegrund und ein Hinweis auf die konkrete Werbemaßnahme aus, um einen Beschwerdevorgang auszulösen. Der Ablauf geht im Schnellverfahren: Nach dem Protest aus der Bevölkerung gegen eine Werbung kann die betroffene Firma ihre Sicht dem Werberat vortragen. Anschließend wird in der Regel im Werberat entschieden. Im Jahr 2003 beispielsweise hatte das in Berlin ansässige Gremium über 255 Werbekampagnen zu befinden. Bei 52 Plakaten, TV-Spots oder Anzeigen setzten sich die Beschwerdeführer mit ihrer Kritik durch. Daraufhin änderten die Unternehmen ihre Werbeaktivität oder stellten sie ein. Nur bei 7 Werbemaßnahmen rügte der Werberat die Unternehmen öffentlich. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 17 Mit dem Sanktionsinstrument der Rüge operiert das Gremium dann, wenn eine Firma trotz Beanstandung die Werbemaßnahme weiterschaltet. Unter dem Eindruck der mit Hilfe der Massenmedien herbeigeführten öffentlichen Debatte ziehen die betroffenen Unternehmen ihre Werbung dann doch fast immer aus dem Verkehr. Mit der öffentlichen Rüge sind die Medien gleichzeitig aufgefordert, die vom Werberat kritisierte Werbemaßnahme nicht mehr zu schalten. Bei der Durchsetzung dieser Aufforderung kam es seit Gründung des Gremiums vor mehr als 30 Jahren bisher zu keinen Problemen. Der Grund: 23 Organisationen der Medien sind Mitträger des Werberats. Wie wichtig eine Instanz der Selbstreinigung, des Konfliktmanagements zwischen Werbenden und Umworbenen ist, demonstrieren eine handvoll Beispiele: Anlass einer öffentlichen Rüge war ein menschenverachtendes Werbesujet der in Delmenhorst ansässigen "WM Großhandels GmbH" – eine Firma, die unter anderem Freisprechanlagen für Autos offeriert. Ihr Leistungspaket bot sie unter der Überschrift an "Unser Service macht Sie süchtig". Im Vordergrund des Anzeigenmotivs ist eine in der Hocke sitzende junge nackte Frau zu sehen, die sich gerade eine Drogeninjektion setzt. Tragische menschliche Lebensereignisse spannte auch der Betreiber einer Internet-Plattform für Testberichte vor seine kommerziellen Interessen. In seinem TV-Spot wurden unter der Überschrift "Tauchgebiete" in Realität drei Männer in Liegestühlen am Strand gezeigt. Ihnen fehlten partiell Arme und Beine. Die Beschwerdeführer sahen darin die Würde von Behinderten verletzt. Nach Intervention des Werberats verschwand der Spot vom Bildschirm. Ein letztes Beispiel die Handwerker-Vermittlungskette unter dem Firmennamen 'Hol Harry'. Sie ließ in Ballungszentren in Deutschland Großflächen mit Plakaten bekleben, auf denen formatfüllend ein nackter Po zu sehen war, aus dem ein Heizkörper herausragte. Slogan darüber: "Heizung im Arsch – Hol Harry!" Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 18 Sind das nun "Werbe-Hooligans"? Oder ist die Kritik daran nur das Klopfzeichen eines neuen Puritanismus? Fest steht jedenfalls: Die skizzierten Beschwerdevorgänge aus der Arbeit des Werberats sind kein Trend in der deutschen Werbung. Moralische Fehlgriffe sind nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Gemessen an den hunderttausenden von Werbedarbietungen pro Jahr spielen sie nur eine Rolle am Rande des Werbemarkts, bei Firmen, die meinen, man müsse dem Konsumenten die Sporen geben, damit der sich überhaupt noch bewegt. Das wäre dann der Grundsatz: Hauptsache, die Katze fängt die Mäuse. Schamloser Realismus, der ohne Rücksicht auf moralische Hemmungen das vor seinen Karren spannt, was den eigenen Zielen nutzt? Dann würde Werbung zur visuellen Droge, die den Bürger als Konsumenten letztlich verachtet. Werbende würden zu integrierten Asozialen, die auch die letzten kreativen Ressourcen rücksichtslos ausbeuteten. Warum dann als Nächstes nicht auch Vergewaltigung von Frauen oder den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Werbung. Unter der entschuldigenden Vokabel "Selbstironie" und "Ausbruch aus dem Werbe-Ghetto" ließe sich doch auch das