26 Schwerpunkt Bauen & Sanieren im Bestand Über 500 Jahre altes Fachwerkgebäude saniert Denkmal erzählt Geschichte Bei der Sanierung des Bezirksrathauses Bad Cannstatt galt es, denkmalgerecht zu detaillieren. Die Dämmung der Fassade, die neuen und aufgearbeiteten Fenster, die Heizung und das Dichtigkeitskonzept sind kein Standard. Die speziell entwickelten Lösungen lassen ein hochwertiges Gebäude neu entstehen. Fotos: Christian Kandzia Das Bad Cannstatter Bezirksrathaus wurde in den 1490er Jahren erbaut. Nach dem Ergebnis der Bauforschung wurde es vermutlich als Kornhaus und Marktgebäude genutzt. Im Stadtkreis Stuttgart ist es das mit Abstand größte erhaltene spätgotische Fachwerkgebäude. Seine klare Grundriss- und Fassadengestaltung als Speicher wurde damals auf hohem Niveau geplant und handwerklich-konstruktiv umgesetzt. In über 500 Jahren Nutzung wurde es mehrfach grundlegend umgebaut und saniert, auch um gravierende Setzungsschäden auszugleichen. Seine südöstliche Ecke liegt über einer Doline (Karsthöhle) und ist um zirka 80 Zentimeter (cm) abgesunken. Seit 1966 ist es ein Kulturdenkmal von besonderer Bedeutung. Nach seiner umfassenden Sanierung ist das spätgotische Fachwerkgebäude wieder modern. Altbauerfahrener Energieberater Über 500 Jahre alt ist das Bad Cannstatter Berzirkshaus. Für die Planung der Sanierung wurde das Stuttgarter Architekturbüro Manderscheid Partnerschaft beauftragt. Christoph Manderscheid ist nicht nur altbauerfahrener Architekt sondern auch Energieberater. Sein Büro erfüllte die Belange des Denkmalschutzes auf ebenso hohem Niveau, wie die der Bauherren. Trotz der hohen Denkmalschutzauflagen konnte er den Energieverbrauch halbieren. Der Primärenergiebedarf wurde um fast 50 Prozent vermindert und beträgt heute 183 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr (kWh/m²a) inklusive der Beleuchtung. Die Energieeinsparverordnung (EnEV) 2007-Altbau ist damit eingehalten, eine Befreiung war nicht nötig. Nach sechs Jahren Planungs- und Bauzeit Energie KOMPAKT – 7-8/2013 Schwerpunkt Bauen & Sanieren im Bestand 27 ist ein modernes Denkmal entstanden mit neuen Bauteilen wie ein Eingang von Osten, eine Infotheke, ein Fahrstuhl und ein Treppenhaus. Sein Fundament wurde aufwendig verstärkt, Brand- und Schallschutz nachgebessert und neue Büroflächen im ersten Dachgeschoss geschaffen. Es ist nutzerfreundlich und von hohem ästhetischen Wert, nicht zuletzt durch angenehme Materialien und handwerkliche Oberflächen. Bessere Dämmung Die Dämmungen wurden denkmalverträglich ausgearbeitet. Die Bodenplatte wurde gedämmt, auf die Decke zum oberen, unbeheizten Dachraum wurde eine Dämmung aufgelegt. Das ausgebaute erste Dachgeschoss erhielt eine Zwischensparrendämmung, die Außenwände einen außen liegenden Dämmputz. Zur Verbesserung des Wärmeschutzes und zum Schutz des Holzfachwerks erhielten diese zirka 7 cm Putz aus KalkZement mit Perlit als Leichtzuschlag. Der abschließende Deckputz ist aus reinem Kalk, ungestrichen. Damit bleibt die altbautypische Lebendigkeit der Fassade erhalten. Eine Herausforderung war, das neue Treppenhaus aus Leichtbeton mit dem gleichen reinen Kalk-Deckputz zu versehen. Als Wärmedämmung wurden deshalb zementgebundene Holzfaserplatten mit einem Kern aus Mineralwolle verwendet (Tektalan Heraklith 040). Für Die neuen Lamellendachfenster auf der Südseite erhielten eine Sonnenschutzfolie. Das neue Treppenhaus ist anders konstruiert und gedämmt als der übrige Bau – ablesbar an der abgestuften Dämmung und den abstrahierten Läden aus Streckmetall. diese gibt es eine Verarbeitungsnorm (DIN 1102), so dass nicht nach Systemzulassung gearbeitet werden muss. Sie wurden an die schrägen Bestandswände angepasst in Stärken von 5 – 20 cm (mehrlagig) aufgedübelt. Im Sockelbereich war eine schwierige Wärmebrücke zu entschärfen. Die Außenwand ist sehr dick. Da auf der Bodenplatte gedämmt worden war, war die Kehle zwischen Boden und Wand kaum tauwasserfrei nach Norm zu bekommen. Der Bauherr wollte dort 11 Grad trotz der verwendeten Kalkmaterialien nicht akzeptieren. Deshalb wurde diese Wärmebrücke mit