prima der Öffentlichkeit verkaufen. Benetton beispielsweise ging es mit seinen provozierenden Plakaten nicht um Menschlichkeit, sondern der italienische Modeproduzent kaufte sich in Menschlichkeit ein, um Verkaufsförderung für seine Pullover zu betreiben und nichts anderes. Da erinnert manches an Pharisäer, die sich als Sozialarbeiter verkleiden. Aber: Auch Beschwerdeführer können überziehen – vor allem dann, wenn sie neben das gezeigte Werbesujet ein selbstentwickeltes Bild stellen: So war in einem Fernsehspot eine Familie beim Essen zu sehen. Alle am Tisch sind normal angezogen - dagegen trägt das Baby der Familie nur eine Windel. Der Beschwerdeführer sah durch den gezeigten nackten Oberkörper des Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 19 Babys pädophile Neigungen geweckt oder verstärkt. Anders die Beurteilung des Werberats: Die Eltern wollten offensichtlich verhindern, dass sich das Kleinkind beim Essen der Spaghetti die Kleidung mit Tomatensauce bekleckere. Und die Werbung eines Mobilfunkanbieters. Er warb mit der Überschrift "I have a dream". Der Werberat vertrat dabei nicht die Ansicht des Beschwerdeführers, wonach die Kampagne die bekannten Worte Martin Luther Kings missbrauche und sogar verdeckt rassistisch sei. Das System der Werbeselbstkontrolle leistet aber mehr als nur Werbemaßnahmen einzelner Firmen aus dem Markt zu nehmen beziehungsweise bei ungerechtfertigter Werbekritik sich schützend vor die werbende Firma zu stellen. Zusätzlich ordnen freiwillige Regelwerke der Branche in sensiblen oder umstrittenen Bereichen bestimmte Werbemaßnahmen – unter anderem Verhaltensregeln für die Werbung mit und vor Kindern, für alkoholische Getränke oder Verlautbarungen des Werberats zu den Sektoren Herabwürdigung und Diskriminierung von Menschen, zu Werbung mit unfallriskanten Bildmotiven oder zu Werbeaktivitäten, die Politiker abbilden. Die Einhaltung der selbstdisziplinär gesetzten Normen kann von der Öffentlichkeit überwacht und mit Hilfe des Werberats eingeklagt werden. Die Selbstregulierung der Werbung erweckt den Eindruck vom schlechten Gewissen einer Widerspenstigen, die zu zähmen sei. Tatsächlich handelt es sich um den Ausdruck von Selbstverantwortung. Darin eingeschlossen ist das Selbstinteresse der Firmen, die eigene Werbung positiv bei den Umworbenen und in der Öffentlichkeit zu halten. Denn ohne Sympathie verliert Werbung auch ihre ökonomische Funktion. Die Besinnung der Gesellschaft auf ihre eigenen Kräfte bietet in der Regel Vorteile für ein demokratisches Gemeinwesen. Denn selbstdisziplinäre Systeme entlasten den Staat – sie sind kostengünstiger, schneller und beweglicher, sie Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 20 mobilisieren Sachverstand und ziehen Grenzen dort, wo staatliche oder auch supranationale Mechanismen nicht mehr greifen können. Überreaktionen des Staates wird zuvorgekommen und damit das weitere Anschwellen der Gesetzesflut vermieden. Der Werberat erfüllt demnach vielseitige Funktionen als Stabilisator in der Zone Wirtschaft und Gesellschaft. VI. Wenn in der Werbung Glocken läuten Was aber, wenn in der Werbung die Glocken läuten? Ist das nicht der Kontrast von Feuer und Wasser – religiöse Motive bei der Bewerbung von Tomaten-Ketchup, Waschmitteln und Pkw? Holger Tremel, Leiter des Bereichs Medien und Kultur im Evangelischen Gemeinschaftswerk der Publizisitik (Frankfurt/M), scheut nicht die Nähe von Produktwerbung und christlichen Symbolen. Religiöse Motive würden in jeglichem kulturellen Umfeld aufgegriffen, die Werbung habe da keinen Sonderstatus. Tremel findet grundsätzliche Kirchenproteste "kleinlich", wenn beispielsweise in einer Anzeigenkampagne ein Pfarrer in Amtstracht erscheint. Es gebe allerdings Motive, durch die sich ein Teil der Gemeinden verletzt fühlt. "Aber wir haben da keine dauerhaften Probleme, denn Werbung reagiert sehr sensibel, weil sie schließlich Menschen ansprechen will", anerkennt der kirchliche Werbefachmann. Vielleicht sollte man über diese flexible Auffassung noch hinausdenken: Was in der Öffentlichkeit vorkommt, gilt als aktuell; was nicht aktuell ist, kann in Akzeptanzproblemen versinken. Christliche Symbole dort helfen beim Bewusstsein in der Gesellschaft über die Aktualität der Religion. Voraussetzung dafür aber ist, dass der Gebrauch christlicher Zeichen im Bereich der Wirtschaft religiöse Empfindungen nicht mit Füßen tritt. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 21 Wenn zum Beispiel ein Autohersteller seinen Pkw als "genaues Äquivalent der großen gotischen Kathedralen" anpreist, die Beleuchtung des Fahrzeugs als "ewiges Licht" bezeichnet und darauf hinweist, dass aus dem Auspuff "weihrauchähnliche Abgase kommen", dann ist die Grenze überschritten. Das gleiche gilt für die Werbung des Anbieters einer Telefonauskunft. Sie zeigte den leidenden Christus am Kreuz. Über dessen Kopf war anstelle der Buchstaben INRI (Jesus von Nazareth, König der Juden) die Nummer der Telefonauskunft angegeben. Daneben der Text: "So merkt sich ein Messdiener die billige Nummer der Auskunft." Solche Entgleisungen kommen in der Werbung der Wirtschaft äußerst selten vor. In der Werberat-Statistik der Beschwerden haben sie keine Signifikanz. Fingerspitzengefühl herrscht vor. VII. Lernen von der kommerziellen Werbung? Religion und kommerzielle Werbung hängen aber auch in anderer Weise zusammen. Wenn in den vergangenen zehn Jahren die Austritte aus der katholischen Kirche fast 2 Mio betragen haben und bei der evangelischen Kirche gar 3 Mio, dann stellen sich die Fragen nach dem Warum. Das ist natürlich ein eigenes vielschichtiges Thema. Kann Werbung helfen? In den Konfessionen gibt es Gegner und Befürworter. Die Kritiker fragen: Wenn Glauben und Religion ins kühle Licht ökonomischer Rationalität durch das Transportmittel der Medien gerückt wird, ist dann nicht zu befürchten, dass der Homo religiosus zu einem Homo oeconomicus degradiert wird? Diese Gefahr ist nur dann gegeben, wenn die Ziele durcheinander geraten. Die Form der Werbung, die Art, wie sich das Christentum in der Öffentlichkeit zeigt, verstehbar und behaltbar macht, unterliegt ganz anderen Gesetzen, als die Werbung für Haarwaschmittel, Katzenfutter oder Autos. Und nicht nur, weil die Absender doch so unterschiedlich sind – also Kirche und Ökonomie. Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 22 Der Endpunkt des Kommunikationsprozesses muss im Zentrum aller Anstrengungen stehen – also die Empfänger von Werbebotschaften. Deren Empfindungswelten sind bei Wirtschaftsgütern ganz andere als bei ihren religiösen Bedürfnissen. Wenn Kirche und Ökonomie lediglich die gleichen Kommunikationsmittel für werbende Botschaften benutzen, dann bedeutet das noch nicht den Einsatz gleicher Gesetzmäßigkeiten bei der Gestaltung der Werbung. Bereits oberflächlich lässt sich der Unterschied zwischen Religion und Ware bei Meinungsbefragungen darüber abtasten, welche Berufsbereiche für die Menschen welche Rangfolge haben. An der Spitze steht der Arzt, dann kommt der Pfarrer. Im letzten Drittel rangieren Journalisten, Werbefachleute und Politiker. Das muss die Letzteren keineswegs betrüben, aber es zeigt die Wertigkeit: Das körperliche und seelische Wohlbefinden steht im Zentrum menschlicher Bedürfnisse. Welche Chancen für die Kommunikationspolitik der Kirche! Die Menschen sind unheilbar religiös. Die schlummernde Grundform von Frömmigkeit, das Bedürfnis nach Religion im Alltagsleben ist nach wie vor tief verwurzelt, also vorhanden. Unsere Welt ist nicht unfromm. Der christliche Glaube hat über Jahrtausende hinweg seine treibende Kraft behalten. Die Kirchen könnten es wagen, in die Glut zu blasen, die unter der Asche einer vermeintlich antichristlichen Gegenwart schwelt. Das akzentuiert religiöse Vorkommen bewegen, beleben – das sollte