den Zuleitungen der Heizkörper beheizt. Neue Heizung Im Technikraum des Dachgeschosses wurde eine Gasbrennwerttherme zur Wärmeversorgung der Heizung eingebaut. Aufgrund ihrer Leistung bis maximal 60 Kilowattstunden (kWh) bleibt der Technikraum nur ein „Aufstellraum für Feuerstätten“, ohne weitergehende brandschutztechnische Anforderungen. Zur Wärmeverteilung wurden in den meisten Fällen neue Gliederheizkörper unter den Fenstern sowie im Dachge- Im neu ausgebauten ersten Dachgeschoss heizen Konvektoren unter den Dachfenstern. Energie KOMPAKT – 7-8/2013 28 Schwerpunkt Bauen & Sanieren im Bestand schoss Konvektoren unter den Dachfenstern eingebaut. Eine Einzelraumregelung koppelt die raumweise steuerbare Heizung mit den Fenstern. Das heißt bei Öffnen des Fensters zum Lüften werden die im Raum befindlichen Thermostatventile geschlossen. Damit bleibt die individuelle Fensterlüftung möglich, unnötige Wärmeverluste werden jedoch vermindert. Dieser Zusammenhang wurde den Bauherren erläutert und in einer Beschreibung festgehalten. Strahlungsheizkörper unter der Infotheke verbessern die Aufenthaltsqualität dieser offenen Arbeitsplätze in der kalten Jahreszeit. Die öffentliche Toilette erhielt eine Fußbodenheizung. Lüftungskonzept Die Arbeitsplätze an der Infotheke erhielten eine Flächenheizung. Herausforderung Luftdichtheit Die Fenster wurden abgedichtet, der Außenputz stellt nicht nur den Schlagregenschutz sondern auch die Winddichtigkeit des Gebäudes her. Durch diese verbesserte Abdichtung steigt der Dampfdruck in dem Denkmal. Undichtigkeiten könnten nun den Holzbau empfindlich schädigen. Deshalb wurde mitunter für das Denkmalamt unüblich detailliert. Eine Herausforderung waren etwa geschnitzte Balkenköpfe aus dem Foto: Christoph Manderscheid Die Dachfenster lassen sich automatisch Öffnen. Dadurch ist eine Nachtlüftung im Dachgeschoss möglich. Eine intensivere Nachtkühlung ist aufgrund der wenigen Speichermasse nicht möglich. Kontrolliert durch Wind- und Regensensoren werden die Lamellenfenster geöffnet. Die kühle Luft wird durch ein Verbindungsrohr über den Mittelflur hinweg mit einem Lüfter von der Süd- auf die Nordseite transportiert. So ist die Luft morgens deutlich erfrischt. Im Sommer sind hier höhere Temperaturen als in den darunterliegenden Geschossen dennoch unvermeidbar. Für eine hohe Dichtigkeit wurden die historischen Balken mit den geschnitzten Köpfen abgetrennt, die Dampfbremse innen durchgezogen und die Köpfe wieder aufgesetzt. 19. Jahrhundert. Sie tauchten bei den Sanierungsarbeiten unter den nördlichen Dachgesimsen auf. Ihr altes Holz ist gerissen – ein bauphysikalisches Problem, weil warme und feuchte Luft durch die Risse nach außen gelangen und dabei die Feuchtigkeit im Holz kondensieren würde. Zudem sollten sie außen sichtbar gemacht werden. Bei einem Termin mit der Denkmalpflege erklärten die Bauphysiker, wie wichtig eine innen durchgehende Dampfbremsebene an dieser Stelle ist, denn der Dampfdruck steigt nicht nur mit der verbesserten Abdichtung sondern auch mit der Gebäudehöhe. Deshalb wurden die Stiche innen durchgesägt, ausgebaut, die Folie durchgezogen und die Balkenköpfe wieder eingebaut. Bei einem historischen Sichtfachwerkfeld auf der Ostseite (siehe unten) sind die Hölzer älter und damit erhaltenswerter. Hier durften die Balkenköpfe nicht durchtrennt werden. Hier wurde die Folie um die gerissenen Hölzer geklebt. In den Toiletten der angrenzenden Geschosse laufen in der Heizperiode Lüfter durch. So entsteht ein Unterdruck, der kalte und trockene Außenluft nach innen zieht. Auch in der großen Nordgaube, in der sich heute eine Teeküche befindet, wurde so detailliert. Die Fugen der Hölzer wurden dort mit Kalkmörtel ausgestopft, der Kondenswasser kapillar puffert. Die Nutzer wurden darüber aufgeklärt, damit sie die Lüftung nicht etwa irgendwann abschalten. Energie KOMPAKT – 7-8/2013 Schwerpunkt Bauen & Sanieren im Bestand Große Fenster Die historischen Giebelfenster und die Rahmen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden weitgehend erhalten und repariert. Der obere Teil der Giebelfenster