Programm sein. Ein Programm, das Deutschland nicht als Missionsgebiet sieht. Ein Programm, das Kommunikation verdichtet und qualitativ weiterentwickelt. Also: weg von Larmoyanz, runter von der inneren Kanzel und rein in die öffentlichen Verkehrsmittel. Die evangelische Kirche hat dies längst verinnerlicht, wie beispielsweise die Sonntagskampagne der EKD demonstrierte. Von der Weltlichkeit des Staates unterscheidet der christliche Glaube das Reich Gottes. Es existiert in dieser Welt nicht als politische Wirklichkeit und Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 23 kann es auch nicht, sondern kommt durch Glaube, Hoffnung, Liebe an und soll die Welt von innen her verwandeln.12 Trotz aller Tendenzen zur Säkularisierung hat unser Land christliche Wurzeln – in seiner Geschichte, seinen Gesetzen und dem vorherrschenden Werteverständnis seiner Bürger. Die moderne Zivilisation lebt nicht jenseits des Christentums, dem immer noch zwei Drittel der Bevölkerung angehören. Das Bild von der Volkskirche ohne Kirchenvolk spiegelt nicht das reale Leben der Menschen wider.13 Der Staat hat zwar in den neueren Jahrhunderten zahlreiche Tätigkeiten übernommen, die früher in der Hand der Kirche lagen. Das hat die Kirche in ihrer öffentlichen Wirkung geschmälert, sie aber auch von mannigfachen Bürden befreit. Sie kann sich heute freier und unbelasteter ihrem eigentlichen Auftrag zuwenden: in einer profanen Welt von Gott als dem "ganz Anderen" zu sprechen und das Gottesgedächtnis als Grenze aller absoluten weltlichen Entwürfe wach zu halten.14 Pfarrer Wolfgang H. Weinrich, Projektleiter "evangelisch aus gutem grund" von der Kirche in Hessen und Nassau hat den Sachverhalt präzise markiert: "Kirche kann auf Werbung nicht mehr verzichten. Ihre Aufgabe ist es, die Menschen durch gezielte Informationen über das, was Kirche ist und will, zu informieren und auf die entsprechenden Lebensbereiche zu beziehen. Werbung übersetzt das Angebot der Kirche in die Zeit und ins Leben der Menschen dieser Tage. Werbung macht deutlich, dass Kirche bei Sinn- und Daseinsfragen beantwortend tätig ist." Da kann man getrost den Titel dieses Vortrags weiterentwickeln: "Kommerzielle Kommunikation und Religion". Rückfragen: Volker Nickel, Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (ZAW) Postadresse: 10873 Berlin, Telefon (030) 59 00 99-715, Telefax (030) 59 00 99-722 E-Mail: [email protected], Online-Service: www.zaw.de Christliche Verantwortung für die Werbung von Tomaten-Ketchup Seite 24 1 Bischof Dr. Martin Hein, Kirche und Werbung, Vortrag aus Anlass der Verleihung des Medienpreises des Evangelischen Presseverbands Kurhessen-Waldeck, 29.1.2002, FuldathalSimmershausen. 2 Volker Nickel, Anmerkungen zur Stellungnahme der Evangelischen Sozialakademie Friedewald im Zusammenhang mit dem Grundsatzpapier des Arbeitskreis Evangelischer Unternehmen in Deutschland e.V. (AEU), "Soziale Marktwirtschaft in christlicher Verantwortung", Bonn 1994. 3 epd-Nachrichten, 13.3.2002. 4 Elisabeth Noelle-Neumann/Thomas Petersen, Zeitenwende – Der Wertewandel 30 Jahre später, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001. 5 Platon, Der Staat, 4. Buch, 425 A-D. 6 Helmut Klages, Brauchen wir eine Rückkehr zu traditionellen Werten? Aus Politik und Zeitgeschichte B 29/2001. 7 aaO. II. Die Klage über den "Werteverfall". 8 aaO, III. Wertewandel in Deutschland: Tatsachen gegen Meinungen. 9 Richard Herzinger, Die Angst vor dem K-Wort, FAZ, 30.6.2004, S. 35. 10 Vgl. ZAW-Jahrbuch 'Werbung in Deutschland 2004', Verlag edition zaw, Berlin. 11 Vgl. Jahrbuch Deutscher Werberat 2004, S. 8, Verlag edition zaw, Berlin. 12 Josef Kardinal Ratzinger, Auf der Suche nach dem Frieden, FAZ, 11.6.2004. 13 Wolfgang Schäuble, Warum der Staat die Protestanten braucht, chrismon 05/2004, S. 31. 14 Hans Maier, Grenze aller Welt – Das Christentum ermöglicht die Moderne, Süddeutsche Zeitung, 26.8.2004.