wurde mit einer Isolierverglasung zu einer Art Kastenfenster umgebaut. Nur die Fenster aus den 1970er Jahren wurden komplett erneuert. In den Obergeschossen forderte das Denkmalamt zweiflügelige Holzfenster mit einer angemessenen Feingliederung durch Sprossen. Diese hätten allerdings das Wärmeschutzglas geteilt und den Primärenergiebedarf um knapp 3 Prozent erhöht. Um die Wärmeverluste zu reduzieren, wurden die Sprossen durch mit Abstand vorgesetzte Metallprofile ausgebildet. Auch bei den Holzprofilen rang das Büro um jeden Millimeter. Verwendet wurden schlanke IV56 Profile. Die Holzlamellenläden wurden aufgearbeitet beziehungsweise ergänzt. Sie können den sommerlichen Wärmeschutz verbessern. Durch hochwertige Sonnenschutzgläser an den Fenstern ohne solchen Sonnenschutz und innenliegende Flächenvorhänge als Blend- und Sonnenschutz wird der sommerliche Wärmeeintrag reduziert. Zur Belichtung der Büros im Dachgeschoss wurden Dachflächenfenster mit Zweifach-Wärmeschutzgläsern eingebaut. Ihre Lamellen sind motorisch zu öffnen. Im Süden erhielten sie gelochte Fo- 29 lien, die farbecht vor der Sonne schützen und den Ausblick ermöglichen. Die sehr kleinen Gauben auf der Südseite wurden handwerklich in Stand gesetzt und die dazugehörigen historischen Fenster repariert. Damit eine Wärmedämmung nicht ihre Gestalt entstellt, wurde innen in der Ebene der Sparren, in der auch die Dämmung liegt, eine Wärmeschutzverglasung eingebaut. Zur Belüftung kann sie geöffnet werden. Geschichte erzählen Wichtig war den Architekten, dass das Gebäude durch die Sanierung seine abwechslungsreiche Geschichte erzählen kann. So legten sie ein historisches Fachwerkfeld aus der Erbauungszeit in der Ostfassade frei. Beim Rückbau des Anbaus war dieses altehrwürdige Bauteil mit handwerklichen Spuren auf dem Tragwerk und authentischem Putz mit Resten alter Bemalung wieder sichtbar geworden - eine der vielen Überraschungen des Altbaus. Man entschied sich für eine zurückhaltende Inszenierung als „Fenster in die Geschichte“, das Nutzer und Passanten Baugeschichte erleben lässt. Markant machen die angedeuteten Fensterläden des Treppenhauses auf dieses neue Bauteil aufmerksam. Sie abstrahieren die historischen Klappläden in modernem Streckmetall, das den Ausblick Der obere Teil dieser historischen Giebelfenster wurde mit einer Isolierverglasung zu einer Art Kastenfenster aufgerüstet. mit mäandernden Zacken rahmt. Hinter dem Streckmetall verspringt der Putz in Bändern, die auf die Schräge der angrenzenden Bestandswand eingehen. Zurückhaltend etwa sind die einfache Absturzsicherung vor den historischen Fenstern im Dachgeschoss. „Neues soll als solches erkennbar sein. Je wertvoller die Substanz, umso zurückhaltender wird das neue Bauteil eingefügt“, sagt Manderscheid bezüglich der Gestaltung des Altbaus. Das Gebäude ist nun klarer, markanter und nach allen Himmelsrichtungen geöffnet. Diplom-Ingenieur Achim Pilz Freier Fachjournalist und Buchautor Baudaten Name: Bezirksrathaus Bad Cannstatt Konstruktion: spätgotisches Fachwerkgebäude Erbauung: 1491 Brutto-Rauminhalt (BRI) 5.850 m3 Netto-Grundfläche (NGF) 1.084 m2 Dachfenster: Uw =< 2,00 W/(m²K) mit Microshade Sonnenschutz nach Süden Fenster: Uw = 1,40 W/(m²K) Bodenplatte: U = 0.30 W/(m²K) (mit 12 cm EPS 040) Außenwände: 0.87 W/(m²K) (im Mittel. Mit 5 cm Wärmedämmputz Klimasan 080) Decke zu unbeheiztem Dachraum: 0.13 W/(m²K) (6 cm MW 035, feuchtevariable Dampfbremse, 20 cm MW 035, diffusionsoffene Unterdeckbahn) Dach mit Zwischensparrendämmung: 0.24 W/(m²K) (im Mittel. Mit 3,5 cm Holzwolle-Leichtbauplatten, 3 cm MW 035, feuchtevariable Dampfbremse, 15 cm MW 035, diffusionsoffene Unterdeckbahn) Gasbrennwertgerät: Vitodens 200, Viessmann Röhrenheizkörper, Radiavektoren, Radiapanele: Zehnder Sanierungsbauherr: Stadt Stuttgart, Hochbauamt Architektur: Manderscheid Architekten www.manderscheid-architekten.de HLS-Planung: Schreiber Ingenieure Gebäudetechnik GmbH, www.schreiber-ingenieure.de Bauphysik: Höfker Nocke Bückle Partnerschaft, www.hnb-bauphysik.de Planung und Ausführung: 2007 – 2013 Energie KOMPAKT – 6/2013